Die Geheimnisse des Silberfells - Klaus Maria Müller-Hoberg - E-Book

Die Geheimnisse des Silberfells E-Book

Klaus Maria Müller-Hoberg

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Beschreibung

Düsternis regt sich im Augenwinkel der Welt. Während die Octa versucht, dem Gerücht über das Erscheinen des Erzmagiers auf den Zahn zu fühlen, begegnet der geächtete Fürst Sarios dem Barden und Waldläufer Nyriadon Faecrest. Wer hat der Printen-Oma ihre Schuhe geklaut? Von welchem Ufer ist Simba Sarios? Und was passiert mit deiner Hand, wenn du sie in das Loch des gemeinen Stilaugenkrauts steckst? Wessen man sich gewahr sein kann: Einstige Diener avancieren zu gefährlichen Widersachern, die danach trachten, das Werk ihres Meisters zu vollenden. Neuerlich werden die Ruinen von Netrak zum Schauplatz einer Schlacht, wie sie Rakomir noch nicht gesehen hat. Und womöglich findet die Frage nach dem Geheimnis um Wizzle endlich eine Antwort. Alles wird sich entscheiden in diesem finalen Band der Trilogie.

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Seitenzahl: 387

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Epilog

Nachwort

DIE LANDKARTE RAKOMIRS

ÜBERSICHT ÜBER DIE WOCHENTAGE & MONATE

KURZE ÜBERSICHT: DIE DRACHENARTIGEN DER BEKANNTEN WELT

HERALDIK

Vorgeschichte

„Der Zauber der Raelka-Schriftrolle ist gebrochen“, erklärt Idris Ilverni nach Luft ringend ihrem Herrn. Ihr

Magen knurrt wie ein bissiger Hund. Sie hat tiefe Ränder unter den Augen. Schlaff fällt sie vor Fürst Sarios auf die Knie. Sie ist tagelang ununterbrochen geritten, um ihrem Fürsten diese Botschaft persönlich zu überbringen.

„Wizzle und Pacis haben den fleischgewordenen Gott besiegt. Nizedir Crime ist tot.“

Der Fürst krallt kochend vor Wut seine Finger in die Armlehnen. Er weiß, was das für ihn bedeutet: Nun, da Nizedir Crime besiegt wurde und sich bald auch die Kunde über den Verrat und den Angriff auf Calabra im Land verbreiten wird, ist es bloß eine Frage der Zeit, bis man versuchen wird, ihn zu stürzen.

„Weißt du, Idris, ich hatte einen Plan, eine Vision“, erklärt der Fürst mit zittriger Stimme. Sein Blick schweift durch den ansonsten leeren Saal. Seine Wachsoldaten sind heute nicht erschienen. „Ich war mir sicher, nichts würde Nizedir besiegen können. Ich war mir absolut sicher.“

Er erhebt sich aus seinem Thron und schreitet langsam zu Idris herunter. Dabei schweift der lange blaue Umhang hinter ihm über die Stufen der Estrade. Wie benebelt blickt er die Botin an, oder besser: durch sie hindurch, ganz so, als wäre sie nicht da.

„Weißt du, junge Botin, ich habe ein gutes Herz, glaube es oder nicht. Ja, ich tat furchtbare Dinge. Und ich dachte an meinen eigenen Vorteil, selbstverständlich. Wer tut das nicht? Aber heimlich hegte ich immer einen anderen Gedanken. Mein Gedanke war: Wenn Nizedir sowieso über alles herrschen wird, warum nicht ein Teil davon sein? Ich wollte mich und meine Stadt bloß vor seinem Zorn schützen. Nun sieh, wohin mich das gebracht hat …“

Der Fürst greift Idris am Kinn und zieht sie nah zu sich heran. Seine Augen sind rot unterlaufen, seine Wangen eingefallen, seine Haut ist fahl.

„Mein Gedanke war: Wenn wir alle schon so viel Leid erfahren müssen, dann will ich alles tun, um dieses so gut es geht zu vermindern! Ich tat alles, was in meiner Macht stand. Alles. Ich mordete, ich eroberte, ich plünderte. Doch diente das alles bloß dem Wohl meines Volkes… Verstehst du das, Idris?“

Doch Idris kriegt bloß die Hälfte von dem mit, was der Fürst ihr sagt. Jede Sekunde ist ein Kampf gegen die Erschöpfung.

„W-was spielt das noch für eine Rolle?“, stammelt die Botin. „Es ist vorbei.“

„Ja, ja, das ist es“, stimmt der Fürst ihr zu und lässt sie los, wobei sie zu Boden fällt, da das Gefühl aus ihren Beinen gewichen ist.

„Ich werde in den Osten gehen“, fährt der Fürst in Gedanken versunken fort. „Ich werde untertauchen und einen neuen Namen annehmen müssen. Die Bürger Ny-Azh-Naduurs werden nicht verstehen, was ich getan habe. Oder warum ich es tun musste. Und Calabra wird nicht vergeben. Die Octa wird nicht vergeben.“

„Ihr handeltet bloß in Sorge um Eure Stadt. Vielleicht ergriff ja der Zauber der Raelka-Schriftrolle auch von Euch Besitz. Das werden sie womöglich …“, will Idris einwenden.

„Nein. Das werden sie sicher nicht. Ich habe ihre Stadt angegriffen“, sagt der Fürst bestimmt. Er mustert Idris, wie sie dort so kümmerlich am Boden liegt und runzelt dann die Stirn.

„Idris, sage mir, wieso du mir diese Botschaft persönlich überbracht hast. Eine Brieftaube hätte mich früher erreicht und es hätte dir weit weniger Mühen bereitet, einen Vogel zu schicken.“

„Ich brachte einen Magier dazu, mich zu lieben“, erklärt sie und sucht sich eine gemütlichere Position zum Liegen. Irritiert hebt der Fürst eine Augenbraue. Die junge Botin erinnert sich an die glühend blauen Augen eines Dimensionsreiters, der keine Furcht kannte, während sie den kalten Stein an ihrer Wange spürt.

„Ich muss zugeben …“, (sie gähnt), „ich muss zugeben, dass ich seine Anwesenheit zu schätzen wusste. Er war ein wundervoller Mann: rachsüchtig und gebrochen …“ Nun legt sie die Hände unter den Kopf und zieht die Beine an, ganz so, als läge sie in einem Bett. Fürst Sarios tritt näher an sie heran, betrachtet die junge Frau neuerlich interessiert.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet, Botin.“

„Ich habe mich mit einigen Octamagiern gutgestellt“, erklärt sie weiter. „Einen Vogel zu schicken, wäre zu gefährlich gewesen. Hätte ihn jemand abgefangen und der Octa davon berichtet, wäre mein Ansehen bei ihnen dahin.“

„Warum berichtest du mir dann überhaupt? Ich sehe darin keinen Nutzen für dich!“, entgegnet der Fürst misstrauisch und verschränkt die Arme vor der Brust. „Weil mich dieser verfluchte Zauber dazu zwingt! Ihr lasst seit Jahrzehnten Eure Boten mit einem Fluch belegen, auf dass Sie Euch niemals die Treue brechen. Das war eine der Aufgaben des Hofmagiers Meister Älos. Er verzauberte mich auf Euren Befehl hin!“

„Richtig, richtig …“, meint Fürst Sarios und kratzt sich am Hinterkopf.

„Ihr wusstet das doch noch, oder?“, meint Idris entrüstet. „Oder?“

„Doch, doch, selbstverständlich!“, erwidert Sarios. „Nun werden Eure Dienste nicht länger benötigt. Ich hebe den Zauber hiermit auf!“

„Glaubt Ihr …“, Idris hustet schwach, „wirklich … Glaubt Ihr wirklich, das ginge so einfach?“

„Das ist nun nicht länger mein Problem. Fahre wohl, Idris“, entscheidet der Fürst. „Ich werde deine Treue nicht vergessen.“

Doch da ist Idris bereits eingeschlafen. Eine Träne rinnt ihr über die Wange.

Kapitel 12 Jahre später

„Guten Tag, Alexey!“, grüßt Will den Bootsmann. Alexey trägt einen schweren, mit unterschiedlichsten Stoffen geflickten Wollmantel. Der gräuliche Ziegenbart ist verfilzt, doch der Seemann trägt ihn mit Stolz.

„Sei gegrüßt, Will. Das Getreide, wie immer!“, entgegnet Alexey und seine Männer helfen dabei, die Getreidesäcke auszuladen.

„Wie war die Fahrt?“

Alexey streicht sich durch den Bart und antwortet mit der für Seemänner aus dem Süden typisch ausladenden Sprechweise, wobei die betonten Vokale manchmal sehr lange gehalten werden und die Stimme am Satzende dazu neigt, in tief dröhnende Frequenzbereiche abzufallen.

„Weißt du, Wetter ist heute etwas stürmisch. Die Wellen manchmal sehr hoch, aber ansonsten alles gut!“, meint er.

„Freut mich zu hören“, sagt Will und bezahlt die Getreidesäcke mit einigen Goldstücken. Er ist mittlerweile ein angesehener Magier in der Stadt. Auch die Windmagie beherrscht er nun bestimmt so gut, wie Darvon, ein bereits vor Jahren verstorbener Freund und Octamagier, sie einst beherrschte.

„Danke, Will!“, sagt Alexey und steckt sich die Dukaten in den ledernen Beutel, der an seinem breiten Ledergürtel hängt.

„Wie sieht es bei euch drüben auf der Insel Kyz jetzt eigentlich aus? War sie, nachdem ihr gefangen genommen wurdet, sehr stark zerstört?“

Alexey schüttelt energisch den Kopf: „Oberster Befehlshaber hat noch bevor die Schlacht richtig begonnen hat aufgegeben, weißt du ja. Die Aufbauarbeiten hielten also in Maßen.“

„Und deine Familie?“

„Geht gut“, meint Alexey und mustert Will kurz von oben bis unten. Das U in ‚gut‘ brummt diesmal besonders lang und tief.

„Gab es irgendwelche Unruhen?“, fragt Will nochmal.

Alexey lächelt daraufhin und schüttelt den Kopf.

„Krieg ist vorbei, mein Junge, es gibt keine Unruhen mehr und das dank dir und deine Freunde! Du brauchst dir nicht Sorgen machen!“

„Du hast ja Recht … weißt du, Alexey, ich weiß nicht, wie ich jetzt weitermachen soll. Wir mussten kämpfen und töten und rennen und immer wieder kämpfen …“

„Das seit zwei Jahren vorbei, Will! Du hast eine wunderschöne Frau und bist angesehener Magier, was du willst mehr?“

„Ich weiß es nicht …“, erwidert Will nachdenklich und blickt dabei tagträumend in die Leere. „Ich wüsste nur gerne, was mit Ferio Calethrix und Richard Cliff damals passierte … es gibt so viele Ungereimtheiten und Fragen …“

Da klatscht Alexey die Hände zusammen und grinst: „Da ich habe Neuigkeiten!“

Will blickt ihn ungläubig an: „Neuigkeiten?“

„Ja, ich muss dir aber sagen vorher, dass das, was ich gehört habe, alles höchstwahrscheinlich nur ist Seemannsgarn. Was sich die Leute halt so erzählen und was die Leute halt so munkeln, du weißt schon.“

„Spielt keine Rolle, sag schon, was erzählen sich die Leute?“

„Na gut“, sagt Alexey, nimmt Will beiseite, fort vom Steg, und blickt sich einige Male um, bevor er anfängt zu sprechen.

„Also, hör gut zu … ich war vor etwa einer Woche in eine Kneipe auf Kyz. Sie war gut gefüllt und einige Musiker spielten. Die Seemänner gehen immer vor ihrer Reise einen hinter Binde kippen. Ja, ja, wo ich recht drüber nachdenke, machen sie das auch nach der Reise. Und auch, wenn sie Pause machen von der Reise …! Jedenfalls: ich sitze in dunkle Ecke und am Tisch neben mir sitzen zwei Gestalten, die aussehen, als wäre drei Tage Regenwetter. Also lausche ich was sie reden … und da höre ich: Erzmagier!“

Will lacht und schüttelt den Kopf: „Nein, das ist ganz bestimmt nicht Richard. Als Erzmagier muss man eine Reihe von Prüfungen bestehen und der Titel kann nur von einem anderen Erzmagier verliehen werden. Alle Erzmagier sind seit hunderten von Jahren tot.“

„Wenn ich es doch sage, es fiel der Begriff Erzmagier.

Und das noch nicht alles: Sie redeten von merkwürdige Gestalt, die an unterschiedlichen Orten auftaucht und schnell wieder verschwindet. Ganz mysteriös, unheimlich finde ich! Hier da und dann Puff! Und wieder weg.“

Will zieht die Augenbrauen zusammen.

„Das ist merkwürdig.“, befindet er.

„Nicht wahr? Später, und du weißt, ich reise viel, höre ich das gleiche in Zileen …Die Erzählung nicht immer gleich, aber sie stimmt mit den Dingen, die ich dir sage, überein. Warte … ich erkläre dir, wie es sich zutrug!

Ein Läufer aus Berkhall gab sich, angekommen in der Hauptstadt, Kante und erzählte, ein Freund seines Freundes hätte diesen Erzmagier gesehen! Mein Freund, Randomius Dudemann, hörte von dieser Erzählung, als der Freund des eben erwähnten Freundes auf einem rasierten Moschusochsen nach Askaloth geritten kam. Das war beim letzten Vollmond Trestars!“

Wills Zahnräder rattern, während er versucht, diesen wirren Ausführungen zu folgen.

„Ich weiß nicht … ich werde es den anderen erzählen, aber ich glaube nicht, dass etwas dahintersteckt.“

Als Will gerade losgehen will, hält Alexey ihn am Ärmel fest: „Das ist noch nicht alles, Junge. Weißt du, es ist nicht geblieben so ganz unbemerkt, dass der Wizzleschüler und Gerrusgünstling zwei Drachen mit zwei legendären Waffen getötet … das hat sich rumgesprochen, wie Feuer das hat sich rumgesprochen!

Und wie es der Zufall will, trägt der Erzmagier einen schwarzen Ledermantel, einem Junkermantel nicht unähnlich.“

Da bleibt Will wie versteinert stehen: „Der Mantel eines Junkers? Allerdings … allerdings war Richards Mantel braun.“

„Nichts ist gewiss, Will. Aber das du wirst schon selbst herausfinden müssen!“, sagt Alexey und klopft Will auf die Schulter. „Ich muss wieder aufbrechen. Meine Leute warten schon, auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, mein Freund!“, sagt Will und bleibt nachdenklich zurück. Dann fährt er die Kutsche mit Getreide die Straße hoch zum Marktplatz, wo er die Säcke weiterverlädt.

Das nennst du die Arbeit eines Magiers, Alexey?, denkt sich Will und muss schmunzeln, als er das Getreide ablädt.

In der Octa angekommen teilt er Adria und Rebecka die Neuigkeiten mit.

„Die Beschreibung trifft doch auf Richard zu, nicht wahr? Ein Junkermantel und Portalreisen. Wie viele Leeremagier kennt ihr?“, meint Rebecka, die in Flammen sitzt.

„Ich halte das für zu vage, um etwas Konkretes daraus schließen zu können. Also ich meine, wenn vielleicht noch zwei Schwerter erwähnt worden wären und weiße Haare …“ Adria legt den Kopf schräg und rutscht tiefer in ihren Wassersessel.

„Das ist alles“, erwidert Will, dem ein Windzug als Sänfte dient. „Aber ich bin da ehrlich gesagt Rebeckas Meinung: Es könnte gut etwas daran sein, es könnte wirklich Richard sein.“

„Also gut, haben wir Anhaltspunkte? Informationen um ihn zu finden?“, fragt Adria, doch Will schüttelt den Kopf.

„Mehr hat Alexey mir nicht gesagt“, meint er und senkt den Blick. Dann steht Rebecka unvermittelt und mit einem entschlossenen Blick auf: „Also gut, Freunde. Ich lege mich dann mal aufs Ohr!“

„Ja, tu das“, erwidert Will irritiert und bleibt mit Adria alleine an der langen Tafel zurück. Sie warten mit dem Weiterreden, bis man hört, wie die Tür hinter Rebecka ins Schloss fällt.

„Meinst du wirklich, dass es Richard ist? Wir dachten doch nun schon so lange, er wäre tot. Warum sollte er sich jetzt plötzlich zeigen und uns zuvor ignoriert haben?“

„Frag mich etwas Leichteres“, sagt Will und erhebt sich. „Ich glaube, ich muss mich auch in die Koje legen. Kommst du mit?“

Adria nickt und sie gehen zusammen die Treppen hoch.

Kapitel 2

Berkhall, das größte Zwergenreich Rakomirs. Die Stadt liegt in einem Tal im nördlichen Verisgebirge, wo es meist frostig und bitterkalt ist. Auch wenn nicht ganz so frostig wie in Grufnor, das etwa dreißig Meilen weiter nördlich liegt.

Nachdem Nizedir besiegt wurde und die Raelka-Schriftrolle ihre Wirkung verlor, gewannen die Zwerge ihren Kampfesmut zurück und gingen wieder nach Berkhall. Die dort ansässigen Truppen hatte der Zauber bereits verlassen und die Zwerge erlangten die Stadt ohne nennenswerten Kampf zurück.

Berkhalls Bauten sind hauptsächlich aus Bruchstein errichtet. Die ungleichen Steine findet man auch in der breiten Wehrmauer, die die Stadt umgibt, und das Tal für Eindringlinge kaum erreichbar macht. Viele der Häuser sind mit Skulpturen aus Marmor oder Speckstein verziert. Die scharfkantigen Gesichter der steinernen Skulpturen zeigen Berggeister, die im Untergrund ruhen und seit der Errichtung Berkhalls als Schutzgeister verehrt werden. Am Rande der Zwergenstadt gibt es viele Tunnel, die in die Berge führen. Dort werden Erze abgebaut und auf Schienen zu Lager- und Weiterverarbeitungsorten transportiert. Neben dem Abbau von Erzen sind die Zwerge auch für ihre Schmiedekunst bekannt. Manche meinen gar, einige der legendären Waffen seien in den Schmieden der Zwerge entstanden, begleitet von den Zaubern der Erzmagier. Auch wenn es sich hierbei sehr wahrscheinlich nur um Märchen handelt, so zeigen sie doch, für welch hohe Qualität die Zwergenschmieden bekannt sind.

Das größte Bauwerk der Stadt ist pyramidenförmig und wird von einem hohen Turm gekrönt. Es liegt im nordöstlichen Stadtzentrum. Von den Bewohnern wird es auch Haper genannt.

„Ja, guten Tag? Wie lautet Ihr Anliegen?“, fragt die Zwergenwacht und öffnet einen kleinen Seeschlitz unten am Tor des Hapers, um zu sehen, wer da geklopft hat, doch dort steht niemand.

„Ein Streich …“, sagt sich der kleine Mann und will den Schlitz bereits wieder schließen, als eine Stimme aus dem Nichts antwortet: „Ich muss den König sprechen.“

Die Wacht zuckt zusammen und dreht sich erschrocken um, doch noch immer ist niemand zu sehen.

„Wer ist da?“

„Ein Freund und mehr. Öffnet das Tor.“, antwortet die Stimme aus dem Nichts. Verwirrt schaut sich der Zwerg um.

„Wo … wo genau seid Ihr?“, fragt die Wacht.

„Vor Euch, aber Ihr solltet mich nicht sehen.“

„Warum soll Euch niemand sehen?“ Der Zwerg kratzt sich nachdenklich am Kinn.

„Weil mich niemand erkennen soll.“

„Und warum soll Euch niemand erkennen?“

„Da es Feinde gibt, die meinen Tod wollen. Und Schergen. Und noch so einiges mehr …“

Die Wacht nickt verständnisvoll: „Ja, ja, ich kenn das.“

„Ach, wirklich?“, fragt die Stimme aus dem Nichts überrascht.

„Nein“, meint der Zwerg genervt und knallt den Seeschlitz wieder zu.

„Wartet! Wartet, Herr Zwerg!“, protestiert die Stimme.

Der Schlitz öffnet sich wieder: „Warum sollte ich jemanden hereinlassen, der sich Unsichtbar macht, weil er Angst hat, von Feinden umringt zu sein?“

„Hmmmm …“, denkt die Stimme aus dem Nichts nach.

„Weil dieser Jemand gut zahlt und sein Ehrenwort gibt, dass er nichts Böses im Schilde führt“, bietet die Stimme an und auf einmal erscheint eine Hand in der Luft, die einen Sack voller Münzen hält.

„Herr Unsichtbar, Ihr dürft passieren!“, spricht die Wacht hastig mit großen Augen und das Tor öffnet sich. Als die unsichtbare Person eintritt, wirft sie der Wacht den Sack Münzen zu. Der Zwerg fängt den Sack und lächelt zufrieden.

„Heute Abend gibt’s ordentlich Fleisch!“, sagt der Zwerg und leckt sich die Lippen. „Ach und übrigens, Herr Unsichtbar! Wenn Ihr es an den anderen Wachen vorbeischaffen solltet, was wollt Ihr den König überhaupt fragen?“

„Das ist privat“, sagt die Stimme des unsichtbaren Mannes.

„Wenn Ihr es sagt“, meint der Zwerg und hockt sich an eine Mauer, um die Münzen zu zählen.

„Zwerge …“, sagt sich der unsichtbare Mann und schüttelt den Kopf. „Hoffentlich ist der Meister des Schmiedefeuers vernünftiger …“

Der unsichtbare Mann macht sich dünn, als er zwischen den Wachen vorbeischlüpft, die vor einem hohen und breiten Flügeltor stehen.

„Was zum …?“, wundert sich eine der Zwergenwachen, als die Flügeltüre sich einen Spaltbreit öffnet.

„Der Wind“, sagt die andere und schließt die Tür wieder. Der unsichtbare Mann ist gerade so hineingestolpert.

„Das war knapp“, befindet er und schleicht voran. Die aus dem rauen Fels geschlagenen Stufen, die den Haper hinaufführen, scheinen kein Ende zu kennen. Nach einer viertel Stunde steht der Unsichtbare dann vor einem hohen und breiten Flügeltor. Es steht offen und wird von zwei Wachen flankiert. Der blickscheue Gast tritt zwischen ihnen hindurch und folgt einem Korridor tiefer ins Innere. Fackeln erhellen den Gang, der sich bald schon zu einem Saal öffnet. Wieder schleicht er an einem Paar Wachen vorüber und nähert sich dann dem König. Dieser döst in einem aus Quarzen geformten Thron, der schwach glimmert.

Die hohe Saaldecke wird von massiven, steinernen Säulen gestützt. Die Wände sind nicht gemauert, sondern scheinbar aus der Bergwand geschlagen. Bilderzyklen sind in die Wände gemeißelt und berichten von dem Bau des Hapers, der Zwumtlidynastie und den Belagerungen, die die Stadt überwindete. Der Haper wurde damals von den Zwumtlis in mehreren Generation aus einem Bergkamm geschlagen, der das Tal einst teilte.

Das Einzige, was ich will, ist ein Gespräch mit König Grimmholt. Ich habe keine Zeit zu verlieren, weder an Wachen noch an Antragsverfahren, beschließt der unsichtbare Mann, schreitet geradewegs auf den König zu … und zieht an seinem grauen Bart!

„Auu!“, ruft der König und fährt erschrocken hoch.

Seine Stimme ist rau wie der Fels dieser Hallen und tief wie der Atem eines Bären.

„Wer stört mich?“, fragt der König erzürnt und dreht sich um, doch die Wachen sind zu weit weg, um es gewesen sein zu können. „Muss ich mir eingebildet haben …“

Da vernimmt der König leise Kratzgeräusche. Als er nach dem Ursprung der Geräusche sucht, entdeckt er etwas, was auf Zwergisch, in der Runenschrift des Eld Grimmarks, in seinen Quarzthron eingeritzt wurde:

Gasthaus zum einäugigen Knacker, heute Abend. Es geht um den Riss …

König Grimmholt zieht seine Augenbrauen hoch, als er das liest, und blickt sich verstohlen um.

„Ich werde da sein, Erzmagier“, flüstert der König.

Einige Zeit später am Abend hat der König den Haper verlassen und ist unterwegs zum Gasthaus, dessen Name in seinen Thron eingeritzt wurde.

„Was denkt sich der Kerl, in meinen Thron zu ritzen, was er will …“, ärgert sich König Grimmholt auf dem Weg. Um nicht zu viel Aufsehen zu erregen, hat er die Kapuze seines Umhangs weit vor die Stirn gezogen. Auch auf Wachen verzichtet er – auf die verzichtet er aber auch sonst.

„Die Menschen halten sich stets für etwas Besseres …“, meckert er weiter.

Nach einiger Zeit der Suche findet der König das Gasthaus in einer abgeschiedenen Seitenstraße. Das Schild baumelt quietschend über der schief in die Fassade eingelassenen Türe und wirft seinen Schatten auf den gut betuchten Besucher. Gasthaus zum einäugigen Knacker steht dort geschrieben.

„Was für eine Bruchbude, hoffentlich ist das Bier gut

…“, stellt er für sich resignierend fest und tritt ein. Im Inneren des Gasthauses stehen einige ramponierte Holztische, auf denen dutzende Kerzen zu großen Haufen aufgetürmt sind. An der Theke wäscht der Zwergenwirt, der eine Augenklappe trägt, gerade einige Gläser.

„Guten Tag!“, krächzt der Wirt.

„Guten Tag“, erwidert König Grimmholt. Als er sich umblickt, stellt er fest, dass alle Tische leer sind bis auf einen, an dem ein Mann mit einem langen schwarzen Mantel sitzt.

„Ihr werdet bereits erwartet, Eure Majestät“, sagt der einäugige Wirt, als König Grimmholt nähertritt, verneigt sich und deutet auf den einzigen Gast des Hauses. Es sieht etwas ulkig aus, wie der Mann im schwarzen Mantel auf diesem winzig kleinen Stuhl hockt, dafür aber für menschliche Verhältnisse aus sehr großen Bierkrügen trinkt.

Der König deutet auf den Mann und öffnet den Mund, doch es kommt nichts raus. Bloß ein leises: „Sicher?“

Der Wirt ignoriert die Frage und macht sich wieder ans Gläserwaschen.

„Entschuldigt, ist hier noch frei?“, fragt der König und deutet auf den leeren Platz bei dem Mann im schwarzen Mantel. Der Mann blickt einmal hoch und starrt den König mit kaltem Auge an. Eines seiner Augen funktioniert nicht mehr, ähnlich wie das des Wirtes.

„Ich-“, setzt König Grimmholt an.

„Es ist noch viel zu früh“, sagt der Mann dann. Der König ist irritiert.

„Zu früh? Ich verstehe nicht ganz, zu früh wofür? Bin … bin ich zu früh?“

Der Mann im schwarzen Mantel trinkt einige Schlucke aus dem Bierkrug.

„Norwin ist Euer Name? König Berkhalls, Meister des Schmiedefeuers?“, fragt der Mann.

Norwin Grimmholt ignoriert den Sittenmangel seitens Person und Lokalität, stützt sich mit einem Ellenbogen auf dem Tisch ab und legt den Zeigefinger an die Schläfe. „Ja, das ist richtig, wenn ich mir eine Frage erlauben dürfte … seid Ihr es tatsächlich?“

Der Mann in Schwarz lächelt verspielt und streicht verträumt mit dem Daumen über den Rand des Bierkruges.

„Ihr braucht nicht derart höflich zu sein, Eure Majestät. Ich bin bloß ein Magier … mittlerweile hat mir die Gerüchteküche allerdings einen Kosenamen gegeben. Nennt mich doch den Erzmagier.“

„Dann wart Ihr auch …“

„Richtig, ich habe Euch die Nachricht in den Thron geritzt. Und wie gesagt, Ihr braucht nicht so förmlich mit mir zu sein.“

„Richtig, richtig. So hör mir zu, Erzmagier. Du hast bereits einige Male in Gedanken zu mir gesprochen und du willst deinen Namen nicht verraten, aber ich treffe mich nur mit dir, weil die Angelegenheit mehr als heikel ist. Ich hoffe dir ist klar, dass ich mich selbst in große Gefahr begebe … mich hier als König in einem verkorksten Gasthaus mit einem Landstreicher wie dir um diese Uhrzeit zu treffen! Daher brauche ich einen handfesten Beweis, ansonsten bin ich sofort wieder weg“, erklärt Norwin Grimmholt. Der Erzmagier nickt und greift unter seinen Mantel. Als er einen Dämonenkubus hervorholt, geht sich der König nachdenklich durch den Bart.

„Woher hast du das?“, will der König wissen.

„Lange Geschichte. Vor vielen Jahren waren im Cataractagebirge einige verwilderte Golems …“, erklärt der Erzmagier kurz und rührt mit seinem Zeigefinger durch die Luft. Nach anfänglicher Verwirrung bemerkt Norwin Grimmholt, dass sich die Umgebung verbiegt. Schnell ist ein winziges Portal entstanden, das über der Kerze knapp über dem Tisch schwebt. Die Flamme der Kerze biegt sich mit dem Rand des Portals und wird in die Länge gezogen.

„Was ist das …?“, wundert sich König Grimmholt.

„Seht her …“, sagt der Erzmagier und hält den Dämonenkubus vor das Portal. Da beginnen die Risse des Kubus violett zu leuchten …

„Und das bedeutet tatsächlich …?“, fragt Norwin Grimmholt ehrfurchtsvoll und erschaudert ob des unbehaglichen Gefühls, das sich in ihm beim Anblick des mystischen Lichtes ausbreitet.

„Das Portal, das ich geöffnet habe, führt nach Netrak. Der Riss, der vor über dreißig Jahren die Stadt teilte, ist mehr als bloß eine Schlucht. Es scheint, als wenn sich Düsteres bei Netrak ereignet …“

„Das violette Leuchten bedeutet also das, was ich vermute …“, befürchtet König Grimmholt. Der Erzmagier schließt das Portal wieder und verstaut den Dämonenkubus in den Taschen seines Mantels.

„Normalerweise leuchtet der Würfel blau. Dies zeigt an, dass Dämonen in der Nähe sind. Doch wenn die Risse des Dämonenkubus violett leuchten …“

„Dann …?“

„Es zeigt an, dass sich ein Portal geöffnet hat … in eine andere Dimension. Und das hieße, dass es dort eine Art Passage, einen Schnittpunkt zwischen dem Haus der Hölle und unserer Welt gibt und diese kurz davor ist, sich ganz zu öffnen …“

„Es ist also wahr …“

„Ja“, erwidert der Erzmagier mit düsterem Blick und trinkt den Bierkrug leer. „Nachdem Nizedirs Armee besiegt worden war, floh der Drache Zarác nach Netrak, wo er sich in den Riss stürzte … und dort spurlos verschwand. Er ist höchstwahrscheinlich in den Irrgarten eingekehrt.“

„Ein Tor in eine andere Dimension … in eine jenseitige Dimension! Bedeutet das, Zarác hat sich in den Tod gestürzt?“

„Nicht, wenn er den Riss auch in die andere Richtung öffnen kann. Hört mich an, Norwin Grimmholt. Etwas Dunkles zieht auf, eine Macht, der sich alle Völker Rakomirs vereint entgegenstellen müssen. Ich habe bereits mit den Fürsten zahlreicher Städte gesprochen, viele werden sich dem Kampf anschließen und glaubt mir, wenn ich sage, dass dieser unausweichlich ist.“

„Das ist er … meine Ahnen prophezeiten den Tag, an dem die Welt von Monstern überrannt wird … erneut. Der jüngste Tag … ich schließe mich deinem Unterfangen an, Erzmagier! Die Zwerge Berkhalls werden deinem Ruf folgen und an deiner Seite kämpfen, wenn es soweit ist. Denn alles andere würde unseren Untergang besiegeln.“

Der Erzmagier nickt dankend, legt einige Münzen für das Bier auf den Tisch und geht zur Tür.

„Ich melde mich“, sagt er dann und verschwindet an Ort und Stelle. König Grimmholt bleibt alleine im Gasthaus zurück und blickt nachdenklich den Wirt an, der wider Erwarten einen Berg Abwasch zu bezwingen hat.

„Ziemlich knochig für den legendären Erzmagier …“

Kapitel 3

Als Vagabund streift der ehemalige Fürst Ny-Azh-Naduurs durchs Land. Hoffnungslos. Bestimmungslos.

Er riecht scheußlich, hat sich seit bald schon drei Wochen nicht mehr gewaschen. Die weit vorgezogene Kapuze schützt den vielgesuchten Mann vor neugierigen Blicken, Wind und Wetter. Ein langer, blondgrauer Bart sucht sich seinen verworrenen Pfad aus der Kapuze über die Brust. Seine Habseligkeiten führt er in einem großen Beutel, den er sich über die Schulter geworfen hat, mit sich. Darunter befindet sich das goldene Jagdhorn Ny-Azh-Naduurs, das magische Kräfte besitzen soll. Sagt man.

„Welches Schicksal mich armen Tor bloß ereilt hat! Wer hätte gedacht, dass ein Fürst meiner Größe als Obdachsuchender durch diese Einöde streifen muss? Aber was sieht mein müdes Auge da? Eine Herberge! Oh bitte, lass es ein Gasthaus sein!“

In der Ferne zeichnet sich ein schiefes Nurdachhaus ab, dessen First als einziges deutlich zu erkennen ist. Dichte Nebelschwaden suchen sich ihre Pfade über die knorrigen Wurzeln alter Bäume und umrahmen auch das Haus, sodass es auf einer Wolke zu schweben scheint. Sarios entschließt sich, dem Haus einen Besuch abzustatten. Als er sich der Tür nähert und bloß einen fahlen Lichtschein durch die kleinen schiefen Fenster dringen sieht, verlässt ihn jede Hoffnung.

„Das ist kein Gasthaus, Sarios, du Narr!“, wirft er sich vor und stampft frustriert auf den Boden. „Du bist mitten im Wald, natürlich wirst du hier nicht bewirtet!“ In dem Moment ertönt ein lautes Quietschen und die Tür öffnet sich einen Spalt breit. Eine kleine Dame steht dort und späht durch den Türschlitz. Sie hat tiefe Falten im Gesicht, ihre Augen sind gelblich und ihr Haar ist dünn und grau. Sie hat schon viele Zyklen gelebt.

„Sprecht Fremder, was sucht Ihr so tief in den nordischen Wäldern?“, spricht die alte Frau.

„Nichts, bloß ein Mahl und ein Dach“, erwidert Sarios.

„Ein zielloser Vagabund also? So, so … kommt herein!“

„Tatsächlich?“

„Besuch hat man hier selten und bei euch brauche ich mir keine Sorgen zu machen, ausgeraubt zu werden. Ihr seid ja bloß Knochen und Haut! Haut und Knochen, meine ich.“

Und tatsächlich: sein Bauch ist in den letzten zwei Jahren der Flucht geschwunden. Sarios ist dünn und mager geworden.

„Wenn Ihr das sagt …“, grummelt er und lässt sich ins Warme geleiten. In einer kleinen Feuerstelle brennen Kiefernholzscheite. In dem darüber hängenden Kupferkessel brodelt eine Gemüsesuppe.

„Es riecht herrlich!“, gesteht Sarios, der seit Tagen nichts Richtiges mehr zu essen hatte.

„Das hört die Köchin gerne! Ein paar Printen in die Suppe?“

„Ja! M-moment, in die Suppe? Warum denn in die Suppe?“

„Warum denn nicht?“, erwidert die alte Frau, dreht sich zu ihm um und stemmt beleidigt die Hände in die Seiten.

„Nun, mir ist eben nicht bekannt, dass …“

„Dann ist ja gut, dass es mir bekannt ist“, erklärt sie und dreht sich wieder der Gemüsesuppe zu. Unbeirrt wirft sie einige Dutzend Printen in den brodelnden Topf, woraufhin die Suppe allmählich zu einer dickflüssigen, süß-salzigen Brühe verkommt. Erst jetzt fällt dem Vagabunden auf, dass die Frau keine Schuhe trägt.

„Ist euch das nicht zu kalt?“, erkundigt er sich.

„Nein, ich bin hier ja am Feuer.“

„Hm.“

Dann ist es eine ganze Zeit lang still. Erst, als die barfüßige Alte dem Vagabunden eine Holzschale mit der fabrizierten Pampe reicht, belebt sich das Gespräch von Neuem.

„Vielen Dank! Was macht Ihr hier so alleine, mitten im Dunkeln des Waldes? Habt Ihr keine Angst, dass Banditen Euch überfallen?“, will Sarios wissen.

„Bislang hat jeder, der mich berauben wollte, dran geglaubt, mein Junge“, erwidert sie und lacht fast schon großmütterlich.

Gruselige alte Schreckschraube, denkt sich Sarios, spricht es aber nicht laut aus.

„Woher nehmt ihr denn derartige Kräfte?“, fragt er stattdessen. Die alte Dame legt den Zeigefinger an ihre Lippen und schüttelt langsam den Kopf.

„Das erzähle ich nur jenen, deren Aura mich überzeugt“, erklärt sie. „Ihr hingegen befindet Euch in einem Übergang. Eine entscheidende Phase, ein Farbwechsel. Ich hoffe bloß, dass ihr nicht schon tot sein werdet, wenn sich dieser vollzogen hat. Bis dahin kann ich bloß auf Euren knurrenden Magen Antwort geben.“

Mit dem wirren Gerede der alten Dame kann der ehemalige Fürst nicht viel anfangen. Die Printen-Gemüsesuppe hat er hingegen schon verschlungen bevor er selbst es realisiert hat. Die alte Frau steht auf und klatscht ihm einen Nachschlag auf den Teller.

„Lecker?“, erkundigt sie sich.

„Tatsächlich, wie ich zugeben muss …“

„Wovor flieht ihr eigentlich?“, will die alte Frau dann wissen, als sie den Gast eine Zeit lang beim Schlingen beobachtet hat.

„Was interessiert es Euch?“, erwidert Sarios barsch.

„Es interessiert mich.“

Er blickt vom Teller hoch und seine Wirtin an. Ihr faltiges Gesicht erscheint ihm im schwachen Schein des flackernden Feuers surreal und gespenstisch. Dann schüttelt er den Kopf.

„Ich habe eine Entscheidung getroffen, von der ich glaubte, dass sie die Richtige sei.“

„Und war sie es?“

„Ich würde mich heute wieder so entscheiden. Es ist meine Überzeugung, dass es besser ist zu leben, anstatt für seine Überzeugungen zu sterben. Was nützt es, das Richtige zu tun, wenn es keinen Vorteil bringt?“, überlegt Sarios und starrt mit zusammengekniffenen Augen in die Flammen des kleinen Feuers, das den Kochtopf warmhält. „An meinen Händen klebt viel Blut. Das hat mich nie gestört. Allerdings haben sich die Dinge anders entwickelt, als ich es mir erhoffte.

Nun bin ich in vieler Augen ein Verräter. Ich fliehe also vor allen.“

„Nein“, befindet die alte Frau. „Oh, nein. Ihr flieht vor Euch selbst, mein Junge. Ihr habt bloß nicht den Schneid, zu Euren Taten zu stehen.“

Aufgebracht wirft Sarios seinen leeren hölzernen Teller an die Wand.

„Wieso fragt Ihr, wenn Ihr die Antwort kennt?“

„Um zu lehren.“

„Und wieso wollt Ihr einen Fremden belehren?“

„Wieso kommt der Fremde in mein Haus?“

Sarios erwidert zunächst nichts. Er hört, wie sein Teller über den Boden rollt und vor der Feuerstelle liegen bleibt. Die Äste im Feuer knacken und knistern. Der Wind pfeift durch den Türschlitz und das Laub der Bäume draußen raschelt im Wind. Und ganz allmählich entzerren sich Sarios‘ Gesichtszüge und werden weicher. Mit jedem Moment, der vergeht, verblasst ein Teil seines Zorns. Wieso das so ist, kann er sich selbst nicht beantworten. Schon lange hat er den Gedankensturm, der seine Gefühle aufwirbelte, nicht mehr ruhen lassen. Und nun ist er verstummt. Er erschrickt fast, als er den Mund öffnet und sagt: „Es tut mir leid.“

„Das macht doch nichts, mein Junge.“

„Wie ist Euer Name?“, will Sarios wissen. Die alte Frau lacht wieder ihr großmütterliches Lachen und spielt mit ihren Zehen.

„Gelb! Ein Stich gelb! Sehr schön. Das ist gut, mein Junge. Mein Name ist Aladris Stylax.“

„Verrückt. Ihr seid total verrückt.“

Kapitel 4

„Was können wir denn schon zu dritt ausrichten?“, fragt Rebecka und zieht die Augenbrauen zusammen, sodass sich tiefe Furchen auf ihrer Stirn bilden. Es ist spät in der Nacht. Sie, Will und Adria sitzen noch beisammen im Konferenzsaal der Octa. „Anfangs kam ich damit klar. Dass nur noch wir drei übrig sind. Die Briefwechsel mit Fürst Morgan halfen etwas gegen den Kummer, das Wiedererrichten der Stadt half gegen den Kummer … doch kehrt der Schmerz immer wieder zurück und wird von Mal zu Mal stärker.“

Will steht auf und schließt Rebecka in eine Umarmung. Auch Adria sucht Trübsal heim, als Rebecka – mit halb offenem Mund und herabhängenden Schultern – den Blick ratlos zu Boden wirft: Die Haltung, die sie einnimmt, sobald ihre Gedanken wie immer vergeblich versuchen, zu entschlüsseln, was sich damals in Zesna zugetragen haben muss.

Ich habe immerhin noch Will …, überlegt Adria.

„Er lebt, Will! Ich weiß, dass er noch lebt!“, platzt es dann aus Rebecka raus und ihr feuriger Blick schnellt in die Höhe. Das sie vor wenigen Sekunden noch tranceartig vor sich hin starrte scheint undenkbar. „Er hat uns nicht alleine gelassen, das hätte er nicht zugelassen …!“

„Rebecka …“, setzt Will an.

„Nein, Will. Du sagtest, Alexey hätte vom Erzmagier berichtet! Und er soll sich in Berkhall aufhalten, richtig?“

Will kratzt sich lächelnd am Kopf: „Also Alexey meinte, dass ein Läufer, der aus Berkhall kam, Gerüchte in Azbalon verbreitet hätte, die ein Freund seines Freundes aufgeschnappt hätte …, die Alexeys Freund, Randomius glaube ich hieß er, als der Freund des Freundes nach Askaloth geritten kam, aufgeschnappt und Alexey erzählt hätte… oder so.“

„Äh …“, meint Rebecka verzweifelt.

„Wie lang ist es denn etwa her, dass der Läufer aus Berkhall losgelaufen ist?“, fragt Adria.

„Du konntest diesem Geplapper folgen?“, wundert sich Rebecka.

„Zwölf Tage.“

„Und das hat dir Alexey heute Morgen erzählt?“, fragt Adria.

„Genau. Ah, und der Reiter kam auf einem rasierten Moschusochsen!“, ergänzt Will.

„Dann ist ja alles klar“, kommentiert Adria.

„Seit Kyz und Zileen ist das unser einziger Anhaltspunkt. Er wurde nun schon länger nicht mehr gesehen … Wir sollten ihn suchen, es wenigstens versuchen.“ Rebecka erhebt sich und die Flammen, die ihren Stuhl formten, lösen sich auf.

„Rebecka, das sind womöglich nur Gerüchte … Und Richard kann beliebig durch Portale springen. Bis wir dort sind, ist er bestimmt schon woanders“, setzt Will dem entgegen.

„Das stimmt, doch bevor wir ihn finden, ist es wichtig, in Erfahrung zu bringen, ob es überhaupt wirklich Richard ist!“, meint Adria dann, als sie Rebeckas gerötete Augen sieht, die aufgrund ihrer sowieso schon roten Iriden nun wie vom Wind angehauchte Glut zu lodern scheinen. Ihre Nase ist wund gescheuert, ihre Stimme klingt gebrochen.

„Im Moment ist die Lage in Calabra sowieso ruhig. Es passiert nichts, das unserer Aufmerksamkeit bedürfte“, schließt sich Rebecka an und nickt eifrig. Adria greift Rebeckas Hand und drückt sie zuversichtlich.

„Jetzt, mehr als zwei Jahre später, darfst du wieder hoffen“, flüstert Adria und blickt in Rebeckas feuerrote Augen.

„Also gut“, sagt Will kopfschüttelnd und muss lachen.

„Wir scheinen über Nacht die Rollen getauscht zu haben! Ich muss zugeben, Rebecka und du, ihr steckt mich mit eurer Zuversicht an … ich weiß nicht, woher ich den Glauben nehme, aber wenn wir von Richard nicht mal einen flattrigen Quacksler zu sehen kriegen, sagt mir nicht, ich hätte es euch nicht gesagt. Also, wann wollen wir aufbrechen?“

„Was ist ein flattriger Quacksler?“, wundert sich Adria, doch ihre Frage geht unter in den Jubelrufen Rebeckas.

„Gleich Morgen, was sagt ihr?“, schlägt Rebecka vor.

„Ist das jetzt nicht doch etwas plötzlich …?“, überlegt Will laut.

„Nein“, sagt Adria. „Wir haben genug Octamagier zweiten Ranges, die die Versorgung Calabras und unsere Arbeiten übernehmen können. Wir hinterlassen eine Nachricht auf einem Zettel und brechen auf.“

„Ich finde es immer noch überhastet, aber das müsste so klappen … ein Zettel, hm? Also gut, warum eigentlich nicht?“, lässt sich Will überreden, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnimmt und zusammenzuckt. Ein Mann steht draußen an einem der kleineren Octafenster, sein Gesicht verzerrt hinter dem bunten Fensterglas, gegen das der Regen prasselt. Kurz glaubt Arnt, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Ein hinterlistiges Lächeln schleicht sich auf die Lippen des Mannes. Dann verschwindet sein Antlitz wieder in der Nacht.

„Hey!“, ruft Will.

„Will, was ist?“, wundert sich Adria.

„Da war jemand am Fenster! Er hat uns beobachtet!“

Will rennt zum Tor des Octagebäudes.

„Will, warte …“, sagt Adria.

Er reißt die Türen auf. Draußen regnet es in Strömen.

In der Dunkelheit und durch die Boten des Unwetters, die nun sein Gesicht benetzen, erkennt Will keine Menschenseele. Die Leute schlafen oder sind in Gasthäusern und trinken.

„Ich kann ihn nicht sehen“, sagt er und kneift die Augen zusammen, während er seinen Blick über die Straßen gleiten lässt.

„Es war wahrscheinlich nur irgendein neugieriges Schlitzohr“, meint Adria.

„Der kam mir dafür zu merkwürdig vor. Haltet ihr … haltet ihr es für möglich, dass es immer noch Anhänger Nizedirs gibt, die uns ausspionieren?“, fragt Will und schließt das Tor.

„Der Krieg ist vorbei, Will“, erinnert ihn Adria.

„Adria hat Recht. Warum sollten wir jetzt noch Feinde haben, wo Gerrus von den Göttern abgeführt wurde?“, fragt Rebecka.

Will schüttelt nachdenklich den Kopf: „Warum … ja.

Warum sollte man uns ausspionieren? Warum erscheint ein Mann mit dem Decknamen Erzmagier in den unterschiedlichsten Städten in ganz Rakomir? Und wenn es Richard ist, was hat er vor? Was plant er? Warum zeigt er sich nicht? Und warum ist er so unvorsichtig, sodass sich Gerüchte um ihn herum verbreiten?“

„Fragen über Fragen“, stellt Adria fest.

„Dann lasst uns Antworten finden“, bestimmt Rebecka und steht auf. „Ich fange schon mal an, meine Sachen zu packen.“

Sie läuft zu ihren Gemächern und Adria und Will bleiben erneut alleine am Tisch zurück.

„Ein Mann mit Hut hast du gesagt?“, fragt Adria nochmal nach. „Konntest du ihn vielleicht genauer erkennen?“

„Die Scheibe und der Regen haben es schwer gemacht, genauere Gesichtskonturen zu erkennen …“

Adria gibt Will einen Kuss.

„Mach dir nicht zu viele Sorgen“, sagt sie. „Wir werden unser Möglichstes tun, um Rebecka glücklich zu machen. Ich habe sie seit der Schlacht um Zesna nicht mehr lächeln sehen. Abgesehen von einem traurigen Lächeln, wenn sie an Richard denkt, und dem Lächeln heute Abend …“

„Was dir alles auffällt …“, staunt Will.

„Das kann man aber auch nur schwer übersehen!“, tadelt sie ihn und zieht ihm die Ohren lang. „Sie vermisst Richard sehr. Seit zwei Jahren geht sie jeden Tag zu seinem leeren Grab und setzt sich davor. Dann schließt sie die Augen. Ich weiß nicht, ob sie zu den Göttern betet oder ob sie sich vorstellt, mit ihm zu reden … Eines weiß ich ganz genau: Sie will ihn zurück und um ihn zu finden, würde sie die Suche nach ihm auch ohne uns auf sich nehmen.“

Will nickt und versucht sich in Rebeckas Lage zu versetzen: „Richard war auch mein Freund. Ich wäre überglücklich, wenn er wieder die Octa führen würde … wenn es so wäre wie früher. Die Reise nach Berkhall ist es wert. Und freu dich auf die Gastfreundlichkeit der Zwerge! Sie hassen fast alles, mit Ausnahme von sich selbst, weil fast alles größer ist, als sie es sind!“

„Die armen Zwerge! Du bist fies!“, meint Adria und lacht. Dann gibt sie ihm einen Kuss.

Kapitel 5

Es ist Nacht. Fünf in schwarze Gewänder gehüllte Reiter schweben unheilvoll durch den Nebel, der sich über die Straßen und Gassen der Ruinenstadt Netrak legt. Der Wind weht sachte und lässt die Umhänge jener Neuankömmlinge sanfte Wellen schlagen. Den Pferden, auf denen die fünf geisterhaften Gestalten sitzen, haftet etwas Unerklärliches an: Das schwarze Fell und die Mähnen der Tiere liegen nicht am Körper an, nein sie schweben, als befände sich das Pferd unter Wasser. Diese verwunschenen Kreaturen werden vom gemeinen Volk als Unglücksboten verteufelt: sogenannte Grampferde.

„E-Es ist also wahr!“, flüstert eine der fünf Gestalten. Ihre Stimme zittert, hebt und senkt sich bei jedem Wort auf unnatürliche Weise. Sie ist eindringlich, bohrend und scharf wie eine Messerspitze. Die Gestalt sitzt ab, schreitet zum Riss und blickt in die ungewissen Tiefen, die in eine sternenlose Nacht führen.

„Der Risss …“, sagt ein anderer Reiter und stöhnt in tiefer Erregung. Ein aufkommender Wind wirbelt seine Kapuze auf und gewährt einen Blick auf das entstellte Gesicht: das dritte blutverschmierte Auge auf der Stirn zuckt gereizt. Es sieht aus, als hätte man es ihm in den Schädel gepresst.

„Die Magie … sie ist an diesem Ort nicht versiegt! Hört ihr, Freunde? HAHAHAR!“, freut sich der Reiter, der direkt am Abgrund steht.

„Auch Wizzle höchstpersönlich war nicht dazu in der Lage, den Riss zu schließen! Das Portal … Es wird sich bald offenbaren!“, stellt ein weiterer fest.

„Lasst uns Rache nehmen für unseren gefallenen

Bruder …“, sagt wieder der, der dem Riss am nächsten steht. Zugleich ziehen sie ihre Kapuzen zurück und offenbaren ihr drittes Auge. Dann stellen sich die fünf der Reihe nach vor dem Riss auf. Ihre Blicke wandern nach oben, so lange, bis nur noch das weiße ihrer Augen zu erkennen ist. Begleitet von einem Zauber heben sie die Arme langsame in die Höhe. Den genauen Wortlaut dieses Zaubers möchte ich Euch, liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle vorenthalten. Die Worte sind unheilvoll, bringen Pech und sollten vergessen bleiben.

Bald darauf regt sich unheilvolles Rumoren tief unten im Riss von Netrak. Manch ein Ziegel bröckelt von den Ruinen der einst prachtvollen Stadt und stürzt in den Riss. Die Steine fallen tiefer und tiefer ohne jemals in dieser Welt den Boden zu erreichen.

Stille.

Dann: Ein Gebrüll, dass einer Kehle entrinnt, die bereits zahllose unschuldige Seelen gesehen haben muss. Aus dem Schlucht weht den dreiäugigen Mentalisten ein orkanartiger Wind entgegen und kurz darauf schlagen gewaltige Krallen am Rand der Schlucht ein. Krallen, wie sie diese Welt zuvor noch nicht gesehen hat. Länger als jeder Speer, breiter als jedes Schwert. Und kurz darauf erscheint der riesenhafte Kopf eines Schattendrachens.

„W-War er schon immer so groß?“, wundert sich einer von ihnen. Der Drache lässt sich neben den dreiäugigen Gestalten nieder und atmet einmal tief ein und aus. Sein Atem gleicht einer Windböe in der Arihuwüste.

Fünf von euch leben also noch, Seher…, spricht der Schattendrache in den Köpfen der Seher und lässt seinen Blick über sie streifen. Wie lange ist es nun her?

„Zwei Jahre, großer Zarác!“, erwidert einer der Seher.

Der Drache grinst und schaut sich in der Gegend etwas um.

Ich hatte etwas Hilfe beim Wachsen, erwidert der riesige Drache und wirft einen kurzen Blick zum Riss hinter sich. Ich war fort und bin stärker geworden. Stärker als jeder Drache vor mir. Jetzt gibt es nichts mehr in Rakomir, was sich mir entgegensetzen kann … und meiner Armee.

Die Seher gehen vor dem Drachen auf die Knie.

„Du … du bist gewaltiger, als wir es uns erhofft hatten!“, schwärmt einer der Seher und etwas Speichel läuft ihm das Kinn herab.

Danke, aber genug der Schmeicheleien. Erhebt euch, spricht Zarác und die Seher tun, wie ihnen geheißen. Anschließend schnellt der Kopf des Drachen nach vorne und mit einem Bissen verschlingt er eines der Grampferde. Die anderen galoppieren panisch wiehernd davon.

Mit der Größe wächst der Hunger, spricht Zarác in den Köpfen der Mentalisten. Erwartet mich am nördlichen Ende des Risses in zwei Monaten. Ich werde Rakomir verlassen und meine Verwandten im Norden suchen. Seid dort, am nördlichen Ende des Risses, wenn ich zurückkehre. Hier wird es bald schon nicht mehr sicher für euch sein.

„Und wenn du wiederkehrst, rufen wir sie … die Armee?“, erkundigt sich einer der Seher und rammt sich die Nägel in die Schädeldecke, als er fanatisch zu lachen beginnt.

Nein … die Kobolde und Orks in Rakomir werden euch, Seher, nicht mehr als ihre Anführer respektieren, so viel ist gewiss … zu groß war die Enttäuschung in Zesna. Wir werden ohne sie kämpfen müssen … doch wir brauchen sie nicht. Die Monster des schwarzen Hauses werden mehr als genügen …, erklärt Zarác und nähert seinen Kopf langsam den Sehern. Auf diese Weise werdet ihr mir dienen können. Wir müssen das Portal inmitten der Stadt Netrak selbst öffnen, hier, wo es am stabilsten ist, erklärt Zarác.

„Die Monster des schwarzen Hauses? Aber großer Zarác, diese Wesen sind tot!“, wendet einer der Seher ein. Langsam senkt der Schattendrache sein Haupt, sodass sein hausgroßer Kopf unmittelbar vor dem des Zweiflers verweilt.

„Es sind Monsterseelen, die vom Höllenwächter einen neuen Körper erhalten haben. Das Haus der Hölle ist nichts weiter als eine außerdimensionale Kaserne. Und wir beanspruchen die Befehlsgewalt.“

Dann schnaubt der Drache und will bereits zum Flug ansetzen, als einer der Seher ihn aufhält:

„Was ist mit Nizedir Crime geschehen?“

Zarác hält kurz inne und wendet sich wieder den Sehern zu: Das wisst ihr nicht? Der Kampf in Zesna vor zwei Jahren, als Nizedir zu Gerrus wurde und sich alleine Pacis und Wizzle entgegenstellte …

„D-Doch, natürlich wissen wir das! Er hat den Kampf verloren, wir haben ja immerhin die Monsterscharen angeführt …“

… angeführt? Zarác schnaubt verächtlich. Niemand hat euch schmächtige Milchgesichter in Zesna gesehen! Nur einer eures Ordens erschuf den Wiedergänger! Ihr anderen? Feige Hunde! Bloß aus der Ferne habt ihr euren Zauber wirken lassen und die Scharen der Monster zum Angriff versammelt.

Zarc spuckt vor den Sehern aus. Es ist genug Schleim, um einen Rinderkarren damit einzudecken.

„Unsere Stärke liegt nicht im Kampf …“, erwidert einer der Seher leise und angefressen.

Das ist nun vergangen, fährt Zarác fort. Wichtig ist, dass ihr noch lebt … ihr werdet noch gebraucht … Wir müssen nun Gerrus‘ Werk vollenden! Ihr fragtet, was mit ihm geschah? Er wurde in einen unzerstörbaren Käfig gesperrt, der sich nur von einem Gott und nur von außen öffnen lässt. Der Käfig befindet sich in einer göttlichen Sphäre, einer anderen Dimension. Gerrus wird nie wieder freigelassen werden … aber gerade das sollte uns antreiben, damit sein Wirken nicht vergebens war!

Die Seher nicken eifrig. Dann dreht sich Zarác wieder um und hebt mit einigen gewaltigen und schwerfälligen Flügelschlägen vom Boden ab. Meterhohe Staubwolken werden aufgewirbelt und als diese sich legen, sieht man Zarác bereits hoch am Himmel in Richtung Norden hinter einem Wolkenturm verschwinden.