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Treibt ein Dämon des Nachts in Aachen sein Unwesen – oder sind es die Taten eines skrupellosen Mörders? Das Jülicher Land, 1354: Nachdem die Herbergswirthin Edith und ihr Mann Hanno eine Burgbelagerung überlebt haben, führt ein Gelübde sie auf Pilgerreise nach Aachen. Voller Staunen lassen sie sich durch das bunte Leben dieser prachtvollen Stadt treiben – bis ein aufsehenerregender Mordfall dem ein jähes Ende bereitet: Ausgerechnet Hanno, der zur falschen Zeit am falschen Ort war, wird angeklagt, den Söldner Raban getötet zu haben. Edith weiß, wenn es ihr nicht gelingt, die Unschuld ihres Mannes zu beweisen, wird er am Galgen enden. Doch kann sie etwas auf die Gerüchte über das »Wallmonstrum« geben, das in nächtlichen Nebelstunden auf Jagd gehen soll und vor dem selbst der Stadtwall keinen Schutz bietet? Der zweite historische Roman um die kluge Herbergswirthin Edith von Linnich, die brisante Mordfälle aufklären muss. Dieser Roman ist bereits unter dem Titel »Vasallenmord« erschienen, kann unabhängig gelesen werden und wird Fans von Andrea Schacht sowie Oliver Pötzsch begeistern.
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Seitenzahl: 410
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Jülicher Land, 1354: Nachdem die Herbergswirthin Edith und ihr Mann Hanno eine Burgbelagerung überlebt haben, führt ein Gelübde sie auf Pilgerreise nach Aachen. Voller Staunen lassen sie sich durch das bunte Leben dieser prachtvollen Stadt treiben – bis ein aufsehenerregender Mordfall dem ein jähes Ende bereitet: Ausgerechnet Hanno, der zur falschen Zeit am falschen Ort war, wird angeklagt, den Söldner Raban getötet zu haben. Edith weiß, wenn es ihr nicht gelingt, die Unschuld ihres Mannes zu beweisen, wird er am Galgen enden. Doch kann sie etwas auf die Gerüchte über das »Wallmonstrum« geben, das in nächtlichen Nebelstunden auf Jagd gehen soll und vor dem selbst der Stadtwall keinen Schutz bietet?
eBook-Neuausgabe Juli 2025
Dieses Buch erschien bereits 2020 unter dem Titel »Vasallenmord« im Self-Publishing.
Copyright © der Originalausgabe 2022 Dagmar A. Hansen
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / shutterstock AI
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)
ISBN 978-3-98952-984-7
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Dagmar A. Hansen
Herbergswirtin Edith von Linnich, Band 2
dotbooks
Edith: Herbergswirtin, die sich mit Mut und Findigkeit für ihren Mann einsetzt.
Hanno: ihr Mann. Teichwirt, der laut, aber fälschlich des Mordes bezichtig wird.
Wulf: Exzellenter Bader und Chirurg. Ein guter Freund, aber ein lausiger Ehemann.
Inghild: Resolute Zuberhausbesitzerin, Wulfs Arbeitgeberin und ein bisschen mehr.
Raban: Großmäuliger Söldner mit geringer Lebenserwartung.
Afra: Wirtstochter, heiratsunwillig. (Was bei dem Bräutigam nicht wundert.)
Sigmar: Wirt des Gasthauses Eäzekomp, fürchtet, bald am Hungertuch zu nagen.
Meinhard: Ehemaliger Burgsasse, der sich mit Hungertüchern auskennt.
Wallmonstrum: Umtriebig und mit Sinn für die schönen Dinge des Lebens.
Ritter Gerhard Chorus*, Christian Lewe*, Wilhelm zu Jülich* und Matthias zu Hoyn*: Historische Persönlichkeiten.
Jedes Aachener Kind kannte die Geschichte vom geheimnisumwobenen Wallmonstrum, welches nachts umherging. Nicht in jeder Nacht. Es kam und ging nach eigenen Regeln. Manchmal ward es wochenlang nicht gesehen und niemand vermochte zu sagen, wohin es verschwunden war, oder ob es jemals wiederkehren würde.
Doch das tat es.
Es schien, als habe es eine Vorliebe für neblige Stunden. Wer seinen Verstand zusammenhielt, setzte in diesen keinen Fuß auf die Straße. Menschen hängten geweihte Kreuze oder Pilgeramulette an ihre Türen und in solchen Nächten behielt man Forken, Sensen und ähnliches in Griffweite.
Das Monstrum war groß und unheimlich. Es besaß eine Stimme, die selbst dem tapfersten Mann das Blut in den Adern gefrieren ließ. Laut, schrill und unmenschlich brüllte das Scheusal. Manche berichteten von Zähnen, die so lang waren, wie Unterarme, andere von spitzen Hörnern, von glänzender Haut, unter der etwas dämonisches kochte und brodelte. Mit einem Sprung setzte das Monstrum über den Stadtwall, und dieser war immerhin drei Mann hoch und mächtig breit. Wer es einmal mit eigenen Augen sah, vergaß es sein Lebtag nicht mehr.
Es wurden Männer berufen, die Jagd auf das Ungeheuer machten. Tapfere, tollkühne Kerle.
Doch nicht einer von ihnen erledigte seine Aufgabe.
An einigen Morgen, die auf diese Nächte folgten, wenn die Luft kalt und klamm war, entdeckten entsetzte Anwohner Blutlachen, Knochensplitter und manchmal noch einen zerfetzten Schuh. Mehr ließ die grausame Bestie von seiner Beute nicht übrig. Sie suchte ihre Opfer, wo immer sie menschlichen Lebens habhaft werden konnte, unterschied weder zwischen Gut und Böse noch zwischen arm und reich.
Obwohl, nein, so ganz stimmte dies nicht.
»Was hat Grit eigentlich die ganze Zeit gewispert, als sie uns den Reiseproviant in ein Wachstuch wickelte? Sie erschien mir recht aufgeregt.«
Edith schmunzelte. »Kannst du dir das nicht denken, Hanno? Sie hat versucht, mich von der Reise abzubringen. Unsere Magd ist der festen Überzeugung, dass in Aachen
das Unglück auf uns lauert.«
»Weiß sie mehr als wir?«
»Sie glaubt es jedenfalls. Ich bin heute Morgen über die Schwelle gestolpert und anschließend einfach weitergegangen. Grit hat es gesehen und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Ob ich denn nicht wisse, dass ich noch einmal festen Schrittes über die Türschwelle steigen müsse, um Unheil zu verhindern.«
»Das hast du aber nicht getan.« Milder Spott lag in Hannos Stimme.
Edith ging nicht darauf ein. »Es war noch so viel zu tun. Außerdem will ich Grits Aberglauben nicht noch weiter unterstützen. Zugegeben, inzwischen bereue ich es.«
Hanno und sie hätten längst vor einem Mittagsmahl und einem Krug Bier in einer Taverne sitzen sollen. Die späte Oktobersonne des Jahres 1354 brannte heiß auf die Wartenden herab. Edith hatte keine Ahnung, wie das Aachener Stadttor hieß, vor dem sie und Hanno nun schon so lange anstanden, und der Name war ihr, gelinde gesagt, auch egal. Endlich hatten sie, eingekeilt zwischen anderen, die elend lange Zugbrücke überquert, welche den tiefen Landgraben vor der Stadtmauer überspannte.
Linnich, Ediths Heimat, war nur einen lockeren Tagesmarsch vom berühmten Aachen entfernt. Wobei nur ein dehnbarer Begriff war. Bei Sonnenaufgang waren Hanno und sie losgezogen, das Notwendigste in zwei Umhängetaschen gepackt.
Zunächst war alles gut verlaufen. Die Pausen hielten sie kurz, denn mit jeder Stunde wurde es wärmer, für einen Herbsttag war dies recht ungewöhnlich. Diese Witterung würde Pilze sprießen lassen, die wiederum eine erfreuliche Bereicherung für den Vorrat darstellten.
Ihr Weg kreuzte einen Bach, der allerdings nach Färberlohe stank. Sie verzichteten darauf, hier ihre Kalebassen aufzufüllen. Die Wiesenlandschaft wurde zu einem Wald, Vogelgezwitscher begleitete fortan ihre Wanderung. Sie passierten einen Weiler und erreichten kurz darauf die Straße, breit genug, dass drei Fuhrwerke nebeneinander herfahren konnten. Unmerklich stieg die Straße an, wurde dann zunehmend steiler. Hier waren bedeutend mehr Leute unterwegs, und weil niemand von ihnen Furcht vor einem Überfall hatte, unterhielten sie sich laut.
Aus Erzählungen wusste Edith, dass Aachen in einem Talkessel lag. Auf der Kuppe des Höhenzuges blieb Edith nach Atem ringend stehen, wie so viele andere auch. Sie versuchte, sich dieses Bild einzuprägen.
Es gab daheim viele, die gespannt auf ihren Bericht warteten.
Da war sie, die Stadt der Städte. Die Perle des Abendlandes. Die Krönungsstadt des Heiligen Römischen Reiches.
Hanno legte einen Arm um Ediths Schulter. »Noch vor einem halben Jahr hätte ich mir nicht träumen lassen, das einmal mit eigenen Augen zu sehen. Schon gar nicht mit einer Frau an meiner Seite.«
»Ehefrau«, korrigierte Edith schmunzelnd. Auch für sie war dies noch ungewohnt. Ein warmes Kribbeln durchlief ihren Magen. Es war schön, nach langer Zeit als Witwe, wieder einen Ehemann zu haben. Jemanden, mit dem sie sich beraten konnte, der sie schützte, der einfach da war, als habe er immer schon zu ihrem Leben gehört.
Edith wandte sich wieder dem faszinierenden Ausblick zu.
Dicht an dicht standen die Häuser, Rauch kräuselte sich über ihren Dächern. Dort würden sie viel Zeit verbringen. Und mehr noch: Sie würden auf Pflaster gehen, über das bereits Könige und Kaiser geschritten waren.
Doch Ediths Hochgefühl verebbte nur allzu bald. Das Stadttor, durch welches sie und Hanno Aachen hätten betreten wollen, erwies sich als funktionsuntüchtig. Die Kette der Falltür ließ sich nicht mehr bewegen und der herbeigerufene Schmied ließ auf sich warten, obgleich der Torwächter versicherte, dass er bereits unterwegs sei. Irgendwann resignierten Hanno und Edith, wie es zuvor schon andere getan hatten, und kehrten um. Ihre Plätze wurden sofort von nachrückenden Wartenden eingenommen.
Das nächste Tor war eher ein Törchen, verschlossen und unbesetzt. Also weiter. Irgendwo musste es einen Zugang in die Stadt geben und tatsächlich erwies sich das dritte Tor als ein solcher. Vor der Barbakane, die groß und so breit war, dass zwei Gespanne aneinander vorbeifahren konnten, hatte sich eine schier endlos anmutende Schlange von Händlern, Hirten, Wallfahrern und anderweitig Reisenden gebildet. Immerhin waren Edith und Hanno mittlerweile schon so weit vorgerückt, dass sie die Gesichter der Wächter erkennen konnten. Die vier Männer kontrollierten die Ankömmlinge, befragten sie und durchsuchten Wagen und Taschen. Zwei weitere Uniformierte waren für die Eintreibung der Zölle zuständig. Keine der Stadtwachen hatte es sonderlich eilig.
Ein Stoß in den Rücken trieb Edith voran. Giftig schaute sie über ihre Schulter. »So geht’s auch nicht schneller!« Wenigstens besaß der Schlacks den Anstand, sofort entschuldigend die Hände zu heben. Ein Schweinebauer, der alle Mühe hatte, seine sechs Säue unter Kontrolle zu halten, zog den Unmut einer Vettel auf sich. Die lebhaften Tiere hatten vor nichts und niemandem Respekt und eines von ihnen zeigte starkes Interesse an einem der Zollschreiber. Pikiert wich der Mann immer weiter zurück und es entbrannte eine hitzige Debatte zwischen Schweinehirt, Vettel und Zöllner.
»Am liebsten würde ich sie fragen, ob ich ihnen helfen soll«, murrte Hanno. »Muss man denn die Schweine unbedingt im größten Trubel durch das Tor fädeln? Dass dies nicht gutgeht, dürfte selbst einem Spatzenhirn klar sein.«
»Sei nicht brummig. Die Wächter machen nur ihre Arbeit«, versuchte Edith, die Wogen zu glätten, obwohl sie selbst etwas ähnliches gedacht hatte. Um nicht so viel in ihrem Bündel tragen zu müssen, hatte sie einige Kleidungsstücke übereinander angezogen, doch mittlerweile verwünschte sie diese Idee, die ihr in der Frische des Morgengrauens so gut erschienen war.
Hanno zog seine Kappe vom Kopf und wischte sich mit ihr die Stirn. »Weiß ich ja. Aber ich bin Wallfahrer, kein Märtyrer. Da überlebt man eine siebenwöchige Belagerung einer fast zwölffachen Übermacht der Feinde vor den Burgmauern und tödlichen Ränke innerhalb der Mauern, nur um wenige Schritte vor Aachen, der Stadt der tausend Quellen, zu verdursten.«
Edith knuffte Hanno lächelnd in die Seite und ignorierte die Schweißperlen an ihrer Schläfe. »Sollte der große, starke Mann, den ich geheiratet habe, in Wirklichkeit ein verwunschenes Jammerläppchen sein?«
»Dachte ich mir, dass dies irgendwann herauskommt. Ohne Braten, Brot und Bier fällt dein Held schnell in sich zusammen. Ach, schau, jetzt wird es bestimmt schneller gehen.«
Edith folgte Hannos Blick. Zwei Frauen, die schwer an einem Kessel trugen, traten über die Schwelle der Wachstube. Die Verpflegung der Wachen war eingetroffen. Hanno hatte recht, nun verlief der Einlass bedeutend zügiger.
Der Schweinehirte wurde durchgewunken und trieb seine Tiere über die Pflastersteine. Ein hagerer Mann, der eine Kiepe schleppte, erhielt eine kurze Belehrung und weiter ging es. Der Torwächter wandte sich nun Hanno und Edith zu. Er war ein rotgesichtiger Mann, dem von der einstigen Haartracht nur ein dünner, krauser Flaum geblieben war. Hanno schulterte seine Tasche ab und hielt sie dem Wächter unaufgefordert entgegen. »Grüß Euch. Möchtet Ihr meine Habe durchsuchen?«
»Schon gut. Was wollt ihr in Aachen?«
»Ein Gelübde einlösen«, antwortete Edith wahrheitsgemäß.
»Aha. Pilger, also. Keine offenen Waffen, keine Bettelei, keine Prostitution. Kranke haben sich unverzüglich in eines unserer Hospitäler zu begeben. Vergehen gegen Leib, Leben und Besitz Dritter werden streng geahndet«, spulte der Wächter routiniert herunter. Mit einer derben Watsche verscheuchte er ein penetrantes Bürschchen, das sich Hanno als Stadtführer andienen wollte. Der Wächter sah ihm kopfschüttelnd nach. »Seid vorsichtig, die Beutelschneider haben flinke Klingen und manche Diebe sind kaum sieben Jahre alt. Den Dom könnt ihr unmöglich übersehen. Das Rathaus ist gleich in der Nähe, und ringsum haben sich allerlei Kaufleute angesiedelt. Aber ihr seht aus, als ob ihr eine gute Stärkung zu einem vernünftigen Preis vertragen könntet.«
»Da habt Ihr verflixt recht«, stimmte Hanno zu, und schwang den Gurt seiner Tasche wieder über seine Schulter.
»Da kann ich euch etwas empfehlen. Ein Gasthaus, ganz einfach zu finden, Eäzekomp heißt es. Nehmt diese Gasse dort. Folgt der Pontstraße immer geradeaus.« Der Wächter schwang seinen Arm in die entsprechende Richtung. Gestenreich beschrieb er den Weg zu der Gastwirtschaft, die sein Vertrauen genoss, und Edith fragte sich, ob es vielleicht sein könne, dass diese Taverne von einem Schwager oder Vetter des Wächters betrieben wurde. Im Grunde aber war es egal, solange das Essen dort gut sein würde.
Der Wächter nickte und vollführte eine schwungvolle Gebärde, die Hanno und Edith bedeutete, weitergehen zu dürfen. Staunend drehte Edith ihren Kopf, bemerkte Details und versuchte, das große Ganze in sich aufzunehmen. Der Brückengang des Stadttores war gut vier Mann hoch, zinnenbewehrt und wirkte mehr wie eine Burg, denn wie ein Tor. In die Mitte der Wehranlage gelangte kaum ein Sonnenstrahl. Aus dem Torbogen ragte ein ehernes Fallgitter hervor, mehrere Pechnasen konnte Edith ausmachen. Eine mächtige Stadt musste sich gegen mächtige Feinde rüsten.
Dann endlich betrat sie mit Hanno Aachen. Edith hatte sich diesen erhabenen Moment während ihrer Wanderung bereits ausgemalt. Krönungsstadt. Freie Reichsstadt. Handelsmetropole. Wer Aachen kannte, kannte die Welt. Doch weder erklang eine ohrenbetäubende Fanfare, noch schlug eine Glocke, die diesem Moment eine besondere Feierlichkeit verliehen hätte.
Das also war sie, die Stadt. Haus an Haus, ein jedes Geschoss kragte ein wenig vor, so sehr, dass die Nachbarn, die sich gegenüber wohnten, einander im dritten Stock die Hände reichen konnten. Rauch lag über den Dächern. Die Neuankömmlinge wurden von zahlreichen, miteinander wetteifernden Verkäufern empfangen. Fette Würste, süße Pasteten, Krapfen, Soleier und noch vieles mehr wurde von zudringlichen Händlern lautstark angepriesen. Die Kaufleute machten gute Geschäfte. Die Garküchen wurden von Hungrigen umlagert, die Gastwirte verkauften aus Fensterläden heraus warme Mahlzeiten. Der Schmortopf mit Biberfleisch duftete verheißungsvoll, die Ausdünstungen ringsum hielten dagegen. So nahe am Tor waren die Tavernen völlig überlaufen. Es gab mehrere erhöhte Balken, die entfernt an sehr schmale Tische erinnerten. Mittels einer Kelle wurde hier Bier in Henkelbecher gefüllt, die zum Schutz vor Diebstahl an Ketten befestigt waren. Edith konnte zwei Innenhöfe ausmachen, in denen richtige Tische und Bänke aufgestellt waren. Die Menschen standen in dichten Trauben um freiwerdende Sitzplätze an, und gewiss würde der eine oder andere später feststellen, dass ihm der Geldbeutel abhandengekommen war.
Die Ausfallstraße war auf ganzer Breite gepflastert. Schwer beladene Fuhrwerke hatten im Lauf der Zeit tiefe Spuren in der Fahrbahn hinterlassen. Die flankierenden Häuser standen in einem bunten Gemisch dicht gedrängt: zweigeschossige Steingebäude neben Fachwerkhäusern und Holzkaten, in kurzen Abständen zweigten links oder rechts schmale Gassen ab. Keine zweihundert Schritte nach dem Passieren des Tores, kam Edith zu der Erkenntnis, dass das ganz einfach in der Wegbeschreibung des Wächters durchaus seinen Nutzen verlor, wenn, wie hier geschehen, ein umgestürzter Fischkarren den Weg versperrte. Der glitschige Inhalt zweier Fässer hatte sich auf die Straße ergossen. Der Händler stand mit geballten Fäusten vor dem Schweinebauern, und dieser hatte eine Weidenrute aufgebracht über seinen Kopf erhoben. Die Männer beschimpften einander, während Langfinger zwischen den aufgeregten Schweinen nach den Fischen haschten. Hanno nahm Ediths Hand und deutete auf eine schlammige Gasse. »Wenn wir bei der nächsten Gelegenheit zweimal rechts abbiegen, müssten wir folgerichtig auf die Pontstraße zurückkommen. Von da aus sollte es nicht mehr weit bis zur inneren Stadtmauer sein.«
Edith rückte den Gurt ihrer Tasche zurecht. »Ansonsten fragen wir nach dem Weg.«
»In einer fremden Stadt?«
»In einer fremden Stadt?«, echote sie. »Hanno, natürlich in einer fremden Stadt. In Linnich, zwischen den Fronhöfen, fände ich mich blind zurecht, aber Aachen ist mir völlig unbekannt.«
»Das meine ich nicht. Hier leben um die fünfundzwanzigtausend Menschen, dazu kommen noch die Besucher. Die Stadt ist ein riesiger Schmelztiegel und längst nicht jeder ist ehrlich. Wenn du schon jemanden nach dem Weg fragen möchtest, sei nicht zu vertrauensselig. So mancher Neuankömmling ist schon in einer Sackgasse gelandet, in der Raubgesindel auf ihn wartete, und im nächsten Moment lag er nackt und mit durchtrennter Kehle in einer Gosse. Du solltest deinen Gästen besser zuhören.«
»Ich glaube, das hast du eher von Grit. Luik van Leuven sagte, dass es hier ehrliche, freundliche Menschen gebe, herrliche Bauwerke und feines Essen.« Edith stemmte ihre Hände in die Hüften und schmunzelte. »Wenn ich dich nicht besser kennen würde, könnte ich glauben, dass du es schon bereust, die Reise angetreten zu haben.«
»Ich bin nur vorsichtig und daran ist nichts falsch.«
»Natürlich werde ich aufpassen. Ich habe meine nunmehr dreiunddreißig Lebensjahre nicht hinter einem Mehlsack verbracht. Aber, um der Wahrheit Genüge zu tun, macht mir das Gewimmel schon ein wenig Angst«, fuhr Edith ihrem Mann versöhnlich ins Wort. »Lass uns zusehen, dass wir diesen Erbsentopf finden. Wir folgen einfach den Menschen, dann werden wir schon am Markt auskommen. Oder auf einer der breiteren Straßen.«
»Wenn wir uns aus den Augen verlieren, wie sollen wir einander hier jemals wiederfinden?« fragte Hanno und betrachtete genervt seine Holzschuhe, die fast bis zur Hälfte im Matsch versunken waren.
Edith dachte nach. »Wir gehen zu dem Punkt zurück, an dem wir zuletzt miteinander gesprochen haben und warten dort aufeinander.«
Ganz so einfach war es nun doch nicht, sich in dem Gewirr aus Gassen und Gässchen zurechtzufinden. Ein kleiner Pfad, der in die richtige Richtung geführt hätte, stank derart nach Schlachtabfällen, dass Edith sich weigerte, auch nur einen Fuß hineinzusetzen. Also gingen sie weiter. Um eine zwielichtige Männergruppe machten sie einen Bogen, ebenso um einen Bettler, der die Leute an ihren Ärmeln festhielt.
Ein gutgekleideter Kaufmann, dessen Dialekt schwer zu verstehen war, entpuppte sich selbst als Fremder. Aber zumindest kannte er sich in Aachen aus. Seine Beschreibung führte Hanno und Edith zum Marktplatz, einem großen, umbauten Areal, auf dem zwei Viehtränken standen. Einen, durch eine Linde beschatteten, gemauerten Brunnen, gab es auch. Am Rande des Platzes befand sich einer der öffentlichen Backöfen, von denen Edith bereits gehört hatte. Ihre Herbergsgäste hatten Kaiserpfalz und Rathaus erwähnt, und hatten beide Gebäude einhellig als groß beschrieben, doch als Edith das Rathaus mit eigenen Augen sah, verschlug es ihr die Sprache.
Groß war schlichtweg untertrieben.
Monumental traf eher zu. Der Zugang erfolgte über eine elfstufige, imposante Steintreppe, die zum ersten Geschoss führte. Fenster über Fenster bedeckten die Front, jedes davon viel höher, als ein Mann groß war. Dazwischen, auf Sockeln und Leisten, standen überlebensgroße Statuen der altvorderen Herrscher. Das Rathaus war neu, noch keine sieben Jahre waren seit seiner Einweihung vergangen. Fast noch interessanter als das Rathaus, waren die zahllosen Menschen, die auf dem vorgelagerten Platz zu sehen waren. Einfach gekleidete Leute, unter denen Edith nicht auffallen würde, bildeten die Mehrheit. Ältere Gesellen waren in Gefolgschaft von Lehrburschen, Hausfrauen berieten sich mit Mägden. Ein in Pelze gehüllter Magistrat versprühte seine Missbilligung über eine Gruppe Novizen, die einander vergnügt einen Ball zuwarf und seinen knurrenden Unmut nicht einmal bemerkte. Zwei Reiter störten das Spiel. Einer von ihnen schlug eine Trommel, was das Pferd mit erstaunlich stoischer Gelassenheit ertrug. Der andere entrollte mit gewichtiger Miene eine Pergamentrolle, hob seinen Blick und ließ ihn über die Menge schweifen. Mit klangvoller Stimme rief er aus: »Gute Bürger zu Aachen, höret, was ich zu verkünden habe!«
Gespräche wurden unterbrochen und die Menschen drängten sich näher an den Herold, um keines seiner Worte zu versäumen.
Hanno ergriff Ediths Hand, hob fragend die Schultern. Edith nickte. Sie war gespannt auf die Neuigkeiten, die nun bekanntgegeben werden sollten. Und es gab viel zu vermelden.
Der Rat hatte beschlossen, den Straßenzoll, entgegen der zornigen Bürgerproteste, beizubehalten. Ein des Betrugs für schuldig befundener Bäcker würde morgen am Kaak stehen und zwanzig Hiebe einstecken müssen, einer diebischen Hübschlerin sollten ebenda die Haare geschoren werden. Wegen fortwährenden Zankens würde am heutigen Nachmittag ein Ehemann, rittlings auf einem Esel sitzend, durch die Gassen geführt werden. Ein kurzer, aber hämischer Jubel brandete auf und brachte Edith auf den Gedanken, dass dieser Mann wohl kein Unbekannter war. Der Herold erhob noch einmal seine Stimme. »Dem, der dem ehrenwerten Rat den Balg des Wallmonstrums vorlegt, ist eine Anerkennung von sechzig Gulden sicher, ebenso die Erhebung in den Bürgerstand und obendrein ein gutes Stiefelpaar aus bestem Leder, welches von der Zunft der Schuhmacher ausgelobt wurde.«
Der Trommler ließ ein abschließendes Stakkato erschallen, die Menge zerstreute sich. Hanno sah dem Herold hinterher. »Wie oft mag er die neuesten Ereignisse wohl vermelden?«
»Wann immer der Rat sie beschlossen hat, vermutlich. Lass uns jetzt den Eäzekomp suchen. Ich hoffe, es gibt dort eine Kammer für uns. Anderenfalls müssen wir an eine Klosterpforte klopfen.«
»Heute Morgen warst du der Ansicht, dass dir dies nicht gefallen würde«, erinnerte Hanno Edith mit einem neckenden Unterton.
»Aber doch nur, weil ich die riesigen Gemeinschaftssäle nicht mag.«
»Du hältst erschreckend wenig von deinen Geschlechtsgenossinnen, Frau Herbergswirtin.«
»Nur von deren Gerüchen und Geräuschen, Herr Teichwirt. Du schnarchst wenigstens nur einstimmig.«
»Ich werde jetzt nicht darüber nachdenken, ob dies eine Beleidigung oder ein Lob ist. Der Wachmann hat die Krämergasse erwähnt. Weit kann es nicht mehr sein.«
Sie sahen sich nach dem Schild des Gasthauses um. Prächtige Tafeln gab es. Hölzerne meist, die farbenfrohe Adler, Schwäne, Hähne und anderes Federvieh darstellten. Das Abbild eines überschäumenden Bierkruges war so tief befestigt, dass sich jeder normalgewachsene Mann den Kopf daran stoßen konnte, was vermutlich beabsichtigt war. Neben einigen der Schilder waren Fackelhalterungen befestigt, eine Idee, die Edith nachdenklich stimmte. Das wäre auch etwas für ihre Herberge.
Hanno verlangsamte seinen Schritt, hob seinen Arm und wies auf ein morsches Etwas, dessen Farbreste eine breigefüllte Schale oder ein gelocktes Schwein in einem Trog darstellen konnten. »Ob das der Eäzekomp ist?«
Edith krauste ihre Nase und nickte. »Sieht ganz so aus.«
Sie wollte soeben die Türe öffnen, als diese von innen aufgestoßen wurde. Eine junge Frau mit offenem Haar und auffallend abstehenden Ohren wischte sich mit dem Ärmel über ihr tränennasses Gesicht und drehte sich, auf der Schwelle noch einmal zu der Gaststube um. Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung, als sie rief: »Das ist mir egal, ich werde jedenfalls nicht wiederkommen, solange Ihr zulasst, dass die Kerle alles machen dürfen, was sie wollen. Mägde werden überall gesucht.«
«Ja, und überall gleich behandelt«, kam die pampige Erwiderung.
Tränen glitzerten in den Augen der jungen Frau. Sie streckte anklagend ihren Arm und deutete mit zitterndem Finger auf ihr Gegenüber. »Euch kümmert nicht, was mir widerfuhr. Keinen Finger habt Ihr gerührt, habt Euch blind und taub gestellt. Und mich kümmert es nicht mehr, wer ab jetzt die Arbeit für Euch verrichtet. Den noch ausstehenden Lohn wird mein Mann holen.«
Mit wehendem Rock stürmte die Magd davon, als sei der Teufel hinter ihr her. Edith und Hanno tauschten einen kurzen Blick, dann betraten sie die Gaststube. Sie war klein und durch die offenen Läden fiel nur wenig Licht. Der Wirt, ein rundlicher Kahlkopf mit einem ausgeprägten Doppelkinn, warf seinen Wischfeudel über die Schulter und kam eilfertig hinter der Theke hervor. »Ein warmes Essen, die Herrschaften? Dazu einen Krug Bier? Es wurde heute Morgen frisch gebraut.«
Hanno nickte. »Bier ist gut. Überdies brauchen wir ein Quartier, Herr Wirt.«
»Sigmar, mein Name.« Der Wirt breitete seine Arme aus. »Ihr steht auf der glücklichen Seite des Lebens. In der Frühe ist oben ein Zimmer freigeworden, es geht nach hinten hinaus. Da ist es ruhig. Meine Tochter wird es euch zeigen.« Sigmar griff zu einem Besen, polterte mit dessen Stiel gegen die Decke und brüllte: »Afra, ich brauch’ dich hier. Sofort!« Mit einem verlegenen Lächeln wandte er sich wieder Edith und Hanno zu. »Es wird ein bisschen dauern. Meine Frau ist bei unserer ältesten Tochter und meiner Magd habe ich ein paar freie Tage zugestanden.«
»Sie hat gekündigt«, korrigierte Edith sachlich.
Sigmar winkte ab. Offenbar war er ein Mann, der sich gerne weitschweifender Gesten bediente. »Ach, das ist nicht ernst gemeint. Die Sigrid ist empfindlich, wenn jemand sie wegen ihrer Ohren neckt. Aber das passiert nun hin und wieder mal. Sie wird sich schon wieder besinnen. Afra, Deibel noch mal! Beweg dich hierher.«
Afra entpuppte sich als etwa achtzehnjähriges Mädchen. Sie schlenderte die Stiege hinab und hockte sich auf die vorletzte Stufe. »Was ist?«, fragte sie gelangweilt. Die Wirtstochter besaß ein kantiges Gesicht und rotblondes Haar, das unter ihrer schludrig aufgesetzten Haube hervorquoll.
Sigmar schwoll der Kamm, aber er schluckte seinen Groll. »Zeig den Herrschaften das freie Zimmer.«
»Wenn’s denn sein muss. Kommt mit.« Sehr langsam setzte sich das Mädchen in Bewegung, blieb, oben angekommen, stehen und deutete auf eine der Türen. »Da.«
Edith lugte in die Kammer. Ein dumpfer Geruch nach menschlichen Ausdünstungen schlug ihr entgegen. Das Kabäuschen war, wie erwartet, winzig. Kaum mehr als eine von Holzwänden umgebene Matratze, welche Edith, ohne das Monatsblut einer Vorgängerin, bedeutend besser gefallen hätte. Na gut, die Matratze ließ sich umdrehen. Der Pinkelpott war, bis auf einen goldgelben Bodensatz, geleert, wenigstens das.
Über die nesselfarbenen Kopfkissen sprangen mehrere muntere Flöhe. Auch dagegen gab es Mittel und Wege. Gemahlenes Pfaffenhütchen zum Beispiel, ein äußerst wirksames Pflanzenpulver, das Edith in weiser Voraussicht von daheim mitgebracht hatte. Sand knirschte unter ihren Sohlen, als sie eintrat. »Der Boden könnte einen Besen vertragen.«
Afra verzog geringschätzig ihren Mund. »Nee, geht gar nicht. Wenn ich fege, fällt mir der Dreck durch die Dielenspalten auf den Kochtisch, direkt ins Essen. Ich will den Schweinemist, den andere Leute mit ihren Schuhen durchs Haus tragen, nicht auch noch in meiner Suppe finden.«
Nimm es mit Humor, Edith. Irgendwie ist dies ja auch ein Argument.
Edith stieß Hanno an und hob kaum merklich die Schultern. Was sollen wir tun?
Sie kannten einander gut genug, um sich auf diese Weise verständigen zu können. Afra mochte ein schludriges Weibsstück sein, aber die Kammer war besser als ein großer Schlafsaal, in dem man Seite an Seite mit Fremden lag. »Wir nehmen das Zimmer«, entschied Hanno in Ediths Sinn.
»Vater verlangt Vorkasse. Zwei Aachener Groschen die Woche für die Übernachtung. Bier, Speis’ und Brot rechnet er separat ab. Wie lange werdet ihr bleiben?«
»Das werden wir sehen«, erklärte Edith bestimmt. Sie öffnete den Fensterladen und schaute hinaus. Unter dem Fenster befand sich ein Verschlag, über den sich ohne großen Aufwand nach unten klettern ließe. Afra trat hinter sie. »Das ist der Grund für die Vorkasse.«
Es war früher Abend, noch gab es in den Tavernen freie Plätze. Edith entschied sich für ein Haus, in dem einige Handwerker im singenden Aachener Dialekt palaverten. Dort, wo viele Einheimische aßen, konnten sich auch Fremde getrost hintrauen. Es gab die Auswahl zwischen zwei Gerichten. Edith und Hanno entschieden sich für das Linsenmus. Die fetten Bauchspeckstreifen darin sahen nicht nur köstlich aus, sondern schmeckten auch so.
Zufrieden wischte Edith ihren Napf mit einem Brotstück aus und schob sich dieses in den Mund. Kauend machte sie Hanno auf die Dinge aufmerksam, die ihr während des Essens aufgefallen waren. »Das Mus wird auf Verlangen sogar in Keramikschüsseln serviert, die Kerzenhalter sind aus Zinn und ist dir aufgefallen, dass sich niemand den Hals verdrehte, als die Frau dort drüben den Gastraum ohne Begleitung betrat? Kaum zu glauben, dass ein einziger Tagesmarsch in eine andere Welt führt. Wir hätten Fidelis mitnehmen sollen. Sie ist im besten Alter, um sich die Welt anzusehen.«
Hannos einzige Tochter war vor einigen Tagen fünfzehn Jahre alt geworden. Zusammen mit Grit war sie daheim in Linnich geblieben, um Ediths Herbergsgäste zu versorgen. Nun, im Herbst, waren deutlich weniger Reisende unterwegs und die anfallende Arbeit war von den beiden Frauen gut zu bewältigen. Zudem standen ihnen der halbwüchsige Lusim und seine jüngere Schwester Dahlia bei. Lusim, ein junger Streuner, und seine kleine Schwester hatten nach der gemeinsam überstandenen Belagerung der Burg Gripekoven bei Edith ein Zuhause gefunden. Praktische Dinge ließen Dahlia unberührt. Sie schien in einer eigenen Wirklichkeit zu leben. Zu Menschen suchte sie nur selten Kontakt, Tieren hingegen begegnete sie, ebenso wie ihr Bruder, mit offenem Herzen, und meist wurde diese Zuneigung ebenso erwidert. Lusim und Dahlia kümmerten sich um die Reit- und Zugtiere der Reisenden und überdies um drei Ziegen, sowie eine kleine Hühnerschar. Die Geschwister schliefen im Stall, weil sie selbst es so wollten. Ab und an zog Fidelis sie deswegen auf, aber im großen Ganzen verstanden sich die Drei gut.
»Ich habe ihr angeboten, uns zu begleiten. Aber was sind schon der Glanz und der Ruhm einer Kaiserstadt gegen einen schlaksigen, samtäugigen Küferlehrling am Ende der Straße. Samtaugen hin, Samtaugen her. Ich hoffe, der Kerl hat kapiert, dass ich ihm den Kopf abreiße, wenn er Fidelis auch nur einen Herzschlag lang unglücklich macht.«
»Du warst bei ihm? Hanno!«
»Was denn? Ich muss für Zucht und Ordnung sorgen. Ich bin ihr Vater.«
Was, genaugenommen, so nicht stimmte. Fidelis’ Zeugvater war von adliger Herkunft. Zu mehr als diesem Akt aber, hatte es nicht gereicht. Es war Hanno gewesen, der am Bett des Mädchens gesessen hatte, wenn es krank war, der es auf seinen Schultern getragen hatte, wenn es sich ein Knie aufgeschürft hatte und der seine Mutter begrub. Aber dann wurde Fidelis älter und fühlte sich der Burg und der Adelswelt weitaus mehr zugehörig als der einfachen Fischerhütte.
Die Belagerung, Fidelis’ Erwachsenwerden und die Erkenntnis, ein Bastardkind unter mehreren zu sein, fielen zeitlich zusammen. Fidelis war unausstehlich gewesen, suchte Streit, wann immer es ging, und war sich selbst der größte Feind. Nun war sie es nicht mehr. Besonders der junge Küferlehrling hatte Fidelis wieder auf die gern gelebte Seite des Daseins gelockt. Edith lehnte sich zufrieden zurück. »Wir reden immerhin von Fidelis. Sollte er sie kränken, sollten wir eher um des Küfersburschens Unversehrtheit bangen.«
»Wo du Recht hast … « Hanno legte seine Hand auf ihre. »Na, jetzt, mit der Gewissheit eines Schlafplatzes und wohlgefülltem Magen, sieht die Welt wieder besser aus, findest du nicht auch?«
»Ja«, bekannte Edith. »Von den hundert Gefahren, die ich mir für die Wegstrecke ausgemalt habe, ist, dem Allmächtigen sei Dank, keine einzige eingetreten. Bedenke, dies ist erst meine zweite Reise und die erste dauerte geschlagene sieben Wochen länger, als ich geplant hatte.«
Hanno nahm einen großen Schluck. »Diesmal wird alles gutgehen, und spätestens zu Martini sind wir wieder in Linnich.«
»Ja. Auf keinen Fall sollten wir uns den Markt entgehen lassen. Da werden wir zum letzten Mal jedes Bett und jeden Stallplatz vermieten. Es wird der letzte gute Verdienst des Jahres sein, und, was weit wichtiger ist, auch die letzte Möglichkeit, vor dem Winter, Vorräte einzukaufen. Salz benötigen wir, sowie Tuch und Garn, damit ich neue Hemden nähen kann. Falls der fränkische Knochenschnitzer kommt, würde ich zudem gerne Bickelsteine kaufen.«
»Wir haben doch das Mühlespiel.«
»Bei dem du elf von zwölf Partien gewinnst. Und das eine Mal siege ich nur, weil du mich gewinnen lässt. Glaub’ nicht, ich hätte dich nicht durchschaut.«
»Du bist schon gewiefter geworden.«
»Eines Tages werde ich dich besiegen. Beim Bickeln geht es um Geschicklichkeit, und darin bin ich gut. Wer weiß, vielleicht kannst eines Tages du mich darin schlagen. Wir könnten das Spiel auch an Gäste verleihen. Je mehr wir den Leuten bieten, umso besser. Wir sollten mehr Hühner anschaffen, die Soleier als Proviant gingen gut weg. Im nächsten Jahr wirst du zusätzlich Räucherfisch verkaufen können. Dass es bei der Herberge neuerdings einen Teich und einen Räucherofen gibt, muss sich allerdings erst noch weiter herumsprechen.«
»Ebenso, dass es die Herbergerin zu einem Ehemann gebracht hat«, bemerkte Hanno aufgeräumt. Der eine oder andere Gast war darüber nicht begeistert gewesen. »Was hast du mit dem heutigen Tag noch vor?«
»Die Matratze wenden und neues Flohpulver einklopfen. Beizeiten schlafen gehen. Und morgen früh mag ich ein Bad aufsuchen. Du badest doch auch gerne.«
»Das klingt gut. Aber jetzt will ich die Stiefel von den Füßen bekommen.«
***
Hatte Sigmar nicht behauptet, das Zimmer sei ruhig? Unglaublich, welch ein nächtlicher Rabatz in einer Stadt herrschte. Schwere Wagen rollten durch die Gassen, die Hufe der Zugtiere klapperten über das Straßenpflaster, Fahrer unterhielten sich lautstark, Zecher lamentierten vor den Wirtshäusern.
Es gab noch weitere Gäste, die ihr Quartier im gleichen Geschoss hatten, und Edith, die sich sonst eines gesunden Schlafs rühmen konnte, hörte jedes Knirschen, Rascheln und Knacken. Hanno hingegen schlief tief und fest. Beneidenswert. Edith verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. Ihre Gedanken huschten vom einen zum andern und sie stellte mit milder Überraschung fest, dass sie sich bereits jetzt in ihr eigenes Zimmer zurücksehnte.
Vielleicht bin ich einfach zu alt für eine solche Unternehmung. Andererseits, wenn nicht jetzt, wann dann?, dachte Edith. Sie hatte dem Allmächtigen versprochen, nach Aachen zu pilgern, und ein einziger Tagesmarsch war ja im Grunde ein Kinderspiel. Andere fuhren dafür über die Meere, zogen gar unter Gefahren für Leib und Leben ins Heilige Land. Naja, Männer halt. Aber es gab genauso viele Händlerinnen wie Händler, und diese zogen auch kreuz und quer durch das Heilige Römische Reich. Nein, es war gut und richtig, dass sie diesen Weg auf sich genommen hatte.
Edith wälzte sich auf die Seite und starrte in die Dunkelheit. Sie wollte im hohen Dom zu Aachen für Agnises Seelenheil beten. Ihre junge Magd hatte auf Burg Gripekoven ihr Leben gelassen. Im Alltag ließ Edith sich nichts anmerken, aber es verging kein Tag, an dem sie nicht an das Mädchen dachte, das ihr so lieb wie eine Tochter gewesen war. Agnise hatte diese Welt viel zu früh verlassen müssen.
Edith zwang ihre Gedanken in ruhigeres Fahrwasser. Die Stimmen, die von unten zu ihr empor drangen, wurden zunehmend lauter. Edith verstand nur wenige Worte, die keinen Sinn ergaben, und dann hörte sie ein lautes Poltern, auf das ein scharfes Zischen folgte. »Kscht! Deibel noch! Ich habe nicht nur euch zu Gast!«
»Ach, Sigmar, du willst uns doch nicht den Abend verderben?«, dröhnte eine kehlige Männerstimme. »Raban, wir sind durstig. Willst du auch noch was?«
Da nichts zu hören war, antwortete der Angesprochene offenbar mit einer Handbewegung.
»Dann eben nicht. Bring uns beiden noch einen Krug von dem Burgunderwein, Sigmar. Und, schick’ uns die Magd. Nicht, dass sie schön anzuschauen wäre. Aber was sie unterm Rock hat, gleicht sicher ihre hässlichen Henkelohren aus.«
»Wo die saftig ist, weiß unser Wirt bestimmt besser als du«, mischte sich eine verwaschene Stimme ein. »Was meinst du, warum er ständig den Wischlumpen bei sich hat?«
»Stimmt. Den legt ihr der Sigmar über die Fratze.« Der Kehlige lachte schallend. »Zum Rammeln braucht es nur … «
Edith hielt sich aufgebracht die Ohren zu und dachte an einen Spruch, auf den sich Grit gerne berief: Selbst wenn in den nächsten hundert Jahren keine Idioten geboren würden, gäbe es auf Gottes Erden immer noch mehr als genug von ihnen.
Ob es schon Mitternacht war? Vermutlich. Vielleicht sogar später. Edith musste schlafen, wenn sie am Morgen munter sein wollte.
Ediths gefüllte Blase machte sich unangenehm bemerkbar. Mit einem leisen Seufzer setzte sie sich auf, bewegte sich vorsichtig, um Hanno nicht zu wecken. Es war um Neumond herum, das Zimmer stockfinster. Sie versuchte, sich zu erinnern, wo sie vorhin den Nachttopf gesehen hatte. Vorsichtig tastete sie sich voran. Er musste doch hier irgendwo sein.
Auf der Treppe waren nun schwere Schritte zu hören. Ohne jede Rücksicht hustete sich jemand direkt vor ihrer Tür vermeintlich die Lunge aus dem Hals.
Hanno schnaubte im Schlaf.
Ediths Fingerspitzen fanden die Keramik. Sie schob den Pinkelpott zurecht, hob ihren Rock und ließ sich nieder.
Dann ging alles sehr schnell. Es krachte laut, Edith fuhr zusammen.
Die Tür schlug nach innen, hart gegen die Strohmatten. Edith wurde von einem massigen Körper umgerissen und wusste nicht, wie ihr geschah. Eine Laterne kam zu Fall, ihre Flamme erlosch. Ein stinkendes Gemisch aus Knoblauch, Bier, Wein und fettigem Haar konnte Edith ausmachen. Sie wurde zu Boden gepresst. Edith versuchte verzweifelt, den schweren Saufkopf fortzustoßen, doch der grunzte nur und befühlte grob ihren Leib. Stoff riss.
»Runter von mir«, schrie Edith erbost und hieb ihre Fäuste, so kräftig sie es vermochte, gegen den Kerl auf ihr. Doch zeigte sich dieser gänzlich unbeeindruckt und knetete, Unverständliches grunzend, ihre Brust. Edith kreischte und strampelte. Ein brutaler Griff in ihre Haare ließ sie gellend aufschreien. Plötzlich röchelte ihr Angreifer und schlug um sich, ohne seinen Widersacher zu treffen. Hanno stieß einen Fluch aus. Ein hässliches Knirschen war zu hören, im gleichen Moment erscholl ein Schmerzenslaut. Endlich kam Edith frei. Aufgewühlt und zitternd vor Schreck, drückte sie sich entlang der Zarge an den ringenden Männern vorbei. Sie brauchte Licht. Und etwas, das sie ihrem Angreifer auf den Schädel schlagen konnte.
Unten an der Treppe konnte sie so gerade eben einen mageren Lichtschein ausmachen.
»Was ist da los?« rief Sigmar zögerlich hoch. »Ich habe noch späte Schankgäste zu bewirten.«
Edith rannte die Stufen hinab und entriss Sigmar die Laterne. »Ein Überfall! Kommt!«, herrschte sie ihn panisch an.
Das Blatt hatte sich inzwischen gewendet. Der Unhold, ein unglaublich großer Kerl mit teigigen Hängewangen, kniete auf Hannos linkem Arm, eine seiner Pranken würgte Hanno. Doch so misslich seine Lage auch war, Hanno hatte dem Lump die Nase gebrochen und schwang nun seine Faust geradewegs auf dessen Kinn. Der Kopf des Hünen schwang ob des Treffers zur Seite, der Griff um Hannos Gurgel wurde jedoch gnadenlos fester. Edith schaute den Eäzekompwirt verzweifelt an. »Worauf wartet Ihr? Tut etwas!«
Sigmar hob seine fleischigen Arme. »Um Himmels Willen, meine Herren, auseinander. Lasst voneinander ab. Das war sicher nur ein Missverständnis.«
Das war alles? Edith blitzte den Wirt wütend an. Die Laterne in der einen Hand, packte sie den Pinkeltopf, und schmetterte ihn kraftvoll gegen den Hinterkopf des Angreifers.
Dieser sackte prompt in sich zusammen. Hanno stieß den Kerl beiseite und rang um Atem. »Geht es dir gut, Edith?«, brachte er mit kratziger Stimme hervor.
Zitternd hielt Edith ihre Kleidung zusammen. Angst und Zorn pulsierten in ihr. »Geht schon.«
»Verdammtes Kampfschwein«, knurrte Hanno heiser.
»Ein Söldner«, sagte Sigmar. Die Furcht ließ seine Stimme heller klingen. »Raban muss sich in der Tür geirrt haben. Naja, er trinkt gerne, ist halt ein Mann. Möchtet ihr vielleicht einen Krug Schlummerbier? Geht natürlich auf’s Haus. Ein Friedensangebot zu meinen Lasten. Was haltet ihr davon?«
Aufgebracht hielt Edith die Laterne neben ihr Gesicht. »Mein Hemd ist zerrissen, mir fehlt ein Haarbüschel und dieser Unhold hat seine Hände dort gehabt, wo sie nicht hin gehören. Ich will eine ernstgemeinte Entschuldigung, sowie Nadel und Garn.«
Sigmar versuchte sich an einem beschwichtigenden Lächeln. »Gemach, gemach. Es ist ja längst nicht zum Äußersten gekommen. Wie wäre es mit einem Krug Wein für Euch und Euren Gemahl?«
Die Treppe knarrte, Edith fuhr alarmiert herum und sah sich zwei Männern gegenüber. Einer blond, stämmig und glattrasiert, der andere groß, schlank und, wie auch der Angreifer, trugen beide rote Wämser. Der Große erfasste die Situation, derweil sich Raban hochstemmte und sich stöhnend den Kopf hielt. Edith hatte gehofft, den Schläger länger außer Gefecht gesetzt zu haben. Der Schlanke drückte Edith achtlos beiseite. »Raban, ist alles in Ordnung?«
»Jaja, Lambert. Alles bestens.«
»Siehst aber ziemlich ramponiert aus.«
Raban kam schwankend auf die Beine, massierte einen seiner Finger und bedachte seinen Gefährten mit einem dräuenden Blick. »Ramponiert? Blödsinn. Die Furie hat mehr Feuer als ihr Gespiele. Der ist wahrscheinlich ein Kaufmännchen für Knöpfe.«
Edith und Hanno tauschten einen Blick aus. Niemand sonst konnte bemerken, dass sie ihn inständig bat, sich nicht provozieren zu lassen, und Hanno sie mit einem angedeuteten Nicken beruhigte.
Lambert grinste. »Dann solltest du Gott auf Knien danken, dass nur er dich zwischen hatte. Wir sollten überlegen, ihn für unsere Sache anzuwerben. Er hat dir einen Finger verdreht, die Nase gebrochen, ein Ohr eingerissen, die Lippe aufgeschlagen und eine Mordsbeule wirst du auch bekommen. Und das ist nur, was ich mit einem Blick sehe. Wirklich, mir sieht’s eher so aus, als hättest du verdammtes Glück … «
»Halte deine Schnauze, Lambert. Und du auch, Udo«, herrschte Raban seine Freunde an. Aus blutunterlaufenen Augen schaute er in die Runde, verharrte bei Hanno und deutete auf ihn. »Kaufmännchen, lauf mir noch einmal über den Weg, und du bist tot.«
»Oder es wird umgekehrt sein«, konterte Hanno mit solch eisiger Überlegenheit, dass Edith ein Schauder über den Rücken lief.
»Herrschaften, Herrschaften, nur die Ruhe!«, bemühte sich Sigmar mit erhobenen Armen um Gehör. »Udo, Lambert, Raban. Frau Edith, Herr Hanno. Gemach, gemach! Wir schlafen jetzt alle eine Nacht darüber und morgen früh schließen wir Frieden miteinander.«
»Das wüsste ich aber«, murrte Hanno. »Morgen suchen wir uns eine andere Herberge.«
»Der Eäzekomp soll nicht in den Ruf geraten, von braven Leuten gemieden werden zu müssen. Ich hätte den Raubeinen erst gar kein Zimmer angeboten, aber sie haben bei meiner Schankmagd nachgefragt und die hat ihnen ein Quartier zugesichert. Da kann ich keinen Rückzieher machen. Jetzt hocken sie schon vier Wochen in der Kammer, liegen bis mittags in den Betten, aber die zahlen sie mir nicht schlecht. Ich werde mit ihnen sprechen. So etwas wird nicht wieder vorkommen. Wir sollten einander entgegenkommen. Ich habe mir etwas anderes überlegt. Etwas viel Besseres: Die nächsten drei Tage lasse ich euch zum halben Preis, Afra kocht, ich spendiere das Bier und obendrein zahle ich euch einen ausgiebigen Zuberbesuch im Corneliusbad. Das ist nicht weit entfernt und mir ist noch nie zu Ohren gekommen, dass dort jemand unzufrieden war. Was sagt ihr?« Sigmar schaute beifallsheischend zwischen Edith und Hanno hin und her. Edith nickte dem Wirt zu. »Wir müssen uns einen Augenblick beraten.«
»Gewiss doch, gewiss doch.«
Hanno sah dem wuselnden Wirt nach und rieb sich eine schmerzende Blessur am Oberarm. »Was hältst du davon?«
Edith schnaubte unentschlossen. »Ich würde den Kerlen am liebsten nicht noch einmal über den Weg laufen, aber andererseits könnten wir das eingesparte Geld gut brauchen. Ich habe gestern einen Hökerer gesehen, der gut erhaltene Laken auf seinem Tisch anbot und gleich daneben war ein Stand mit Nadeln.«
»Benötigen wir die Sachen dringend?«
»Wir selbst nicht, obwohl ich mit Nadeln sicher einen guten Tauschhandel treiben könnte. Gerade jetzt, wo es auf den Winter zugeht. Aber ich habe eher an Fidelis’ Aussteuer gedacht. Die Truhe ist erst recht mager gefüllt. Ich weiß, dass sie das Handgeld spart, welches die Gäste ihr ab und an zustecken. Ich würde Fidelis auch gerne mit etwas Besonderem überraschen, das sie so nicht bei uns bekommt. Schließlich haben wir auch ihr zu verdanken, dass wir hier sein können. Sollte auch das kleinste bisschen passieren, sind wir sofort weg.«
Hanno dachte nach. »Abgemacht! Wir werden die Tür verkeilen, und wenn du irgendetwas Verdächtiges hörst, ganz gleich, um welche Uhrzeit, weckst du mich sofort. Wenn uns einer der Schläger auch nur ansatzweise dumm kommt, verschwinden wir. Und wir lassen heute noch unsere Tischmesser schleifen.«
»Du willst aber nicht mit Essbesteck auf einen Söldner losgehen?«
Hanno schaute zu Afra, die lustlos einen Besen umklammert hielt und eine Fliege an der Wand beobachtete. »Nein, aber wenn sie kocht, will ich auf alles gefasst sein.«
***
Sigmar rieb sich, ob Ediths und Hannos Entscheidung, erfreut die Hände. »Es soll keiner sagen, dass ich geizig bin. Dann mögt ihr vielleicht heute ins Corneliusbad? Am Vormittag ist es recht ruhig, aber später kommen die Handwerker mit ihrem wöchentlichen Badepfennig, und dann gibt es Musik, es wird jongliert oder ein Possenreißer unterhält die Leute. Obwohl, Moment, heute ist Freitag, da stellt ein Zahnreißer seine Kunst vor. Er sei geschickt, habe ich gehört.«
Edith strahlte Hanno an. »Ein Bad, jetzt gleich, das würde mir gefallen. Lass’ uns anständige und, vor allem, saubere Pilger sein.«
»Fein.« Sigmar rieb sich erneut die Hände, schnappte sich dann sein Wischtuch. »Aber erst bringt Afra euch einen Brei. Afra, hörst du? Brei für die Gäste und spare nicht an Butter und Salz. Es soll ja niemand sagen, dass man im Eäzekomp hungrig bleibt.«
Mittlerweile hatten drei weitere Gäste die Stube betreten. Einer von ihnen war ein Greis, der etwas abständig wirkte, die beiden anderen waren Frauen, die Edith etwas älter als sich selbst schätzte. Sie sprachen einen seltsamen Dialekt, der dem Jenischen der Fahrensleute ähnlich war, und verwickelten Sigmar in ein aufgeregtes Gespräch. Ihre Gesten ließen Edith vermuten, dass es dabei um den nächtlichen Lärm ging. Kein Wunder, bei diesem Getöse wird keiner ein Auge zugetan haben.
Afra schlurfte mit zwei Näpfen Brei an ihrem Vater vorbei. Diesem blieb der Mund für einen Lidschlag lang offen stehen. Die Wirtstochter stellte die Mahlzeiten vor Edith und Hanno ab und trottete zu ihrem Besen zurück. Afra hatte die Anordnung ihres Vaters sehr wörtlich genommen. Auf dem warmen Brei schwamm eine verschwenderisch dicke, goldgelbe Lache, und mit dem Salz war das Mädchen auch nicht knausrig gewesen. Doch machte beides den Brei genießbar. Hanno schnaufte belustigt. »Ich bin wohl nicht der erste und einzige Vater, der mit einer Tochter aus Blitz und Donner gesegnet wurde.«
»Afra? Bummel und Trott, träfe es eher.«
»Glaube mir getrost, ich erkenne Aufmüpfigkeit, wenn ich sie sehe. Was machen wir eigentlich in den nächsten Tagen? Außer den Herrn zu preisen, meine ich. Du hast bisher ein Geheimnis darum gemacht.«
»Kein Geheimnis, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es hier mehr als fünf Kirchen und genauso viele Kapellen gibt. Jetzt sehe ich es mit eigenen Augen. Die Kirchen möchte ich alle besuchen. Ferner habe ich gehört, es sei üblich, dass sich die Wallfahrer mindestens drei Tage in den Dienst des Münsters stellen. Dort würde ich auch gerne einen praktischen Pilgerdienst leisten.«
»Was genau bedeutet das?«
»Die Domherren unterhalten eine Armenspeisung. Ich könnte kochen oder spülen. Oder den Fußboden im hohen Dom schrubben, die Statuen der Heiligen entstauben, was eben gerade gefordert wird.«
»Gäbe es da auch etwas für mich zu tun? Ich bin kein Handwerker, in diesem Sinne. Und zu räuchern wird es da wohl nichts geben.«
»Ach, ich denke, da wird sich etwas finden lassen. Wir sind schließlich nicht die ersten oder letzten Aachenwallfahrer.«
Hanno wischte seinen Löffel am Hemdsaum sauber, bevor er ihn in seinem Beutel verstaute. »Aber zuerst baden?«
»Zuerst baden!«, bestätigte Edith vergnügt. Das würde auch Hanno gut tun. Mit seinen sechsunddreißig Jahren war er kein junger Mann mehr, daran war nicht zu rütteln. Dass er, unterstützt nur vom jungen Lusim und einem Tagelöhner, mit Schaufel und Hacke binnen zehn Tagen neben ihrer Herberge einen ansehnlichen Fischteich angelegt hatte, war eine beachtliche Leistung. Allerdings litt er seither unter Rückenschmerzen, auch wenn er dies nicht an die große Glocke hing. Rabans Fäuste hatte ebenfalls ihre Spuren hinterlassen.
***
Das Corneliusbad befand sich im Kompviertel. Edith hatte den Namen des Viertels häufiger von den Reisenden gehört, die Richtung Norden zogen und bei ihr Station machten. Die Eindrücke davon fielen indes so unterschiedlich aus, dass sie keinen Wert hatten. Herrlich, hatte ein Gast es geschildert, es als quirlig, farbenfroh und lebenswert bezeichnet. Das vielfältige Bade- und Gesundheitswesen sei ein unbeschreiblicher Quell des Wohlbefindens.
Von einem anderen hatte Edith das genaue Gegenteil gehört. Dort käme das schlimmste Gelichter zusammen: Tagediebe, Räuber, Falschmünzer, Dirnen und Betrüger. Selbst der Carnifex sei dort zuhause.
Nichts davon war Edith aufgefallen, als sie an Hannos Seite Sigmars Wegbeschreibung folgte. Sicher, es gab offensichtliche Armut, aber die gab es überall. Auch Aachen hatte unter der Belagerung gelitten, weil plötzlich ganze Wagenladungen an Lebensmitteln für das riesige Heer beschlagnahmt worden waren.
Einige der Fachwerkhäuser benötigten dringende Ausbesserungen, und hier waren die engen Gassen, anders als die Straßen in besseren Vierteln, nicht gepflastert.
Die Tür des Zuberhauses stand offen, eine rotnasige Magd kehrte den Schmutz über die Schwelle und gähnte herzhaft, bevor sie Ediths Gruß im Aachener Dialekt erwiderte. »Euch auch einen guten Morgen. Die Sonne meint es gut mit uns, das wird ein schöner Tag heute.«
»Das hoffe ich.« Edith holte Sigmars Münze hervor und gab sie der Magd. »Der Wirt des Eäzekomps hat uns das Corneliusbad empfohlen. Das ist doch hier?«
»Goldrichtig!« Die Magd lehnte den Besen an die Mauer und wies einladend zur Tür. »Kommt herein und mir nach. Ihr seid fremd, nicht wahr? Ihr kennt die Besonderheiten der Aachener Bäder?«
»Es gibt heiße Quellen, erzählt man sich.«
»Viele sogar. Unser Wasser kommt so heiß aus dem Boden, dass es erst eine Weile auskühlen muss, damit die Gäste sich nicht verbrühen. Es riecht ein bisschen streng, aber das nimmt man nach einer Weile nicht mehr wahr. Ihr könnt zwischen dem Becken und den Zubern wechseln. Das Becken hat einen Zu- und Ablauf. Dort ist das Wasser wärmer als in den Zubern. Überdies gibt es eine Wanne mit Kaltwasser für die Gäste, die Wechselbäder schätzen.«
Die Magd deutete zu einer Kammer, deren einziges Fenster mit einer dünnen Ziegenhaut bespannt war. »Hier ist der Waschraum, darin findet ihr die Badehemden. Die Herren kleiden sich vor dem Sichtschutz um, die Damen dahinter. Schuhe und Kleidung lasst hier, sie werden bewacht. Latrine und Pinkeleimer sind dort entlang. Bitte nicht in die Latrine strullern, den Urin brauchen die Färber. Der Bader kommt gleich, falls ihr einen Haarschnitt, eine Zahnbehandlung oder eine Massage wollt.« Die Magd spähte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ach, Wulf, du kommst wie gerufen.«