Hat irgendjemand Oscar gesehen? - Leslie Connor - E-Book

Hat irgendjemand Oscar gesehen? E-Book

Leslie Connor

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Beschreibung

Familie, Abenteuer und eine ganz besondere Freundschaft – nach "Die ganze Wahrheit (wie Mason Buttle sie erzählt)" eine neues Feelgood-Buch von Leslie Connor

Aurora mag Edelsteine – und Oscar, ihren besten Freund. Oscar mag Vögel – und Aurora, auch wenn er ihr das nicht sagen kann. Denn Oscar spricht nicht, jedenfalls nicht mit Worten. Im Gegensatz zu Aurora, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Doch eines Tages verschwindet Oscar spurlos. Nicht nur Aurora begibt sich sofort auf die Suche nach ihm: Vom Betreuungslehrer bis zur Flohmarktverkäuferin, von der patenten Softball-Trainerin bis zum grummeligen Farmer – alle stehen zusammen und machen sich auf, den Jungen wohlbehalten wiederzufinden. Am Ende kann Oscar mit vereinten Kräften aufgespürt werden – und als Leser:in wünscht man sich, auch an einem Ort wie diesem zu leben und eine Familie und Freund:innen wie Aurora und Oscar zu haben!

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Das ist das Cover des Buches »Hat irgendje m and Oscar gesehen ?« von Leslie Connor

Über das Buch

Aurora mag Edelsteine — und Oscar, ihren besten Freund. Oscar mag Vögel — und Aurora, auch wenn er ihr das nicht sagen kann. Denn Oscar spricht nicht, jedenfalls nicht mit Worten. Im Gegensatz zu Aurora, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Doch eines Tages verschwindet Oscar spurlos. Nicht nur Aurora begibt sich sofort auf die Suche nach ihm: Vom Betreuungslehrer bis zur Flohmarktverkäuferin, von der patenten Softball-Trainerin bis zum grummeligen Farmer — alle stehen zusammen und machen sich auf, den Jungen wohlbehalten wiederzufinden. Am Ende kann Oscar mit vereinten Kräften aufgespürt werden — und als Leser:in wünscht man sich, auch an einem Ort wie diesem zu leben und eine Familie und Freund:innen wie Aurora und Oscar zu haben!

Leslie Connor

Hat

irgendjemand

Oscar

gesehen?

Aus dem Englischen von André Mumot

Hanser

Für Carey.

Danke, dass du immer auf uns aufgepasst hast.

In Liebe

LRPC

Aurora

Die Briefe

Als die Briefe von der Schule ankommen, setzen wir uns zusammen auf die Holzveranda hinter unserem Haus, um sie zu lesen. Also, eigentlich lese nur ich.

Oscar sitzt kerzengerade da und hat sein sommersprossiges Gesicht in die Höhe gereckt. Seine Finger fahren am Riemen der bestickten Tasche entlang, die er bei sich trägt. In der anderen Hand hält er seinen Umschlag. Er kneift die Augen zusammen und blinzelt den Sonnenstrahlen entgegen, die durch die Kiefern brechen.

»Irgendwelche Vögel da oben?«, frage ich.

Er antwortet nicht. Tut er nie. Nicht mit Worten. Aber er biegt seinen Rücken ein Stück nach hinten.

»Heute früh hab ich deinen Kiefernwaldsänger gesehen.« Wenn ich seine Aufmerksamkeit gewinnen will, muss ich eigentlich nur Vögel erwähnen. Aber immer funktioniert das auch nicht. Gut möglich, dass ich niemals rauskriegen werde, warum. Aber das ist okay für mich.

Ich reiße den Brief auf, der an mich adressiert ist: Aurora Pauline Petrequin.

So schnell ich kann, schüttele ich die gefalteten Bögen aus meinem Umschlag. »Na los, Oscar. Mach deinen auch auf!« Er versteht vielleicht nicht, wie wichtig diese Briefe sind. Aber ich weiß: Unser gesamtes Sechste-Klasse-Schicksal steckt da drin.

»Okay … jetzt werden wir gleich erfahren, wer unsere nächste Klassenlehrerin wird.« Ich trommele mit den Sohlen meiner Sneaker auf den Bohlen der Veranda herum.

»Spürst du das? Das ist Spannung«, sage ich. »Und los geht’s!« Ich hole tief Luft und halte den Atem an, während ich die Seite überfliege. Es dauert ewig, bis ich an die richtige Stelle komme, aber dann …

»Miss Beccia!«, rufe ich. »Ja! Wir sind in der Klasse von Miss Beccia! Puh!« Ich fächele mir mit meinem Brief Luft zu, dann sacke ich vor Erleichterung zusammen. Miss Beccia ist noch ganz neu bei uns. Wir leben in einer kleinen Stadt, und die einzige andere Lehrerin, die eine Klasse im sechsten Jahrgang übernimmt, ist Mrs Hillsbeck. Sie ist schon eine Ewigkeit an unserer Schule, und sie hat mich während der Pausen im Hof schon ziemlich oft beiseitegenommen. Und zwar immer völlig unbegründet: Angeblich war ich zu unvorsichtig am Klettergerüst, bin zu dicht an anderen vorbeigerannt, hatte Dreck in den Händen oder habe den Trinkbrunnen mit einem Kieselstein verstopft und ihn so zu einem Wassersprenger umfunktioniert — was übrigens alle ganz toll fanden. Nur nicht Mrs Hillsbeck. Sie ist pitschnass geworden, als sie versuchte, das wieder rückgängig zu machen. Und richtig wütend war sie auch. Wir haben also eine ziemlich problematische gemeinsame Geschichte, und ich konnte es mit Miss Beccia nur besser treffen.

»Miss Beccia. Ja!« Ich richte mich wieder auf und schaue Oscar an. »Darf ich jetzt deinen aufmachen?« Er hält seinen Umschlag derart locker in der Hand, dass es ganz leicht ist, ihm den Brief abzunehmen.

Ich reiße das Papierdreieck auf. Mit den Füßen trommeln muss ich diesmal nicht. Sein Brief wird genauso aussehen wie meiner, einschließlich der Miss-Beccia-Stelle. »Es ist so toll, die neue Lehrerin zu bekommen«, sage ich. »Ich liebe einen echten Neuanfang.«

Ich falte den Brief auseinander, der an Nathan Oscar Livernois adressiert ist. Ich schnaufe verächtlich. Keiner nennt ihn je Nathan. Ich räuspere mich.

»Okay.« Ich arbeite mich die Seite hinunter. Aber was ich da sehe, verschlägt mir die Sprache. (Und ich bin eigentlich kein Mädchen, dem oft die Worte fehlen.) Ich lese es noch einmal. Ich schaue Oscar an. Er starrt immer noch zu den Zweigen hinauf.

»Was zur Hölle …«, flüstere ich. Ich lasse den Brief in meinen Schoß fallen. Dann brülle ich: »Was zur Hölle! Wie soll das denn funktionieren?« Ich springe auf die Füße, renne durch die offene Tür ins Haus und rufe: »Mom! Pop! Gracia! Die Schule hat den Mist des Jahrtausends gebaut! Die haben Oscar und mich in verschiedene Klassen gesteckt!«

Aurora

Unsere erste Begegnung mit Jewell Laramie und mein Versuch, Softball zu spielen

Mom und Pop sind ebenso überrascht wie ich, dass Oscar in der einen sechsten Klasse sitzen wird und ich in der anderen. Pop hat sogar in der Schule angerufen, um sicherzustellen, dass diese Zuteilung wirklich stimmt. (Sie stimmt.) Alle versichern mir, dass es wunderbar funktionieren wird. Oscar und ich werden immer noch denselben Bus nehmen. Wir werden einander in der Mittagspause sehen und auf dem Pausenhof.

Mom sagt Sachen wie: »Vergiss nicht, Aurora, es gab eine Zeit, bevor Oscar hier gewohnt hat, und das hast du auch überlebt.«

Ich sage Sachen wie: »Klar! Das war vor drei Jahren! Ich bin das nicht mehr gewöhnt! Und was ist mit Oscar? Können wir uns darauf einigen, dass es hier um etwas mehr geht als bloß um zwei Freunde, die getrennt werden? Geht das?«

Ich erinnere mich an den Sommer, bevor Oscar und Gracia hierherkamen. Das war das Jahr, in dem ich Softball ausprobiert hatte, und das auch nur, weil die Trainerin zu uns nach Hause kam, um mich anzuwerben. Und weil es die Chance war, irgendwas gemeinsam mit anderen Kindern zu machen. Dass ich einen echt guten Wurfarm hatte, war mir auch schon bewusst. Das liegt daran, dass ich so verrückt nach Steinen bin.

Ich habe keine besonders große Sammlung. Noch nicht. Ich bin nämlich wählerisch. Ich suche nach Turmalinen. Bestimmte Gegenden in Maine eignen sich super, um nach Edelsteinen zu suchen. Ich würde einen ganzen Monat lang auf meine geliebten Essiggurken verzichten, um drüben in Oxford oder Androscoggin Mineralien auszugraben. Da sind nämlich die alten Mica-Minen, und in denen gibt es richtig coole Pegmatite. Das sind Adern von Vulkangestein, und darin kann man das richtig gute Zeug aufstöbern. Beryll, Topas und Turmalin.

Rund um unser Haus hebe ich andauernd Steine auf und prüfe sie. Meistens ist es bloß Granit, aber davon habe ich inzwischen genug gesammelt. Die schleudere ich dann von mir, so weit ich kann, damit ich sie nicht noch mal finde. Warum soll einen ein Stein gleich zwei Mal enttäuschen? Pop meint, der Mangel an Turmalinen in unserem Teil von Maine (Fakt) könnte gut dazu führen, dass ich es irgendwann bis in die erste Baseball-Liga schaffe (Scherz). Er glaubt, mein Arm wird jedes Mal stärker, wenn ich wieder kein gutes Exemplar finde. Was dauernd der Fall ist. Meistens suche ich mir konkrete Ziele aus. Hauptsächlich Felsbrocken, damit ich keinen Baum verletze — oder sonst irgendwas Lebendiges. Unterhandwurf, Oberhandwurf, ganz egal: Ich ziele ziemlich gut, und ich kann einem Stein so viel Schwung geben, dass er richtig davonzischt.

Unsere Stadt hat ein Softball-Team, und Coach Jewell Laramie möchte, dass jedes Mädchen in der Stadt mitspielt. Deshalb war sie auch bei uns. Sie dachte, wir wären neu hier, denn unser Holzhaus war gerade erst fertig gebaut worden. Die Tür stand offen, weil die frische Farbe noch so gestunken hat und weil Mom und Pop an dem Tag die Küchenschränke eingebaut hatten. Jewell hat Hallo gesagt. Und dann ist sie direkt reingelaufen und hat einen in Plastik eingepackten Haufen mit gefrorenem Zeug auf unseren Küchentisch geknallt.

»Hallo, Nachbarn! Ich bin Jewell Laramie.« Sie tippte mit dem Finger an ihre Kappe, unter der jede Menge blassblonde Haare festgehalten wurden.

»Ich bin Aurora, Aurora Pauline Petrequin«, sagte ich.

»Ah! Genau das Mädchen, zu dem ich wollte«, erwiderte Jewell.

Das war sogar eine noch größere Überraschung, als sie in unser neues Haus marschieren zu sehen. Ich wartete, während Mom und Pop sich vorstellten — Rene und Ed —, und wiederholte dann unseren Nachnamen noch zwei Mal laut und deutlich.

»Hab euch was zum Abendessen mitgebracht, Leute!« Jewell deutete auf den Haufen in der Plastiktüte. »Tenderloin vom Reh«, fügte sie hinzu.

»Oh, das essen wir nicht«, sagte ich. »Rehe sind Säugetiere. Wir essen keine Säugetiere.«

Jewell schaute Mom und Pop an. »Oh. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, was?« Sie deutete mit dem Kopf in meine Richtung.

»Nein, das stimmt«, sagte Mom, und Pop nickte.

»Wenn es Ihnen ein Trost ist — das Tier hat nicht gelitten. Ich habe es in der Jagdsaison geschossen. Mit einem sauberen doppelten Lungenschuss. Anders schieße ich gar nicht.«

Sauberer doppelter Lungenschuss.

Wie kann das Tier da nicht gelitten haben? Ich betrachtete das Paket auf unserem Tisch und fragte mich, ob ich darauf hinweisen sollte, dass es tot war.

»Wir wissen die Geste sehr zu schätzen«, sagte Pop.

»Ist gar kein Problem«, erwiderte Jewell, »und ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu nahegetreten.«

»Nein, sind Sie nicht, und wir wollen auch nicht undankbar erscheinen«, sagte Pop.

»Aber wir essen das trotzdem nicht«, wiederholte ich. »Oh. Das klingt undankbar, oder?«

»Ein bisschen«, sagte Mom.

Ich schaute Jewell an. »Aus mir platzt alles immer so raus«, erklärte ich ihr.

»An Ehrlichkeit ist nichts verkehrt. Gefällt mir«, sagte Jewell. »Dann verratet mir mal: Was esst ihr denn so?«

»Unsere Devise lautet: Federn, Kiemen und alles, was in der Natur wächst«, erklärte ihr Pop. »Lokale Milchprodukte und hin und wieder Meeresfrüchte.«

»Jut, jut …« (Manche Leute in Maine sagen Jut anstelle von Ja.) Jewell Laramie nickte, als würde sie aufmerksam zuhören. Deshalb hörte auch ich ihr aufmerksam zu, als sie begann, uns von ihrem Mädchen-Softball-Team zu erzählen. Sie flehte mich geradezu an, bei ihr mitzuspielen.

»Alle Jahrgangsstufen sind willkommen, und bei den unter Achtjährigen geht es erst einmal hauptsächlich darum, das Spiel in Ruhe kennenzulernen und viel Spaß zu haben«, sagte sie. »Überleg’s dir, Aurora. Ich wette, in dir steckt eine Top-Sportlerin.«

Sie hob ihr eingefrorenes Rehfleisch auf, klemmte es sich unter den Arm und tätschelte es. »Eins solltet ihr wissen, Leute … Jäger gehören zum Leben in Maine dazu.«

»Haben wir zur Kenntnis genommen«, sagte Pop. »Wir sind auch nicht neu in Maine.«

»Ja, ich bin schon mein ganzes Leben hier«, sagte ich.

»Und ich mein halbes Leben«, fügte Pop hinzu.

»Bei mir ist es immerhin schon ein Drittel«, sagte Mom. »Wir sind noch nicht mal neu hier in der Stadt. Nur in dieser Ecke.«

»Ja, wir sind aus unserem Haus an der Bucht ausgezogen und vermieten es jetzt an Leute von außerhalb«, sagte ich. (Wenn man von außerhalb ist, bedeutet das, dass man nicht in Maine lebt. Dann ist man Tourist.) »Und vielleicht haben Sie das kleine Haus gleich hier rechts nebenan gesehen?« Ich zeigte in die Richtung. »Das werden wir auch vermieten.«

»Alles klar«, sagte Jewell und streckte ihren Daumen in die Höhe. Ich sah, dass der Nagel lila angelaufen war. Als ob sie mit dem Hammer draufgehauen oder ihn in einem Schraubstock eingeklemmt hätte, wahrscheinlich schon vor Monaten. So ein lilafarbener Daumen hat irgendwas an sich. Jemanden, der so einen Daumen hat, mag ich sofort. Auf jeden Fall genug, um es mal mit Softball auszuprobieren.

Aber mal ganz unter uns: Softball, das ist eine sehr spezielle Variante von Baseball und hat furchtbar viele Regeln, und man steht stundenlang auf dem Spielfeld rum, und nichts passiert. Uff. Und wenn dann doch tatsächlich irgendwann mal jemand einen Ball in meine Richtung warf und ich übers Feld stürmte, um ihn aufzuhalten, konnte es gut passieren, dass Darleen Dombroski anfing zu heulen, weil ich ihr den Weg abgeschnitten hatte. Oder ihr auf den Fuß getreten war. Oder ihr versehentlich eine Schramme zugefügt hatte. Da spielte es dann keine Rolle mehr, dass ich einen perfekten Wurf zur ersten Base zustande gebracht und den Hitter rausgeworfen hatte!

An dem Abend brachte Darleen ihre Mutter dazu, meine Mutter anzurufen. (Darleens Mutter ruft meine Mutter in regelmäßigen Abständen an — schon seit wir zusammen in den Kindergarten gingen.) Dieses Mal erklärte Mrs Dombroski Mom, dass es im Softball Positionen gebe und dass sie ihrer Tochter (mir) vielleicht dabei helfen solle, dies zu verstehen, damit beim Spiel niemand verletzt würde.

Na ja, Coach Jewell hat mich dann probeweise auf jeder Position eingesetzt. Nicht als Strafe — sie probiert jeden überall aus. Sie hat mich auch aufs Outfield gestellt, wo es weniger als nichts zu tun gab — abgesehen von Handständen. Ich zog meinen Handschuh aus und schleuderte meine Füße in die Luft. Danach versuchte ich es mit Radschlagen, und schließlich gelang mir noch eine ziemlich coole Nummer. Ich riss beim Überschlag noch ein wenig Gras aus, und das schleuderte ich dann wie Konfetti in die Luft.

Coach Jewell beugte sich aus ihrem Unterstand und rief: »Aurora! Aurora P.! Keine Gymnastik da draußen! Halt dich bereit! Der Ball könnte jederzeit in deine Richtung kommen.«

»Ja. Aber darauf würde ich nicht wetten«, rief ich zurück. »Ich könnte hier problemlos ein Nickerchen einlegen.« Ich tat so, als müsse ich gähnen, aber dann wurde ein echtes Gähnen draus — ein ziemlich lautes sogar. Einige meiner Teammitglieder kicherten. Sie prusteten und mussten sich ihre Handschuhe vors Gesicht halten. »Wenn ich weiter hier rumstehe und warte, bin ich bald ein Jahr älter … bin ich schon neun? Oder zehn?«

Aber noch bevor das Spiel zu Ende war, tuschelten meine Teammitglieder, die auch meine Klassenkameradinnen waren, über mich. Ich wäre »nicht witzig« und »dermaßen nervig«. Sie hatten die Nase voll von mir, und ich hatte die Nase voll von Softball.

Jewell Laramie kam am nächsten Tag noch einmal zu uns nach Hause. Sie brachte eine Bachforelle mit. Sie legte sie auf den Tisch und sagte: »Federn, Kiemen und alles, was in der Natur wächst, richtig? Tja, ich hätte hier ein paar Kiemen für euch!« Dann erklärte sie mir, wie das Softball-Spiel funktionierte, indem sie all unsere Tassen zusammen mit den Salz- und Pfefferstreuern auf unserem Tisch aufstellte und ein diamantförmiges Spielfeld baute. Sie erwähnte das Wort Teamwork mindestens fünf Mal. Ich legte mein Kinn auf der Tischkante ab und versuchte, sie nicht zu unterbrechen.

Schließlich sagte ich: »Das weiß ich alles, Coach.« Das stimmte nämlich. »Aber es dauert viel zu lange, bis da mal was passiert. Ich halte das nicht aus. Ich brauche einfach mehr zu tun!«

Jewell musterte mich einen Moment. Dann nickte sie und sagte etwas sehr Nettes über mich und mein ungeschliffenes Talent. Mom schenkte Jewell eine Tüte mit Aprikosenmuffins. Muffins gegen Bachforelle. Also: Alles gut. Wir sind Freunde. Aber meine Tage auf dem Softball-Feld waren damit vorüber.

Ich habe sie nicht vermisst. Es gab schließlich reichlich Steine zum Inspizieren und Davonschleudern, und so ziemlich den ganzen Sommer über tat ich genau das. Allein. Meinen kleinen Bruder Cedar gab’s noch nicht, und ich war das einzige Kind, das in unserer Straße lebte. Doch genau das sollte sich ändern.

Aurora

Oscars Sprung ins kalte Wasser

Als ich Oscar Livernois zum ersten Mal traf, warteten wir beide am Ende unserer gemeinsamen Einfahrt auf den Bus. Das war vor drei Jahren. Zum Beginn der dritten Klasse.

Ich rannte, sprang und hüpfte den ganzen Weg entlang, mehr als bereit für den ersten Schultag. Ein weiterer Sommer war vergangen, und nun würde der Bus kommen und mich wieder abholen. Ich liebte es, an andere Orte zu kommen. Geht mir heute noch so.

Genau genommen waren wir nach einem Urlaub bei Gram und Gramp in Connecticut gerade erst nach Maine zurückgekehrt. Deshalb hatten wir auch nicht mitbekommen, wie unsere neuen Nachbarn in das kleine Haus neben unserem gezogen waren. Pop hatte allerdings gesagt, dass eine Mom mit ihrem Kind dort wohnen würde. Wo wir leben, schlägt solch eine Veränderung ziemlich hohe Wellen.

Ich erinnere mich, wie mein Herz einen Sprung machte, als ich sie am Ende der Einfahrt entdeckte. Ich rannte los und bremste erst, als ich direkt neben der Frau angekommen war. Dabei sprühte ich kleine Steinchen über ihre Clogs und ihre nackten Fußgelenke. Mom zog mich zurück.

»Vorsichtig, Aurora!«, sagte sie.

»Ups! Entschuldigung! Entschuldigung!«, sagte ich.

Unsere neue Nachbarin war nett. Sie lachte, und ihre braunen Locken tanzten. Ich wartete darauf, dass auch der Junge lachen würde. Aber er stand ein paar Meter entfernt, mit dem Rücken zu uns, beinahe, als hätte er uns gar nicht kommen hören. Schon komisch, dachte ich.

Ich wäre gern zu ihm gegangen, aber seine Mom redete mit meiner Mom, und ich arbeitete gerade daran, eine bessere Zuhörerin zu werden. Eigentlich mein Lebensprojekt. Sie sagte, ihr Name sei Gracia und dass ihr Sohn Nathan Oscar Livernois hieß. Aber vom Tag seiner Geburt an hatte sie ihn nur Oscar genannt.

Da haben wir’s mal wieder, dachte ich. Denn wenn sie es nicht gesagt hätte, hätte ich nach seinem Namen fragen müssen.

»Ich bin Aurora Pauline Petrequin.« Ich hüpfte von einem Bein aufs andere und klopfte mir mit der Faust auf den Kopf. »Man spricht das Pet-rah-kwin aus, nur dass Sie’s wissen. Ist ganz leicht. Aber keiner kriegt das hin. Die meisten sagen Ped-a-guin. Und Peterkin. Pffft! Jedes Jahr muss ich das einer neuen Lehrerin beibringen!«

»Man sollte doch meinen, dass Lehrer so was schaffen«, sagte Gracia. Mit einem echten Funkeln in den Augen.

Mom stand hinter mir und hatte die Hände locker um meine Schultern gelegt.

»Na ja, Sie können mich Aurora nennen — ganz simpel.« Ich brüllte meinen Namen, weil ich zuvorkommend sein wollte und weil Aurora ein Name ist, der gebrüllt werden will. Außerdem dachte ich, dass sich dieser Oscar vielleicht doch noch umdrehen würde, wenn ich ihn nur laut genug sagte.

Gracia beugte sich herab und lächelte. »Ich glaube, an dir ist gar nichts simpel.« Sie hatte eine Stimme wie Butter.

»Da könnten Sie recht haben«, sagte ich. Dann huschte ich weg von den Moms und ging zu Oscar hinüber. Wer in aller Welt dreht sich nicht mal um und sagt Hallo?. Ich kam neben ihm zum Stehen. Ich nahm ihn genau in Augenschein — sein Profil — und wie sein dunkles Haar rund um die Ohren gestutzt war. Seine Haut war hell wie Muscheln aus dem Meer und besprenkelt mit Sommersprossen.

»Hey. Ich bin Aurora«, rief ich, aber nicht allzu laut. »Nett, dich kennenzulernen.«

Oscar starrte geradeaus.

»Halloooo?« Ich versuchte es noch einmal. Er antwortete nicht. Ich kannte eine ganze Menge Kinder in der Stadt, die kein großes Interesse an mir hatten. Aber, Mannomann, so was hatte ich auch noch nicht erlebt! Würde er mir nicht einmal ne kleine Chance geben? Ich beugte mich näher. »Wir sind jetzt Nachbarn, weißt du?«

Der Junge rührte sich nicht.

Ich ging einmal um ihn herum. Schaute mir seine kakifarbene Hose genau an. Er hatte sie ganz weit hochgezogen und mit dem Gürtel so eng zugeschnürt, dass sein kariertes Hemd daraus hervorquoll. Fast wie ein Kostüm. Nie hat er irgendetwas anderes getragen — seit ich ihn kenne.

Oscar Livernois: Der Karo-Pilz. Ich stand neben ihm. Versuchte zu erkennen, wohin er starrte. Waren es unsere Briefkästen oder der Pfeiler auf der anderen Straßenseite? Irgendetwas im Feld? Vielleicht hatte er etwas durch den Graben krabbeln sehen?

»Weißt du«, sagte ich, »es gibt eine Buschschwanzratte, die hier öfter vorbeikommt. Magst du Tiere?«

Oscars Ellbogen streckten sich an seiner Seite. Seine Hände zuckten. Dann hörten sie damit auf. Er starrte weiter, blinzelte allerdings einmal mit seinen langen, dunklen Wimpern — wie in Zeitlupe.

»Buschschwanzratte«, sagte ich noch einmal, um zu sehen, ob er sich bewegen würde. Nein, tat er nicht.

Ich drehte mich auf einem Fuß herum, sodass der Kies knirschte. Dann sprang ich mit weit ausgestreckten Armen mitten in das Gespräch von Mom und Gracia.

»Hey! Was ist denn mit ihm?«, platzte ich heraus. Ich zeigte mit dem Finger hinter mich.

Mom sagte: »Aurora, bitte versuch doch …«

»Andere nicht zu unterbrechen«, sagte ich. »Ja, tut mir leid. Aber was ist denn mit ihm los?« Noch einmal deutete ich mit dem Finger auf den Jungen.

Gracia lächelte. Wieder benutzte sie ihre Butter-Stimme. »Aurora, ich habe deiner Mom gerade erzählt, dass Oscar nicht spricht. Nicht mit Worten. Aber er hört dich.«

Ich zog mein Kinn zurück. »Oh. Hört mich, ja?« Da war ich mir nicht so sicher. Nicht dass ich glaubte, dass sie mich anlog. Aber ich fragte mich, ob sie eine dieser Moms war, die Sachen über ihre Kinder sagten, die sie für wahr hielten, selbst wenn sie es gar nicht waren. Wie Darleen Dombroskis Mom, die während der gesamten zweiten Klasse dauernd behauptet hatte, Darleen sei eine freundliche und geduldige Seele.

Da hätte ich ihr was anderes berichten können. Sogar damals schon.

Darleen ist ein ziemlich schwieriger Mensch. Das sehe übrigens nicht nur ich so. Auch andere Kinder spielen nicht mit ihr. Aber da die auch mit mir nicht spielen, versucht man uns in der Schule schon seit Jahren irgendwie zusammenzustecken. Echt nervig ist das. Und auch nicht erfolgreich.

Aber an genau diesem Morgen würde ich ja in die dritte Klasse kommen. Ein frischer Start. Ich hatte bereits meine Vorsätze gefasst. Erst einmal hatte ich vor, nicht dauernd mit irgendwas herauszuplatzen. (Das nehme ich mir jedes Jahr vor.) Ist schwierig für mich. Pop sagt, ich solle einfach ich selbst sein und dass man aus seinen Erfahrungen schlau wird. Das Problem ist nur: Leider muss ich, wenn ich ganz ich selbst bin, andauernd irgendwas in Ordnung bringen, weil ich Mist gebaut habe.

Na, jedenfalls ging ich an jenem ersten Morgen noch einmal zu Oscar und stellte mich ganz dicht an sein Ohr. »Muss-ss bald hier s-sein«, erklärte ich ihm. Ich ließ die einzelnen S-Laute ganz langsam in sein Ohr hineingleiten. »Der Bus-sss.« Er zuckte und zog eine Schulter hoch. Starrte aber weiter vor sich hin. Ich trat einen Schritt zurück. Seine Mom hatte recht. Hören konnte er. Und er war auch kitzelig im Ohr.

»Ich wette, du kriegst nie irgendwelchen Ärger, was?«, sagte ich und betrachtete erneut seine Wimpern.

Ich machte zwei riesige Schritte auf die Straße zu und hielt Ausschau. Immer noch kein Bus, was bedeutete, dass mir genug Zeit blieb, einige meiner Mückenstiche aus dem Connecticut-Urlaub aufzukratzen. Vielleicht hatte ich sie mir aber auch bei unserem Boxenstopp in Massachusetts eingefangen. Ich begann, die Staaten aufzuzählen, die wir bei unserer gestrigen Rückfahrt durchquert hatten. Ich dachte also gerade an Bundesstaaten, als ich hörte, wie Oscars Mom zu meiner Mom sagte: »Deshalb habe ich mich entschlossen, ihn hierher nach Maine zu bringen. Um ihn Maine-Stream-tauglich zu machen.« Dann sagte sie irgendetwas von einem nötigen Sprung ins kalte Wasser.

Ich hörte auf, an meiner Haut herumzupulen, und fuhr kerzengerade hoch. Ich warf der Frau einen eingehenden Blick zu. Was für eine komische Art von Witz sollte das denn sein?

»Hey«, rief ich. »Wollen Sie ihn hier in einen Fluss werfen? Kann er überhaupt schwimmen?«

Mom und Gracia lachten.

Mom sagte: »Das heißt nur, dass Oscar hier auf eine öffentliche Schule gehen wird, genau wie du, Aurora.«

Gracia Livernois sagte: »Aber du hast eine gute Frage gestellt. Oscar kann nämlich nicht schwimmen.«

»Ähm, na ja, wäre schon klug, schwimmen zu lernen, wenn man hier in der Gegend leben will«, sagte ich. »Wir haben einen guten Platz, wo wir es ihm beibringen können.«

Gracia verschränkte ihre Hände und führte sie unter ihr Kinn. »Ich würde mich freuen, wenn er das lernt«, sagte sie. Dann fügte sie hinzu: »Und so vieles andere.«

Sie wirkte etwas angespannt und nervös, als machte sie sich jetzt doch Sorgen wegen all der Flüsse in Maine und wegen der Seen und dem Meer. Aber heute verstehe ich das. Es war viel mehr als das. Sie hatte einen Jungen, der nicht sprach und der kurz davorstand, in einer neuen Schule in einer neuen Stadt ganz von vorn anzufangen.

Oscar

Sie war Aurora

Oscar Livernois starrte zu dem Feld hinter den Briefkästen hinüber. Vögel gab es dort. Unten, im hohen Gras.

Das Mädchen näherte sich ihm von hinten. Rannte, drehte sich im Kreis, hüpfte. Dann landete sie neben ihm. Sie sprach ihn an.

»Buschschwanzratte.«

Ruhe ist gut, wenn man Vögel sehen will. Also hielt Oscar weiter Ausschau, während das Mädchen ihm direkt in seine Ohrmuschel zischte.

Sie sagte: »Muss-ss.« Und: »Bus-ss.«

Die Stimme des Mädchens war einzig. Hob sich ab. War klar. Sie gab Oscar das Gefühl, Vögel zu hören, ohne Vögel zu sehen. Etwas Leichtes war in seinen Fingern. Es bewegte sich in ihm, den ganzen Weg die Arme hinauf. Seine Rippen hinab. Brachte seine Schulter dazu, sich zu heben. Ein Ziehen irgendwo in seinem Inneren.

Sehr bald schon wusste er, dass sie Aurora war.

Sie schaute dorthin, wo er hinschaute. Zum Feld. Als die Vögel aufflogen, rief Aurora: »Heiliges Kanonenrohr! Wusstest du die ganze Zeit, dass die da waren, Oscar?« Sie flatterte mit ihren Armen.

Arme sind wie Flügel. Es sind keine Flügel.

Hände sind wie Flügel. Es sind keine Flügel.

Oscar sah zu, wie die Vögel dunkle, flatternde Umrisse am blassen Himmel bildeten. Sie flogen Schlaufen, dann wurden sie klein wie Punkte.

Als die Vögel fort waren, flatterte Oscar mit den Händen. Er wollte ein Vogelzwitschern von sich geben. Er dachte, er hätte das getan. Aber da war dieses Rumpeln — die Straße runter, ein Stück entfernt, von wo er stand. Es ließ die Sohlen seiner Schuhe beben. Er spürte es in seiner Körpermitte.

Aurora rief. Ihre sich abhebende, klare Stimme.

»Oscar! Er kommt! Bus-s-s-s!«

Sie war Aurora. Und Oscar ging mit ihr mit.

Aurora

Der besondere Mensch

Ich weiß noch, dass meine Mom jede Menge runde Pflaster auf meine Stiche geklebt hat, bevor der Bus kam. (Sie hat sie immer in der Tasche, nach wie vor.) Sie gab mir eine kurze Umarmung (ich mag nämlich keine langen), und dann stieg ich hinter Oscar in den Bus. Wieder bewies er, dass er hören konnte. Wie hätte er sonst wissen sollen, was unsere Fahrerin Helene (bei der ich schon seit dem Kindergarten mitfahre) meinte, als sie sagte, dass er den schönen Platz direkt hinter ihr nehmen solle?

»Und wo soll ich sitzen?«, fragte ich.

»Aurora, Baby, setz dich hin, wo du willst.« (Helene nennt jeden Baby. Und sie zieht das Wort wahnsinnig in die Länge, also Baaaaaay-by.)

Der Bus war voll mit den Mädchen und Jungs, die immer in Gruppen zusammenhängen. Auf dem Pausenhof genauso. Und jeden Sommer bei uns am Strand.

Ich setzte mich auf die andere Seite vom Mittelgang, in die gleiche Reihe wie Oscar. Mit beiden Armen winkte ich Mom zu, und sie winkte mit einem zurück, weil sie den anderen um Gracias Schulter gelegt hatte. Die beiden würden jetzt zu uns ins Haus gehen, vor der Arbeit einen Kaffee trinken und beste Freundinnen werden.

Es gefiel mir, wieder im Bus zu sitzen. Ich mochte den Geruch der Bodenmatten aus Gummi, und ich mochte das Schaukeln bei der Fahrt. Ich mochte es, meine mit Pflastern übersäten Beine vor mir auszustrecken und mit dem Po hin und her zu rutschen, um so das Sitzpolster zum Quietschen zu bringen. Ich mochte es, vor mich hin zu summen, ohne ein richtiges Lied zu singen, und Helene etwas zuzurufen — sie zu fragen, wie ihr Sommer gewesen war und ob sie gerade die Katze am Straßenrand gesehen hätte. Oder den Traktorreifen voller Sonnenhut-Blumen, der da eben in dem Hof gelegen hatte? Und ob es sie überraschte, dass ich nicht mehr in dem Haus am Strand wohnte?

Es kam mir vor, als wäre es ein brandneues Jahr, und ich mochte das Gefühl. Bisher hatte ich noch keine Fehler gemacht. Als ich zu Oscar hinüberschaute, sah er eigentlich genauso aus wie in dem Moment, als er über unsere Straße hinweg zu den Briefkästen gestarrt hatte, nur dass er jetzt aus dem Fenster starrte. Ich fragte mich: Weiß dieser Junge, was Neuanfang bedeutet? Spürt er es? Bedeutet ihm das etwas? Und wenn ich ihn lange genug beobachtete, würde ich es irgendwann rauskriegen?

Als wir in der Schule ankamen, stand eine Schulbegleiterin bereit, um ihm aus dem Bus zu helfen. Es war Mrs Kingsley.

»Er spricht nicht«, sagte ich. »Ich hoffe, das hat Ihnen jemand gesagt.«

»Ja, Aurora. Danke dir«, sagte sie. »Dann wollen wir mal. Hier lang!« Sie war sehr aufgekratzt. Sie legte eine Hand auf Oscar Livernois’ Rücken und marschierte so mit ihm den Flur hinab. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ihm das gefiel. Er beeilte sich, schneller voranzukommen und ihrer Hand auszuweichen. Ich eilte hinter ihnen her, um Mrs Kingsley zu sagen, dass sie vielleicht lieber damit aufhören sollte, und dabei trat ich ihr versehentlich in die Hacken.

»Autsch!«, sagte sie und hüpfte kurz auf der Stelle.

»’tschuldigung!«

Oscar eilte rasch davon, und Mrs Kingsley hetzte hinter ihm her.

Wie sich herausstellte, war unser Ziel die Klasse von Mr Ritter. Oscar würde also gemeinsam mit mir seine erste Stunde haben.

Das Beste an den ersten Minuten des ersten Schultages ist, dass noch nichts groß schiefgegangen sein kann. Ich stürmte in den Raum, um festzustellen, ob irgendwelche Leute da waren, mit denen ich mich zusammentun konnte. Also, zum Beispiel einen Platz an ihrem Tisch bekommen konnte. Das ist nämlich immer ein bisschen schwierig für mich. Wenn ich versuche, dazuzugehören, klappt es einfach nicht. Weil man sich dann so verbiegen muss, dass es sich nicht nach einem selbst anfühlt.

Die Schule ist ein harter Ort, und damit meine ich nicht das Lernen. Damit komme ich ganz gut klar. Aber ich habe einfach immer zu viel zu sagen. Ich habe Probleme damit, still zu sitzen — echte Probleme! Schon im Kindergarten mochten es die anderen Kinder nicht, wenn ich auf dem kleinen roten Teppich Räder geschlagen habe und dabei in ihre Brettspiele gekracht bin. Meine Ideen waren immer irgendwie laut. Schwer, sie in mir drin zu halten.

Und jedes Jahr arbeiteten meine Lehrer gute Vorsätze für mich aus. Zum Beispiel:

Schau deine Freunde an, wenn du mit ihnen sprichst.

Lass sie ausreden.

Hör zu, wenn sie etwas sagen.

Ich versuchte das. Ich versuchte es wirklich. Zu Hause bemühten sich auch Mom und Pop, mir zu helfen. Sie sagten immer: »Eins nach dem anderen, Aurora. Du darfst sein, wer du bist. Jeder darf das. Der Trick ist: Überleg dir, ob du dir etwas mehr Zeit lassen kannst mit dem, was sich in dir abspielt. Beobachte andere Menschen und schau, ob du erkennen kannst, was in ihnen vorgeht. Sei aufmerksam.«

Diese Vorstellung gefällt mir. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob ich damit besonders weit gekommen war. Bis ich Oscar traf. Ihn beobachtete ich. Das Tolle war, ihm war es egal, ob ich mir nebenbei den Mund fusselig redete. Das geht nämlich: reden und gleichzeitig beobachten. Aber mir ist aufgefallen, dass es tatsächlich besser funktioniert, wenn ich hin und wieder mal still bin.

Die Kinder in der dritten Klasse musterten Oscar an diesem ersten Schultag. Also, eigentlich starrten sie ihn an. Fragten sich vermutlich, was mit ihm los war, genauso wie ich mich das gefragt hatte, als ich ihm an der Bushaltestelle begegnet war. Ich nehme an, keiner war an ein Kind gewöhnt, das nicht redete und Vögel anscheinend lieber mochte als Menschen. Er schaute oft in die Bäume hinauf. Er flatterte mit den Händen, als wären es kleine Flügel, und wie sich herausstellte, hatte er jede Menge Vogelbilder in seinem Rucksack. Aber die anderen Kinder starrten Oscar nur an und schauten schnell wieder weg, um bloß nichts sagen zu müssen. Und danach nahmen sie ihn einfach gar nicht mehr zur Kenntnis. Das sah ich. Sie wandten sich nach links oder rechts und sprachen um ihn herum. Sie eilten an ihm vorbei und steckten ihre Köpfe zusammen. Als wäre er gar nicht da. Oscar Livernois. Der unsichtbare Junge.

Aber für mich begann etwas Neues in diesen ersten Wochen der dritten Klasse. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war da Oscar, direkt hinter mir. Und starrte. Er starrte nicht mich an. Einfach irgendetwas. Aber er blieb in meiner Nähe. Unsere Familien verbrachten mittlerweile viel Zeit miteinander, und wie gesagt, unsere Moms wurden beste Freundinnen.

Eines Tages sagte Mrs Kingsley: »Du kommst sehr gut mit Oscar klar, Aurora.«

»Sie aber auch«, sagte ich. Es stimmte. Sie hatte aufgehört, ihn durch die Flure zu schieben. Sie hatte aufgehört, ihm ihre Hand auf die Schulter zu legen.

»Oh, danke dir. Aber damit wollte ich sagen, dass du sehr gut darin bist, sein Verhalten zu lesen.«

»Was bedeutet das?«, fragte ich. »Sie meinen, dass ich sehe, wie er sich fühlt?«

»Ganz genau«, sagte sie. »Ich glaube, er hat dich gewählt, Aurora. Du bist Oscars besonderer Mensch.«

Ich lächelte. »Ja. Das bin ich.«

Aurora

Pebble Nest

Pebble Nest gehört uns. Es ist unser großes, altes Haus an der Flanders Bay. Nicht besonders schick, aber einfach nur fantastisch. Zehn Menschen können dadrin übernachten, wenn sie sich wirklich mögen. Und wenn man auf dem Rasen hinterm Haus zwei Räder schlägt und über die verwilderte Hecke springt, landet man an einem halbkreisförmigen Strand, wo eine Trilliarde glatter Kiesel herumliegen — in allen Farben und Formen. Pop sagt immer, es gebe keinen besseren Platz, um im salzigen Wasser zu schwimmen und in der Sonne ein Nickerchen zu machen.

Früher haben wir da gelebt. Jetzt gehört uns das Holzhaus im Wald und wir vermieten Pebble Nest wochentags von Mai bis Oktober. Mom und Pop sagen, das Geld bringt uns die Butter aufs Brot. Ich sage: Pebble Nest ist der beste Grund, Samstage zu lieben. Dann gehört es uns nämlich wieder. Samstags von 10:30 Uhr bis 14:30 Uhr.

Aber alles hat seinen Preis. Wir müssen sauber machen. Das ganze Haus. Von oben bis unten. Manchen Leuten würde diese Arbeit keinen Spaß machen. Aber es ist was anderes, wenn man einen Ort wirklich liebt. Außerdem machen wir uns ans Werk wie die reinsten Wirbelwinde. Wir sind fast immer schon um zwölf Uhr fertig. (Unsere beste Idee aller Zeiten war es, alle Bettbezüge doppelt zu kaufen, sodass wir die Wäsche immer mit nach Hause nehmen und in der darauffolgenden Woche alles sofort frisch beziehen.) Danach können wir, solange das Wetter halbwegs gut ist, an den Strand gehen und schwimmen, Steine suchen oder nach Muscheln graben. Zu Mittag essen wir auf dem Rasen. Dann fühlt es sich an, als würden wir wieder dort leben.

Um halb drei packen wir alles zusammen, denn ab drei Uhr, wenn die nächsten Gäste eintreffen, darf es keine Spur mehr von uns geben. Manchmal sind es Familien. Manchmal irgendwelche Yoga-Leute oder Künstlerinnen und Künstler mit Wasserfarben. Aber immer sind es Leute von außerhalb.

Inzwischen kommt Oscar jede Woche mit uns zum Pebble Nest, ohne seine Mom. Das ganze erste Jahr über kam Gracia noch mit und ließ Oscar keine Sekunde aus den Augen. Sie brachte uns bei, ihn genau zu beobachten und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Oscar sein kann. Manchmal regt er sich auf. Nicht oft; er ist kein Kind, das zu Wutausbrüchen neigt. Wenn ihm alles zu viel wird, macht er dicht. Dann kauert er sich auf den Boden und schlingt die Arme um seinen Kopf. Das bricht mir immer fast das Herz. Aber Gracia sagt, so würde Oscar sich den Platz nehmen, den er braucht, um durch seine unangenehmen Empfindungen zu kommen. Am besten, man merkt es, bevor es so weit ist. Aber wenn es doch passiert, lassen wir Oscar wissen, dass wir für ihn da sind. Und ich glaube, das versteht er auch.

Oscar fühlt sich wohl bei uns. Seit zwei Sommern taucht er nun jeden Samstagmorgen an der Tür unseres Hauses auf, bereit, mit uns zum Pebble Nest zu fahren.

»Das ist schön für uns und schön für Gracia«, sagt Mom. »Es ist nicht einfach, eine alleinerziehende Mutter zu sein.«

Das verstehe ich. Bin mir ziemlich sicher, dass alle Eltern mal ne Pause brauchen. Gracia strahlt, wenn sie sieht, wie Oscar nach so einem Samstag aus unserem Van springt. Dann hat sie ihn wieder, und es kommt einem vor, als hätte sie nur noch Augen für ihren Jungen. Ich muss dann jedes Mal lächeln, selbst wenn ich gar nicht vorhatte, zu lächeln.

Ich liebe es, dass Oscar mit zum Pebble Nest kommt. Er hilft auch mit! Er kann den Recycling-Mülleimer zum Van hinaustragen. Er schiebt den leeren Mülleimer wieder unter die Spüle in der Küche, genau dorthin, wo er hingehört. Es gibt einiges, was Oscar ganz genau begreift. Keine Ahnung, warum.

In den Schlafzimmern im ersten Stock spiele ich Tornado. Ich reiße die Laken von den Betten und wirbele die Kissen wie im Flug aus den Bezügen. Oscar legt die Laken in den Korb. Ich hüpfe dann immer noch ein paar Mal auf den nackten Matratzen auf und ab. Die Doppelbetten sind toll, um von einer Seite zur anderen zu springen. Natürlich soll ich das eigentlich nicht machen. Oscar sieht mich, aber er würde mich niemals verpfeifen. Wenn die Betten fertig sind, stauben wir ab. Darin ist er nicht gerade der Beste, aber er wischt einfach mit seinem Tuch hinter mir her. Das ist gut genug.

Am Strand von Pebble Nest haben wir Oscar auch das Schwimmen beigebracht. Damit haben wir gleich angefangen, wie Gracia es wollte. Mom wusste genau, was zu tun war. Sie meinte, Oscar solle erst einmal zwei Dinge lernen: unter Wasser die Luft anzuhalten und auf dem Rücken zu treiben und zu atmen. Der flache Strand war perfekt, weil er dort problemlos ins kühle Wasser hineinwaten konnte. Ich freute mich so sehr! Ich wollte am liebsten wild herumplanschen wie ein Seelöwe, aber für Oscar blieb ich ganz ruhig — auch für Gracia. Wir gingen mit ihm so weit hinein, dass wir nur noch unsere Knie beugen mussten, um mit dem Kopf unter Wasser zu kommen. Und ich machte ihm alles vor.

»Hier wird geatmet!«, sagte ich und streckte die Arme hoch in die Luft. Dann zeigte ich hinab. »Da unten atmen wir nicht!« Dann holte ich tief Luft und tauchte meinen Kopf unter Wasser. Es ging nur in Baby-Schritten voran. Aber dann, an einem Samstag, machte Oscar es genau wie ich. Er tauchte ganz unter! Er schluckte nie Wasser, kein einziges Mal, und er hustete auch nie. Ich musste lachen, weil er immer seine Augen offenhielt, sogar im Salzwasser. Meistens starrte er einfach nur ins Nichts, aber wenn er auftauchte, um Luft zu holen, schien er mich jedes Mal direkt anzuschauen. Als er dasselbe mit Gracia machte, lachte sie nicht bloß, sie weinte.

Ihm das Treiben auf der Wasseroberfläche beizubringen, war schwieriger. Ich glaube, die Vorstellung, sich auf das Wasser zu legen, leuchtete ihm einfach nicht ein, auch wenn ich es ihm hundert Mal zeigte. »Setz dich hin, dann lehn dich zurück.« Selbst mit Mom und Gracia links und rechts von ihm und ihren guten alten Mom-Händen unter ihm wollte er sich nicht zurückfallen lassen. Er blieb einfach sitzen.

»Mannomann! Du willst doch schon wieder unter Wasser!«, sagte ich.

Unsere Haut fing bereits an, zu verschrumpeln. Oscars Lippen waren blau. Er zitterte. Ich schaute zu, wie er sich hinsetzte und noch ein weiteres Mal abtauchte. Genug, dachte ich. Zeit, sich in der Sonne aufzuwärmen.

Die Sonne!