Die geheime Welt der Vögel - Jennifer Ackerman - E-Book

Die geheime Welt der Vögel E-Book

Jennifer Ackerman

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Beschreibung

»Großartig und faszinierend: eine neue Sicht auf die Vögel.« Sy Montgomery  Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über unsere Vögel stellen vieles auf den Kopf, was wir von ihnen dachten. Wir wissen nun mehr darüber, wie sie leben, denken und agieren. Vögel können vieles, was wir vom Menschen kennen: Täuschung, Manipulation, Entführung etwa, aber auch kluge Kommunikation, Zusammenarbeit, Altruismus, Spiel. Manche Vögel machen Geschenke, manche stehlen, einige tanzen, trommeln oder malen gar. Gestützt auf eigene Beobachtungen und ornithologische Studien rund um den Globus erzählt Jennifer Ackerman von der unfassbaren Vielfalt des gefiederten Universums, in dem es stets neue Entdeckungen gibt ‒ und das in ungeahnter Weise durch die Klimakrise gefährdet ist.

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Die geheime Welt der Vögel

Die Autorin

Jennifer Ackerman ist preisgekrönte Autorin und schreibt seit über 25 Jahren über Wissenschafts- und Naturthemen, u.a. für The New York Times Magazine, Scientific American und National Geographic. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen Die Genies der Lüfte (Rowohlt 2017).

Das Buch

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über unsere Vögel stellen vieles auf den Kopf, was wir von ihnen dachten. Wir wissen nun mehr darüber, wie sie leben, denken und agieren. Vögel können vieles, was wir vom Menschen kennen: Täuschung, Manipulation, Entführung etwa, aber auch kluge Kommunikation, Zusammenarbeit, Altruismus, Spiel. Manche Vögel machen Geschenke, manche stehlen, einige tanzen, trommeln oder malen gar. Gestützt auf eigene Beobachtungen und ornithologische Studien rund um den Globus erzählt Jennifer Ackerman von der unfassbaren Vielfalt des gefiederten Universums, in dem es stets neue Entdeckungen gibt ‒ und das in ungeahnter Weise durch die Klimakrise gefährdet ist.

Jennifer Ackerman

Die geheime Welt der Vögel

Wie sie denken, spielen, sprechen und ihre Kinder erziehen

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Bird Way. A New Look at How Birds Talk,Work, Play, Parent, and Think bei Penguin Press, New York, an imprint of Penguin Random House LLC.

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt. Nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.

ISBN 978‑3‑8437-2923-9

© 2023 für die deutsche Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Abbildungen im Innenteil: John Burgoyne

Lektorat: Gudrun Jänisch

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München nach einer Vorlage von Gabriele Wilson

Umschlagmotiv: © Eunike Nugroho

Autorinnenfoto: © Sofia Runarsdotter

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorspann

Einleitung    

WENN DU EINEN VOGEL GESEHEN HAST

REDEN

Kapitel 1    

EIN CHOR IM MORGENGRAUEN

Kapitel 2

GRUND ZUR BEUNRUHIGUNG

Kapitel 3

PRÄCHTIGES PAPAGEIGEPLAPPER

ARBEIT

Kapitel 4

DER DUFT DESLEBENSUNTERHALTS

Kapitel 5

Tolles Werkzeug

Kapitel 6

DEN AMEISEN AUF DER SPUR

SPIELEN

Kapitel 7

SPIELVÖGEL

Kapitel 8

DIE CLOWNS DER BERGE

LIEBE

Kapitel 9    

SEX

Kapitel 10

WILDES WERBEN

Kapitel 11

DENKSPORT

ELTERN­DASEIN

Kapitel 12

FREI LAUFENDE ELTERN

Kapitel 13

DIE BESTEN VOGELBEOBACHTER DER WELT

Kapitel 14

EINE KINDERGARTENKOOPERATIVE MIT HEXEN UND WASSERKOCHERN

EINIGE WORTE ZUM SCHLUSS

DANKSAGUNG

ZITATQUELLEN

Einleitung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 13

Kapitel 14

Einige Worte zum Schluss

WEITERE LITERATUR

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorspann

Widmung

Für Nelle

   

Einleitung    WENN DU EINEN VOGEL GESEHEN HAST

Säugetiere machen es auf diese Weise und Vögel auf jene«, so die prägnante Unterscheidung eines Wissenschaftlers zwischen dem Vogel- und dem Säugetiergehirn: Ein hochintelligenter Geist kann auf zwei Wegen entstehen.

Aber zur Lebensweise der Vögel gehört viel mehr als nur ein einzigartiges Verdrahtungsmuster im Gehirn. Es geht auch um Fliegen und Eier, Gefieder und Gesang. Da sind das züchtige Gefieder eines Bergdornschnabels und die extravaganten Schwanzfedern eines Hainparadiesschnäppers, der Sologesang des Graurücken-Leierschwanzes und die genau aufeinander abgestimmten Duette der Zeledonzaunkönige. Es gibt den Sturzflug, mit dem ein Fischadler ins Meer taucht, und den lautlosen, geduldigen Blick eines langbeinigen Fischreihers auf das dunkle Wasser.

Eines ist klar: Es gibt nicht »die« Lebensweise der Vögel, sondern eine atemberaubende Artenvielfalt mit unterschiedlichem Aussehen und unterschiedlichen Lebensgewohnheiten. Vögel unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht: in Gefieder, Gestalt, Gesang, Flug, ökologischen Nischen und Verhalten. Gerade das mögen wir so an ihnen. Biologen sind von dieser Vielfalt fasziniert. Ebenso gefesselt davon sind die Vogelfreunde. Dies veranlasst uns, Beobachtungslisten anzulegen, in ferne Winkel der Erde zu reisen und dort seltene Arten anzusehen, ins Auto zu springen und einen vom Sturm herangewehten Irrgast auszumachen oder geräuschvoll und pfeifend in den Wald zu gehen, um die scheue Grasmücke anzulocken.

Man braucht nur eine Weile Vögel beobachten, dann sieht man, dass einzelne Arten selbst die banalsten Dinge radikal unterschiedlich handhaben. Diese Vielfalt würdigen wir mit Begriffen, mit denen wir unsere eigenen extremen Verhaltensweisen beschreiben. Wir sind Eulen oder Lerchen, Schwäne oder hässliche Entlein, Falken oder Tauben, faule Eier oder Windeier. Wir sind Hühner, schräge Vögel oder stolz wie ein Pfau. Wir sind Lockvögel oder lahme Enten, Aasgeier oder plappernde Papageien. Wir gehen auf Gänsejagd oder legen Kuckuckseier. Wir sind flügge oder stehen vor einem leeren Nest. Wir fangen als früher Vögel den Wurm, sind Galgenvögel, Paradiesvögel, seltene Vögel, seltsame Vögel.

Oder, wie der Biologe E. O. Wilson einmal meinte: Wenn du einen Vogel gesehen hast, hast du nicht alle gesehen.

Für das Verhalten stimmen seine Worte sicher. Ein Beispiel ist die Drosseltöpferkrähe. In Australien sagt man, man könne sich leicht in diese Vögel verlieben – und das stimmt auch. Sie sind bewundernswert, charismatisch, gesellig, komisch: Auf einem schmalen Ast nebeneinander aufgereiht, sitzen sechs oder sieben rotäugige schwarze Klumpen aus schwarzen Federn und putzen sich gegenseitig – eine Perlenkette der Liebenswürdigkeit und Zuneigung. Die schwerfälligen Flieger gehen lieber zu Fuß und watscheln durch die trockenen Eukalyptuswälder, wobei sie den Kopf stolz nach vorn und hinten strecken wie Hühner. Sie pfeifen und kreischen und wedeln mit dem Schwanz wie junge Hunde. Sie spielen gerne Nachlaufen oder Weglaufen, kugeln übereinander, um in den Besitz eines Zweiges oder eines Stücks Baumrinde zu gelangen. In ihrer Größe ähneln sie einer Krähe, aber sie sind schlanker, schwarz mit eleganten weißen Flecken auf den Flügeln und gebogenem Schnabel. Drosseltöpferkrähen leben in stabilen Gruppen von vier bis 20 Vögeln zusammen, und man findet sie stets in Gruppen, Haufen oder Reihen. Wie in einer engen Familie tun sie alles gemeinsam: trinken, rasten, im Staub baden, spielen oder in weit auseinandergezogener Formation herumlaufen wie eine Fußballmannschaft, um sich neu entdecktes Futter zu teilen. Gemeinsam bauen sie große bizarre Nester aus Schlamm (oder aus Emu- oder Rinderdung) auf waagerechten Zweigen. Sie stehen auf einem Ast Schlange, warten, bis sie an der Reihe sind und ihr Stückchen abgerissene Rinde, Gras oder Fell abgeben und mit Schlamm am Rand des Nestes festkleben können. Gemeinsam brüten sie, halten Wache und füttern die Jungen. Zwischen den Mitgliedern einer solchen Familiengruppe liegt nur selten ein Abstand von mehr als eineinhalb bis zwei Metern. Einmal sah ich drei gerade flügge gewordene Vögel dicht gedrängt nebeneinander auf der Erde sitzen wie drei kluge Affen, die nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Aber die Drosseltöpferkrähen haben auch eine unangenehme Seite, insbesondere wenn sich das Wetter verschlechtert. Dann streiten und kämpfen die Gruppen schon mal gegeneinander. Größere Gruppen rotten sich gegen kleinere zusammen, fliegen auf sie zu und picken grimmig, werfen Eier aus Nestern und Nester von Bäumen. Sie gehen bekanntermaßen auf gewalttätige Raubzüge und machen die Nistbemühungen vieler anderer Gruppen zunichte. Einmal hat man beobachtet, wie ein Vogel ein Ei nach dem anderen mit dem Schnabel hochhob und auf den Boden warf. Am beunruhigendsten ist vielleicht, dass die Drosseltöpferkrähen in ihren Auseinandersetzungen etwas tun, was man – abgesehen von Menschen und Ameisen – nur von wenigen anderen Tieren kennt: Sie entführen gewaltsam die Jungen anderer Gruppen und versklaven sie.

DIESES BUCH HANDELT von dem breiten Spektrum erstaunlicher und manchmal beunruhigender Verhaltensweisen, die Vögel an den Tag legen. Es sind Tätigkeiten, die mit Sicherheit und manchmal auf geradezu verblüffende Weise die üblichen Vorstellungen davon, was bei Vögeln »normal« ist und was wir für ihre Fähigkeiten halten, auf den Kopf stellen.

In letzter Zeit haben Wissenschaftler einen neuen Blick auf Verhaltensweisen geworfen, die sie jahrelang übersehen und als Anomalien abgetan oder für undurchschaubare Rätsel gehalten hatten. Ihre Befunde bedeuteten das Ende der traditionellen Vorstellungen davon, wie Vögel ihr Leben führen, wie sie kommunizieren, auf Nahrungssuche gehen, balzen, sich paaren und überleben. Ebenso zeigen sie, welche bemerkenswerten Strategien und welche Intelligenz hinter solchen Tätigkeiten stecken. Es sind Fähigkeiten, die wir ausschließlich für die unseren oder zumindest für die alleinige Domäne weniger kluger Tiere gehalten hatten: Täuschung, Manipulation, Betrug, Kidnapping und Kindesmord, aber auch eine geniale Verständigung zwischen Arten, Kooperation, Zusammenhalt, Altruismus, Kultur und Spiel.

Manche derart außergewöhnlichen Verhaltensweisen sind ein Rätsel und scheinen an die Grenzen des – nun ja – Vogelseins zu gehen: Eine Vogelmutter tötet ihre eigenen kleinen Söhne, eine zweite versorgt selbstlos die Jungen anderer Vögel, als wären es die eigenen. Jungvögel widmen sich der Aufgabe, ihre Geschwister zu füttern, andere sind so von Konkurrenz besessen, dass sie ihre Nestkameraden erstechen. Manche Vögel schaffen großartige Kunstwerke, andere zerstören gezielt die Bauten anderer Vögel. Vögel wie die Drosseltöpferkrähe bringen ihre eigenen Widersprüche mit: Ein mörderischer Vogel spießt seine Beute auf Dornen oder in Astgabeln auf, singt aber so schön, dass Komponisten ganze Werke rund um seine Lieder erfunden haben.

Ein anderer steht in dem Ruf der Ernsthaftigkeit, ist aber geradezu spielsüchtig. Und wieder ein anderer arbeitet mit einer Spezies – den Menschen – zusammen, ist aber für eine andere Spezies ein grausamer Parasit. Manche Vögel überreichen Geschenke, manche stehlen. Sie tanzen und trommeln, malen Bilder oder bemalen sich selbst. Sie bauen Mauern aus Lärm, um Eindringlinge fernzuhalten, und locken Spielgefährten mit besonderen Rufen an – ja vielleicht liegen bei ihnen sogar das Geheimnis unserer eigenen Neigung zu spielerischem Handeln und die Anfänge der Evolution unseres Lachens.

UNSERE ERDE IST die Heimat von weit über 10 000 Vogelarten, viele davon haben erstaunliche, oftmals geradezu kindliche Namen. Da gibt es den Zickzackreiher und den Weißbauch-Lärmvogel, den Braunflügel-Mausvogel und den Nacktwangen-Spinnenjäger, die Atlantisralle, den Silbersinghabicht, den Rostkolibri, den Soldatenara oder auch den Wanderwasserläufer, ein gelbbeiniges Musterbild der Eleganz. Ich konnte ihm am Ufer einer winzigen Insel in der Kachemak Bay in Alaska beim Stochern nach Krebsen und Würmern zusehen. Der Namensbestandteil Wander- deutet darauf hin, dass er an langen Küstenabschnitten überall zu finden ist. Mit seinem schrillen Geschnatter warnt er andere Vögel, wenn sich der Beobachter zu nahe heranwagt. Es gibt Witwenvögel, Fächer- und Staffelschwänze, Breitrachen und Nashornvögel, aber auch das Ockerbrust-Laufhühnchen.

Vögel sind auf allen Kontinenten und in allen Lebensräumen zu Hause, sogar – wie der Kaninchenkauz oder der Gelbflankentodi – unter der Erde. Sie gehen in allem Möglichen ins Extrem, von Größe und Flugstil bis zur Farbe des Gefieders und zu den physiologischen Eigenschaften. Einmal konnte ich zusehen, wie ein Biologe einen Breitschwanzkolibri auf die Waage stellte: Der Vogel wog vier Gramm. Vergleichen wir das mit dem Kasuar, einem Riesen von 45 Kilo – fast das Zwölftausendfache des Kolibris. Er sieht eher aus wie ein Dinosaurier als wie ein heutiger Vogel, kann sich strecken und Früchte aus 1,80 Metern Höhe von einem Zweig pflücken und einen Menschen umbringen. Oder denken wir an die drei Meter Flügelspannweite eines Andenkondors im Vergleich zu den fünfzehn Zentimetern eines Wintergoldhähnchens.

Manche Vögel sind wendige Flieger wie der Habicht – der Slalomkönig der Vogelwelt – oder Flugakrobaten wie die Mauersegler und Kolibris. Große flugunfähige Vögel wie Emu und Kasuar erheben sich überhaupt nicht in die Lüfte, ihre urzeitlichen Ahnen waren freilich dazu in der Lage. Auch die Galapagosscharben konnten früher fliegen, haben die Fähigkeit aber im Laufe ihrer Evolution zugunsten einer Lebensweise am Boden eingebüßt. Seevögel wie der Wanderalbatros legen jedes Jahr Zehntausende von Kilometern zurück und kommen zur Paarung auf eine winzige Insel im weiten Ozean. Oft setzen sie jahrelang keinen Fuß an Land, und bei rauer See schlafen sie im Flug, wobei sie ein Auge zur Orientierung offen halten. Pfuhlschnepfen wandern in einem einzigen Flug über 11 000 Kilometer von Alaska nach Neuseeland. Sie sind neun Tage und Nächte unterwegs, der längste nachgewiesene Nonstop-Langstreckenflug eines Zugvogels. Was die Gesamtflugstrecke angeht, hält die Küstenseeschwalbe den Rekord: Sie umrundet mit den Jahreszeiten den Globus: Der Vogel fliegt von seinen Brutgebieten in Grönland und Island zum Winterquartier in die Antarktis – hin und zurück rund 70 000 Kilometer, die längste Strecke, die je für einen Zugvogel nachgewiesen wurde. Im Laufe ihrer 30 Lebensjahre fliegt die Küstenseeschwalbe rund 2,4 Millionen Kilometer, das entspricht fast dreimal der Strecke zum Mond und zurück.

Die Astronautin Jessica Meir, die zur Internationalen Raumstation flog und 2019 mit dem ersten rein weiblichen Team einen Weltraumspaziergang unternahm, kann über extreme Unternehmungen berichten. Der Außenbordeinsatz im Weltraum war immer ihr Ziel gewesen, und auf dem Weg zur Erfüllung des Traumes erforschte sie das Leben von zwei Vögeln, die zu wahrhaft außergewöhnlichen physiologischen Leistungen in der Lage sind: Der eine kann unglaublich lange die Luft anhalten, der andere fliegt in atemberaubender Höhe.

In der Forschungsstation »Penguin Ranch« in der Antarktis beschäftigte sich Meir mit den Kaiserpinguinen, den besten Tauchvögeln der Welt. Diese Pinguine tauchen länger und tiefer als jeder andere Vogel. Sie vertragen einen sehr geringen Sauerstoffgehalt im Blut – er ist viel niedriger als die Konzentration, bei der ein Mensch bewusstlos würde. Von einer Unterwasser-Aussichtskammer aus beobachtete Meir, wie die Vögel nach Fischen tauchten. »Unter Wasser sehen sie wie ganz andere Tiere aus«, sagt sie, »eher wie Balletttänzer.« Die Tauchgänge der Pinguine dauern regelmäßig zwischen fünf und zwölf Minuten. Ein Vogel schaffte es, mit einem einzigen Atemzug 27 Minuten unter Wasser zu bleiben.

Meir wollte verstehen, wie die Vögel solche Leistungen vollbringen. »Genau wie wir atmen sie Luft ein«, sagt sie. »Bevor sie tauchen, atmen sie einmal tief ein und verbrauchen dann während der ganzen Zeit, die sie dort unten sind, den Sauerstoff aus dieser Luft.« Eines der Geheimnisse: Ihre Herzfrequenz vermindert sich von 175 auf rund 57 Schläge in der Minute, sodass die Sauerstoffvorräte langsamer verbraucht werden.

Später wandte Meir ihre Aufmerksamkeit einem Vogel zu, der durch eine der extremsten Wanderungen berühmt wurde. Streifengänse überqueren auf ihrer Route von der Meereshöhe in Südasien zu ihren sommerlichen Brutgebieten im zentralasiatischen Hochland zweimal die riesigen Gebirgsketten des Himalaja.

In einer kalten Aprilnacht stand der Naturforscher Lawrence Swan hoch oben im Himalaja und lauschte in die Stille. Von Süden näherte sich ein fernes Geräusch, ein leises Summen, das zu einem Rufen und schließlich zum Geschrei der Streifengänse anschwoll. Swan verfolgte, wie sie unmittelbar über den Gipfel des Makalu zogen. »In 4800 Metern Höhe fiel mir schon bei jeder Anstrengung das Atmen schwer«, schreibt er. »Aber ich hatte gesehen, wie Vögel mehr als drei Kilometer über mir flogen, wo der Sauerstoffdruck so gering ist, dass menschliches Leben unmöglich wird – und sie schrien auch noch. Es war, als hätten sie die normalen Regeln der Physiologie außer Kraft gesetzt und würden die Vorstellung, man könne in solchen Höhen nicht atmen, Lügen strafen, indem sie ihren Atem auch noch mit gesprächigem Schreien vergeudeten.«

Beim Flatterflug verbrauchen die Vögel zehn- bis fünfzehnmal mehr Sauerstoff als im Ruhezustand. Die meisten dieser Gänse erreichen Höhen von 5000 bis 6000 Metern. Ein Vogel wurde sogar auf einer Höhe von fast 8000 Metern gesichtet. In solchen Höhen liegt die Sauerstoffkonzentration nur ungefähr bei der Hälfte bis zu einem Drittel der Menge auf Meereshöhe. Die Luft, aus der Streifengänse den hohen Sauerstoffbedarf beim Fliegen befriedigen, ist so dünn, dass selbst die am besten trainierten menschlichen Sportler darin kaum gehen können.

Meir ging der Frage nach, ob die Vögel warme Aufwinde nutzen, um Energie zu sparen. »Nein, sie fliegen sogar nachts und am frühen Morgen, wenn starker Gegenwind herrscht und die Temperatur niedriger ist«, sagt sie. Außerdem flattern sie und fliegen fast nie im Gleitflug. Wie schaffen sie das?

Um das herauszufinden, entschloss sich Meir, die Vögel auf das Fliegen im Windkanal zu trainieren. Zu diesem Zweck wurde sie zur Gänsemutter und zog eine Horde zwölf junger Gänse von der Geburt an groß, sodass die Jungvögel auf sie geprägt waren. »Wir sind zusammen spazieren gegangen und haben zusammen ein Nickerchen gemacht«, sagt sie. »Was man über Kinder sagt, stimmt: Sie werden schnell größer.« Als sie den Gänsen das Fliegen beibrachte, fuhr sie selbst mit dem Fahrrad, sodass die Vögel fast Schnabel an Wange neben ihr herfliegen konnten. Das klappte einen Tag lang, aber dann wurden die Gänse zu schnell. Nun fuhr sie mit einem Motorrad auf kleinen Landstraßen auf und ab. Die Vögel waren so dicht neben ihr, dass die Flügelspitzen ihre Schultern streiften. »Einem Vogel dabei in die Augen zu sehen, ist schon etwas Besonderes«, sagt sie. Am Ende bereiteten Meir und ihre Kollegin Julia York von der University of Texas die Gänse auf den Flug im Windkanal vor: Sie statteten die Vögel mit technischen Geräten in winzigen Rucksäcken aus, die ihre Vitalfunktionen aufzeichneten. Mit besonderen maßgeschneiderten Masken ließ sich der Sauerstoffgehalt der Luft so verändern, dass man die Verhältnisse bei der Überquerung des Himalaja und des Mount Everest nachahmen konnte. Anschließend ließen sie die Vögel im Windkanal fliegen und maßen dabei unter verschiedenen Bedingungen Parameter wie Pulsfrequenz, Stoffwechselrate, Sauerstoffgehalt des Blutes und Körpertemperatur.

Man wusste bereits, dass diese Gänse über mehrere Anpassungen verfügen, die in großer Höhe hilfreich sind: Sie haben eine größere Lunge als andere Vögel und atmen effizienter (tiefer und seltener), eine besondere Form des Hämoglobins bindet Sauerstoff stärker (sie können mit jedem Atemzug eine größere Menge Sauerstoff aufnehmen als andere Vögel), und die hohe Dichte der Kapillaren in der Muskulatur sorgt für eine bessere Sauerstoffversorgung. Darüber hinaus konnten Meir und York in ihren Experimenten nachweisen, dass die Gänse noch über einen weiteren »Supervogel-Mechanismus« verfügen: Sie sprechen auf einzigartige Weise auf die Temperatur an. Durch den Temperaturunterschied zwischen der kalten Lunge (infolge der eingeatmeten Luft) und der warmen Muskulatur kann sich die Sauerstoffzufuhr in ihrem Organismus während eines längeren Flatterfluges in großer Höhe verdoppeln. Außerdem senken die Gänse ihre Stoffwechselrate auf ein Minimum, sodass sie zum Fliegen weniger Sauerstoff brauchen.

»Aber das ist noch nicht alles«, sagt Meir. »Wie diese Vögel im Gegensatz zu anderen Arten mit dem niedrigen Luftdruck in sehr großer Höhe zurechtkommen, wissen wir noch nicht.«

Gerade das liebe ich so an der Biologie und dem Verhalten von Vögeln: Sie sind bis heute von Geheimnissen umgeben.

AUCH BEIM GEFIEDER gibt es in der Welt der Vögel ein breites Spektrum. Da sind die leuchtend bunten Ammern und die Papageien mit ihren Karnevalsfarben; der vor Leben sprühende Palawanpfaufasan, dessen glänzend schwarzblaue Federn mit einem grellen metallischen Grün verziert sind; der große Rotparadiesvogel mit seinen hauchdünnen Federbüschen und den langen plastikähnlichen, aus dem Schwanz ragenden Steuerfedern, und sein Vetter, der Schildparadiesvogel, dessen exotische tiefschwarze Federn ihre Farbe bekommen, weil ungewöhnliche borstige Mikrostrukturen nahezu das gesamte Licht einfangen; oder der Bartalk von der Inselgruppe der Aleuten mit seinen höchst empfindlichen, aus dem Kopf ragenden Federn, die ihm während der Nistsaison in der dunklen Nisthöhle die Orientierung ermöglichen.

Mit den Farben der Vögel und der Frage, welchen Zweck sie erfüllen, beschäftigt sich James Dale. »Vögel können die Farbe nicht als Waffe einsetzen, wohl aber zur Vermeidung von Konflikten«, sagt er. Der Ornithologe aus Neuseeland (dem Land des leuchtend violetten Pukeko) hat seine Berufslaufbahn der Aufgabe gewidmet, in dieser fantastischen Vielfalt einen Sinn zu finden. Wie er mir erklärt, gibt es einige Regeln, insbesondere drei:

Männchen sind auffälliger als Weibchen; diese haben oft eine graubraune Farbe, sodass sie in ihrer Umgebung nicht auffallen, wenn sie auf den Eiern brüten.

Ausgewachsene Tiere sind farbenfroher als Jungvögel.

Vögel sind in der Paarungssaison besonders leuchtend gefärbt.

»Aber Vögel halten sich nicht an Regeln«, sagt er. Um ein paar Abweichler zu nennen: Die Weibchen von Thorshühnchen und Bunt-Goldschnepfen sind weitaus farbiger als die unauffälligen Männchen. Junge Indianerblässhühner stellen ihre düsteren Eltern mit dem leuchtenden Rot von Schnabel und Scheitel in den Schatten – und das aus gutem Grund: Die Blässhuhneltern füttern bunt verzierte Junge häufiger als unauffällige Geschwister. Beim Rotrücken-Staffelschwanz bestimmt das soziale Umfeld darüber, ob die jungen Männchen sich bei der Mauser ein auffälliges rot-schwarzes Paarungsgefieder zulegen – insbesondere geschieht das dann, wenn ältere Männchen in der Nähe sind und die Jungvögel belästigen oder vertreiben.

Vielleicht der größte Farbrebell ist ein Papagei, der in abgelegenen Regionen Nordaustraliens und Neuguineas lebt. Sein Name Eclectus roratus geht auf die gleiche griechische Wurzel zurück wie das Wort Eklektizismus, und roratus deutet auf das schimmernde Gefieder hin. »Kaum ein anderer Vogel gibt den Wissenschaftlern so viele Rätsel auf wie dieser Papagei«, sagt Robert Heinsohn, Professor für Evolutions- und Artenschutzbiologie an der Australian National University. Er beschäftigt sich schon seit Jahren mit diesen Vögeln und weiß Interessantes über den großen Evolutionsbiologen William Hamilton zu berichten: Dieser zeigte in seinen Vorlesungen ein Bild eines Männchens und eines Weibchens von Eclectus, die nebeneinandersaßen. Das Männchen war leuchtend grasgrün, das Weibchen prächtig rot gefärbt und mit einem »Hauch von Blau« am Bauch, wie der europäische Entdecker des Vogels es beschrieb. Damit bildeten die beiden einen krassen Kontrast zu den normalen Verhältnissen bei dimorphen Vögeln mit ihren unauffälligen Weibchen und den bunt gefärbten Männchen. »Bei keinem anderen Vogel sind beide Geschlechter auf derart unterschiedliche Weise ›verschönert‹«, so Heinsohn. Das Gefieder des Weibchens unterscheidet sich in seiner Farbenpracht so stark von dem des Männchens, dass man noch mehr als 100 Jahre nach der Entdeckung dieser Papageien glaubte, es müsse sich um verschiedene Arten handeln. »Aber dann hat ein Naturforscher eines Tages einen grünen Papagei auf dem roten gesehen«, sagt Heinsohn.

Auch bei einigen anderen Vogelarten besitzen die Weibchen ein bunteres, farbenfroheres Gefieder als die Männchen. Dazu gehören die Wassertreter, die Drosseluferläufer, die Goldschnepfen, das Rotstirn-Blatthühnchen und die Laufhühnchen. Bei ihnen allen sind allerdings auch die üblichen Geschlechterrollen vertauscht: Die Männchen brüten auf den Eiern, während die Weibchen das Revier verteidigen und untereinander um die Männchen kämpfen. »Bei diesen Arten handelt es sich also wirklich um die Ausnahme, die die Regel bestätigt: Sie zeigen, dass das konkurrierende Geschlecht auch die bunteren Farben besitzt«, so Heinsohn.

Bei den radikalen Eclectus-Papageien ist das jedoch nicht so. Hier findet kein Rollentausch statt. Das Weibchen brütet die Eier aus und zieht die Jungen groß. Außerdem sind schon die Jungvögel echte Regelverächter. Im Gegensatz zu den Jungen der meisten anderen Vogelarten, die mindestens während ihres ersten Lebensjahres das triste Unisex-Jugendgefieder behalten, tragen Eclectus-Junge schon beim Schlüpfen je nach Geschlecht unterschiedliche Daunenfarben, und bei der Mauser legen sie sich sofort das auffällige Gefieder der ausgewachsenen Vögel zu.

Wie Heinsohn berichtet, beendete William Hamilton seine Vorlesung über die Papageien jedes Mal mit dem Satz »Wenn ich verstehe, warum ein Geschlecht rot und das andere grün ist, kann ich beruhigt sterben.« Leider starb Hamilton an einer Malariainfektion, die er sich auf einer Expedition in den Kongo zugezogen hatte, bevor Heinsohn das Rätsel lüften konnte – und auch ein zweites, vielleicht noch seltsameres, das damit in enger Verbindung steht: das des Paarungsverhaltens der Eclectus-Papageien. Die Weibchen töten bekanntermaßen die eigenen Söhne, sobald sie geschlüpft sind. Das ist eine dieser rätselhaften Verhaltensweisen, die der Intuition so stark widersprechen, dass es uns die Sprache verschlägt.

Aus biologischer Sicht versteht man den Säuglingsmord leichter, wenn die Jungen anderer Individuen wegen der Nahrung oder aus sonstigen Konkurrenzgründen getötet werden. Aber eine Tötung der eigenen Nachkommen? Die Produktion von Jungen ist mit einem so großem Energieaufwand verbunden, dass es biologisch nicht sinnvoll erscheint, sie erst zu erzeugen und dann sofort zu beseitigen.

Noch schwerer begreift man, warum ein Elternteil systematisch nur Nachkommen des einen Geschlechts tötet. Ein solcher geschlechtsspezifischer Säuglingsmord ist in der Tierwelt äußerst selten. Neben der Energieverschwendung führt er auch zu einem ungleichen Geschlechterverhältnis in der Population: Dann konkurrieren zu viele Weibchen um zu wenige männliche Partner (oder umgekehrt). Wie Heinsohn durch zehnjährige Forschungsarbeiten in abgelegenen Regionen Nordaustraliens entdeckte, vollziehen Eclectus-Vogelmütter die Beseitigung der männlichen Nestinsassen innerhalb von drei Tagen nach dem Schlüpfen. Heinsohn fand die Jungen häufig totgepickt am Fuß eines Nistbaumes.

Warum tötet eine Mutter ihre Söhne? Was treibt einen Vogel zu derart extremen Verhaltensweisen? Und welchen Wert könnte das für Fortpflanzung und Überleben haben?

Viele Verhaltensweisen von Vögeln liegen eher am altruistischen Ende des Spektrums – Hilfe, Kooperation, Zusammenarbeit, selbstloses Handeln. Ein Beispiel ist der Lanzettschwanzpipra: Hier schlagen zwei Männchen in strenger Choreografie gemeinsam flatternde und zuckende Purzelbäume, um die Weibchen zu betören. Eines von ihnen, das Alphamännchen, vollzieht die Paarung; das zweite wird immer in die Rolle des Sekundanten gedrängt, und dennoch legt es jedes Mal sein ganzes Herzblut in die bestmögliche Darbietung. Manche Vögel ziehen Junge groß, die nicht ihre eigenen sind, lassen ihnen die gleiche engagierte elterliche Fürsorge angedeihen und ernähren sie wie die eigenen Nachkommen. Rappen aus der Familie der Ibisse arbeiten bei ihren Wanderungen eng zusammen, übernehmen abwechselnd die Führung der V-Formation und verbringen genau abgestimmte Zeiträume in Führungs- und Folgepositionen. Keas, die klugen, verspielten Papageien aus Neuseeland, legen bei verschiedenen Tätigkeiten eine Zusammenarbeit an den Tag, wie man es früher nur bei Menschen für möglich gehalten hätte.

SELBST INNERHALB EINER Spezies haben einzelne Vögel ihre Besonderheiten. Man braucht sich nur einmal den Formationsflug von Staren oder die vielen Tausend Vögel in einer Seevogelkolonie anzusehen, beispielsweise die nistenden Möwen, die ich an einem Tag im Mai auf Gull Island in der Kachemak Bay beobachtete: Alle kreisten, flatterten und schienen sich derart einig zu sein, dass sie nicht wie 14 000 einzelne Individuen wirkten, sondern wie ein einzelner Organismus. Deshalb gewinnt man leicht den Eindruck, alle Mitglieder einer einzigen Spezies seien gleich. Tatsächlich glaubte man viele Jahre lang, Vögel einer bestimmten Art würden auf eine bestimmte Situation mit der immer gleichen stereotypen Verhaltensweise oder einem einzigen Instinktverhalten reagieren. Aber wenn Naturforscher und Wissenschaftler die Vögel viele Stunden aufmerksam beobachten und eng mit ihnen zusammenleben, lernen sie häufig, Individuen aufgrund ihres einzigartigen Charakters, ihrer charakteristischen Gewohnheiten und bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen, ja manchmal können sie sogar Gesichter unterscheiden.

Vögel erkennen einander mit Sicherheit als Individuen. Frühreife Jungvögel, beispielsweise junge Gänse und Enten, die ihren Eltern schon wenige Stunden nach dem Schlüpfen folgen, lernen in erstaunlich zartem Alter, bestimmte ausgewachsene Artgenossen am Aussehen, an der Stimme und am Charakter zu erkennen. Seevögel erkennen ihre Partner häufig schon im Flug aus großer Entfernung. Viele Vögel können ihre Nachbarn individuell unterscheiden und geben sich mit manchen von ihnen gesellig, während sie gegenüber anderen abweisend sind.

Viele Arten sind an besonderen, charakteristischen Verhaltensweisen zu erkennen – so zeigt beispielsweise der Drosseluferläufer eine typische Wippbewegung –, aber auch einzelne Vögel unterscheiden sich voneinander in jeder Hinsicht wie wir Menschen. Die Mitglieder einer Spezies haben vielleicht grundlegende Tanzschritte gemeinsam, aber jeder Vogel ist eine Ballerina mit einem einzigartigen Stil von Bewegung, Nahrungssuche, Reden, Balzen und Paarung. Der Zoologe Donald Griffin schreibt: »Wenn man das Verhalten von Tieren verstehen will, muss man ihre Individualität in Rechnung stellen, so lästig das auch für jene sein mag, denen die säuberliche Ordnung von Physik, Chemie und mathematischen Formeln lieber ist.«

DIESES BUCH BEFASST sich mit fünf Bereichen der Alltagstätigkeiten von Vögeln – Reden, Arbeiten, Spielen, Liebe und Elternschaft – und berichtet auch von extremen Fällen. Ein Beispiel ist die raffinierte »Redeweise« zweier verschiedener Vögel: Der eine verpackt zum Wohl der Allgemeinheit viel mehr Sinn in seine Sätze, als wir je für möglich gehalten hätten, der andere spricht fließend Fremdsprachen, um sein Gegenüber zu egoistischen Zwecken zu manipulieren und zu täuschen. Beide Geschichten werfen ein Schlaglicht auf tiefe Geheimnisse in der Kommunikation der Vögel und verdeutlichen ihre subtilen sprachähnlichen Eigenschaften.

Ebenso wirft das Buch einen Blick auf das erstaunliche Spektrum verschiedener Methoden, mit denen Vögel ihre Jungen großziehen. Da gibt es die Brutparasiten, die sich mit der Brutpflege überhaupt keine Mühe machen, sondern ihre Eier in die Nester anderer Vogelarten schmuggeln und die gesamte Versorgung der Jungen diesen fremden Wirten überlassen – eine subversive Tat, die, wie sich herausgestellt hat, eine hoch entwickelte Intelligenz voraussetzt. Das andere Extrem ist die gemeinsame Brutpflege bei den Riesenanis in Panama, die ihre Tätigkeit koordinieren und ihre Jungen in gleichberechtigten Selbsthilfegruppen großziehen, die bis zu einem Dutzend Vögel umfassen.

Warum konzentriere ich mich auf extremes Verhalten? »Seltsame Verhaltensweisen sind immer aufschlussreich«, sagt Robert Heinsohn. »Manchmal bilden sie einen starken Kontrast zum Üblichen; als Ausnahmen bestätigen sie die Regel und bieten Erkenntnisse und neue Sichtweisen der Dinge, die in der Welt der Vögel typisch sind.« In anderen Fällen lehren uns solche Verhaltensweisen, über Vögel neu nachzudenken. »Es ist, als würde man in einem Zimmer jeden Gegenstand nehmen und um 90 Grad drehen«, sagt Heinsohn. »Plötzlich bietet sich ein ganz neues Bild.« Wir haben gelernt, Extremfälle nicht außer Acht zu lassen. Oft vermitteln sie uns wichtige Erkenntnisse darüber, welche Voraussetzungen ein Vogel insbesondere unter schwierigen Umständen erfüllen muss, um Erfolg zu haben. Ungewöhnliches Verhalten von Vögeln ist häufig ein Hinweis auf geniale Anpassungen an schwierige Probleme oder schlimme Umweltbedingungen.

Eine ganze Menagerie verschiedener Vogelarten wird hier ihren Auftritt haben, vom Geier bis zur Drossel, vom Kranich bis zum Zaunkönig. Manche Vögel, beispielsweise die Kolibris, treten immer und immer wieder auf. Wer diese kleinen Vögel einmal kennengelernt hat, der weiß, dass sie Extremfälle sind: eine Tonne Trotz, verpackt in ein paar gefiederte Gramm. Mit ihrem wilden Revierverhalten benehmen sie sich wie Chihuahuas, die sich für Mastiffs halten. Vieles spricht dafür, dass sie sich zumindest in manchen Umfeldern wie Soziopathen verhalten.

Immer wieder geht es in diesem Buch um Arten aus Australien. Das hat einen besonderen Grund. In seinem großartigen Buch Where Song Began schreibt der Biologe Tim Low: »Extremes Verhalten kommt bei Vögeln in Australien häufiger vor als irgendwo sonst.« In Australien besetzen Vögel mehr ökologische Nischen als auf allen anderen Kontinenten. Sie leben oftmals länger und sind intelligenter. Außerdem begannen in Australien einige grundlegende Verhaltensweisen im Leben von Vögeln, beispielsweise der Gesang.

Ich hielt mich sechs Wochen auf dem Kontinent im Süden auf und zog mit Low und anderen einheimischen Naturforschern und Wissenschaftlerinnen herum, um seltsame Verhaltensweisen bei Vögeln zu studieren. Australien ist von exotischen Lebewesen bevölkert, die sich einer Beschreibung nahezu entziehen – Kängurus, Schnabeltiere, Wombats, Sumpfwallabys, Wasseragamen –, und seine Landschaften scheinen geradewegs aus Arkadien zu stammen, mit Stachelpalmen, Flaschenbürstenblüten, gelben Akazien und blauen Gummibäumen, aber auch mit Feuerbäumen, deren üppige Blüten fast unirdisch rot sind. Am meisten aber war ich in die Vögel vernarrt.

Als der englische Ornithologe John Gould Mitte des 19. Jahrhunderts nach Australien kam, beobachtete er unter den Vögeln dieses Kontinents im Süden »Besonderheiten, die in allen anderen Teilen des Erdballs nicht ihresgleichen haben«. Die Vögel seien dort verblüffend, bemerkenswert, außerordentlich und unübertroffen. Vor allem eine Gruppe schien ihm allen hergebrachten Vorstellungen vom Verhalten von Vögeln zu widersprechen. Es gab hier Tiere, die »Lauben« bauten (er sprach von »Spielplätzen«) und sie stundenlang mühsam mit Schätzen verzierten, die entsprechend der Mode der jeweiligen Spezies nach Farbe und Ähnlichkeit angeordnet waren. (Die staunenswerten Eigenschaften dieser Vögel hielten Gould allerdings nicht davon ab, sie zu erschießen, zu häuten und zu essen.) Aber nicht nur die Laubenvögel, sondern eine ganze Fülle australischer Vögel hätte solche Superlative verdient gehabt. Da ist beispielsweise der Palmkakadu mit seinem großen hakenförmigen Schnabel und einem dunklen Busch von Kopffedern. Er baut buchstäblich seine eigenen Musikinstrumente. Oder die Großfußhühner, die riesige, bis zu viereinhalb Meter hohe Hügel errichten und darin ihre Eier vergraben, sodass die Jungen sich nach oben durch Tonnen von Geröll kämpfen müssen. Oder die Leierschwänze, die besten Sänger der Vogelwelt, die sich im Winter die Seele aus dem Leib singen. Es gibt Krähenstare, Krähenwürger, Loris, Paradiesvögel und überall, wirklich überall, die Flötenkrähenstare – laute, intelligente, oftmals streitlustige Vögel, die bekanntermaßen heimtückisch andere Arten angreifen, sogar Menschen, wenn sie provoziert werden. Während der Nistsaison sieht man Radfahrer, die ihre Helme mit ganzen Wäldern von Pfeifenreinigern oder Partyspießen ausgestattet haben, um die herabstoßenden Vögel abzuhalten. Die Australier vergessen oftmals, von welchen großartigen, kräftigen, bizarren Vögeln sie umgeben sind – etwa von den Rosakakadus, die so häufig vorkommen wie Stare, aber zartrosa gefärbt sind, oder den lärmenden Gelbhaubenkakadus mit ihrem markerschütternden Geschrei und dem hübschen, aufrecht stehenden gelben Scheitelkamm. Ein Kakadu namens Snowball erwarb kürzlich Ruhm mit seiner Fähigkeit, zu Musik von Queen und Cyndi Lauper seine eigenen Tanzschritte zu choreografieren – 14 charakteristische Bewegungen vom Kopfwackeln und Fußheben bis zur Seitwärtsrolle und Madonnas Vogue. Nach Ansicht der Wissenschaftler war damit erwiesen, dass »Spontaneität und vielfältige Bewegungen zu Musik nicht ausschließlich menschliche Eigenschaften sind«.

Aber Vögel mit extremen Verhaltensweisen findet man nicht nur in Australien. Zahlenmäßig ist die bei Weitem größte Artenvielfalt der Vögel in Mittel- und Südamerika zu Hause, und viele von ihnen zeigen spitzbübische Verhaltensweisen, von denen ihre australischen Kollegen sich noch eine Scheibe abschneiden könnten. Ein Beispiel ist der in Venezuela und Guyana beheimatete Langschwanz-Schattenkolibri. Dieser Vogel imitiert konkurrierende Männchen und bringt sie um, damit er auf dem Balzplatz ihre Stelle einnehmen kann. Oder der Einlappenkotinga aus Brasilien, der lauteste Vogel der Welt. Sein durchdringender musikalischer Zweiton-Gong – der lauter ist als das Brüllen eines Bisons oder das Geheul eines Brüllaffen – dient ihm dazu, eine Partnerin zu betören. Die Halsband-Ameisenvögel, die in Mittelamerika und dem nördlichen Ecuador leben, haben die Lebensweise einer ganz anderen Gruppe von Lebewesen – der Ameisen – gründlich erlernt. Sie eignen sich deren Gewohnheiten durch Methoden von Lernen, Gedächtnis und Informationsweitergabe an, die wir bisher nur bei sehr wenigen Arten – einschließlich unserer eigenen – für möglich gehalten hatten.

DIE IDEE FÜR dieses Buch wurde geboren, als ich mich im Rahmen der Recherchen für mein vorheriges Buch Die Genies der Lüfte mit Louis Lefebvre von der McGill University über neuartige Verhaltensweisen von Vögeln unterhielt. Lefebvre erstellte vor über 20 Jahren die erste Intelligenzskala für Vögel, die auf den Verhaltensweisen in freier Wildbahn basierte. Wie erfindungsreich ist eine Spezies in ihrem natürlichen Umfeld? Nutzt sie neue Dinge? Findet sie kreative Lösungen für die Probleme, die sich ihr stellen? Probiert sie neue Nahrung aus? Solche Tätigkeiten deuten auf ein flexibles Verhalten hin, und das ist der einzige einigermaßen zuverlässige Maßstab für Intelligenz – die Fähigkeit, etwas Neues zu tun, Verhalten zu verändern und sich so auf neue Umstände und Herausforderungen einzustellen. Die ornithologischen Fachzeitschriften sind voller Berichte über solche seltsamen, interessanten Handlungen. Lefebvre hatte die Zeitschriften der letzten 75 Jahre durchforstet und mehr als 2000 Berichte über neuartige Verhaltensweisen von Vögeln ganz unterschiedlicher Arten gefunden. Ein Musterbeispiel waren die Nebelkrähen, die den Fischern ihre Fische stahlen. Dazu zerrten sie mit dem Schnabel an den Angelleinen und liefen, so schnell sie konnten, über das Eis, um dann zurückzukehren und einen weiteren Abschnitt der Leine zu fassen, wobei sie auf die Leine traten, damit sie nicht zurückrutschte.

Ein neueres, technisch höher entwickeltes Beispiel für den Erfindungsreichtum von Vögeln zeigte sich 2018, als ein Wissenschaftler Westmöwen mit GPS-Sendern ausstattete und herausfinden wollte, wo sie ihre Nahrung suchten. Überrascht stellte er fest, dass eine Möwe eine Entfernung von 120 Kilometern in einem Tempo von mehr als 100 Stundenkilometern zurücklegte: Sie überquerte die Bay Bridge von San Francisco nach Oakland, folgte den Autobahnen und kehrte schließlich auf dem gleichen Weg zu ihrem Nest zurück. Wie sich herausstellte, war die Möwe – ein Weibchen, das auf den Farallon Islands westlich der San Francisco Bay brütete – auf einem Müll-Lastwagen mitgereist, der zu einer Bio-Kompostanlage im Central Valley unweit von Modesto unterwegs war. Anfangs glaubte der Wissenschaftler, der Vogel sei versehentlich in dem Lastwagen gefangen worden. Aber dann geschah zwei Tage später das Gleiche. Offensichtlich benutzte diese Möwe ihr Köpfchen (oder den Gaumen – ein Journalist aus der Bay Area witzelte: »Es war vielleicht das einzige Mal, dass ein Bewohner von San Francisco zum Abendessen nach Modesto gefahren ist.«).

Für solche Einzelfallberichte haben Wissenschaftler traditionell kaum etwas übrig. Sie fordern Daten, die sich nachvollziehen oder statistisch bearbeiten lassen. Wenn ein kompetenter, ehrlicher Zuschauer ein einziges Mal beobachtet, wie ein Vogel etwas Ungewöhnliches tut, eröffnet sich jedoch unter Umständen ein seltener Blick in die geistige Flexibilität des Vogels. Natürlich sind es nur Einzelfallberichte, aber in ihrer Gesamtheit liefern sie eine Fülle von Belegen dafür, dass Vögel Probleme lösen oder neue, bessere Wege zur Bewältigung alltäglicher Aufgaben finden können.

DAS ENTSCHEIDENDE DABEI ist: Neuartiges oder ungewöhnliches Verhalten ist oftmals intelligentes Verhalten.

Als ich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus der ganzen Welt nach Beispielen für auffällige Verhaltensweisen von Vögeln in freier Wildbahn fragte, erzählten sie mir immer und immer wieder Geschichten von Erfindungsreichtum und Klugheit – von schlauen Strategien, die manchmal in den Weisheiten der Evolution wurzeln, öfter aber ihre Grundlage in der komplexen Kognitionsfähigkeit der Vögel haben. Diese ist umfassend definiert als die Fähigkeit, Informationen in unterschiedlichen Zusammenhängen aufzunehmen, zu verarbeiten, zu speichern und zu nutzen. Ungefähr in den letzten zehn Jahren haben Vögel ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, Probleme nicht nur durch einfache Instinkte oder Konditionierung zu lösen, sondern durch hoch entwickelte kognitive Fähigkeiten und assoziatives Lernen. Solche raffinierten mentalen Fähigkeiten – darunter Entscheidungsfindung, Mustererkennung und Zukunftsplanung – versetzen Vögel in die Lage, ihr Verhalten im Laufe ihres Lebens auf Herausforderungen jeder Art abzustimmen.

Erst in jüngerer Zeit hat die Wissenschaft durchschaut, wie schlau Vögel sein können, obwohl ihr Gehirn im besten Fall so groß wie eine Walnuss ist. Ein internationales Wissenschaftlerteam berichtete 2016, man habe ein Geheimnis gelüftet: Bei Vögeln drängen sich mehr Gehirnzellen auf kleinerem Raum zusammen. Die Arbeitsgruppe ermittelte die Zahl der Neuronen im Gehirn von 28 Vogelarten, vom winzigen Zebrafinken bis zum fast zwei Meter großen Emu. Dabei stellte sich heraus, dass Vögel im Verhältnis zu ihrer geringen Gehirngröße mehr Neuronen besitzen als Säugetiere und sogar Primaten. Die Neuronen im Vogelgehirn sind viel kleiner, zahlreicher und dichter gepackt als im Gehirn von Säugetieren einschließlich der Primaten. Die hohe Neuronendichte macht ein leistungsfähiges, schnell arbeitendes Sinnes- und Nervensystem möglich. Mit anderen Worten, so die Wissenschaftler: Im Vogelgehirn steckt das Potenzial, pro Kilogramm Gehirngewicht eine größere kognitive Leistung zu erbringen als ein Säugetiergehirn.

Die Neurowissenschaftlerin Suzana Herculano-Houzel hat die Forschungsarbeiten an den Gehirnen von Papageien und Singvögeln geleitet und weist auf einen weiteren Aspekt hin: Der größte Teil der »zusätzlichen« Neuronen liegt im Pallium, einer Region des Vorderhirns, die im Vogelgehirn unserer Großhirnrinde entspricht und in der Regel mit intelligentem Verhalten in Verbindung steht. Große Papageien wie die Neuweltpapageien und Kakadus, aber auch Rabenvögel wie die Raben und Krähen besitzen in ihrem Vorderhirn mehr Neuronen als Kleinaffen mit ihrem viel größeren Gehirn – in manchen Fällen sind es doppelt so viele. Entsprechend größer ist auch die Zahl der Verbindungen zwischen ihnen. Das ist eine Erklärung dafür, warum solche Vögel zu kognitiven Leistungen in der Lage sind, die sich mit denen der Menschenaffen vergleichen lassen.

Die Vögel haben uns gezeigt, wie ein intelligentes Gehirn auf einem anderen Weg entstehen kann. Bei Säugetieren dienen größere Neuronen zur Verknüpfung weit entfernter Gehirnareale. Die Neuronen der Vögel sind klein, liegen dicht nebeneinander, sind lokal verknüpft und bringen nur eine begrenzte Zahl größerer Neuronen für die Fernkommunikation hervor. Für den Aufbau leistungsfähiger Gehirne hat die Natur nach Angaben von Herculano-Houzel zwei Strategien: Einerseits kann sie mit der Zahl und Größe der Neuronen herumspielen, andererseits kann sich die Verteilung der Neuronen auf die verschiedenen Gehirnteile ändern. Bei Vögeln sind beide Prinzipien wirksam – mit ausgezeichneten Folgen.

DIE GENAUE ERFORSCHUNG seltsamer Verhaltensweisen zeigt, dass einige grundlegende Vorstellungen über Vögel nicht mehr stimmen. Ein Beispiel ist der Gesang. Auf der nördlichen Erdhalbkugel hielten Ornithologen die komplexen Gesänge von Vögeln traditionell ausschließlich für ein Merkmal der Männchen. Fälle, in denen die Weibchen sangen, wurden als selten oder atypisch abgetan. In den letzten Jahren konnte man solche Ansichten jedoch durch nähere Betrachtung revidieren. Der Gesang der Weibchen ist weder eine Anomalie noch eine Abweichung, sondern bei Singvögeln weit verbreitet. Besonders gilt das für Arten, die in tropischen und subtropischen Regionen zu Hause sind, aber auch für Bewohner gemäßigter Breiten.

Viele Verhaltensweisen, die man früher für einfach und naheliegend hielt, erweisen sich auf den zweiten Blick als weit vielschichtiger und komplizierter, als man es sich vorgestellt hatte. Das gilt unter anderem für die Paarungssysteme. Manche Paarungsgewohnheiten, die man früher für eine schlichte monogame Paarbildung gehalten hatte, gehen in ihrer Komplexität in Wirklichkeit weit über das Verhalten der Menschen hinaus. Die Nahrungssuche mancher Vogelarten hat weniger mit dem scharfen Blick zu tun, den wir früher für entscheidend hielten, sondern basiert auf einer hoch entwickelten, hundeähnlichen Nase. Die scheinbar unkomplizierten Alarmrufe, die Vögel bei Bedrohungen ausstoßen, sind in Wirklichkeit mit viel mehr Bedeutung gespickt, als wir es früher für möglich hielten. Sie werden nicht nur von den Artgenossen des Vogels verstanden, von dem sie ausgehen, sondern auch von vielen anderen Arten. Manche Vögel, so scheint es, haben eine Art universelle Sprache entwickelt.

WARUM KOMMEN SOLCHE überraschenden Erkenntnisse gerade heute ans Licht? Zum einen legen Wissenschaftler nach und nach die Vorurteile ab, die sie über Generationen blind gemacht haben. Das betrifft beispielsweise die Sinneswahrnehmung – das heißt die Vorstellung, andere Lebewesen würden die gleiche Welt erleben, die auch wir Menschen sehen, hören und schmecken. In Wirklichkeit ist das ausschließlich unsere Realität, die durch unsere kognitiven, biologischen und auch kulturellen Einschränkungen begrenzt wird. Andere Tiere erleben andere Realitäten. Die sensorische Voreingenommenheit der Menschen hat uns manchmal für die Unterschiede in den Sinnesfähigkeiten der Vögel blind gemacht – und für ihre Vielfalt. Heute jedoch gibt es neue Methoden, die Wahrnehmung der Vögel zu studieren, und nun können wir die Welt durch die Augen der Vögel wahrnehmen. Wir sehen das, was sie sehen, anders und entdecken die verborgenen Ebenen ihrer Realität. Wir erfahren, wie sie eine unvorstellbare Explosion von Farben und Mustern wahrnehmen, wie sie Geräusche hören, die für unsere Ohren unhörbar sind, und wie sie die Gestalt ganzer Landschaften riechen.

Es gibt auch eine geografische Einseitigkeit. Früher betrachteten wir die Verhaltensweisen der Vögel auf der Grundlage dessen, was wir auf der nördlichen Erdhalbkugel insbesondere in Nordamerika und Europa beobachtet hatten. Dort arbeiteten bis vor sehr kurzer Zeit die meisten Ornithologen. Wenige Entenarten, die im Norden von Jägern erlegt wurden, waren weitaus besser erforscht als die unzähligen kleinflügeligen Bewohner der Baumkronen in den Regenwäldern der Neotropis. Jahrzehntelang setzten die Vögel der gemäßigten Breiten den Maßstab: Gemeinsames Brüten kommt äußerst selten vor; der Vogelzug ist typisch; nur Männchen singen komplizierte Lieder, und das meist in der Paarungssaison; nur Singvögel können ultraviolettes Licht sehen; zwischen Brutparasiten und den Vögeln, auf die sie abzielen, läuft ein geordneter, sauberer evolutionärer Wettlauf zwischen einem einzigen Parasiten und einem einzigen Wirt ab …

Nichts davon ist wahr. Wie sich herausgestellt hat, sind die Vögel der gemäßigten Breiten und ihr Verhalten oft nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Viele ihrer Gewohnheiten und Verhaltensweisen sind vor allem für Vögel mit einer kurzen Paarungssaison typisch oder auch für Zugvögel – aus evolutionärer Sicht eine relativ neue Entwicklung. Und ihr Gesang – bei dem die Männchen nur während der kurzen Paarungsphase ihr Revier abstecken – ist spezialisiert und für die Vogelwelt als Ganzes untypisch. Nachdem sich Wissenschaftler heute stärker auf tropische Arten konzentrieren, legen sie die Scheuklappen des Nordens ab. Allmählich kristallisiert sich eine neue Antwort auf die Frage heraus, was in der Vogelwelt üblich oder nicht üblich ist.

Die ornithologische Sichtweise wurde nicht nur durch die einseitige Bevorzugung einer Hemisphäre verzerrt, sondern auch durch Geschlecht und Geschlechtervorurteile der Wissenschaftler. Bis vor Kurzem waren Ornithologen meist Männer, und die Forschung konzentrierte sich auf die Frage, was die Männchen im Sinn hatten. Dagegen wurde die Rolle der Vogelweibchen in der Lebensgeschichte ihrer Spezies, vom Körperschmuck bis zu den Paarungssystemen, häufig heruntergespielt oder nicht zur Kenntnis genommen.

Im Jahr 2016, auf der größten Ornithologentagung aller Zeiten in Washington, setzte sich eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu einer Diskussion über den Gesang der Vögel zusammen. Geleitet wurde sie von Karan Odom und Lauryn Benedict. Beide hatten kurz zuvor zusammen mit einem internationalen Team neue Entdeckungen gemacht und damit die alte Theorie, komplexer Gesang sei fast ausschließlich ein männliches Merkmal, über den Haufen geworfen. Benedict berichtete, wie sie als Doktorandin im Freiland gearbeitet hatte. Sie und ihre Kolleginnen hatten bemerkt, dass Vogelweibchen »seltsame Geräusche machten, sangen und andere tolle Lautäußerungen produzierten, die wir nicht verstanden«. Sie veröffentlichten ihre Befunde aber nicht, weil sie glaubten, sie hätten nur ein anormales Verhalten von Arten beobachtet, die von männlichen Ornithologen bereits gründlich studiert worden waren.

Durch die Arbeiten von Odom, Benedict und anderen Wissenschaftlerinnen wandeln sich die Ansichten in der Ornithologie. Als die beiden sich bei den am Diskussionstisch versammelten Wissenschaftlerinnen nach ihren Beobachtungen erkundigten, kam ein Fall von weiblichem Gesang nach dem anderen ans Licht: Weibliche Zitronenwaldsänger betören ihre Partner im Frühstadium der Werbung mit einzigartigen Gesängen; die Weibchen des Florida-Buschhähers singen trällernde Lieder. Der nordamerikanische Wissenschaftler Dustin Reichard, der sich selbst als »bekehrter Leutnant des weiblichen Gesanges« bezeichnet, hatte den Gesang weiblicher Winterammern in seiner eigenen Studienpopulation beobachtet.

Auch neue Hilfsmittel tragen zum Wandel bei. Unter anderem kann man Vögel mit neuen technischen Apparaturen in freier Wildbahn beobachten, ihre Bewegungen über kurze und lange Entfernungen verfolgen und ihr Verhalten überwachen. Als man beispielsweise winzige, mit besonderen Instrumenten beladene Rucksäcke am Kopf von Fregattvögeln anbrachte, zeigten sich einige erstaunliche Schlafgewohnheiten. Die Vögel dösen im Flug, wobei in der Regel eine Gehirnhälfte wach bleibt, aber selbst das ganze Gehirn kann – oft nur für wenige Sekunden – einschlafen, der Vogel macht so mitten im Flug ein schnelles Nickerchen.

Webcams und Mini-Videokameras ermöglichen aus nächster Nähe einen Blick auf Verhaltensweisen, die normalerweise verborgen bleiben oder für unsere Augen zu schnell ablaufen. Die Welt der Vögel bewegt sich ungefähr zehnmal schneller als unsere, und nur mit Zeitrafferaufnahmen können wir einige erstaunliche Aspekte erkennen: rhythmische Tanzschritte, Purzelbäume in der Luft, Imponiergehabe mit komplizierten koordinierten, wunderschönen Bewegungen.

Auch molekularbiologische Hilfsmittel haben unseren Blick geschärft. Die DNA-Analyse bedeutete eine Umwälzung für unsere Kenntnisse über Herkunft und Evolution der Vögel. Unter anderem zeigte sie, dass alle unsere geliebten Singvögel auf der Nordhalbkugel ihren Ursprung auf Vorfahren zurückführen können, die vor 45 bis 65 Millionen Jahren in Australasien und Neuguinea lebten. Durch molekulare Fingerabdrücke haben sich unsere Vorstellungen von den Verwandtschaftsbeziehungen der Vögel gewandelt. Mit ihrer Hilfe konnte man den Mythos, Vögel seien Vorreiter der Monogamie, zu den Akten legen; gleichzeitig zeigten sich erstaunliche Verbindungen zwischen Vögeln, die nicht verwandt sind, sondern nur gut zusammenarbeiten.

Umwälzende neue Erkenntnisse ergaben sich auch, als man die Kognition in freier Wildbahn untersuchte – jene raffinierten Methoden, mit denen Vögel in ihrem natürlichen Umfeld lernen und Probleme lösen. Noch vor nicht allzu langer Zeit beschränkte man sich in der Wissenschaft bei der Erforschung der Kognition von Vögeln auf Untersuchungen im Labor. Alle Versuchsbedingungen, die sich auf die Leistungen eines Vogels auswirken, hatte man streng unter Kontrolle: Anblicke, Geräusche, Gerüche, Lichtverhältnisse, Temperatur, die Gegenwart anderer Vögel, aber auch den inneren Zustand eines Vogels, seinen Hunger und seine früheren Erfahrungen. »In dieser Anfangszeit ging es bei der Kognitionsforschung an Vögeln vor allem darum, irgendetwas mit einer Taube in einer Kiste zu machen«, sagt Sue Healy von der University of St. Andrews. Das war – und ist immer noch – eine nützliche Methode, wenn man erforschen will, was Vögel lernen können und woran sie sich erinnern. Unter anderem haben wir auf diese Weise viel über die beeindruckenden visuellen Fähigkeiten und das Erinnerungsvermögen von Tauben erfahren: Im Laborumfeld können die Vögel sich über ein Jahr lang an Hunderte von Bildern erinnern. Und da sie in der Lage sind, subtile visuelle Unterscheidungen zu treffen, konnte man sie sogar darauf trainieren, in Mammogrammen den Unterschied zwischen normalem und krebsartig verändertem Gewebe zu erkennen – und zwar genauer als eine geschulte Laborassistentin. Aber wie nutzen sie solche Fähigkeiten in ihrem täglichen Leben?

Manche Vögel, beispielsweise Tauben und Zebrafinken, erweisen sich im Labor als Naturtalente: Sie lassen sich durch das von Menschen gemachte Umfeld und ihre Apparaturen nicht beeindrucken. Andere nehmen eine künstliche Umgebung weniger gut an und zeigen unter experimentellen Bedingungen nicht ihre wahren Fähigkeiten. Testet man das Erinnerungsvermögen einer Tannen- oder Sumpfmeise im Labor mit einem Touchscreen-Computer, schneiden sie miserabel ab – sie können ein Bild bestenfalls einige Minuten in Erinnerung behalten. Im Freiland dagegen erinnern sie sich monatelang an einzelne Futterverstecke.

Healy und ihre Kollegen beschäftigten sich im Rahmen ihrer Freiland-Kognitionsforschung auch mit dem Nestbau von Vögeln. Damit gewannen sie eine neue Vorstellung davon, wie komplex dieses Verhalten ist, das man einst für einfach und fest im Gehirn verdrahtet hielt. Wie sie entdeckten, wissen Blaumeisen so viel über das Wetter und seine Auswirkungen auf die Jungen, dass sie je nach der Temperatur unterschiedliche Nester bauen. Die verschiedenartigen Nestbauten in verschiedenen Kolonien von Weißbrauenwebern sind das Ergebnis sozialen Lernens – ein Vogel beobachtet den anderen und lernt von ihm.

Healy untersuchte die kognitiven Fähigkeiten von Rotrücken-Zimtelfen (auch Fuchskolibris genannt), die in freier Wildbahn ihre Nahrung suchen, und konnte damit das erstaunliche Erinnerungsvermögen dieser winzigen Vögel nachweisen. Ihr Gehirn ist so groß wie ein Reiskorn, aber sie können damit mehrere Aspekte ihrer Blütenbesuche speichern – welche Blüten die beste Nahrung liefern, wie schnell sie sich neu mit Nektar füllen und wann es sich lohnt, sie noch einmal zu besuchen. Damit zeigten sie eine Form des Erinnerungsvermögens, die man zuvor ausschließlich Menschen zugeschrieben hatte.

»Die Kognition in freier Wildbahn zu prüfen ist schwierig«, sagt Healy. »Es hat schon seinen Grund, warum fast alles, was wir darüber wissen, von Tauben stammt. Aber die Arbeit mit dieser schlauen Spezies ist wirklich befriedigend. Eine Taube zu trainieren kann zwei Jahre dauern; einen Kolibri trainieren wir an einem Tag.« Freilandstudien, so Healy, sind nicht automatisch besser als Laboruntersuchungen. Sie sind nur anders. »Im Freiland können wir nicht die ganzen hübschen Eingriffe vornehmen, die im Labor möglich sind, aber dafür sehen wir, was die Vögel in einem offenen Umfeld tun.«

Manche Vogelarten, beispielsweise Vasapapageien und Goffinkakadus, können im Labor ihre eigenen Werkzeuge herstellen und benutzen. Aber tun sie das auch in freier Wildbahn? »Wenn man Vögel in freier Wildbahn erforscht, hat man den großen Vorteil, dass man nicht nur sieht, was sie tun können, sondern auch, was sie tatsächlich tun, wenn sie vor sozialen oder ökologischen Herausforderungen stehen«, sagt Healy. »Heute ist eine spannende Zeit, wenn man das Verhalten von Vögeln erforschen will.« In einem Umfeld nach dem anderen zeigen Vögel, welche geheime hoch entwickelte Intelligenz hinter ihren natürlichen – und manchmal scheinbar unnatürlichen – Verhaltensweisen steht. Sie zeigen uns, wie wir regelmäßig die Vorgänge in ihren Köpfen unterschätzt haben. Eines ist klar: Vögel sind denkende Lebewesen, auch wenn sie auf andere Weise und an andere Dinge denken als wir Menschen.

Vögel sind Bilderstürmer und Regelbrecher. Sie zerstören unsere Vorstellungen. Sie strafen unsere sauberen Kategorien und ordentlichen, einheitlichen Theorien Lügen, mit denen wir die ganze rätselhafte Vielfalt unter einem großen Schirm erklären wollen. Sie fegen unseren Glauben an die Einzigartigkeit unserer eigenen Spezies hinweg. Immer und immer wieder haben Menschen behauptet, wir seien die einzige Spezies mit besonderen Fähigkeiten – Werkzeugherstellung, vernünftiges Überlegen, sprachliche Kommunikation –, und immer wieder mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass Vögel ähnliche Fähigkeiten besitzen. Je mehr wir über das breite Spektrum ihrer außergewöhnlichen Verhaltensweisen in Erfahrung bringen, desto mehr entziehen sich die Vögel unseren Bestrebungen, sie in Schubladen zu stecken.

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