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Zwei Familien. Ein tödliches Geheimnis.
Auf der idyllischen Riverside Road scheint die Welt noch in Ordnung, bis Anna eines Abends ein seltsames Licht im Haus ihrer Nachbarn sieht. Wenig später macht sie eine schreckliche Entdeckung: Der beliebte Arzt Dr. Taylor liegt brutal ermordet in seinem Bett. Während die Polizei fieberhaft ermittelt, gerät Anna selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wird bedroht. Doch um herauszufinden, was wirklich geschehen ist, muss sie sich nicht nur der Angst stellen, sondern auch einem dunklen Geheimnis aus ihrer eigenen Vergangenheit – einem Geheimnis, das besser für immer verborgen bleibt …
Ein fesselnder Psychothriller voller überraschender Wendungen – perfekt für Fans von The Woman in the Window und The Housemaid.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Zwei Familien. Ein tödliches Geheimnis.
Auf der idyllischen Riverside Road scheint die Welt noch in Ordnung, bis Anna eines Abends ein seltsames Licht im Haus ihrer Nachbarn sieht. Wenig später macht sie eine schreckliche Entdeckung: Der beliebte Arzt Dr. Taylor liegt brutal ermordet in seinem Bett. Während die Polizei fieberhaft ermittelt, gerät Anna selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wird bedroht. Doch um herauszufinden, was wirklich geschehen ist, muss sie sich nicht nur der Angst stellen, sondern auch einem dunklen Geheimnis aus ihrer eigenen Vergangenheit – einem Geheimnis, das besser für immer verborgen bleibt …
Ein fesselnder Psychothriller voller überraschender Wendungen – perfekt für Fans von The Woman in the Window und The Housemaid.
Jill Childs hat schon immer Geschichten geliebt, echte und erfundene. Über 30 Jahre lang bereiste sie als Journalistin die ganze Welt – je nachdem, wohin die Nachrichten sie führten. Heute lebt sie als Autorin mit ihrem Mann und ihren Zwillingen in London.
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Jill Childs
Die Gegenspielerin
Aus dem Englischen von Christina Kagerer
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
PROLOG
EINS — GEGENWWART
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG — Damals
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG — JETZT
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG — FRÜHER AM TAG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
VIERZIG
EINUNDVIERZIG
ZWEIUNDVIERZIG
DREIUNDVIERZIG
VIERUNDVIERZIG
FÜNFUNDVIERZIG
SECHSUNDVIERZIG
SIEBENUNDVIERZIG
ACHTUNDVIERZIG
NEUNUNDVIERZIG
FÜNFZIG
EINUNDFÜNFZIG — SECHS MONATE SPÄTER
ZWEIUNDFÜNFZIG
DREIUNDFÜNFZIG
EIN BRIEF VON JILL
DANKSAGUNG
Impressum
Für Janet
Es war spät. Sie hätte nicht einmal hier sein sollen, nicht zu so später Stunde.
Zitternd zog sie ihren Mantel fester um den Körper. Die Kälte schnitt ihr stechend und gnadenlos scharf in die Haut. Ihre Ohren brannten. Als sie seufzte, bildete sich eine weiße Atemwolke vor ihrem Mund, die sich schnell auflöste.
Sie hatte eigentlich schon um zehn gehen wollen, aber jedes Mal, wenn sie Anstalten gemacht hatte, aufzubrechen, hatte ihre alte Mutter sie so enttäuscht angeschaut, dass sie es nicht übers Herz gebracht hatte, sie schon zu verlassen. Ihre Mutter war natürlich einsam. Das Leben in ihrem Alter war nicht einfach.
Langsam tauchte ein Auto in der Dunkelheit auf. Sie hörte es, bevor sie es sah – das leise Brummen des Motors in der Stille. Vorsichtig – weil es so eisig war – kam es um die Kurve. Die unteren Scheinwerfer schnitten durch die Dunkelheit, als es vorbeifuhr. Hart und hell wie Stahl. Danach wurde das Geräusch gedämpfter, und Dunkelheit verschluckte die Rücklichter, als wäre das Auto nie dagewesen.
Sie lachte über sich selbst und warf wieder einen Blick auf die Uhr. Der Zehn-Uhr-fünfundfünfzig-Bus war zu spät. Der letzte. Er hätte schon längst da sein sollen. Sie stand jetzt bereits seit fünfzehn Minuten an der Bushaltestelle und wartete. Sie sehnte sich danach, zu Hause zu sein, mit ihrer Familie zu reden, sich zu vergewissern, dass alle gut gegessen hatten und sie zu fragen, wie ihr Tag gewesen war. Wenn der Bus bis zwanzig nach elf nicht gekommen war, würde sie ihm schreiben und ihn bitten, sie abzuholen. Es würde ihm nichts ausmachen, und sie konnte hier nicht mehr länger rumstehen – sie würde noch erfrieren.
Im Wohnzimmer ihrer Mutter war es nicht viel wärmer gewesen. Selbst mit dem elektrischen Feuer war ihr Haus eine richtige Eishöhle. Die Hände ihrer Mutter, knochig und von Adern durchzogen, waren heute Abend eiskalt gewesen. Und so sehr sie auch versucht hatte, ihre Mutter davon zu überzeugen, sie wollte die Zentralheizung einfach nicht anmachen. Das war nicht gesund, nicht in ihrem Alter.
Sie runzelte die Stirn und dachte darüber nach. Es musste doch einen Weg geben, ihre Mutter davon zu überzeugen, dass sie sich mit den Rechnungen helfen ließ, wenn das das Problem war. Sie hätte ihr liebend gerne geholfen.
Irgendwo auf der anderen Seite des Feldes fing ein Hund zu bellen an. In Nächten wie dieser wurde der Klang meilenweit getragen. Der Geruch von Erde und Rindenmulch wurde von der eisigen Luft eingelullt. Sie stapfte mit den Füßen in ihren Stiefeln, um wieder ein Gefühl in ihren Zehen zu bekommen.
Der Gehweg glitzerte vor Frost.
Sie lenkte sich ab, indem sie sich den Bus vorstellte, das kehlige Dröhnen seines Motors, wenn er um die Kurve bog, die hellen Lichter im Innern, wenn er vor ihr zum Stehen kam, dann das Zischen der Türen, die sich öffneten, und die Wärme, als sie einstieg. Sie wäre in fünfzehn Minuten zu Hause. Zu dieser Zeit war kaum Verkehr. Wieder zog sie ihr Handy raus. Sechzehn Minuten nach elf.
Verdammt noch mal. Wenn er nicht bald hier wäre …
Ein Motor heulte auf. Plötzlich und wütend. Aber das war nicht der Bus. Es war ein Auto, das viel zu schnell wie aus dem Nichts auftauchte und über die vereiste Straße raste.
Sie blickte von ihrem Smartphone auf, als es gerade um die Kurve bog. Die Scheinwerfer blendeten sie mitten ins Gesicht. Sie öffnete wortlos den Mund. Sie war geblendet und wie gelähmt, zu geschockt, um sich zu bewegen. Sie spürte den letzten Moment, in dem das Auto schlingerte und direkt auf sie zukam – der Moment kurz bevor es über den Bordstein fuhr und sie mit voller Wucht traf.
Knochen brachen und Sehnen rissen.
Das Auto fuhr weiter und zerrte sie über den Gehweg, dann krachte es gegen die Steinmauer auf der anderen Seite.
Ihr Handy wurde ihr aus der Hand gerissen und fiel mit der Rückseite auf den Boden. Das Display leuchtete in warmem Blau in der dunklen Nacht, bevor es schließlich erstarb.
GEGENWWART
Anna
»Fantastisch, was du aus dem Haus gemacht hast! Es sieht klasse aus!«
»Danke!« Anna, die sich gerade ihren Weg durch die Menge im Garten bahnte, drehte sich um und lächelte.
Er kam ihr vage bekannt vor. Einer von Tims Schulfreunden von damals, als sie alle noch Teenager gewesen waren. Ziemlich viele Leute aus Tims alter Clique wollten ihn zu Hause willkommen heißen. Die meisten von ihnen hatten ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.
Aber wie war noch sein Name? Sanjay, oder? Oder Sanjeev? Er sah aus, als hätte er viel für sich getan. Gutaussehend, in einem strahlend weißen Hemd und Chinos. Als er sich zu ihr beugte, damit sie ihn über die Musik und die Unterhaltungen hinweg verstehen konnte, bemerkte sie, dass sein warmer Atem nach Weißwein roch.
Ob die Getränke wohl ausreichen würden? Waren drei Kisten genug?
»Dein Dad wäre sehr stolz!« Seine Augen musterten sie freundlich.
Sie musste ihm nicht erklären, was sie alles durchgemacht hatten. Es blieb unausgesprochen.
Alle wussten es.
»Es hätte ihm heute Abend gefallen, oder?« Anna nickte wehmütig und ging weiter.
Ihr Vater hätte das alte Haus jetzt kaum mehr erkannt. Sie hatte ein Vermögen ausgegeben, um es wieder auf Vordermann zu bringen, seit er gestorben war. Wenn er heute Abend hier gewesen wäre, hätte er sich fürchterlich über die Ausgaben aufgeregt. Sie konnte ihn fast hören.
Bist du dir sicher, dass du dir das leisten kannst, Liebes? Wirklich? Deine Mutter hat nie einen Caterer angeheuert. Sie hat immer nur Chips und Nüsse hingestellt. Das ist alles, was die Leute wollen. Sie essen auf Partys sowieso nie viel.
Bei der Vorstellung grinste sie in sich hinein.
Aber er wäre von dem Jazz-Quartett beeindruckt gewesen. Gerade begannen sie mit der zweiten Hälfte ihres Sets und erfüllten den Garten mit dem Intro von »The Lady Is A Tramp«. Das erkannte sie an den ersten Tönen. Sie und Tim waren mit der traurigen, altmodischen Musik ihres Vaters aufgewachsen.
Gesichter drehten sich zu ihr um, als sie in den Garten kam. Sie riss sich aus ihren Gedanken, lächelte freundlich, verteilte Wangenküsschen und nahm Komplimente zu ihrem Kleid, der Party und den sanft leuchtenden bunten Lichterketten entgegen, die den Garten völlig verwandelt hatten. Aber vor allem beglückwünschten sie sie alle dazu, dass sie Tim nach all den Jahren wieder nach Hause gebracht hatte.
Das war der wahre Grund für die Party.
Sanjay hatte recht: Ihr Vater wäre stolz.
Eine der jungen Kellnerinnen ging durch die Menge und verteilte Räucherlachs-Blinis auf Tabletts. Eine andere füllte hinter den Terassentüren die Gläser auf. Cassie, die auf der anderen Seite des Gartens hinter einer Schulfreundin herlief, drehte sich um sich selbst und verschwand dann wieder. Sie war total aufgeregt, weil sie so lange wachbleiben durfte.
»Stimmt es, Anna? Willst du wirklich einen weiteren Laden eröffnen?« Mrs MacKay von vier Häusern weiter, die fast siebzig war, riss sie aus ihren Gedanken. »Wie viele hast du jetzt schon? Vier?«
Anna lächelte. »Es werden drei, wenn es klappt. Aber ich bin immer noch dabei, die Miete zu verhandeln.«
»Das hast du von deiner Mum«, sagte Mrs MacKay. »Sie konnte immer gut handeln. Dein Dad war da vorsichtiger.«
Anna nickte. »Stimmt, das war er.«
»Hoffen wir mal, dass Cassie das auch geerbt hat.« Mrs MacKay redete weiter über ihre Enkelsöhne und wie verschwenderisch sie mit dem hart verdienten Geld ihrer Tochter umgingen.
Anna ließ das Gerede der alten Frau über sich ergehen und wurde plötzlich von einem Gefühl des Wohlseins eingehüllt. Sie kannte die McKays schon ihr Leben lang. Mrs MacKays Schwester, eine fröhliche Frau mit roten Wangen und stämmigen Beinen, hatte ein paar Jahre lang für ihren Vater geputzt. Sie hatte dabei immer einen Polyester-Overall getragen und oft eine Handvoll Karamellbonbons in der Tasche gehabt. Anna hatte sich immer in ihrer Nähe herumgetrieben und gehofft, dass sie eins bekommen würde. Es waren seltsame Geschmacksrichtungen wie Banane und Himbeere, aber sie waren trotzdem gut. Mrs MacKay hatte auch hin und wieder auf sie aufgepasst, als sie noch ein Kind war, wenn ihr Vater mal weg war, was allerdings nur selten vorgekommen war.
Anna war noch ein Baby gewesen, als ihre Eltern und Tim in dieses Haus in der Riverside Road gezogen waren. Sie hätte sich jetzt etwas Größeres leisten können, wenn sie hätte umziehen wollen. Zum Beispiel eines der umgebauten Farmhäuser oben auf dem Chevin auf den dunklen Klippen, die den bewaldeten Hügel überblickten und eine wunderbare Aussicht auf die Altstadt von Otley boten. Einige von ihnen hatten traumhafte Fenster mit Blick über das Wharfe Valley.
Aber sie wäre nie umgezogen, egal wie viel Geld sie verdiente. Sie liebte die Tatsache, dass sie in der Straße so viele Menschen kannten. Als Kinder waren sie und Tim in diesen Häusern ein- und ausgegangen, hatten mit den anderen Kindern gespielt und waren zu den Mahlzeiten immer willkommen gewesen. Alle ihre Eltern waren befreundet gewesen.
Es berührte sie, dass sich so viele von ihnen an ihren Vater erinnerten. Und die Älteren wie Mrs MacKay erinnerten sich auch noch an ihre Mutter. Manchmal erzählten sie ihr irgendwelche kleinen Dinge über ihre Eltern, die sie schon fast vergessen hatte. Oder sie erklärten ihr, jetzt, wo sie fast dreißig war, Details über den Tod ihrer Mutter, weil sie mit sieben Jahren noch zu klein gewesen war, das alles zu verstehen.
Solche Geschichten waren viel wertvoller als eine tolle Aussicht. Das wollte sie auch für Cassie.
»Alles okay?« Tim berührte sie an der Schulter, als er an ihr vorbei ins Haus zurückging.
Sie grinste ihn an. »Klar. Und du?« Aber er war schon weg.
Mrs MacKay sah, wie Anna ihm hinterherschaute, unterbrach ihren eigenen Redefluss und beugte sich zu ihr. »Er sieht so gut aus, oder? Ich habe ihn vor ein paar Tagen die Straße entlanggehen sehen und gedacht, ich hätte einen Geist gesehen. Er ist das Ebenbild eures Vaters.« Sie hielt kurz inne und fügte dann vielsagend hinzu: »Glaubst du, er wird hierbleiben, jetzt, wo er wieder zurückgekommen ist? Er war lange weg.«
Anna zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber ich freue mich jetzt einfach, dass er zu Hause ist.«
»Das glaube ich.« Mrs MacKays Augen funkelten. »Es ist nicht einfach, eine alleinerziehende Mutter zu sein. Und noch dazu zu arbeiten. Ich weiß gar nicht, wie du das machst.« Sie sah sich um. »Und George? Wie geht es ihm damit, Tim wieder hier zu sehen? Direkt auf der anderen Straßenseite?«
Anna spürte, wie sie rot wurde. Mrs MacKay sprach das eine Thema natürlich direkt an, über das viele hier mit Sicherheit nachdachten, das sich aber keiner zu erwähnen traute.
»George ist hier irgendwo.« Sie blickte sich suchend um. »Und Lily natürlich auch.«
»Ja, du und Lily, ihr wart immer wie Pech und Schwefel«, sagte Mrs MacKay. »Ich sehe euch noch vor mir, wie ihr beide zur Schule gegangen seid, als ihr noch klein wart. Mit wehenden Zöpfen und zuckersüß. Ihr wart unzertrennlich.«
»Ich weiß nicht, was ich ohne sie tun würde.« Anna nutzte den Moment. »Entschuldigen Sie mich bitte. Ich sehe besser mal nach, ob meine Hilfe in der Küche gebraucht wird.«
Sie steckte ihren Kopf durch die Küchentür und sah, wie die Caterer Tabletts mit Mini-Quiches hervorzogen und sie kunstvoll auf Servierplatten drapierten. Eine der Kellnerinnen drängte sich an ihr vorbei, um einen leeren Teller gegen einen vollen auszutauschen. Hier im Innern des Hauses klangen die Töne des Jazz-Quartetts plötzlich fern und gedämpft. Anna spürte, wie die Spannung in ihren Schultern nachließ. Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein, verließ die Küche und ging den Flur entlang in Richtung Eingangstür, um einen Moment lang die Stille vor dem Haus zu genießen.
Die Riverside Road war still und verlassen. Kühle Nachtluft wehte von den Mooren herbei und erinnerte daran, dass mit Ankunft des Septembers auch die Wärme verschwunden war. Anna lehnte sich gegen die Ziegelsteinmauer und atmete tief ein. Ein starker Geruch von feuchter Erde und Laub, Gras und ein Hauch Blumen.
Sie nippte an dem Wasser und fühlte, wie ihr Atem ruhiger wurde. Sie würde gleich wieder reingehen – sie genoss die Party –, aber sie war dankbar für diesen gestohlenen, friedlichen Moment für sich selbst. In der Ferne bellte ein Hund, eine plötzliche Salve aus Gekläffe, die aber gleich wieder in der Stille verebbte. Ein Auto fuhr um die Kurve und langsam an ihr vorbei.
Wieder kehrte Ruhe ein.
Sie blickte über den Zaun zu ihrer Linken. Das Pärchen von nebenan, Janice und Ricardo, waren auch zur Party gekommen. Sie hatten ihre Wohnzimmervorhänge zurückgezogen, und die Fenster sahen wie dunkle, leere Höhlen aus. Sie drehte sich zur anderen Seite, wo die Familie Li wohnte, die erst vor kurzem in die Straße gezogen war. Anwälte mit drei kleinen Kindern und einer Kanzlei in Leeds. Ein dünner Lichtstrahl drang durch die geschlossenen Vorhänge. Sie hatte sie natürlich auch eingeladen, aber sie hatten sich beschämt angeschaut und eine Ausrede erfunden.
Schade.
Sie hoffte, der Lärm würde sie nicht stören. Sie würde morgen mit Cassie rübergehen und sich entschuldigen. Vielleicht sogar mit ein paar Blumen. Sie mochte keine Spannungen in der Nachbarschaft.
Die Riverside Road war schon immer schön gewesen, voller Einfamilienhäusern mit drei oder vier Schlafzimmern und Garten, ganz in der Nähe des Parks und fußläufig vom alten Marktplatz in der Stadtmitte entfernt. Jetzt wohnte hier eine Mischung aus den alten Familien, wie die McKays, die hier schon seit zwei oder drei Generationen lebten, und relativen Neulingen wie den Lis, die in Leeds arbeiteten, sich aber in der Gemeinde mit den traditionellen Pubs und der hügeligen Landschaft wohlfühlten, die immer noch von Farmen, Feldern und Ställen dominiert war. Es gab auch ein paar gute Schulen hier.
Allmählich stiegen die Preise in der Straße, und die Gärten wurden kleiner, um größeren Wintergärten, Terrassen und Pizzaöfen Platz zu machen. Mrs MacKay hatte gesagt, das Haus neben ihrem wäre im Frühling für über sechshunderttausend Pfund verkauft worden. Annas Eltern hatten in den Neunzigern nur einen Bruchteil davon gezahlt, aber sie wusste, dass es für sie trotzdem viel Geld war. Der Job ihres Vaters in der Bank war gut gewesen, aber er hatte dort nie ein Vermögen verdient. Nachdem ihre Mutter gestorben war, hatte er seine Probleme damit gehabt, zwei kleine Kinder großzuziehen, aber er war immer sorgsam mit Geld umgegangen und hatte es geschafft, Anna und Tim das Haus schuldenfrei zu hinterlassen. Zusammen mit noch ein paar Ersparnissen. Dieses Erbe hatte es ihr ermöglicht, ihren ersten eigenen Laden zu pachten und ihr Geschäft überhaupt erst ins Rollen zu bringen, indem sie Uhren und Schmuck verkauft hatte.
Allmählich spürte sie, wie sie sich entspannte. Ihre Haut wurde von der leichten Brise, die vom Fluss kam, angenehm abgekühlt. Sie hob das Glas und hielt sich die glatte, kühle Oberfläche an die Stirn. Sie musste Cassie ins Bett bringen. Das Jazz-Quartett würde in einer halben Stunde aufhören, und es wurde langsam spät für ein zehnjähriges Mädchen, egal für wie erwachsen sie sich in letzter Zeit hielt. Cassie hatte vor kurzem YouTube Shorts entdeckt und verbrachte viel zu viel Zeit damit, Katzenvideos und Modeclips zu schauen. Manchmal wiederum kuschelte sie sich im Schlafanzug mit ihren Stofftieren aufs Sofa und schaute Zeichentrickserien. Wie Kinder halt so drauf waren in dem Alter.
Die entfernten Klänge von »Ev’ry Time We Say Goodbye« wehten aus dem Garten durch die Nachtluft. Anna lächelte in sich hinein und hoffte, dass ihr Vater zuhörte, wo immer er jetzt auch war.
Sie dachte an Mrs MacKays Frage, ob Tim bleiben würde. Anna war sich nicht sicher, aber sie hoffte es. Er und Cassie hatten in den letzten Jahren kaum Kontakt zueinander gehabt, aber sie schienen sich auf Anhieb verstanden zu haben. In Sachen Coolness überragte er sie als Onkel bei Weitem. Vielleicht wäre sie froh darüber, wenn Cassie ins gefürchtete Teenager-Alter kam.
Er hatte bereits angedeutet, dass er nach zehn Jahren in London, in denen er sich eine Karriere in der Stadt aufgebaut hatte, nach Hause kommen wollte. Es ging nicht ums Geld. Er hatte im Süden ein beeindruckendes Gehalt bekommen. Es ging um den immerwährenden Ruf ihrer Gemeinde, der Familie, des Ortes, dieser Straße. Ein Zugehörigkeitsgefühl, das er in London nicht gehabt hatte. Sie verstand das.
Aber falls Tim sich dafür entschied, zu bleiben, dann könnte das schwierig werden. Mrs MacKay hatte schon recht gehabt, George zu erwähnen. Er hatte noch nicht mit Tim gesprochen, seit er wieder zurück war, aber Anna hatte heute Abend Georges angespanntes Gesicht gesehen. Es hatte sie viel Mühe gekostet, George davon zu überzeugen, überhaupt herzukommen. Er war schwer zu durchschauen, aber Anna spürte, dass es für ihn nicht einfach möglich war zu vergeben und vergessen.
Sie streckte sich, bereit, sich wieder ins Getümmel zu stürzen. Sie würde erst nach Cassie suchen und ihr eine zehnminütige Vorwarnung geben, bevor sie ins Bett musste.
Gerade als sie sich zur Tür umdrehen wollte, sah sie im Augenwinkel einen gespenstischen Lichtschein in einem Haus auf der anderen Straßenseite. Stirnrunzelnd hielt sie inne und versuchte herauszufinden, woher er kam.
Was war das?
Es war das Haus der Taylors auf der anderen Straßenseite und nur ein paar Türen weiter.
Sie spähte durch die Dunkelheit.
Nichts.
Schwarze Nacht.
Sie musste sich geirrt haben. Vielleicht eine Reflexion von der Straße oder ein Lichtspiel.
Sie grinste in sich hinein. Dr Taylor war zu Beginn der Party mit einer Flasche Champagner rübergekommen. Sie hatte versucht, ihn dazu zu bringen, länger zu bleiben, aber er hatte sich nach einer Stunde verabschiedet und war nach Hause gegangen. Er hatte gesagt, er sei den ganzen Tag auf dem Golfplatz gewesen, und wolle deshalb früh ins Bett. Anna hatte auch vermutet, dass er den vielen Patienten entkommen wollte, die sich hier um ihn versammelt hatten. Viele von ihnen waren ältere Frauen, die ihn bewunderten und ganz erpicht darauf waren, Details ihrer Krankheiten mit ihm zu diskutieren und ihn um Rat zu fragen. Er war zwar in den Ruhestand gegangen, aber was viele Leute in Otley anging, war er immer noch ihr liebenswürdiger, charmanter Hausarzt. Egal, wie sehr er darauf bestand, dass sie einen Termin bei einem der neueren Ärzte in der örtlichen Praxis ausmachen sollten.
Sie entspannte sich wieder und wollte sich erneut in Bewegung setzen.
Dann war es wieder da.
Ein Flackern.
Ein schwacher Lichtschein im oberen Stockwerk, der nur durch die dunklen Fenster zu sehen war. Ein mulmiges Gefühl überfiel sie. Das war seltsam. Irgendwie wirkte es nicht richtig. Es war nicht der Schein eines normalen Lichts im Flur oder einer Nachttischlampe. Es erinnerte sie eher an einen sich bewegenden Lichtstrahl einer Taschenlampe. Sie schaute über ihre Schulter zurück und dachte an Lily und George, fragte sich, ob sie reingehen und einen der beiden suchen sollte, um ihnen zu sagen, was sie gesehen hatte.
Aber was hatte sie denn wirklich gesehen? Sie zögerte. Was würde sie sagen? Ich glaube, ich habe ein seltsames Licht oben im Haus eures Dads gesehen. Aber ich könnte mich auch geirrt haben.
Sie würde sich dumm vorkommen. Sie würde sie wegen nichts in Panik versetzen. Nein, es gab keinen Grund, ihnen den Spaß zu verderben. Und Dr Taylor hasste Aufmerksamkeit. Nein, sie würde einfach selbst rübergehen und sich die Sache anschauen.
Sie stellte das halb leere Wasserglas auf den Boden neben der Wand und ging den Weg entlang auf die leere Straße zu. Ihr Atem ging flach, und das Klopfen ihres Herzens pochte in ihren Ohren.
Sie machte aus einer Mücke einen Elefanten. Sie würden hinterher darüber lachen. Sie würde eine Story daraus machen – das Drama ihrer geheimen, nächtlichen Mission über die River Road, die darin endete … in was eigentlich? Darin, Dr Taylor zu finden, der mit einer Stirnlampe im Haus umherschlich, weil er auf die Toilette musste und die Glühbirne im Flur durchgebrannt war?
So etwas musste es sein. Nichts, worüber man sich Sorgen machen musste.
Das Tor der Taylors war nicht verschlossen. Es schwang ruckelnd auf, und sie ging den Pfad zur Eingangstür entlang, warf nur einen kurzen Blick darauf, als sie vorbeiging. Die Vordertür war immer verschlossen und hatte normalerweise auch ein Vorhängeschloss. An der Seite des Hauses führte ein Weg hinten in den Garten. Als Kind war Anna mit ihrer besten Freundin Lily im Haus der Taylors ein- und ausgegangen wie zu Hause, und sie hatte schnell gelernt, dass alle die Hintertür benutzten. Die Vordertür war für Besucher reserviert.
Sie folgte den Trittsteinen in den schattigen Garten. Irgendetwas rannte über den Rasen, als sie näher kam, und sie zuckte zusammen. Es verschwand in den struppigen Büschen. Wahrscheinlich ein Fuchs oder eine Katze aus der Nachbarschaft, die auf Mäusejagd war.
Anna versuchte, ihre Nerven zu beruhigen, und ging weiter zur Hintertür. Sie war abgeschlossen, wie erwartet. Dr Taylor war sehr gewissenhaft, wenn es um Sicherheit ging. Lily zog ihn deswegen gerne auf.
Anna überlegte. Sie könnte zurück zur Vordertür gehen und klingeln. Aber vielleicht hörte er sie nicht, und selbst wenn er sie hörte, könnte ihn das beunruhigen. Sie blickte zur Straße zurück, rüber zu ihrem eigenen Haus, und kam sich unglaublich dumm vor. Da war niemand. Der Zaun ihres Gartens, der von hier zu sehen war, war von den bunten Lichtern erleuchtet, das war alles. Sie waren alle zu sehr mit der Party beschäftigt, um zu bemerken, was in der Straße vor sich ging.
Sie griff unter den Blumentopf, holte den Schlüssel für die Hintertür hervor und ließ sich selbst rein.
Die Küche wirkte geradezu gespenstisch. Dünne Lichtstreifen von der Straße schienen gelb in den Raum, hell genug, um den Metallrand des Ofens und den stumpfen Kreis der Wanduhr sichtbar zu machen. Am Kühlschrank leuchtete ein grüner Punkt.
Anna stand ganz still da und lauschte. Plötzlich lief ihr ein Schauer über den Rücken. Wenn Dr Taylor die Tür öffnete und sie in seiner Küche fand, würde er ziemlich sicher den Schock seines Lebens bekommen. Vielleicht sollte sie einfach wieder gehen und die Tür hinter sich schließen.
Da hörte sie oben ein Knarzen. Eine Bodendiele, die unter dem Gewicht einer Person nachgab. Das konnte nur Dr Taylor sein. Seine Frau, Lilys und Georges Mutter, war vor Jahren gestorben, als Anna mit Cassie schwanger gewesen war.
Jetzt war sie schon hier – sie würde ihn rufen und ihn wissen lassen, dass sie hier war. Sie würde ihm erklären, dass sie nur sichergehen wollte, dass alles okay war.
Sie ging zur Küchentür und öffnete sie.
Jetzt war es unverkennbar. Ein schwacher Lichtschein im Treppenhaus, der Schatten an die Wand warf. Eine Taschenlampe.
»Dr Taylor?«, rief sie in die Stille hinein. »Ich bin es, Anna. Ist alles in Ordnung?«
Ihre Stimme klang in dem hallenden Haus ängstlich. Sie stellte sich vor, wie er in der Dunkelheit umherirrte. Er war mit der Zeit immer schwerhöriger geworden, auch, wenn er das nicht gerne zugab. Sie müsste vorsichtig sein, um ihn nicht zu erschrecken.
Sie ging durch den Flur zum Fuß der Treppe. Das einzige Geräusch war das stete Ticken der Standuhr in der Ecke. Das schwingende Pendel schimmerte im schwachen Licht.
Sie blickte die Treppe hinauf. Die Fenster im Treppenhaus waren leer, und Lichtfragmente von draußen schienen hinein. Kein Anzeichen mehr von einer Taschenlampe. Ganz langsam ging sie nach oben, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, immer nur auf die Kante der Stufen, wo sie am stabilsten waren. Auf halbem Weg blieb sie stehen.
»Dr Taylor?«, rief sie erneut.
Nichts.
Sie ging weiter, bis sie über das Geländer sehen konnte. Die Tür zu Dr Taylors Schlafzimmer stand offen.
Sie schaute wie gebannt hinein. Sie kannte diesen Raum, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Der Schrank, wo sie und Lily sich als Kinder immer versteckt hatten. Gleich nebendran das beste Versteck im ganzen Haus: ein langer, schmaler Hohlraum hinter dem beweglichen Teil einer Sockelleiste, den nicht einmal die Jungs kannten, und in dem sie und Lily früher Süßigkeiten versteckt hatten. Das Doppelbett, auf dem sie und Lily gesprungen waren und so getan hatten, als wären sie Turnerinnen. Später, als sie nicht viel älter gewesen waren als Cassie jetzt, hatten sie vor dem wandhohen Spiegel – dem einzigen im Haus – getanzt und gesungen.
Was der Spiegel ihr jetzt reflektierte, war der Einblick in die Hölle. In der Dunkelheit kaum sichtbar, konnte sie den Umriss einer Gestalt ausmachen, Kopf und Schultern erhoben, aber seitlich auf einem Berg Kissen liegend. Glasige Augen starrten ins Leere.
Sie kriegte keine Luft mehr. Irgendwie schaffte sie es, sich zu bewegen, und wäre fast gestolpert, als sie bei der ersten Stufe ankam. Sie taumelte über den Gang ins Schlafzimmer und ging durch den Türrahmen, um sich selbst davon zu überzeugen, was hier los war.
Sie konnte nicht schreien. Der Schrei blieb in ihrer Kehle stecken. Alles, was sie in der Stille hörte, war ihr eigenes, abgehacktes, keuchendes Röcheln. Ihr Körper begann zu zittern. Sie streckte eine Hand aus und hielt sich an einer Kommode fest. Der Geruch traf sie augenblicklich – der kalte, metallische Geruch von verspritztem Blut. Ihr Magen drehte sich um, und sie schmeckte die Galle. Sie rang nach Luft und versuchte, ihren Magen zu beruhigen.
Dr Taylors Gesicht war verzerrt, ein eingefrorenes Porträt, in dem sich Schock und Angst abzeichnete. Das Oberteil seines Baumwollpyjamas, die Bettdecke und die klauenförmige Hand darauf waren getränkt in Blut, das aus einem kompakten, schwarzen Loch in seiner Brust kam.
»Geht’s dir gut?«
Tims Stimme klang besorgt, und er sah sie angestrengt an. Er saß dicht neben Anna auf dem Sofa. Sein breiter Oberschenkel fühlte sich neben ihrem warm und tröstlich an.
Anna musste sich immer noch daran gewöhnen, Tim nach all den Jahren wieder bei sich zu haben. An den Anblick seines Gesichts und an die Tatsache, dass ihr Bruder sich nach so langer Abwesenheit plötzlich unbedingt um sie kümmern wollte.
Geht es mir gut?
Der frühe Morgen war fürchterlich hell. Sie fühlte sich wie ein Wrack, mental und physisch. Sie hatte die ganze Nacht auf der Polizeiwache verbracht, Fragen beantwortet und erklärt, was sie gesehen hatte. Jetzt, als sie endlich wieder zu Hause war, tat ihr der Kopf weh. Ihre Augen juckten aufgrund des Schlafmangels. Ihre Hände, die zu Fäusten geballt waren, lagen feucht in ihrem Schoß.
Dr Taylor. Der Mann, der so im Mittelpunkt der Riverside Road und der ganzen Stadt gestanden hatte. Der Arzt, der sie alle behandelt und sich um sie gekümmert hatte, seit sie denken konnte. Und noch wichtiger, der freundliche Nachbar, der zusammen mit seiner Frau für Anna und Tim die Türen nach dem Tod ihrer Mutter geöffnet hatte. Genau wie vor kurzem nach dem Tod ihres Vaters. Der sie immer so gut behandelt hatte, als wären sie seine eigenen Kinder.
»Ehrlich gesagt geht’s mir nicht besonders gut.« Sie holte tief Luft. »Ich kann es immer noch nicht glauben.«
Tim nickte. »Ich weiß.« Er stand auch völlig unter Schock. »Gerade er, oder? Ich meine, wer würde …?«
Schweigend saßen sie da, zu entsetzt, um weiterzusprechen.
»Geht’s Cassie gut?«, fragte Anna schließlich. Sie musste hoch gehen und nach ihrer Tochter sehen, aber im Moment wollte sich ihr Körper nicht bewegen.
»Sie schläft noch.« Seine Stimme klang heiser. »Ich habe sie so um elf ins Bett gebracht, nachdem du mit der Polizei abgefahren bist. Ich habe ihr erzählt, dass du zu beschäftigt mit der Party bist. Sie hat es, glaube ich, nicht mitgekriegt. Ich denke, sie war viel zu müde.«
»Danke.« Anna versuchte, sich zusammenzureißen. Sie musste sich der Tatsache stellen, dass sie ihrer Tochter von Dr Taylors Tod erzählen musste. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz schlecht. Er war so eine freundliche Konstante in Cassies Leben gewesen. Es würde ein fürchterlicher Schock für sie sein. »Hoffen wir mal, dass sie noch ein bisschen schläft.«
»Kann ich dir was bringen? Eine Tasse Tee?«
»Nein, danke. Ich habe die ganze Nacht schlechten Tee getrunken.«
»Etwas Stärkeres?«
»Auf keinen Fall.«
Alkohol war das Letzte, was sie jetzt brauchte. Sie blies die Backen auf. Die ganze Zeit auf der Polizeiwache in Leeds hatte sie nur nach Hause gewollt. Sie hatte sich nach einer Dusche und nach ihrem Bett gesehnt, um endlich schlafen zu können.
Aber jetzt hatte sie Angst davor, ihre Augen zu schließen. Sie wusste, dass sie dann Dr Taylor sehen würde. Sein von Schrecken verzerrtes Gesicht. Sie wusste, sie würde den metallischen Geruch von Blut wieder riechen.
Sie zitterte. Sie war sich nicht sicher, ob sie je wieder gut schlafen können würde.
»Wie spät ist es?«
Tim schaute auf die Uhr. »Halb sieben.« Er überlegte. »Warum gehst du nicht ins Bett? Ich kann mich um Cassie kümmern, wenn sie aufwacht. Du siehst erschöpft aus.«
Ich kann mich um Cassie kümmern.
Er wusste gar nicht, wie sehr sie das schätzte. Die Erleichterung, jemanden an ihrer Seite zu haben, der ihr mit Cassie half, war fast das Schönste an Tims plötzlicher Rückkehr. Cassie war noch nicht geboren gewesen, als Tim gegangen war. Obwohl sich Anna mittlerweile eine Kinderbetreuung leisten konnte, war es trotzdem nicht einfach, eine alleinerziehende Mutter zu sein und alles am Laufen zu halten. Im Moment hatte sie dafür nicht die Energie. Um sie herum brach alles zusammen.
So viele Jahre war Lily die Einzige gewesen, die ihr geholfen hatte. Cassie nannte sie Tante Lily, aber eigentlich war sie eher wie eine zweite Mum gewesen, als Cassie noch klein gewesen und Lily immer eingesprungen war, wenn sie gespürt hatte, dass Anna mit den Nerven am Ende war. Wegen ihr war Anna nicht untergegangen.
Lily.
Anna spannte sich an. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihre Freundin gerade durchmachen musste. Anna hatte sie gestern Abend nur kurz gesehen, nachdem sie schreiend ins Haus zurückgelaufen war und versucht hatte, den anderen mitzuteilen, was sie gesehen hatte.
Sie hatte Lily zuerst gar nicht wahrgenommen. Anna hatte sich hinterher über die Art, wie sie mit der Sache umgegangen war, geärgert. Sie hatte einfach zu sehr unter Schock gestanden, um daran zu denken, ihre Freundin zu beschützen.
Plötzlich hatte sie Lily am Ende des Flurs gesehen, halb verdeckt von den anderen Gästen. Lilys Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen gewesen, während sie nach Luft geschnappt hatte, als Annas Worte langsam zu ihr durchgedrungen waren. Ihr eigener Vater, der liebe Dr Taylor, war in seinem Bett erstochen worden. Anna hatte gesehen, wie Lily geschwankt war und blind nach der Wand hinter sich gegriffen hatte. Ihr war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Anna hatte sich sofort ihren Weg durch die Leute gebahnt, um die Arme um ihre Freundin zu schlingen, als Lily zusammengebrochen war.
Es war unfassbar. Der arme Dr Taylor. Die arme Lily und der arme George. George war ganz blass vor Entsetzen in Richtung ihres Hauses losgelaufen, aber Anna hatte Lily zurückgehalten, weil sie sie vor dem Anblick bewahren wollt, von dem sie wusste, dass er ihre beste Freundin für den Rest ihres Lebens verfolgen würde.
Jetzt fragte Anna sich, ob George derjenige sein würde, der den Leichnam offiziell identifizierte. Vielleicht sollte sie das vorschlagen. Lily hatte ihren Vater verehrt. Sie sollte ihn nicht so zum letzten Mal sehen.
Tim betrachtete sie intensiv. »Willst du darüber reden?«
Annas Körper sehnte sich nach Schlaf, war aber auch ganz steif vor Anspannung. Sie war sich nicht sicher, ob sie einfach ins Bett gehen konnte. Die langen Stunden auf der Polizeiwache, das Rumsitzen und Warten, erst darauf, mit einem Beamten zu sprechen, dann mit dem nächsten, um dann endlich eine offizielle Aussage zu machen, hatten sie aus dem Rhythmus der restlichen Welt gerissen. Sie fühlte sich träge, aus dem Lot und irgendwie, als hätte sie einen Jetlag.
Aber darüber reden? Sie wusste nicht, ob sie das konnte.
Draußen klapperte ein Tor. Einer der Nachbarn musste früh mit seinem Hund unterwegs sein. Zweifellos frisch geduscht und bereit für den Tag. Das erschien ihr unmöglich normal, alles andere als in Ordnung.
»Erzähl mir, was passiert ist. Wenn du willst. Du bist nach draußen gegangen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Und du hast was gesehen …«
»Ein Licht. Ein Flackern. In ihrem Haus. Zuerst war ich mir nicht sicher. Jetzt denke ich, dass es vermutlich eine Taschenlampe war.«
Er schaute sie ungläubig an. »Du hättest es mir sagen müssen. Ich hätte statt dir rübergehen können.«
»Ich weiß. Ich habe nur …« Sie versuchte, sich zu erinnern. »Ich habe nur gedacht, dass es nichts ist. Vielleicht nur ein Problem mit dem Stromkasten. Ich wollte niemanden in Panik versetzen.«
Sie erinnerte sich an den Ausdruck im Gesicht des Polizeibeamten, als sie beschrieben hatte, wie sie zum Haus der Taylors gegangen war. Die leicht hochgezogene Augenbraue, die Überraschung zeigte, dass sie ganz alleine, unbewaffnet und spät abends zu einem Tatort gegangen war. Aber da war es ja noch keiner gewesen. Für sie war es einfach das Haus der Taylors gewesen, ihr zweites Zuhause, wo der liebenswerte Dr Taylor sich oben bettfertig machte.
»Es klingt, als wären Sie nur knapp entkommen«, hatte der Beamte mitfühlend gesagt. »Das hätte schlimmer ausgehen können.«
Sie wusste, was er damit angedeutet hatte. Sie hätte jetzt auch tot sein können, ein kalter Körper auf einer Bahre neben Dr Taylor.
»Die Polizei sagt, sie haben Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen gefunden«, sagte Anna nun. »Ein eingeschlagenes Küchenfenster oder so. Ich weiß nicht. Es war dunkel.«
»Und du hast das Haus ganz alleine durchsucht? Im Dunkeln?«
Es klang so dumm, wenn er das so sagte. »Ich wollte einfach nur sichergehen, dass es ihm gut geht.« Sie hielt inne und versuchte, sich die Situation in Erinnerung zu rufen. »Ich habe gerufen, aber … ich bin dann nach oben gegangen, um nachzuschauen, und …« Sie musste abbrechen und zitterte, als sie wieder an die grauenhafte Szene dachte.
»Mein Gott, Anna. Du hättest umgebracht werden können.«
Sie zuckte mit den Schultern. Die Hände in ihrem Schoß hörten nicht auf zu zittern. Das war etwas, worüber sie jetzt nicht nachdenken wollte.
»Tut mir leid.« Tim holte tief Luft. »Du bist also nach oben gegangen. Was hast du gefunden?«
»Ihn. Dr Taylor. Im Bett. In ihrem Schlafzimmer, du weißt schon, das auf der Vorderseite.«
Tim nickte. Sie waren in ihrer Kindheit beide oft in dem Haus gewesen. »Und er war schon …« Er hatte Mühe, das Wort auszusprechen, und senkte die Stimme, als würden sie ein Geheimnis teilen. »… tot?«
Sie nickte knapp. Sie war nicht zu nahe an den Körper herangetreten und hatte ihn auch nicht angefasst. Aber sie war sich sicher gewesen, als sie ihn nur gesehen hatte. Die Wunde in seiner Brust war frisch, das Blut war immer noch herausgeprudelt, aber er war tot gewesen.
»Das ist ja schrecklich.« Tim legte seine große, warme Hand auf ihre und drückte sie. »Es tut mir so leid.«
Er bemitleidete sie, und das verursachte ihr Schuldgefühle. Sie war hier nicht das Opfer. Er sollte Mitleid mit Dr Taylor haben. Oder mit Lily und George.
»Ich habe Schritte gehört. Jemand ist an der Seite des Hauses entlanggerannt. Ich bin zum Fenster im Treppenhaus gelaufen und habe einen Mann durch das Gartentor rennen sehen. Er ist sehr schnell nach rechts in Richtung Fluss gelaufen.«
Sie hatte das alles schon mehrmals und bis ins kleinste Detail der Polizei erzählt. Die Worte kamen schon wie mechanisch aus ihrem Mund.
»Er war untersetzt. Ich glaube, er war jung. Zumindest hat er so gewirkt, wegen der Art, wie er sich bewegt hat, aber das kann ich nicht sicher sagen. Aber er hatte breite Schultern und hat einen dunklen Hoodie getragen, die Kapuze war ins Gesicht gezogen. Mehr konnte ich nicht erkennen.« Sie brach ab. »Sie haben immer wieder danach gefragt.«
Beschämt ließ sie den Kopf hängen. Sie hatte den sanftmütigen Polizeibeamten enttäuscht. Das hatte sie in seinem Gesicht gesehen, als er sie befragt hatte. Er hatte mit seinen Fragen versucht, ihre Erinnerung wachzurufen.
Was können Sie uns über sein Gesicht sagen? Auch, wenn es nur von der Seite ist. Ein kurzer Blick auf sein Profil? Ein Bart, ein Schnurrbart? Und seine Klamotten, was können Sie uns darüber erzählen? Irgendwas Auffälliges? Irgendwas, das uns weiterhelfen könnte?
Sie war nutzlos gewesen. Sie hatte Dr Taylor im Stich gelassen.
Sie hatte alle im Stich gelassen.
»Es war dunkel«, hatte sie immer wieder gesagt und war sich erbärmlich vorgekommen. »Und alles ist so schnell passiert.«
Tim drückte ihre Hand fester. »Ist schon okay«, sagte er. »Jetzt ist es vorbei.«
Sie saßen eine Weile schweigend da. Cassie würde bald aufwachen. Sie wusste, dass sie sich dazu durchringen sollte, unter die Dusche und dann ins Bett zu gehen, damit sie ein paar Stunden Schlaf bekommen würde, aber sie konnte nicht. Es lag nicht nur daran, dass sie keine Energie mehr hatte. Sie wollte auch nicht alleine sein.
In dem Moment fiel ihr etwas ein. »Die Polizei will eine Liste von allen, die auf der Party waren.«
Tim runzelte die Stirn. »Warum?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich nehme an, sie wollen mit jedem reden. Überprüfen, ob jemand etwas gesehen hat.«
Tim griff nach seinem Handy. »Okay, das kann ich erledigen.«
Anna blickte sich im Wohnzimmer um. Tim und die Caterer hatte gute Arbeit geleistet. Die Möbel standen wieder an ihrem Platz, und der Teppich sah frisch gesaugt aus. Abfalltüten und Kisten mit leeren Flaschen standen ordentlich neben der Eingangstür. Abgesehen von den Lichterketten, die immer noch im Garten hingen, hätte man nicht erahnen können, dass sie hier vor ein paar Stunden noch eine Party gefeiert hatten.
»Geh jetzt.« Tim stupste sie an. »Geh hoch, und ruh dich aus. Du musst völlig erschlagen sein.«
Erschlagen. Sie stellte sich ein Glas vor, das aus großer Höhe auf einen Steinboden fiel und in tausend Scherben zerbrach.
Sie zögerte. Sie hatte Angst davor, alleine zu sein und ihre Augen zu schließen. Dr Taylors totes Gesicht wartete auf sie.
Sie schüttelte sich. »Du hast recht. Weck mich, wenn was passiert, okay?«
Tim brummte nur. Er war bereits über sein Handy gebeugt und begann, an der Gästeliste für die Polizei zu arbeiten.
Sie kämpfte sich auf die Füße und ging taumelnd in den Flur. Als sie sich zur Treppe umdrehte, sah sie im Augenwinkel ein weißes Rechteck auf der Fußmatte vor der Eingangstür. Das war noch nicht dagewesen, als sie nach Hause gekommen war. Es sah nicht aus wie ein gedruckter Flyer. Es war ein Stück Papier, sorgfältig gefaltet. Sie ging zur Tür und hob es auf.
Vielleicht war es ja eine frühe Dankeskarte für die Party. Oder, falls sich die Nachricht von Dr Taylors Tod schon rumgesprochen hatte, eine Trauerkarte. Jeder in der Riverside Road wusste, wie nahe sich die zwei gegenüberliegenden Familien standen.
Es war also ein umso größerer Schock, als sie das Blatt Papier auffaltete und die plumpen, in schwarzer Tinte und Druckbuchstaben geschriebene Drohung las:
HALT DEN MUND. SONST BIST DU DIE NÄCHSTE.
»Mum?«
»Cassie?« Anna versuchte, sich aus dem Schlaf zu reißen. »Wie spät ist es?«
Sie war desorientiert, in einer Art Schwebezustand. Ihre Gliedmaßen fühlten sich schwer an. Dann sprangen ihr die schrecklichen Geschehnisse der letzten Nacht in Erinnerung.
Dr Taylor.
Die Polizei.
Die Drohbotschaft, die sie in die hinterste Ecke ihrer Nachttischschublade gelegt hatte.
»Acht oder so?« Cassie zog an der Decke. »Was ist los?«
Anna fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und zwang sich, die Augen zu öffnen und in das grelle Tageslicht zu schauen. Cassies Wangen waren blass und sie wirkte besorgt.
»Was meinst du?«, wollte Anna sich herauswinden.
»Draußen. Auf der Straße. Da sind so viele Menschen.«
Anna schob ihre Decke zurück und öffnete weit die Arme. Cassie bückte sich und ergab sich halbherzig einer langen, festen Umarmung.
Anna spürte die dünnen Knochen ihrer Tochter, wie von einem Vogel, gegen ihren eigenen Körper gepresst. Sie vergrub ihr Gesicht in Cassies Haar und atmete den Duft von Erdbeershampoo und der jungen Haut ihrer Tochter ein. Die Vergangenheit spielte sich vor ihrem inneren Auge ab. Die Tage, als Cassie ein Kleinkind gewesen war und sich sicher und geborgen in Annas Schoß und mit der Wange gegen Annas Brust gekuschelt hatte.
Jetzt, da sie älter war, wand sich Cassie ungeduldig in ihrem Griff und zog sich zurück.
»Mum.« Sie legte den Kopf schief, um ihre Mutter anzuschauen. »Was ist passiert?«
Anna setzte sich im Bett auf. »Ich muss dir leider was Schlimmes sagen.«
»Was?«
Anna schluckte. Cassie hatte Dr Taylor ihr ganzes Leben lang gekannt. Er war in den letzten Jahren so wichtig wie ein Großvater für sie gewesen. Er hatte sie immer verwöhnt und ihr Süßigkeiten gekauft. Sie schienen eine besondere Beziehung zueinander entwickelt zu haben, vor allem, nachdem Lily und George in ihre eigenen kleinen Wohnungen gezogen waren und Dr Taylor alleine gelebt hatte. Cassie hatte Annas Mutter, die schon lange vor Cassies Geburt gestorben war, nie gekannt. Und sie war erst drei gewesen, als Annas Vater überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war. Sie konnte sich kaum noch an ihn erinnern.
»Es geht um Dr Taylor«, setzte Anna vorsichtig an.
Cassie runzelte die Stirn. »Ist er im Krankenhaus?«
»Es ist schlimmer als das, mein Liebling. Tut mir leid.« Anna rang nach Worten. »Er ist gestorben.«
Cassie klappte die Kinnlade runter. Ihr Blick schweifte zur Seite Richtung Fenster. Eine Taube landete lautstark draußen auf dem Fenstersims. Anna beobachtete, wie sie entlanghüpfte, in die Fassade pickte und dann federnlassend wieder davonflog. Sie wartete und ließ ihre Tochter die Neuigkeiten verarbeiten.
Cassie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und blickte finster drein. Ihre Gedanken schienen zu rasen.
»Wie alt war er?«, fragte sie schließlich.
»Nicht sehr alt. Erst achtundsechzig.« Anna überlegte, was Cassie wohl denken mochte. Manchmal wachte sie wegen irgendwelcher Albträume auf, in denen Anna gestorben war. »Aber er war viel älter als ich. Und als Onkel Tim.«
Cassie nickte. Sie schien zu rechnen. »Und älter als Opa, als er gestorben ist?«
»Und als Oma. Sie war erst Mitte vierzig. Aber es ist sehr ungewöhnlich, dass jemand so jung stirbt.«
Ungewöhnlich und unglücklich, dachte sie.
Cassie drückte sich enger an Anna. »War es sein Herz?«
Anna dachte an die dunkle Wunde in Dr Taylors Brust. Und an das Blut.
So viel Blut.
»Nicht direkt.« Sie hielt inne. Sie wollte Cassie nicht so viel erzählen, jedenfalls nicht auf einmal. Aber vielleicht musste sie es tun. Sie würde es sowieso irgendwann herausfinden. »Jemand hat ihm wehgetan.«
Cassie Augen wurden groß, und sie schaute ihre Mutter an. »Was? Du meinst, er wurde …« Das nächste Wort fiel ihr schwer, und ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »… ermordet?«
»Ja.«
»Oh!« Cassie schaute sie entsetzt an. »Aber warum? Wer hat das getan?«
Anna seufzte. »Die Polizei versucht noch, das herauszufinden, Liebling. Ich bin mir sicher, sie werden ihn bald kriegen. Mach dir darüber keine Sorgen.«
Cassie schien in sich selbst einzusinken und die Teile zusammenzusetzen. »Es ist in seinem Haus passiert, oder? Deshalb sind die ganzen Polizisten dort draußen.«
»Meinst du?« Anna nickte langsam. »Ja, natürlich.« Sie streichelte ihrer Tochter über das Haar. »Es tut mir leid. Ich weiß, es ist traurig. Und es ist schwer zu glauben. Für uns alle.«
Als Anna sich gewaschen und schnell angezogen hatte, wurde ihr bald klar, dass Cassie recht hatte, was den Trubel in der Straße anging.
Die Riverside Road, ihre ruhige, friedliche Straße, hatte sich in einen geschäftigen Tatort verwandelt. Die Ruhe und die Sicherheit, die sie immer so geschätzt hatten, waren zerstört.
Auf der anderen Straßenseite hatte die Polizei das Haus der Taylors abgesperrt. Im Vorgarten, auf dem Weg an der Hauswand entlang und wahrscheinlich auch im Garten waren Zeltplanen aufgebaut. Tore klapperten, Stiefel und Schuhe erklangen auf den Wegen, und laute Stimmen schrien Befehle. Auf dem Gehweg standen Polizeiautos und -busse. Eine Stunde später tauchten auch noch die Vans der Medien mit den TV-Reportern auf.
Die Häuser, die immer für alle geöffnet gewesen waren, die jeden willkommen geheißen hatten, hatten jetzt verschlossene Türen und Vorhänge, während sich die Nachbarn zurückgezogen und drinnen verkrochen hatten.
Anna fühlte sich belagert. Irgendwoher schienen die Reporter zu wissen, dass sie diejenige war, die die Leiche gefunden hatte. Dass sie ihr Leben damit verbracht hatte, im Haus der Taylors ein- und auszugehen. Als sie Kinder gewesen waren, hatten sie sich alle so nahegestanden, als wären sie eine Familie gewesen.
Wir waren eine Familie, dachte sie, auf jede Art, die zählt.
Mitten in dem ganzen Trubel schien die Vergangenheit ein ruhiger, fester Anker zu sein. Sie und Lily, Tim und George waren zusammen aufgewachsen. Sie hatten Seite an Seite am gewischten Küchentisch der Taylors gesessen und gemalt und gezeichnet, während Mrs Taylor die Wäsche gemacht oder Snacks zubereitet hatte. Sie hatten zusammen ihre Geburtstage gefeiert, im Sommer im Garten der Taylors gegrillt und ab und zu sogar am gedeckten Esstisch der Taylors zusammen Weihnachten gefeiert.
Ende der Leseprobe
