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Die Menschheit lebt seit Zehntausenden von Jahren in einem nie zuvor gekannten Zeitalter des Friedens und des Glücks. Niemand sieht einen Grund, diesen Zustand zu hinterfragen, und so bemerkt auch niemand, daß auf dieses unverdiente Glück Schatten fallen. Dean ist ein typisches Kind dieses "Goldenen Zeitalters". Als er auf der Urlaubswelt Orplis Shandrín kennenlernt, einen der exotischen "Silbernen", und die zwei sich ineinander verlieben, ahnt keiner der beiden, daß sie damit einen Prozeß in Gang setzen, der diese glückliche Ära für immer verändern wird. Den Silbernen wird ein Hang zur Geheimniskrämerei nachgesagt. Dean erkennt bald, daß diese Gerüchte nicht völlig ohne Grundlage sind, denn Shandrín steht in einem ungewöhnlich engen Verhältnis zu seinem Bruder Cimeo. Ein vergessenes Grabmal und die Beziehung der Brüder werfen Fragen auf, welche die Beteiligten unversehens in die Intrigen ferner Vorzeit verwickeln und damit ihre Existenzgrundlagen erschüttern. Und so stehen am Ende DREI GEGEN DAS GLÜCK... Die Erzählung verbindet die vorausgegangenen Bände "Die Gebote des Ordens" und "Jeschurun" zu einer lockeren Trilogie.
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Seitenzahl: 648
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Erster Teil: Familiengeheimnisse
Kapitel 1: Der Silberne
Kapitel 2: Das Amulett
Kapitel 3: Gan-shamír
Kapitel 4: Shandrín und Lamirras
Kapitel 5: Utiang und Comiën
Zweiter Teil: Avatar der Quelle
Kapitel 6: Das Grab des Gesegneten
Kapitel 7: Der Tänzer in der Gruft
Kapitel 8: Arigia ruft
Kapitel 9: Tachloa
Dritter Teil: Nemesis
Kapitel 10: Gekreuzte Schlüssel
Kapitel 11: Tunneleffekt
Kapitel 12: Die Bastion des Hüters
Kapitel 13: Nach Westen
Anhang
Warum sind die Stoseeri anders als die übrigen Völker?
Die Stoseeri sind nicht anders, weil sie besser oder schlechter sind als die übrigen Völker.
Aber warum sind sie dann anders?
Sie sind anders als die übrigen Völker, weil sie ihnen ein Licht sein und sie mit ihrem Glück anstecken sollen.
Darum sind die Stoseeri anders als die übrigen Völker.
(Traditioneller Dialog der Stoseeri)
Als der Silberne die Sonnenterrasse betrat, ruhten aller Blicke auf ihn; manche musterten ihn offen, andere verstohlen. Zu auffällig war seine Erscheinung.
Dean1 gehörte zu denen, die ihn verstohlen musterten, denn er wollte nicht auffallen. Dennoch ließ ihn der Anblick nicht los. Der Fremde entsprach nahezu einhundertprozentig dem Klischee, das man sich von den Silbernen machte: ein leichter Bronzeton der Haut, ein auf langen Beinen ruhender, straffer Körper, klassisch geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen, mandelförmige Augen, kein Bartwuchs. Dazu natürlich als auffälligste Merkmale, welche erst die exotische Ausstrahlung begründeten, die namensgebenden, silbrig glänzenden Iriden und der metallische Schimmer des dunklen Haares, das ihm wellig über die Ohren und in den Nacken fiel.
Der Silberne tat, als bemerke er die Blicke nicht, was nicht sein konnte, denn jemand wie er würde außerhalb seiner Heimatwelt überall auffallen, und ließ sich in einem Liegestuhl nieder, der so weit von Dean entfernt war, daß ihm der Blick nunmehr versperrt war. Dean war ein wenig froh darüber, daß er so nicht mehr in Versuchung kam hinzustarren, und rief sich ein paar Dinge in Erinnerung, die er über die Silbernen wußte.
Dieser besondere Menschenschlag stammte vom Planeten Dschubalat, wo er sich vor Zehntausenden von Jahren entwickelt hatte. Damals hatte der Planet noch anders geheißen, aber der ursprüngliche Name lag Dean gerade nicht auf den Lippen. Irgendwann hatte sich „Dschubalat“ durchgesetzt: die Glückliche Welt, wohl wegen des exotischen, als attraktiv empfundenen Aussehens ihrer Bewohner und ihres ungewöhnlich harmonischen Zusammenlebens auf ihrer idyllischen Heimatwelt.
Eine halbe Stunde später erhob sich der Silberne, so daß er wieder in Deans Blickfeld geriet, und trottete gemächlich die Stufen zum Strand herab. Warum hatte er Dschubalat verlassen? Was trieb ihn in ein durchschnittliches Urlaubsressort auf Orplis?
Dean wurde sich plötzlich bewußt, daß sich mancher der anderen Gäste diese Frage vielleicht auch im Hinblick auf seine Person stellte, seit er vor vier Tagen hier angekommen war: an einem durchschnittlichen Reiseziel mit durchschnittlichen Leuten, die den Trubel scheuten, sich aber auch keinen Luxus erlauben konnten. Die allermeisten Touristen waren älter als Dean, Paare in gesetztem Alter, Großeltern mit Enkelkind, eine Familie mit halbwüchsiger Tochter. Bis zur Ankunft des Silbernen war Dean der einzi ge Alleinreisende gewesen, sofern dieser tatsächlich ohne Begleitung gekommen sein sollte; das stand ja noch nicht fest.
Dean setzte sich in seinem Liegestuhl auf, aber der Silberne war außer Sichtweite. Vielleicht war er ins Wasser gegangen. Dean sah sich ein wenig um. Zumindest die Lage des Hotels war überdurchschnittlich, an der Spitze einer Halbinsel, die in ein seichtes Randmeer des Ozeans hinausragte, weißer Sandstrand, eine leichte Dünung, subtropische Vegetation bei angenehmen, nicht zu hohen Temperaturen. Selbst die Möwen machten hierzulande nicht mit heiseren Schreien auf sich aufmerksam, sondern mit hellen, flötenähnlichen Rufen.
Dean hatte diese ruhige Atmosphäre gezielt aufgesucht, abseits vom lauten Massentourismus mit seinen Partys und anderen Bespaßungsmaß-nahmen, aber auch abseits der exklusiven Hochglanzclubs, wo sich die Reichen und Schönen inszenierten – oder diejenigen, die sich dafür hielten. Dean beabsichtigte nicht, in irgendeiner Weise „Anschluß“ zu finden; ein gelegentlicher Smalltalk reichte ihm völlig. Er wollte einfach ungestört seinen Urlaub genießen, und in einer Umgebung wie dieser war das am ehesten möglich.
Vor allem aber, wenn er ehrlich war, wollte er sicher sein vor ungewollter Anmache. Dean wußte, daß er als gutaussehend galt, konnte das selbst jedoch nur bedingt nachvollziehen. Gewiß, er war groß, hielt sich fit, war kein Muskelprotz, hatte aber eine sportliche Statur und einen trainierten Oberkörper, der sich durchaus sehen lassen konnte. Die krausen blonden Haare waren kurz geschnitten. Doch wenn er in den Spiegel sah, erblickte er ein ovales Gesicht ohne sonderlich markante Züge, das er als durchschnittlich erachtete. Was wiederum gut zu meiner Urlaubsumgebung passen würde, dachte er unvermittelt.
Dean beschloß, sich von dem Silbernen nicht ablenken zu lassen. Überhaupt: Dieser exotisch schöne Fremde war sowieso eine Nummer zu groß für ihn.
Schon bald mußte Dean feststellen, daß Vorsätze leichter zu fassen waren als einzuhalten. Beim Abendessen im Speisesaal saß der Silberne nur drei Tische weiter. Auch jetzt blieb er allein, also war er wohl tatsächlich ohne Begleitung vor Ort. Dean versuchte ihn zu ignorieren und konzentrierte sich auf sein Abendessen: einige Scheiben geräucherter Fisch, dazu eine scharfe Tunke, frisches Brot und ein wenig Salat, liebevoll angerichtet, und es schmeckte auch sehr gut.
In den vergangenen Tagen hatte Dean es sich angewöhnt, nach dem Essen im Speisesaal zu verweilen und den Blick auf das abendliche Meer zu genießen. Auch der Silberne saß noch an seinem Platz. Gar nicht erst hinschauen! bleute Dean sich zum wiederholten Male ein und blickte nach draußen. Das Meer war ein dunkler glatter Spiegel unter dem allmählich verblassenden Himmel. Ein letztes Boot suchte seinen Heimathafen auf, und irgendwo in der Ferne blinkte bereits ein Leuchtturm. Dean bemerkte einige Minuten später, daß der Silberne an seinem Tisch vorüberging, aber er versagte es sich, den Blick vom Fenster abzuwenden.
Beim Frühstück am nächsten Morgen begegnete Dean dem Silbernen nicht. Vermutlich war er schon vor ihm dagewesen, denn Dean kam stets als einer der letzten. Er liebte es, im Urlaub auszuschlafen. Anschließend brach er zu einem Spaziergang auf; vielleicht würde er auch ein wenig schwimmen gehen, aber nicht am Hotelstrand, wo das Wasser seicht und wannenwarm war. Er ging durch die parkartig gestaltete Landschaft, in der es überall blühte und summte und aus der sich einzelne säulenförmige Bäume erhoben.
Im nächsten Moment blieb Dean stehen. Etwa fünfzig Meter vor ihm war der Silberne und sah von einer kleinen Anhöhe auf das Meer und eine vorgelagerte Sandbank. Wenn Dean seinen Weg fortsetzte, würde dieser ihn unmittelbar an dem anderen vorbeiführen. Die Begegnung wäre unvermeidlich. Dean überlegte kurz, dann machte er kehrt und suchte sich eine andere Route. Sollte er sich morgen einem der Tagesausflüge anschließen, die das Hotel anbot, in ein Naturreservat, eine nahegelegene Hafenstadt oder ein pittoreskes Bergdorf? Eigentlich hatte er das erst in der zweiten Urlaubswoche vorgehabt, aber so würde er dem Silbernen zunächst einmal aus dem Weg gehen – falls dieser sich nicht zu demselben Ausflug entschließen sollte.
Dean ärgerte sich ein wenig über seine spontane Reaktion. Er hatte sich doch vorgenommen, den Silbernen zu ignorieren! Also durfte er sein eigenes Verhalten auch nicht von dessen Anwesenheit beeinflussen lassen. Aber tat er gerade nicht genau das? Über Umwege erreichte er eine wenig belebte kleine Badebucht und stellte erleichtert fest, daß er hier ungestört war.
Zum Mittagessen saß der Silberne am selben Tisch wie am Vorabend. Wie es nicht anders zu erwarten war, denn die Gäste hatten feste Plätze. Dean setzte sich diesmal mit dem Rücken zu ihm, so daß er nicht der Versuchung erlag hinüberzuschielen. Dafür hatte er nun selbst das Gefühl, angestarrt zu werden. Konnte das sein? Hatte der Silberne ihn bemerkt? War Dean ihm aufgefallen?
Dean merkte, daß er seine Mahlzeit schneller zu sich nahm als sonst. Wieder schalt er sich selbst: Es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Bleib ganz du selbst, und laß ihn einfach links liegen. Du willst doch überhaupt nichts von ihm. Oder?
Am Nachmittag machte Dean etwas Fitneß, dann ging er noch einmal ins Wasser, diesmal in den hoteleigenen Pool. Der Silberne war nirgends zu sehen. Bis der Abend kam. Dean hatte bereits seinen Platz eingenommen, als der Silberne den Speisesaal betrat. Er vertiefte sich in die Abendkarte, obwohl er seine Wahl längst getroffen hatte. Der Silberne näherte sich seinem Tisch. Aus den Augenwinkeln nahm Dean wahr, daß der Fremde ihm kaum merklich zunickte. Bevor er wußte, wie er darauf reagieren sollte, war der andere schon vorbei.
Dean schluckte. Der Silberne hatte ihn also beachtet. Aber weshalb? Aus reiner Höflichkeit?
Was hatte ihn nur nach Orplis verschlagen? fragte Dean sich erneut. Soweit er wußte, verließen die Silbernen ihre „glückliche Welt“ nur selten und für kurze Zeit. Gut, auch ein Silberner wollte vielleicht einmal etwas von der Galaxis sehen, aber gab es da nicht interessantere Ziele als das ein wenig verschlafene Orplis?
Dean machte eine ruckartige Bewegung mit den Schultern, als wolle er etwas abschütteln. Was ging ihn das an? Was ging ihn der Silberne an? Er trank einen Schluck von dem kühlen, schwach roséfarbenem Wein, der vor ihm stand. Hatte ihm der Silberne vorhin eigentlich wirklich zugenickt? Oder hatte Dean sich das vielleicht nur eingebildet?
Am nächsten Morgen war Dean zeitiger wach als sonst und damit auch entsprechend pünktlich am Frühstückstisch. Dennoch traf er nicht auf den Silbernen. Dean schmierte sich gerade Butter auf sein ofenfrisches Baguette, da entdeckte er ihn draußen auf der Sonnenterrasse, wo er eine Art gymnastischer Übungen betrieb. Es sah eher akrobatisch als schweißtreibend aus. Obwohl er einen schlanken, fast jungenhaften Körper hatte, wirkte er trainiert. Wie alt mochte er wohl sein? So um die Dreißig?
Dean widmete sich wieder seinem Frühstück. Als er das nächste Mal aus dem Fenster blickte, war der Silberne fort. Dean wartete noch, bis der Kellner abgeräumt hatte, dann brach er zu seinem Morgenspaziergang auf. Dem Silbernen begegnete er dabei diesmal nicht.
Kurz vor Mittag kehrte Dean von seiner Badebucht zurück und steuerte einen Nebeneingang des Hotels an. Gerade als er die Glastür öffnen wollte, trat eine ältere Dame hinter einer Säule im Inneren hervor und näherte sich dem Eingang. Dabei benutzte sie einen Gehstock, obwohl sie ansonsten nicht gebrechlich wirkte. Dean zog die Tür auf und ließ ihr lächelnd den Vortritt.
„Ach, das ist aber nett von Ihnen, junger Mann“, bedankte sie sich prompt.
„Nicht der Rede wert“, versicherte Dean.
Aber die Grauhaarige war noch nicht fertig. „Sie erinnern mich an meinen Sohn“, verriet sie. „Als er jünger war, natürlich. Heute ist er selbst bereits Großvater.“ Sie berührte kurz die Perlenkette um ihren Hals, als wolle sie sich überzeugen, daß sie noch da sei. „Haben Sie auch Kinder?“
Dean schüttelte den Kopf. „Nein, bedaure.“ Eigentlich bedauerte er das überhaupt nicht, aber das war jetzt wohl egal.
„Na, dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Vielleicht sehen wir uns beim Essen.“ Sie trottete davon, und Dean sah ihr noch einen Moment hinterher. Dabei stand er in der offenen Tür, mit dem Rücken zum Innenraum. Er wandte sich um, um seinen Weg fortzusetzen – und stieß im selben Moment mit etwas zusammen, nein, nicht mit „etwas“, sondern mit einer Person. Flüssigkeit schwappte über seinen Arm und seine Brust und näßte sein Hemd.
„O, wie ungeschickt von mir!“ hörte er eine männliche Stimme. „Das tut mir wirklich leid.“
Erst in diesem Augenblick nahm Dean die Person wirklich wahr – und blickte in silbrige Iriden! Einen Atemzug lang schien die Zeit stillzustehen, aber nicht, weil ihn dieser Blick so sehr faszinierte. Vielmehr war es wie der Anhauch eines fernen Unheils, der ihn streifte, die erste schwarze Wolkenbank am Horizont, die den Sturm ankündigte. Aber dieser Eindruck war derart flüchtig, daß Dean ihn schon in der nächsten Sekunde wieder vergessen hatte.
„Ich... Ich habe Sie überhaupt nicht gesehen“, stammelte Dean. Woher war der Silberne gekommen? War er auch aus dem Schatten der Säule getreten wie die alte Dame vorhin?
„Natürlich übernehme ich die Kosten für die Reinigung Ihres Hemdes“, beeilte der Silberne sich zu versichern.
Dean winkte ab. „Darum wird sich schon der Hotelservice kümmern.“
Ein Lächeln trat auf das Gesicht seines Gegenübers. „Bei der Gelegenheit, mein Name ist SHANDRÍN2“, stellte er sich vor.
„Deamell.“ Dean stutzte. Habe ich wirklich „Deamell“ gesagt? „Das heißt, das ist mein Geburtsname“, verbesserte er sich hastig, „aber so nennt mich nur meine Mutter. Jeder andere sagt ‚Dean’ zu mir. Sogar mein Vater.“ Im nächsten Moment ärgerte er sich. Was rede ich hier nur für einen Stuß? Erzähl ihm doch gleich deine ganze Familiengeschichte! „Aber das wird Sie ja kaum interessieren“, setzte er deshalb hinzu.
„Dann lassen Sie mich Ihnen wenigstens einen Drink ausgeben“, erwiderte der Silberne, ohne auf Deans letzte Worte einzugehen. Er schaute auf sein verschüttetes Glas. „Ich glaube, ich brauche auch einen neuen.“
„Das kann ich wohl nicht ablehnen.“ Erleichtert registrierte Dean, daß der Silberne zurücksiezte. Zwei Männer ihres Alters hätten sich – zumal in dieser Urlaubssituation – auch spontan duzen können, aber Dean war es lieber so.
Sie suchten eine Bar im Außenbereich auf, nicht weit vom Pool. Der Blick fiel auf niedrige Palmen, einen Steingarten und eine blütenübersäte Pergola. Ein unverbindlicher Smalltalk entspann sich zwischen ihnen: das Hotel, die Umgebung, die flötenden Möwen; alles blieb höflich und distanziert. Dean hätte gerne gewußt, was den Silbernen nach Orplis gelockt hatte, aber die Frage erschien ihm zu intim.
Schließlich entschuldigte er sich, weil er vor dem Mittagessen noch das bekleckerte Hemd tauschen wollte. Er ließ sich ein wenig Zeit, und als er zurückkam, war Shandrín verschwunden. Aber es war ja auch nicht die Rede davon gewesen, daß er auf Dean hätte warten wollen.
Erst gegen Abend sah Dean ihn wieder. Er saß bereits im Speisesaal, ein weitläufiger, heller Raum, der anders, als die ein wenig nüchterne Bezeichnung vermuten ließ, geschmackvoll eingerichtet war und zum Bleiben einlud. Shandrín betrat ihn von der Terrasse her, kam an Deans Tisch vorbei und lächelte ihm vorsichtig zu.
Dean faßte sich ein Herz. „Setzen Sie sich doch zu mir, wenn Sie mögen.“ Schon wunderte er sich darüber, daß er den Mut gefunden hatte, den Silbernen dazu aufzufordern.
„Ja, warum nicht? Sehr freundlich.“ Der andere nahm Platz. „Sind Sie schon länger hier?“
„Nein, ich bin vier Tage vor Ihnen angereist.“ Woraus sich schließen ließ, daß Dean die Ankunft des Silbernen bewußt registriert hatte.
Shandrín fuhr sich durch die metallisch schimmernden Haare. „Woher ich komme, muß ich ja wohl nicht groß erläutern“, meinte er und verzog dabei einen Mundwinkel.
„Von Dschubalat,“ ergänzte Dean das Offensichtliche.
Shandrín schaute ihn aus seinen Silberaugen an. Was für ein Blick! „Wir STOSEERI nennen den Planeten LAPÚJ“, sagte er.
Dean hob die Augenbrauen. „Das sind gleich zwei Begriffe, die mir nichts sagen“, bedauerte er.
„Entschuldigung.“ Shandrín verschränkte die Finger. „‚Stoseeri‘ ist unsere Eigenbezeichnung, obgleich sie auch nichts anderes bedeutet als ‚Silberne‘, und unseren Heimatplaneten nennen wir ‚Lapúj‘, an Stelle von Dschubalat.“
„Die ‚Glückliche Welt‘“, assoziierte Dean.
„Nicht ganz“, korrigierte Shandrín. „‚Lapúj‘ steht für ‚die Schützende‘ und soll darin erinnern, daß der Planet uns Stoseeri in besonderer Weise beschützt.“
„Was für eine Sprache ist das?“
„Das ist STOSERVÁN3, die ‚Rede der Silbernen‘. Wir gebrauchen diese Sprache nur untereinander auf Lapúj. Aber wie Sie hören, sprechen wir auch die Normsprache.“
Dean war verblüfft. Allmählich erst wurde ihm klar, wie wenig er über die Silbernen und ihre Welt wußte. Aber sie verließen Dschubalat eben selten und schotteten sich ein wenig gegen die restliche Galaxis ab. Für Besucher war – soweit Dean wußte – ein Aufenthalt zwar grundsätzlich möglich, aber die Kontingente dafür waren sehr klein.
Eine Kellnerin kam an den Tisch und erkundigte sich nach ihren Getränkewünschen. „Und woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?“ nahm Shandrín das Wort nach einer Weile wieder auf.
„Das ist kein Geheimnis,“ entgegnete Dean. „Ich lebe seit meiner Geburt auf Targuan, mittlerweile abseits der Metropolen, eine mittelgroße Stadt.“
„Targuan... Das muß eine interessante Welt sein.“
Dean zuckte die Achseln. „Sagen wir so: Es ist ein wenig mehr los als auf Orplis, in manchen Teilen jedenfalls.“ Er erkannte, daß ein günstiger Zeitpunkt gekommen war, die Frage zu stellen, die ihm schon heute mittag auf den Lippen gelegen hatte. „Aber Sie scheinen ja auch die Ruhe zu lieben, sonst wären Sie ja wohl kaum auf diesen Planeten gereist, oder?“
Einen Augenblick lang war es, als erstarre Shandrín. War das doch die falsche Frage? „Lapúj ist schön“, meinte er dann leichthin, als sei nichts gewesen. „Aber ich wollte auch mal was anderes sehen.“ Er zögerte kurz. „Der Alltag kann manchmal stressig sein, und die Ruhe hier gefällt mir. Soviel Trubel mag ich nicht.“
„Nun, dann geht es Ihnen ja ähnlich wie mir“, stimmte Dean zu. „Den Trubel meide ich auch.“
Die Kellnerin brachte ihre Drinks, und sie prosteten sich zu. Bis die Gläser leer waren, unterhielten sie sich noch über ein paar Belanglosigkeiten, doch zum Essen setzte der Silberne sich an seinen eigenen Tisch.
Als Dean später am Abend das Licht löschte und sich auf seinem bequemen Bett ausstreckte, dachte er nach. Shandrín ging ihm nicht aus dem Sinn. Wollte er etwas von Dean? Und: Will ich überhaupt etwas von ihm? Der Zusammenstoß mit dem Silbernen von heute mittag schwirrte immer wieder durch seine Gedanken. War das wirklich ein Mißgeschick gewesen, ein dummer Zufall? Im nachhinein kam ihm das fast wie arrangiert vor. Hatte Shandrín die günstige Gelegenheit ausgenützt, um mit ihm in Kontakt zu kommen?
Deans Stimmung schlug plötzlich um. Mit Beziehungen hatte er keine guten Erfahrungen gemacht. Zwar war es ihm nie schwergefallen, neue Leute kennenzulernen und bei Gefallen mit ihnen anzubandeln, aber auf die Dauer war das nie gutgegangen. Dean hatte eine Art Theorie entwickelt, woran das lag. Da er auf andere offenbar attraktiv wirkte, zog er anscheinend bevorzugt solche Typen an, die ihren „Marktwert“ ähnlich hoch einschätzten. Doch dies waren anders als Dean oft Blender, die außer einer hübschen Verpackung nicht viel zu bieten hatten und vor allem eines wollten: Sex. Nun gut, das wollte Dean auch, aber eben doch noch ein bißchen mehr…
Deans Gedanken waren auf Abwege geraten. Zurück zu Shandrín... Die Silbernen verließen ihren Planeten – Lapúj, die Schützende, wie Dean seit kurzem wußte – nicht dauerhaft. Von einer möglichen Beziehung konnte daher gar keine Rede sein. Allenfalls von einem kleinen Urlaubsflirt. Wollte Dean sich darauf einlassen? War er überhaupt gut genug für den Silbernen, diesen exotischen Schönen?
Jetzt hatte er so viel gegrübelt, daß der Schlaf sich nicht sobald einstellen würde. Er stand noch einmal auf, ging auf den Balkon und sah in die Ferne. Über dem dunklen Meer wölbte sich ein prächtiger Sternenhimmel. Einige Sterne strahlten so hell, daß sie ein fahles Licht verbreiteten, fast wie bei Mondschein, aber Orplis besaß keinen Mond. Irgendwo in diese Richtung lagen die menschlichen Zentralwelten, zu denen auch Targuan zählte, sein Heimatplanet. Doch im Moment zog ihn nur wenig dorthin zurück.
Als Dean am Frühstücksbüfett anstand, erschien auf dem Monitor darüber die Nachricht, daß noch einige Plätze für die heutige Ausflugsfahrt frei waren.
„Ich überlege mitzufahren“, teilte eine Stimme in Deans Rücken mit, die er bereits auf Anhieb erkannte: Shandrín. Er mußte gerade erst hinter ihn getreten sein. „Hätten Sie nicht eventuell auch Lust?“
„Wohin geht es denn?“ fragte Dean und holte sich die Antwort vom Monitor: „In das Bergdorf.“ Eigentlich hätte er lieber in die Hafenstadt gewollt, aber... „Ja, ein kleiner Ausflug, warum nicht?“ Der Platz am Büfett wurde frei, und Dean begann, sich seinen Frühstücksteller zusammenzustellen. „Diese Dinger hier sind sehr schmackhaft“, bemerkte er und wies Shandrín auf eine Schale krapproter Früchte von der Größe eines kleinen Hühnereis hin.
„Stimmt“, bestätigte der Silberne und nahm sich eine. „Das sind Tungeeten. Die gibt es auf Lapúj auch.“
„Ach!“ machte Dean überrascht.
Shandrín grinste. Stand ihm gut. „Sie wissen nicht viel über Lapúj, wie?“ vermutete er zurecht. „Aber auf der Fahrt werden wir ja ein wenig Zeit haben, uns zu unterhalten.“
Dean und Shandrín saßen nebeneinander in den gut gepolsterten Sitzen des hoteleigenen Kleinbusses und sahen die Landschaft vorbeistreichen. Die avisierte Unterhaltung kam nur ein wenig schleppend in Gang, als wolle keiner der beiden in Verdacht geraten, er dränge sich dem anderen auf. Dabei war das doch offenbar der wirkliche Zweck dieses Ausflugs: sich näher kennenzulernen, die gegenseitigen Absichten zu sondieren und so ein wenig von der Distanz abzubauen, die vor allem Dean aus Gründen der Vorsicht pflegte. Denn daß beide Parteien ein grundsätzliches Interesse daran hatten, war nicht mehr abzustreiten, auch wenn der Ausgang offen war.
Die Straße wandte sich von der Küste ab und querte eine Gegend mit sanften Hügeln, die auf unterschiedliche Weise bewirtschaftet wurde. Im Hintergrund zeichnete sich bereits als bläulicher Schemen eine Bergkette ab, in der einige schroffe Felsspitzen zu erahnen waren.
Die allmählich flüssiger werdende Unterhaltung war inzwischen wieder bei Lapúj und den Stoseeri angekommen.
„Ich habe in meinem Leben noch nicht viele Silberne gesehen“, gestand Dean.
„Die meisten verlassen Lapúj nie,“ verriet Shandrín. „Es existiert eine ungewöhnlich enge Bindung der Stoseeri an ihren Planeten.“
„Und wieso ist das so?“
Shandrín kratzte sich am Kopf. „Nun, die Gründe dafür reichen weit in die Vergangenheit“, holte er aus. „Vor mehreren Zehntausend Jahren bildete sich auf Dschubalat diese ungewöhnliche Menschenform. Im Anfang haben Stoseeri ihrem Planeten wohl noch den Rücken gekehrt und sich auf anderen Welten niedergelassen. Doch stellte sich heraus, daß sie dort in der zweiten Generation ihre Eigenart verloren und wieder zu ‚normalen’ Menschen wurden. Daraufhin verließen immer weniger Stoseeri Dschubalat, und das auch nur noch zeitweise oder wenn es unbedingt sein mußte. Zudem stellte sich mit der Zeit ein besonderer Einklang ein, ein geradezu symbiotisches Verhältnis zu der Welt, auf der sie lebten. Aus Dschubalat, der Glücklichen, wurde Lapúj, die Schützende. Kein STOSIR4 kann sich heute vorstellen, dauerhaft außerhalb von Lapúj zu leben.“
Dean ließ den kleinen Vortrag auf sich wirken. Immerhin erfuhr er hier Sachverhalte, von denen er noch nie gehört hatte, und das aus erster Hand. „Aber Sie haben Dschubalat verlassen“, merkte er schließlich an.
„Ja, für einen Urlaub“, schränkte Shandrín ein. „Und im übrigen gibt es da natürlich graduelle Unterschiede. Nicht alle Stoseeri sind gleich.“
Dean wurde mutiger. „Aber irgendwie schotten sich die Silbernen doch ab. Sie wissen, daß man ihnen deshalb eine gewisse Geheimniskrämerei nachsagt?“
Shandrín lachte kurz auf. „Ja, gewiß.“
„Und? Stimmt das?“
Shandrín versuchte, eine entspannte Haltung einzunehmen. Dennoch erschien es Dean auf eine unbestimmte Art gekünstelt. „Wer hat keine Geheimnisse? Haben Sie denn keine?“
„Ich? Äh...“ Dean war irritiert. Mit dieser Replik hatte er nicht gerechnet. Der Busfahrer rettete ihn, weil er gerade in diesem Moment einige Informationen zu einem Stausee weitergab, über dessen Staumauer der Weg des Busses soeben verlief. Die Bergkette war inzwischen deutlich nähergekommen und baute sich fast ein wenig drohend vor ihnen auf. Der spektakulärere Teil der Fahrt begann damit und zog die Aufmerksamkeit der Ausflügler auf sich.
Das Bergdorf war idyllisch, doch vom Tourismus nicht ganz unberührt. Dean und seine Begleiter waren nicht die einzige Reisegruppe. Doch die Besucher verteilten sich so weit, daß es nicht überlaufen wirkte.
Gemeinsam mit Shandrín schlenderte er durch verwinkelte Gäßchen und über steile, ausgetretene Stiegen. Die meisten der kleinen, schindelgedeckten Häuser waren cremefarben gestrichen; einzelne Gebäude hoben sich davon ab – ein helles Rosa oder ein pastellenes Mintgrün –, ohne daß damit eine bestimmte Bedeutung markiert zu sein schien. Ab und zu tat sich zwischen den Mauern unvermittelt ein kleiner, begrünter Platz auf. Meist gab es hier auch ein gastronomisches Angebot, das von den Touristen rege genutzt wurde. Als die beiden einen dieser Innenhöfe entdeckten, der nur locker gefüllt war, ließen auch sie sich nieder.
„Wirklich schön hier“, meinte Shandrín lapidar und rückte seinen Stuhl zurecht.
Dean ließ seinen Blick schweifen. Ein kleiner Brunnen plätscherte. Sattgelbe Blüten leuchteten aus den Blumenkästen. „Ja“, bestätigte Dean, „hätt’ ich, ehrlich gesagt, gar nicht gedacht.“ Shandrín ließ sich von der Sonne bescheinen; die silbrigen Augen waren halb geschlossen. Er sagte nichts. Schweigen... Dean entschied sich für einen Klassiker: „Was machen Sie eigentlich beruflich?“
Shandrín hob die Lider. „Ich bin Architekt“, gab er bekannt. „Ich habe eine eigene Agentur.“
„Aha“, entfuhr es Dean.
„Überrascht?“
„Nein, wieso?“
„Nun, manche Menschen glauben, wir lebten auf Lapúj wie im Paradies. Keiner braucht zu arbeiten, und die gebratenen Tauben fliegen uns in den Mund.“
„Für so naiv halten Sie mich hoffentlich nicht.“ Dean schmunzelte. „Und das läuft ganz gut mit der Architektur?“
„Ich kann nicht klagen“, antwortete Shandrín. „Gelegentlich habe ich schon Aufträge ablehnen müssen, weil es zuviel wurde. Und Sie?“
Die absehbare Gegenfrage. „Ich habe Naturwissenschaften studiert.“ Dean zuckte die Achseln. „Familiäre Vorbelastung. Mein Vater ist Dozent für Astrophysik an einem renommierten Institut auf Eljee. Aber zu einer akademischen Karriere hat es bei mir nicht gereicht. Ich verdinge mich als Gutachter und technischer Berater.“
„Also sind Sie auch selbständig“, schloß der Silberne. „Dann haben wir ja etwas gemeinsam.“
Dean kam vorerst nicht dazu, eventuelle Gemeinsamkeiten zu vertiefen, da sich eine junge Kellnerin nach ihren Wünschen erkundigte. Sie bestellten Most und eine kleine Brotzeit.
Nach dem Essen suchten Dean und Shandrín einen Aussichtspunkt oberhalb des Dorfes auf, von dem aus man einen grandiosen Ausblick auf den Ort, das Tal, in dessen Hang es sich schmiegte, und die gegenüberliegenden Bergketten besaß.
„Beeindruckend“, staunte Shandrín und starrte in ätherische Ferne.
„Das ist es“, gab Dean zu. „Und doch gehöre ich eher zur ‚Fraktion Wasser’. So schön es hier ist, das Meer ist mir lieber.“
Er hatte den Eindruck, daß Shandrín etwas sagen wollte, es sich dann aber doch verkniff und auf andere Weise fortfuhr. „Sie erwähnten vorhin Ihren Vater. Meine Eltern sind bereits im Ruhestand. Aber meine Schwester und ihre vier Kinder halten sie auf Trab.“ Er nahm einen Kiesel und warf ihn in die Tiefe. Er fiel so weit, daß man nur einen leisen Aufprall hörte. „Wir Stoseeri sind ausgesprochene Familienmenschen, die meisten wenigstens. Ich nehme mich da nicht aus.“
„Na, meine Familie ist nicht ganz so harmonisch“, räumte Dean ein. „Meine Eltern haben sich getrennt, als ich volljährig wurde und zu studieren begann. Sie hatten sich schon länger auseinandergelebt. Geschwister habe ich keine.“ Er versank kurz in den Erinnerungen. „Mein Vater trat kurz darauf seine Dozentur auf Eljee an und lebt in einer neuen Beziehung. Meine Mutter hatte sich bereits in der Designbranche einen Namen gemacht und ging deshalb nach Drannún. Sie ist... ein wenig exzentrisch. Heute sehe ich beide nur noch relativ selten.“
„Dann kontrollieren Sie mit Ihrer Familie also die drei galaktischen Hauptwelten: Eljee, Drannún und Targuan.“
Dean lachte. „Wenn Sie das so sehen wollen.“
Shandrín sah auf die Uhr. „Ich glaube, wir müssen allmählich zurück. Sonst fährt der Bus noch ohne uns.“
„Das wollen wir lieber nicht riskieren.“
„Na, dann.“ Shandrín versetzte Dean einen kurzen, aufmunternden Klaps auf die Schulter. Dean registrierte, daß es die erste Berührung seit ihrem unfreiwilligen Zusammenstoß war. Aber er vermochte darin keinen plumpen Annäherungsversuch zu erkennen.
Dean saß wieder auf seinem Balkon und dachte nach. Die Sonne war noch nicht lange untergegangen, und der wolkenlose Himmel leuchtete noch in einem gelblichen Ton. Auf dem Tischchen neben ihm stand ein Erfrischungsgetränk mit einem Spritzer Rum.
Er ließ den Tag mit Shandrín Revue passieren. Nach dem Abendbrot waren sie unterschiedliche Wege gegangen. Dean war deswegen nicht enttäuscht, im Gegenteil. Diese allmähliche Annäherung behagte ihm. Bei seinen früheren Bekanntschaften hatte stets das Sexuelle dominiert. Man war schnell im Bett gelandet und übereinander hergefallen. Im günstigeren Fall war das dann für ein paar Wochen so weitergegangen, bis die erste Leidenschaft erlahmt und die Gemeinsamkeiten auch schon erschöpft waren.
Bei Shandrín war das ganz anders. Die Sympathie war da, auf beiden Seiten, kein Zweifel, aber ihre Begegnungen waren von gegenseitigem Respekt geprägt. Sogar das formale „Sie“ hatten sie bis zum Ende des Tages beibehalten, obwohl es doch wohl langsam an der Zeit war, zum „Du“ zu wechseln. Konnte es also doch etwas werden mit dem Silbernen? Aber was? Ihre Zeit auf Orplis war doch begrenzt.
Mit Unbehagen entsann Dean sich an die letzte seiner Kurzzeitbeziehungen. Rund sieben Jahre war das nun her. Auch damals hatte er gedacht, mit diesem Partner könnte es anders sein. Zum ersten und einzigen Mal hatte er ihn sogar in die eigene Wohnung aufgenommen. Doch schließlich hatte der andere sich als ein schlimmerer Blender erwiesen als alle vor ihm, und das Ganze war in einem Desaster geendet, das Dean am liebsten aus seiner Erinnerung getilgt hätte. Nun aber stand es ihm wieder vor Augen. Danach hatte er sich nur noch auf rein sexuelle Abenteuer eingelassen, und auch das nur in großen Abständen, wenn der Druck übermächtig wurde.
Dean schloß die Augen und versuchte Shandrín zu imaginieren. Ja, der exotische Silberne war schön und attraktiv. Nach seinen negativen Erfahrungen mit eitlen Selbstdarstellern, die außer einer hübschen Fassade nichts zu bieten hatten, hatte Dean eher durchschnittliche Typen bevorzugt. Diese hatten sich aber oft nicht so recht an ihn herangetraut, vielleicht weil sie Dean ebenfalls für so einen eingebildeten Schönling hielten. War auch Shandrín ein Blender? Dean konnte es sich nicht vorstellen, aber es wäre ja nicht das erste Mal, daß er sich täuschte.
Das Restlicht des Sonnenuntergangs war fast verblaßt. Die Silhouetten einiger vorbeigleitender Vögel zeichneten sich nur noch schwach ab. Dean war müde. Er trank sein Glas aus und ging zu Bett. Am nächsten Morgen hatte er den vagen Eindruck, von Shandrín geträumt zu haben.
Als Dean den Speisesaal betrat, entdeckte er draußen Shandrín, der wieder seine seltsame Gymnastik betrieb. Dabei trug er ein schwarzes Trikot und eine knielange Hose. Eine Viertelstunde später erschien auch er zum Frühstück. „Darf ich?“ fragte er.
Dean nickte lächelnd, so daß Shandrín sich zu ihm setzte. „Was sind das eigentlich für Übungen, die Sie da machen?“ wollte er wissen.
„Auf Lapúj nennen wir das JUGA“, verriet der Silberne. „Es kräftigt den Körper wie den Geist.“
„Noch nie gehört“, staunte Dean.
„Wie halten Sie sich fit?“ Shandrín schob sich eine Tungeete in den Mund.
„Ach, das übliche Training“, meinte er. „Hier schwimme ich natürlich auch häufiger.“
„Wir könnten nachher gemeinsam schwimmen gehen. Was halten Sie davon?“
Dean zögerte einen Moment, bevor er antwortete: „Ich kenne da eine Badebucht. Ruhig gelegen und auch für etwas sportlichere Schwimmer geeignet.“ Er dachte daran, daß er am letzten Abend gedacht hatte, es sei Zeit sich zu duzen.
„Hört sich gut an“, stimmte Shandrín zu und goß sich Tee nach. „Bleiben wir beim ‚Sie‘?“
Dean erschrak ein wenig, weil der andere seinen eigenen Gedanken aufgegriffen hatte. Dann überwand er sich. „Ich habe nichts gegen ein ‚Du‘.“
Auf dem Weg zur Badebucht überlegte Dean, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Würde Shandrín argwöhnen, er habe ihn mit Hintergedanken an einen einsamen Ort gelockt, wo er mit ihm ungestört blieb? So war Dean erleichtert, daß an diesem Vormittag eine Handvoll weiterer Badegäste zugegen war.
Rasch entkleideten sie sich bis auf die Badehose. Dean musterte verstohlen Shandríns Körper, den er das erste Mal derart unverhüllt sah: ausgesprochen schlank, aber nicht schmächtig, voll Spannung und straff, die bronzene Haut glatt wie eine Tungeete; wie der Bartwuchs fehlte ihm als Stosir offensichtlich auch die übrige Körperbehaarung. Doch es war nicht einseitig. Dean bemerkte auch Shandríns Blicke.
Bevor es peinlich zu werden begann, lief er Richtung Wasser und stürzte sich in die Fluten. Shandrín folgte ihm. Sie schwammen um die Wette, beobachteten Fische und Seesterne im glasklaren Wasser oder sprangen von einem flachen Felsen kopfüber hinein. Zu erneuten Berührungen kam es nicht; nur einmal verhakten sich ihre Füße, aber das war eindeutig keine Absicht.
Nach einer Weile fühlten sie sich ausgepowert und kehrten an den Strand zurück. Flüchtig trockneten sie sich ab; den Rest erledigte die Sonne. Nebeneinander, aber mit Abstand, setzten sie sich in den Sand.
„Deine Augen sind so blau wie das Meer“, erklärte Shandrín plötzlich, ohne Dean dabei anzusehen.
Wenn du mir schon ein Kompliment machst, dachte er daraufhin, warum schaust du mich dann nicht an? Aber er sagte nichts.
„Wie alt bist du?“
Dean hatte sich nicht getraut, diese Frage zu stellen. „Fünfunddreißig“, gab er wahrheitsgemäß zur Antwort. Immerhin hatte er nun die Rechtfertigung zur Gegenfrage: „Und du?“
„Ein Jahr älter.“
Dean konnte seine Überraschung nicht völlig verbergen.
„Du hast mich für jünger gehalten“, erriet Shandrín korrekt.
„Ein wenig“, gab Dean zu.
„Wir Stoseeri altern langsamer als die übrigen Menschen“, erläuterte der Silberne, „und werden meist auch ein paar Jahre älter.“
Wieder etwas, was Dean nicht gewußt hatte. „Eine wahrhaft glückliche Welt“, kommentierte er.
„Leben wir denn nicht alle im Glücklichen Reich?“ stellte Shandrín eine weitere Frage in den Raum.
Dean spähte auf das Meer hinaus, das so blau sein sollte wie seine Augen. „Glück allüberall“, spöttelte er schließlich.
Auf dem Rückweg zum Hotel ging Dean Shandríns letzte Bemerkung durch den Sinn: Leben wir denn nicht alle im Glücklichen Reich?
Dschubalat alias Lapúj galt als eine besonders glückliche Welt, aber in weiterem Sinne traf das auch auf die Gesamtheit der Menschheitswelten zu, die unter dem Schirm des Großen Bundes weite Teile der Galaxis umfaßte. Seit einigen zehntausend Jahren lebte diese Menschheit in innerem wie äußerem Frieden, stabilen Zuständen und einem allgemeinen Wohlstand.
Gewiß gab es auch Verbrecher, Störenfriede oder andere Quertreiber, aber das waren Einzelfälle, die das Gleichgewicht nicht nachhaltig beeinflußten. Insgesamt hatte die Menschheit ein Niveau des guten Lebens erreicht, wie es – nach allem, was man über die Vergangenheit wußte – zuvor niemals existiert hatte. Man wähnte sich, und das offenbar nicht ganz zu Unrecht, im Goldenen Zeitalter der Menschheit. Im Alltag freilich wurde dieser Umstand kaum reflektiert. Seit ungezählten Generationen kannte es ja niemand anders, und wer wollte sich schon beschweren, in einem Glücklichen Reich zu leben?
Sie betraten das Hotel durch den Nebeneingang, in dem Dean vor zwei Tagen mit Shandrín zusammengerasselt war. Er fragte sich immer noch, ob es sich wirklich um einen Zufall gehandelt hatte.
„Ich nehme an, du willst dich auch zum Essen umziehen“, vermutete Shandrín.
„Ja, klar“, bestätigte Dean.
Der Silberne faßte ihn an den Oberarm, nicht lange, aber diese Berührung war kein Zufall. „Dann bis gleich“, sagte er lächelnd.
Die zwei verbrachten den Nachmittag ebenso miteinander wie auch den Großteil des Folgetages. Doch es blieb beim vorsichtigen „Abtasten“; ab und zu ein Körperkontakt im sozial adäquaten Rahmen, nichts Intimes.
Am Abend bestiegen sie gemeinsam den Lift, um den Speisesaal aufzusuchen. Sie waren allein, und als Shandrín sich ihm näherte und Dean ihm in die Silberaugen sah, wußte er, was er vorhatte. Ihre Lippen trafen aufeinander, sanft und nur für einen Moment; es war wie der verschüchterte erste Kuß zweier Fünfzehnjähriger.
Shandrín war ganz gewiß genausowenig unerfahren wie Dean, und gerade aus diesem Grund fand er dieses „Küßchen“ bezaubernd. Er überlegte noch, ob er außer mit einem Lächeln irgendwie reagieren sollte, aber da öffnete sich auch schon wieder die Tür des Lifts.
Es war, als wenn dieser ach so zarte Kuß etwas verändert hatte. In dieser Nacht sehnte Dean sich nach Shandrín. Die Bedenken, ob auch er ihn enttäuschen würde, waren verschwunden. Am nächsten Tag fühlte er sich ihm näher als zuvor, sah ihn mit neuen Augen und mußte sich zusammenreißen, um ihn nicht anzuschmachten, was er dann vermutlich doch tat.
Am gestrigen Abend waren sie noch bei einem Glas Wein am Tisch sitzengeblieben und hatten ihren gemeinsamen Tag auf diese Weise ausklingen lassen. Heute deutete Shandrín auf die angebrochene Flasche und fragte: „Wollen wir die heute auf dem Zimmer weitertrinken?“
Dean wollte.
Doch Shandrín hatte es offenbar nicht nur als Vorwand gemeint. Er nahm zwei Weingläser aus der Bar, stellte sie auf den Balkontisch und schenkte ein. Sie stießen an, tranken, schauten in den Abend hinaus. Worte fielen nur wenige. Trotzdem war es keine Sekunde lang unangenehm.
Bei allen anderen intimen Begegnungen, auf die Dean zurückblicken konnte, hatte es sich anders zugetragen. Da war es mehr oder weniger sofort zur Sache gegangen. Um so mehr genoß er diese Stunde. Dieses Abwarten war – Dean vermochte seine Empfindungen nur schwer zu fassen – ein Ausdruck von Respekt, es steigerte aber auch die Spannung; auf jeden Fall war es schön.
Inzwischen war es dunkel geworden. Der Himmel hatte sich zugezogen. Nur die allerhellsten Sterne schimmerten durch die dünne Bewölkung.
„Gehen wir ’rein?“ fragte Shandrín.
„Ja“, stimmte Dean zu.
Drinnen spürte er sogleich Shandríns Hände auf seiner Schulter. Er wandte sich ihm zu. Zum zweiten Mal berührten sich ihre Lippen, und diesmal blieb es nicht beim Küßchen. Dean schloß die Augen und seufzte leise. Nie hatte er sich besser gefühlt. Und doch, für einen winzigen Augenblick, schon verflogen, bevor er es näher betrachten konnte, war da noch etwas anderes, etwas Abgründiges, wie ein fremdes Tier, das ihn aus dem Dunkel heraus anstarrte. Damit verbunden war das Gefühl, daß er Ähnliches vor nicht allzu langer Zeit schon einmal erlebt hatte. Aber im selben Moment, als all das aufblitzte, war es auch schon wieder vorbei, und er spürte nur noch Shandrín, seine Lippen, seine Hände, und es war, als wenn er sein ganzes Leben lang darauf gewartet hätte.
Auch was danach kam, war anders als alles, was Dean bisher erlebt hatte: intensiv und doch zärtlich, innig, von einer Nähe, die nicht rein körperlich war, obgleich sie doch ihren gesamten Körper dabei einsetzten. Nichts war daran falsch, nichts war zu wenig, wie es sonst oft gewesen war, wenn die Lust die Gier nur für die kurze Zeit der Ekstase stillen konnte. Dean war sogar in der Lage, problemlos an Shandríns Seite einzuschlafen, was ihm bei früheren Partnern oft schwergefallen war.
Als Dean aufwachte, sah er in silbrige Iriden, ohne sich irgendwie zu erschrecken. Shandrín betrachtete ihn mit Wohlgefallen. „Guten Morgen“, krächzte Dean und räusperte sich. Shandrín gab ihm einen Kuß. Dean drückte ihn kurz an sich, wie um sich davon zu überzeugen, daß er nicht träumte.
„Soll ich dir mal was verraten?“ raunte Dean. Shandrín nickte. „Als du hier ankamst, hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß du mich überhaupt beachtest. Du, so ein legendärer... Stosir, und ich, ein... ein ganz normaler Typ.“
Shandrín nahm seinen Kopf behutsam in die Hände. „Ganz normal, ja?“ wiederholte er. „Wie war nochmal dein Geburtsname? Deamell?“
„Ja, aber...“
„Ich weiß. Ich bin nicht deine Mutter.“ Shandrín strich durch Deans blonde Haare. „Aber im Stoserván gibt es ein Wort, das so ähnlich klingt: DIAMEE.“
„Und das heißt?“
„‚Diamee‘ bedeutet ‚Schöner‘. Und das bist du für mich: Diamee.“
Nun war der Bann gebrochen. Die Tage verbrachten sie fortan ebenso gemeinsam miteinander wie die Nächte, mal in Shandríns, mal in Deans Zimmer. Doch es war nicht allein der Sex, der die Faszination füreinander entfachte; es war nicht einmal in erster Linie der Sex, obwohl er ihnen Höhenflüge bot, die keiner der beiden hätte missen wollen. Es war vor allem der Einklang, der sich zwischen ihnen einstellte, das Gefühl, im gleichen Takt zu schwingen; Dean war versucht zu sagen: das Schicksal, das sie füreinander bestimmt hatte, auch wenn er an solche Dinge sonst nicht glaubte. Jedenfalls konnte Dean all die Gefühle zulassen, die er bislang zurückgehalten hatte und sich Shandrín öffnen wie keinem Menschen sonst vor ihm. Er wunderte sich selbst darüber, wie leicht ihm das alles fiel, wie selbstverständlich es sich ergab.
Sie verbrachten viel Zeit am Strand und in der näheren Umgebung des Hotels. Gewiß entging auch den anderen Gästen nicht, daß sich da zwei gefunden hatten, doch ihnen gegenüber blieb es bei der freundlichen Distanz, die auch in den ersten Tagen von Deans Aufenthalt bestanden hatte. Nur die alte Dame, die ihn abgelenkt hatte, bevor er mit Shandrín und seinem Drink kollidiert war, grüßte die beiden stets mit besonderer Herzlichkeit. Und der Oberkellner erkundigte sich, ob er Shandríns Tisch anderweitig vergeben könne, da er ja nun regelmäßig bei Dean Platz nehme.
So hatten sich Deans Urlaubspläne gewissermaßen ins Gegenteil verkehrt. War er gekommen, um ungestört eine erholsame Auszeit zu nehmen, so erlebte er nun in Shandríns Armen eine Hochstimmung, wie er sie gar nicht mehr gekannt hatte.
Nur ein Schatten blieb. Ihre Zeit war begrenzt. Der Urlaub würde enden. Shandrín würde, ja, er mußte wohl nach Dschubalat zurückkehren, denn wie er selbst erklärt hatte, waren die Stoseeri an ihren Planeten in außergewöhnlicher Weise gebunden, und Dean würde ihm nicht dorthin folgen können. Ganz davon abgesehen, daß sie beide berufliche Verpflichtungen hatten, denen sie beizeiten wieder nachzukommen hatten.
Dean wußte keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Wohl wissend, daß er ihm letztlich nicht ausweichen konnte, versuchte er es dennoch nach Kräften zu verdrängen und stattdessen jeden Tag – und jede Nacht – mit Shandrín in vollen Zügen zu genießen.
Warum sprach er nicht mit ihm darüber? Es gab doch sonst keine Tabus zwischen ihnen. Aber Dean hatte Angst, den Zauber zu zerstören, wenn er das Thema auf die Tagesordnung setzte.
Deans letzte Woche auf Orplis war angebrochen. Für heute hatte er mit Shandrín den Ausflug zur Hafenstadt gebucht, den er allein sicherlich schon eher angetreten hätte.
Der Ort war malerisch. Manche Häuser hätten ein paar Ausbesserungen vertragen oder mal einen neuen Anstrich gebraucht, aber auch das paßte zum Gesamtbild. Im Hafen lagen hauptsächlich Privatjachten; es gab aber auch ein paar Fischerboote. Güter wurden offenbar nicht verladen. Der Strand war von einer breiten Promenade gesäumt, Aushängeschild der Stadt; hier befanden sich die meisten Cafés, Bars und Restaurants.
Auch Dean und Shandrín beendeten dort ihren Rundgang und ließen sich auf einer erhöhten Außenterrasse mit gutem Ausblick auf den belebten Strand und das spiegelglatte Meer nieder. Einige der hiesigen Möwen zogen flötend vorüber.
„Und immer sehen wir hinaus“, entfuhr es Dean plötzlich.
Shandrín hob die Augenbrauen, eine stumme Frage.
„Immer sehen wir hinaus“, wiederholte Dean. „Von einem Balkon oder von einem Berg oder eben von hier sehen wir hinaus in die Ferne, in den Sternenhimmel, aufs Meer. Immer sehen wir von uns weg ins Irgendwo.“
„Vielleicht erdet es uns“, erwiderte Shandrín nun. „Die Weite verdeutlicht uns, was wir sind: nur ein kleiner Teil einer so viel größeren Schöpfung:“
„Schöpfung?“ wunderte Dean sich. „Bist du religiös?“ Im „Glücklichen Reich“ spielte Religion keine große Rolle. Möglicherweise bedurfte es ihrer nicht mehr, wenn sich das irdische Glück für die Mehrzahl der Menschen realisierte.
„Persönlich weniger“, räumte Shandrín ein. „Aber ich würde sagen, im Schnitt sind die Stoseeri ein wenig religiöser als die übrigen Menschen.“
„Obwohl sie doch auf einer so besonders glücklichen Welt leben.“
„Oder gerade deshalb“, gab Shandrín zu bedenken.
Diese Vorstellung war Dean neu, aber er fand sie bedenkenswert.
Auf der Promenade flanierten eine Menge Leute, es hätte viel zu beobachten gegeben, aber Dean hatte nur Augen für Shandrín. Der plötzlich über den Tisch griff und seine Hand auf die Deans legte.
„Willst du mit mir zusammenbleiben, Diamee?“ fragte er in einem ernsten Tonfall. „Über deinen Urlaub hinaus?“
Dean zuckte kurz zusammen. Nun sprach also Shandrín das Thema an, das er sich nicht getraut hatte aufzugreifen. „Ja!“ antwortete er spontan und aus tiefstem Herzen. Und mit größerer Verzagtheit: „Aber wie soll das gehen?“
Shandrín drückte seine Hand fester. „Vielleicht gibt es da eine Möglichkeit.“ Er hatte also allem Anschein nach schon Pläne geschmiedet. „Beruflich könnte ich eine längere Abwesenheit arrangieren. Einen Teil der Aufträge kann die Agentur bearbeiten oder ein Kollege, mit dem ich auch sonst schon mal kooperiere. Gewisse Dinge könnte ich vielleicht auch aus der Ferne erledigen und nach Lapúj schicken. Ich wäre also frei, um dir, falls du es willst, eine Zeitlang nach Targuan zu folgen; sagen wir, so ein Vierteljahr.“
„Ob ich das will? Was ist das für eine Frage?“ Dean war ganz verdattert. „Aber hältst du es denn so lange aus ohne Dschubalat... ich meine: Lapúj?“
Shandrín schenkte ihm sein schönstes Lächeln. „Wenn ich bei dir sein darf, Diamee, werde ich Lapúj nicht vermissen.“
Dean konnte sein Glück – sein persönliches Glück, das sich da unvermutet auftat – kaum fassen. Besaß ihre Zweisamkeit also doch eine Zukunft? Eine solche Wendung hatte er kaum für möglich gehalten.
Als Shandrín am Abend seine Kleidung ablegte, entdeckte Dean, daß er eine Kette um den Hals trug, an der sich ein großer runder Anhänger befand, ein türkisfarbener Schmuckstein mit einer schlichten Silberfassung. Shandrín nahm die Kette ab, blickte kurz auf den Anhänger und verstaute sie in einer Nachtischschublade.
Dean stutzte. Diese Kette hatte er an Shandrín noch nicht gesehen. Dann fiel ihm ein, daß sich bei seinen Juga-Übungen ein Objekt dieser Größe unter seinem Shirt abgezeichnet hatte. Wie reimte sich das zusammen? Trug Shandrín diesen Anhänger üblicherweise ständig und hatte ihn bisher rechtzeitig abgelegt, wenn er mit Dean zusammengekommen war. Und hatte er das heute möglicherweise vergessen?
Welchen Sinn aber ergab ein solches Verhalten? Wollte Shandrín den Anhänger tatsächlich vor Dean verbergen? Und welche Bedeutung hatte er für ihn? War es nur ein Schmuckstück? Oder war es mehr? Hatte Shandrín nicht noch vor einigen Stunden von der größeren Religiosität der Stoseeri gesprochen, auch wenn er das für sich selber eingeschränkt hatte?
Die Geheimnisse der Stoseeri... Dean hatte plötzlich eine dunkle Vision: Der Anhänger war das Erkennungszeichen einer okkulten Sekte mit magischen Ritualen, die ihre Feinde verfluchte... Dean schüttelte sich innerlich. Was für ein Unsinn! Trotzdem... Er hatte das sichere Gefühl, daß es mit dem Anhänger irgendwas auf sich hatte. Bei Gelegenheit würde er Shandrín darauf ansprechen.
Die Gelegenheit kam schneller als gedacht, als sich die Szene am folgenden Abend fast identisch wiederholte. Shandrín konnte es nicht wirklich schon wieder vergessen haben, den Anhänger abzulegen. Wollte er ihn Dean am Ende unbewußt präsentieren?
Deswegen sprach Dean ihn diesmal darauf an: „Ein schönes Medaillon hast du da.“
Shandrín wirkte verlegen. „Ja.“ Er verbarg den Anhänger in der Hand.
„Hat es eine bestimmte Bedeutung für dich?“
Shandrín zögerte. „Komm her“, bat er schließlich. Dean setzte sich neben ihn. Shandrín legte ihm den Arm um die Schultern und küßte ihn. „Das ist kein Geschenk eines früheren Geliebten oder so.“
Daran hatte Dean noch gar nicht gedacht. „Und was ist es dann?“
„Nichts, das dich beuruhigen müßte“, wiegelte Shandrín ab. „Nichts Schlimmes.“ Er deponierte den Anhänger wieder in der Schublade. „Irgendwann erzähle ich dir mehr darüber. Aber nicht jetzt.“
„Sehr geehrte Gäste! Im Namen der gesamten Crew begrüße ich Sie herzlich an Bord. Diese Passage führt nach Targuan mit den Zwischenstationen Offukar, Gwonda und Bassidan. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Für Fragen aller Art halten sich unsere Reisebegleiter zur Verfügung. Die gastronomischen Angebote stehen Ihnen...“
Erst in diesen Momenten, als er tatsächlich gemeinsam mit Shandrín die Passage nach Targuan antrat, begriff Dean endgültig, daß es Realität war: Allein war er gekommen, mit einem Partner trat er die Rückreise an. Mit einem Partner, wie er ihn sich nie hätte träumen lassen, mit bronzefarbener Haut, mandelförmigen Augen, silbrigen Iriden und einem metallischen Glanz in den Haaren. Mit einem Partner, den er – soweit er das jemals in seinem Leben hatte sagen können – ohne Wenn und Aber liebte.
Und doch stellte sich Dean in denselben Momenten wieder die bange Frage: Konnte das gutgehen? Konnte mit Shandrín gutgehen, was zuvor mit niemandem funktioniert hatte? Bislang hatten sie sich in einer Ausnahmesituation befunden: Urlaub, Müßiggang, Schmetterlinge im Bauch. Nun würden sie sich mit dem Alltag arrangieren müssen. Doch diese Aufgabe machte Dean die wenigsten Sorgen.
Shandrín würde fremd sein auf Targuan. Würde er die Trennung von Dschubalat wirklich so gut verkraften, wie er behauptet hatte? Und dann war da ja noch die Erinnerung an den anderen, dem er vor sieben Jahren einen Platz in seiner Wohnung eingeräumt hatte. Die Erinnerung an Enttäuschung, an zügellosen Streit und an ein katastrophales Ende...
Dean sah Shandrín an, der in einer Broschüre las. Nein, so ist er nicht. Er ist keiner dieser Blender. Er wird mich nicht enttäuschen. Aber er hatte Geheimnisse. Der Anhänger... Er wird seine Gründe haben, beruhigte Dean sich. Ich darf nicht anfangen, ihm zu mißtrauen. Er gibt mir keinen Anlaß dafür.
1 Der Name wird De-an ausgesprochen.
2 Namen und Begriffe in Stoserván sind bei ihrer ersten Nennung in Kapitälchen gesetzt. Bei wiederholter Erwähnung erfolgt in der Regel Angleichung an das normale Schriftbild. Zur Aussprache siehe die Übersicht im Anhang (Stoserván: Alphabet).
3 aus STOSEERI + VAN (Kurzform von VANRA: Rede)
4 Singular zu STOSEERI (Silberner)
Ich trage dein Bildnis auf meinem Herzen,
bei Tag und bei Nacht,
im Wachen wie im Schlafen;
überall, wo ich bin, sollst du auch sein.
(Treueschwur der Stoseeri)
Für eine einzelne Person ist die Wohnung ja ziemlich großzügig“, bemerkte Shandrín, als er mit Dean den geräumigen Wohnbereich betrat.
Spät in der Nacht erst waren sie angekommen. Von der langen Reise erschöpft, hatten sie alsbald das Bett aufgesucht und die Besichtigung von Shandríns neuem Domizil auf den nächsten Tag verschoben.
„Als einziges Kind gut situierter Eltern hatte ich ganz passable Startbedingungen.“ Dean breitete die Arme aus. „Bald nachdem sie Targuan verlassen hatten, vermachten sie mir die Familienwohnung. Ein paar Jahre später habe ich die dann gewissermaßen gegen diese Räume eingetauscht. Die alte Wohnung lag in der Hauptstadt; die hiesige Ortslage ist dagegen eine eher durchschnittliche Wohngegend. Das bedeutet: Mehr Fläche für dasselbe Geld.“
Shandrín ließ sich auf der geschwungenen Ledercouch nieder und sah sich um. „Du bist geschmackvoll eingerichtet“, lobte er. „Gefällt mir. Hattest du einen Innenarchitekten?“
Dean rief sich in Erinnerung, daß Shandrín selbst Architekt war. Vielleicht rührte seine Vermutung von daher. „Nein, das war mir zu teuer“ erklärte er schmunzelnd. „Ich habe auch nicht exklusiv eingekauft, sondern einfach nach und nach so angeschafft, was mir gefiel.“
„Dann hast du zweifellos ein Händchen für sowas.“ Shandríns Blick fiel auf ein farbenfrohes, halb-abstraktes Bild an der gegenüberliegenden Wand. „Ein Original?“ Dean bejahte. „So ganz unprofitabel ist deine Gut-achtertätigkeit aber wohl auch nicht.“
„Gutachter und Berater“, korrigierte Dean, ohne in der Sache zu widersprechen. Shandrín stand wieder auf und blieb vor einem bodentiefen Fenster stehen, durch das er die begrünte Loggia betrachtete. „Du kannst dir gerne ein eigenes Zimmer einrichten“, bot Dean an. „als so eine Art Rückzugsraum, wenn du mal Abstand von mir brauchst.“
„Die Wohnung ist groß genug, um sich bei Bedarf zurückzuziehen“, entgegnete Shandrín, während er sich vom Fenster abwandte. „Da brauche ich keinen eigenen Raum.“ Er verzog die Mundwinkel. „Und womit sollte ich den auch einrichten? Ich hab’ ja nur meine Urlaubssachen dabei.“
„Auch wieder wahr. Zumindest ein paar zusätzliche Klamotten werden wir dir wohl kaufen müssen.“
Shandrín setzte sich wieder in Bewegung und schritt die Wände ab. In einer Ecke des großen Raumes geriet er ins Stocken. „Komisch...“ meinte er. „Hier ist irgendwas anders.“
Dean war froh, daß er sich in diesem Moment in Shandríns Rücken befand, denn er fuhr regelrecht zusammen. Ja, mit dieser Ecke hat es tatsächlich etwas auf sich, schoß es ihm durch den Kopf. Das aber konnte Shandrín unmöglich wissen.
„Diese Ecke paßt nicht zum restlichen Raum“, fuhr der Freund derweil fort. „Sie wirkt irgendwie... leer.“
Leer! Tatsächlich war sie das in gewissem Sinne, und diese Leerstelle war mit Deans schmerzlichster Erinnerung verbunden. Ahnte Shandrín etwas davon? Aber wie sollte das angehen?
Dean dachte an Shandríns türkisfarbenen Anhänger. Ich habe selbst ein Geheimnis, das ich ihm beichten müßte, erkannte er, aber dafür ist es noch zu früh. Die Geschichte ist zu abgründig, und sie hat das Potential, alte Wunden aufzureißen. Später einmal, nicht jetzt...
Als Shandrín sich wieder Dean zuwandte, hatte dieser sich zum Glück wieder so weit gefangen, daß man ihm nichts mehr anmerkte. „Ist mir noch gar nicht aufgefallen“, versicherte er achselzuckend. „Vielleicht hätte ich doch einen Innenarchitekten engagieren sollen.“
Am Tag darauf nahm Dean seine berufliche Tätigkeit wieder auf. Zwar konnte er einiges am heimischen Arbeitsplatz erledigen, aber natürlich mußte er auch seine Kunden besuchen; zudem gab es noch ein kleines Büro, das eine Mitarbeiterin betreute, der Dean Verwaltungsarbeiten übertragen hatte.
Insofern zog in seine junge Beziehung zu Shandrín tatsächlich zum ersten Mal so etwas wie Alltag ein, aber es war kein Alltag der tristen Art. Jedesmal, wenn Dean abwesend war, freute er sich auf Shandrín, und er hatte keinen Grund zur Annahme, daß es umgekehrt anders war. Ihr Verhältnis wurde vertrauter, offener, und Dean, der nach sieben Jahren selbstgewähltem Einzelgängertum kaum noch ernsthaft eine neue Partnerschaft in Erwägung gezogen hatte, war selbst am meisten darüber verwundert, wie schnell er sich daran gewöhnt hatte.
Und so traute er sich nun auch Fragen anzuschneiden, die bisher unausgesprochen geblieben waren.
Ein lauer Abend. Sie saßen auf der Loggia. Shandrín, der ein wenig kleiner als Dean war, hatte seinen Kopf an seine Schulter gelegt. „Hattest du eigentlich schon öfter eine Beziehung?“
„Im Grunde nur einmal“, verriet Shandrín, ohne seine Position zu verändern. „Ich hab’ ihn mit zwanzig kennengelernt. Mein erster richtiger Freund. Und dann hat’s gleich zehn Jahre gehalten. Aber am Ende hatten wir uns irgendwie auseinandergelebt.“
„Ihr hattet keinen Streit?“
„Nein. Eines Tages stellten wir fest, wie sehr wir uns einander entfremdet hattet. Damit war es vorbei.“
Dean fuhr über Shandríns Haare, die selbst im schwindenden Abendlicht noch metallisch schimmerten. „Und danach?“
„Danach war nichts mehr.“
„Wolltest du nicht?“
„Es hat sich einfach nichts ergeben.“ Er blickte Dean an. „Bis ich dich getroffen habe.“
Das ist gerade einmal vier Wochen her, rief sich Dean in Erinnerung. Noch nicht länger als meine früheren Kurzzeitbeziehungen. Aber mit Shandrín fühlte es sich anders an.
„Und du, Diamee?“ fragte dieser nun. „Wie war es bei dir?“
Mit der Gegenfrage hatte Dean diesmal gerechnet. Er war vorbereitet und hätte Shandrín sogar davon erzählt, wenn er nicht gefragt hätte. „So ’ne richtig feste Beziehung hab’ ich noch nie gehabt. Nur so ein paar Flirts. Das hat höchstens ein, zwei Monate gedauert.“ Er zögerte. „Diese Typen... waren alles Blender. Am Anfang heiß und aufregend, aber menschlich enttäuschend. Nichts als Fassade.“ Dean griff nach Shandríns Händen. „Das war mir auf Dauer zu frustrierend. Vor sieben Jahren ging der letzte. Seitdem habe ich mich auf nichts mehr eingelassen.“
„Befürchtest du, ich sei auch so ein Blender?“
„In den ersten Tagen auf Orplis war ich unsicher“, gestand Dean. „Aber jetzt nicht mehr. Nein.“ Er nahm Shandrín in die Arme und küßte ihn. „Mit dir möchte ich zusammenbleiben. Nur...“
„Nur was?“ setzte Shandrín nach, als Dean verstummte.
„Ein Vierteljahr wirst du auf Targuan bleiben“, raunte er an Shandríns Ohr. „Und dann? Irgendwann mußt du zurück nach Dschubalat.“
Shandrín strich mit dem Finger über Deans Lippen. „Dieses Vierteljahr liegt noch fast komplett vor uns. Zerbrich dir darüber jetzt nicht den Kopf, Diamee. Die Zeit wird eine Lösung bringen. Leb im Hier und Jetzt.“ Der Finger glitt über sein Kinn, seinen Brustkorb und noch tiefer hinab. „Wo es im Hier und Jetzt so viel Schönes zu erleben gibt.“
Dean grinste. „Dann sollten wir aber doch lieber ’reingehen.“
Als Shandrín sich auszog, legte er auch das Medaillon ab. Er versuchte nicht, es vor Dean zu verbergen, hatte aber auch noch nicht seine Zusage eingelöst, Näheres darüber zu berichten. Was war es überhaupt? War es nur ein „Anhänger“, ein „Medaillon“, also ein bloßes Schmuckstück? Oder war es nicht eher sowas wie ein Amulett?
Dean wußte nicht, warum, aber wenn er den ominösen Gegenstand erblickte, durchfuhr ihn bisweilen ein seltsamer Schauer, wie ein dunkler Nebel, der sich genauso rasch auflöste, wie er sich zusammengezogen hatte. Auch jetzt verflüchtigte sich dieser Eindruck sofort wieder – zumal sie sich in ihrer Nacktheit einander zuwandten. Der straffe Leib, die glatte, bronzefarbene Haut, die silbernen Augen... Die Erregung, die dieser Anblick in Dean auslöste, wurde einfach nicht geringer. Ihre Körper kamen in Kontakt; es war wie ein elektrischer Impuls. Sie verwöhnten sich gegenseitig, gaben sich einander hin, bis ihnen die Sinne schwanden. Auch im Bett harmonierte er mit Shandrín ausgezeichnet, doch einmal mehr wurde ihm klar, daß es mit ihm nicht dasselbe war wie mit all seinen Vorgängern: keine schnelle Triebabfuhr, sondern eine Intimität und Nähe, wie er sie zuvor nicht gekannt hatte.
Jeden Morgen absolvierte Shandrín seine Juga-Übungen, wenn es das Wetter zuließ, auf der Loggia. Dean schloß sich ihm ein paar Mal an, konnte sich mit der ungewohnten Form der Körperertüchtigung aber nicht wirklich anfreunden. Auf seine Frage hin, ob es sich um eine für Dschubalat typische Sitte handele, wußte Shandrín keine rechte Antwort. Er kenne zwar eine Reihe weiterer Juga-Anhänger, aber er glaube nicht, daß es eine exklusive Tradition der Stoseeri sei.
Während Dean beruflich unterwegs war, versuchte auch Shandrín bisweilen, an dem einen oder anderen wichtigen Projekt zu arbeiten, um die Ergebnisse nach Lapúj zu schicken. Doch waren solche Datenübertragungen durch die halbe Galaxis aufwendig und daher auch ziemlich kostspielig, so daß er nur in eingeschränkter Form davon Gebrauch machte.
An anderen Tagen erkundete Shandrín in Deans Abwesenheit seinen neuen Wohnort. Der war nach Deans Erfahrung nur von geringem Reiz: eine mittelgroße, geschäftige „Krämerstadt“ ohne besondere Attraktionen, viele Zweckbauten, wenig Grün. Die spärlichen Lichtblicke mußte man schon suchen. Doch Shandrín fand sie, und wenn sie an einem schönen Abend wieder auf der Loggia beieinandersaßen, berichtete er davon: eine Nebenstraße mit kleinen Ziegelhäusern, ein kunstvoll gestalteter Garten in einem Hinterhof, ein verspieltes Relief an der Fassade eines Geschäftshauses.
Ebensogern sprach Shandrín über seine Familie. Dean erinnerte sich, daß er sich auf Orplis als „Familienmenschen“ bezeichnet hatte, und fand in seinen Erzählungen dafür die Bestätigung. Die Eltern, Mitte sechzig, beide seit kurzem im Ruhestand und früher im pädagogischen Sektor tätig, der Vater als Lehrer mit dem Schwerpunkt Literatur, die Mutter als Erzieherin im Kleinkindbereich. Die kinderliebe Schwester und ihr Mann mit ihren vier Sprößlingen: „Sie ist vernarrt in Kinder, es werden bestimmt noch mehr.“ Vor nicht allzu langer Zeit war Shandríns Großmutter in hohem Alter verstorben. Sie hatte ein Anwesen auf dem Land hinterlassen, das sie bis zum Schluß bewohnt hatte. Die Eltern überlegten noch, ob sie es zu einem Sommersitz für die Familie herrichten sollten.
Dean wußte darauf nicht so viel zu erwidern. Die wesentlichen Fakten zu seiner Familie hatte er Shandrín schon auf Orplis vermittelt, und die aktuellen Kontakte waren schon allein aufgrund der Entfernungen sporadisch. „Im nachhinein wundere ich mich“, sagte Dean einmal, als sie in der Dämmerung an der Brüstung der Loggia standen, „was die beiden zusammengebracht und eine gewisse Zeit auch zusammengehalten hat. Mein Vater, der nüchterne Wissenschaftler und Kopfmensch... Meine Mutter, impulsiv und emotional, eher der kreative Typ...“
Deans Wohnung nahm die oberste Etage in einem fünfstöckigen Haus ein, die Nachbarhäuser waren ein Stockwerk niedriger. Sie schauten also auf ihre Umgebung herab.
„Gegensätze ziehen sich an“, meinte Shandrín.
Es dauerte einen Moment, bis Dean begriff. „Damit meinst du auch uns beide“, folgerte er.
Shandrín grinste. „Genau. Den Blonden und den Silbernen.“
Dean hatte das unwiderstehliche Verlangen, Shandrín zu küssen. „Sollen wir ’reingehen?“ fragte er danach heiser.
„Warum ’reingehen?“ flüsterte Shandrín. „Es ist so ein wunderbarer Abend. Und niemand kann uns hier sehen.“
Damit hatte Shandrín recht, und für solche Ideen liebte Dean ihn.
Eine gute Stunde später war es stockdunkel geworden, und sie begannen zu frösteln, weshalb sie ihre Klamotten zusammenrafften und ins Innere umzogen. Immer noch waren sie nackt. Im Wohnzimmer umarmte Shandrín Dean von hinten und schmiegte sich wohlig schnurrend an ihm. „SAMÚ,“ kam es ihm seufzend von den Lippen.
Dean legte seine Hände auf Shandríns Arme, die ihn hielten. „Was bedeutet das nun schon wieder?“
„Das ist eine vertrauliche Anrede“, verriet Shandrín leise.
„Ein vierter Name?“ schloß Dean. „Nach Deamell, Dean und Diamee?“
„Nein. ‚Samú‘ heißt soviel wie ‚Liebling‘ oder ‚Liebster‘.“ Shandrín küß-te Dean in den Nacken. „Aber das gibt es nur unvollkommen wieder. ‚Samú‘ ist eine sehr intime Bezeichnung, die man nicht leichtfertig benutzt.“
Dean fühlte einen sachten Stich in der Herzgegend. Diese Nähe zu Shandrín, diese Möglichkeit, sich fallen zu lassen und Schwäche zeigen zu können – mit keinem anderen hatte er das bisher erlebt. Zu so einer Offenheit hatte sich Dean überhaupt mehr für fähig gehalten. Was er für Shandrín empfand, war definitiv anders als alles zuvor. „Und darf ich dich auch ‚Samú’ nennen?
„Das wäre schön“, beteuerte Shandrín.
Dean löste vorsichtig die Umarmung, um Shandrín ins Angesicht schauen zu können. „Samú“, sagte er nur, doch dieses eine Wort klang andächtig.
„Samú“, vernahm er es wie ein Echo von Shandrín.
Sie umarmten sich wieder. Über Shandríns Schulter hinweg sah Dean sein Amulett oben auf seinen Sachen liegen.
Dean hatte in seinem Arbeitszimmer über einem Gutachten gebrütet. Über den Flur betrat er den Wohnbereich, ohne Shandrín dort zu entdecken. Dann registrierte er, daß die Schiebetür zum Küchentrakt aufgezogen war. Durch die geöffnete Tür sah er Shandrín auf einem Hocker an der Frühstückstheke, die die Küche im engeren Sinne vom Eßplatz trennte. In den Händen hielt er sein türkisenes Amulett. Offenbar hatte er Dean noch nicht bemerkt.