Die Raelka-Schriftrolle - Klaus Maria Müller-Hoberg - E-Book

Die Raelka-Schriftrolle E-Book

Klaus Maria Müller-Hoberg

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Octamagier haben die Gefahren des schwarzen Hauses bezwungen. Nun erwartet sie der Krieg in Rakomir. Nicht bloß der Verrat eines Verbündeten erschwert ihre Unternehmung, auch werden sie von den Rittern des dunklen Bundes und dem Orden der sieben Seher gesucht. Soviel ist gewiss: Die Beschützerin wird ihr Geheimnis offenbaren, bevor die Schlacht von Zesna über das Schicksal des Westens entscheidet. Welche Rolle nimmt Ferio Calethrix in dem Krieg ein? Wieso hat Richard damals wirklich seine Erinnerungen verloren? Und wird es den Rebellen gelingen, Rakomir von der Schreckensherrschaft des dunklen Herrschers, Nizedir Crime, zu befreien? Fragen werden Antworten finden. Wolpertinger schmeckt allen hervorragend. Will kriegt übles Feenflattern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Übersicht über die wichtigen Charaktere

Ordensmagier der Octa ersten Ranges

Richard Cliff: Junker, Leeremagier und

Anführer des Ordens

Arnt Cliff: Junker, Naturmagier

Erea Haruki: Finsternismagierin

Will Gray: Windmagier

Ariagon Carduin: Erdmagier

Adria Baldar: Wassermagierin

Rebecka Faris: Feuermagierin

Ferio Calethrix: Junker und Dimensionsreiter

Jin Dooza: Königin der Eulen, Finsternismagierin (Iro: Schmied)

Nizedir Crime: Fürst Azbalons, König Rakomirs

Gefolgsleute

Ritter des dunklen Bundes

Die sieben Seher: Orden dreiäugiger

Mentalisten

Zarác: Schattendrache

Fürsten

Simba Sarios: Fürst Ny-Azh-Naduurs

(Idris Ilverni: Botin)

Jack Morgan: Fürst Zesnas

(Kain Omena: Soldat Zesnas)

(Garen Gerold: Soldat Zesnas)

(Sir Eduard Breitschlag: Ritter Zesnas)

Salvator Beryllius: Fürst Growells

Nyriadon Faecrest, der schwarze Kolibri: Spielmann

und Waldläufer

Helen Beryllius (geb. Edlestîn): Lichtmagierin

Die Götter, zerstritten wie eh und je

„… und dort waren sie: die ersten, die existierten. Es waren die zwanzig einsamen Krieger, deren Einsamkeit aus ihrer Unendlichkeit erwuchs. Sie waren entschlossen, dem Feind ins Antlitz zu blicken und ihn endgültig zu vernichten. Sie hatten sich versammelt, noch bevor es Raum und Zeit gab, im Heim der schwarzen Brut, und sie drangen ein in die dunkelste aller dunklen Präsenzen. Der Kampf dauerte den kleinstmöglichen Bruchteil einer Ewigkeit an, bis die zwanzig Krieger es schafften, das Böse zu bezwingen.

Woher dieses Böse kam, weiß niemand. Bekannt ist allerdings, dass die Vernichtung des Bösen eine solch gewaltige Energie freisetzte, dass eine Explosion schöpferischen Ausmaßes folgte. Dies war der Moment, in dem die Götter unser Universum schufen oder zumindest die Rohform, eine Vorstufe oder etwas in der Art.

Dort lebten sie fortan mit der Langweile, die sie nun empfanden. Nachdem das Böse zerstört und das Universum geschaffen worden war, kamen sie auf die glorreiche Idee, sich einen Flecken auszusuchen, um auf diesem ihre Träume zu verwirklichen. Sie machten es sich zur Aufgabe, dem Flecken einen Teil ihrer Selbst einzuverleiben.

Zunächst geschah das Größte, was jemals auf diesem Flecken geschehen sollte, denn es kam Wizzle und sprach: „Sein.“

Als oberster Gott erschuf er zunächst alles Materielle: das Feuer und die Wärme, das Meer und die Gezeiten, den Wind und die Luft zum Atmen, das Gebirge und die Ebenen. Er vermachte der Dunkelheit den Tag und brachte so gleichermaßen Licht und Finsternis in die Welt. Er erschuf Pflanzen, Bäume, Tiere, und auch die drei großen Rassen, die den Göttern am ähnlichsten sind: Zwerge, Alben und Menschen. Ihnen dreien sollte später ein besonderer Segen zuteilwerden.

Wizzles Einfallsreichtum war groß: Er erschuf Mischwesen, die er die endlosen und unbekannten Lande des Nordens und die noch weniger erforschten Gebiete des weiten Südens bewohnen ließ: Zentauren, Satyrn, Strix, Wolfsmenschen, Reptiloide, Sirenen und viele mehr. Die Blattkrieger schickte Wizzle weit in den Osten der Welt, wo sie fortan im Amberwald hausten. Doch all diese Wesen lebten seit jeher fernab der drei großen Rassen und zogen sich mit der Zeit immer weiter zurück. Sie wurden zu nichts weiter als einer Erzählung, einem Mythos, einem Geflüster.

Auch vermachte Wizzle der Welt die Leere, das Nichts, als Gegenstück zu allem anderen, das war. Nur so hielt das Gleichgewicht an.

Zuletzt erschuf Wizzle die Äther, den astralen Strom und die Magie selbst. Doch dies alles, abgesehen von der Magie, entsprach materieller Natur. Wizzle verstand nicht, dass die anderen Götter unzufrieden waren und der Meinung waren, dass Vieles fehle.

So kam Gerrus hinzu und erschuf den Krieg. Es unterhielt die Götter für einige Zeit, bis sie irgendwann zu dem Schluss kamen, dass Mord und Totschlag nicht der Unterhaltung dienen sollten. Pacis griff ein und erschuf den Frieden. Sie führte die Lebewesen nach den Kriegen zur Einsicht und zur Versöhnung. So konnten sich Völker und Gemeinschaften bilden. Ayla, die Göttin des Schicksals und der Prophezeiung, vermachte dem Leben einen Sinn, denn jedes Leben sollte etwas Bestimmtes bewirken. Nichts sollte umsonst passieren. Doch Arya, die Göttin des freien Willens, kam Ayla in die Quere und bestimmte, die vielen Leben sollten mehr sein, als nur die Marionetten der Götter. So vermachte Arya dem Leben ihren Willen und die Lebenden durften nun entscheiden, ob sie lieber Käse oder Wurst zum Frühstück nahmen. Sie durften entscheiden, ob sie sich lieber den einen, oder den anderen Grashalm ansahen. So trafen Arya und Ayla die Übereinkunft, dass der Weg jedes Einzelnen dem freien Willen überlassen werden solle, doch das Schicksal stets am Ende des Weges auf einen warte.

Nun kamen auch Lokeris, der Gott des Spiels und des Vergnügens, sowie Artific, der Gott der Kreativität, zum Zuge. Aryas freier Wille hatte die Grundlage gelegt, auf der diese beiden Götter nun aufbauen konnten. Sie gaben den Lebenden die Kunst, die Musik, das Schauspiel, das Theater und vieles mehr.

So entstand fast alles, was wir heute kennen. Aber nur fast, denn die dreizehn verbleibenden Götter fanden das, was geschaffen worden war, schlecht. Sie mochten die Erfindungen der sieben anderen Götter nicht. Sie verabscheuten diese und beschlossen, eine Gestalt anzunehmen und auf der Erde zu wandeln. Sie nahmen sich die Tiere und gutmütigen Kreaturen der Schöpfung als Vorbild, um ihre eigenen, böswilligen Kreaturen, zu schaffen.“

Großvater Erngard blickt von dem dicken, staubigen Buch auf, aus dem er gerade seiner Nichte Elisabet vorliest.

„Aber Großvater, warum mögen die anderen Götter die Schöpfung nicht?“, fragt diese.

„Das weiß ich nicht, Liebes. Aber ich glaube, dass die dreizehn Götter, die auf der Erde wandelten, die dunklen Seiten in uns allen darstellen. Allen voran Invidia, die Göttin des Neides. Ich nehme an, dass sie alle die Schöpfung aus den verschiedensten Gründen nicht mochten. Invidia war wahrscheinlich neidisch auf das, was die Götter bereits geschaffen hatten, andere liebten möglicherweise einfach das Chaos.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich auch nicht, Liebes.“

„Erzähl doch bitte weiter, Großvater!“

Erngard lächelt, neigt seinen Kopf wieder über die gelblichen Seiten des verstaubten Buches und fährt fort. „Die dreizehn abtrünnigen Götter machten sich den Krieg, den Gerrus erschaffen hatte, zunutze und vermachten ihren Kreaturen nur das Böse, das sich im Krieg finden ließ: den Hass, den Zorn, die Böswilligkeit, die Gier, die Rücksichtslosigkeit, die Gewalttätigkeit. Dann hetzten sie diese Kreaturen auf die Menschen, Alben und Zwerge und wahrlich, diese gewissenlosen Kreaturen waren kurz davor, den geformten Flecken zu überrennen. Doch Lokeris ging dazwischen und der Gott des Spiels spielte sein Spiel meisterhaft: zunächst erschuf er zusammen mit Wizzle das Haus der Hölle, einen Ort, um die Seelen der Monster gefangen zu halten. Dann legte er den böswilligen Kreaturen der dreizehn abtrünnigen Götter einen Fluch auf, sodass sich manche ihrer Seelen, wenn sie nicht ins Haus der Hölle fuhren, in Artefakte verwandelten, in dem Moment, in welchem sie starben. Dies war der Augenblick, da Lokeris und Wizzle die zwanzig legendären Waffen erschufen, die auf schnellstem Wege in die Welt der Menschen transportiert wurden, um dem Chaos entgegenzuwirken, das von den dreizehn Abtrünnigen ausgelöst worden war. Manche Artefakte erschienen als Manifestationen der Seelen, manche aber auch an mysteriösen Orten, in Höhlen, hinter Wasserfällen, auf Bergspitzen.

Mithilfe der legendären Waffen gewannen die

Menschen, Alben und Zwerge wieder die Oberhand über ihr Land und sie tauften es Rakomir. Dann verschloss Wizzle die Tore in die Dimension der Götter und verdammte so die dreizehn abtrünnigen Götter dazu, auf dem geschaffenen Flecken zu wandeln und das taten diese so lang, bis sie selber sterblich wurden und von Raum und Zeit dahingerafft wurden.

Die drei großen Rassen, außerstande, ein Leben ohne Feinde zu führen, schotteten sich daraufhin voneinander ab: die Alben waren zu hochnäsig und den Zwergen und Menschen traten sie zunehmend kaltherzig gegenüber. So hieß es zumindest, auch wenn lediglich eine gescheiterte Liebesbeziehung zwischen einer Albin und einem Menschen dem Albenkönig, Els Rata, als Nährboden für feindselige Gedanken diente. Er selber mochte die Menschen nicht und er schaffte es, wie genau ist ungewiss, diese gescheiterte Liebe zu nutzen, um sein Volk von den Zwergen und Menschen zu distanzieren.

Nur kurz nach dem Rückzug der Alben, als Zwumtli Grimm, der König der Zwerge, von einem siebenjährigen Bauernjungen als ,kleiner König‘ bezeichnet wurde, brachte das den zwergischen König so in Rage, dass dieser den Menschen den Rücken zukehrte und seinem Volk befahl, sich von Menschen und auch von Alben fernzuhalten.“

„Großvater?“, unterbricht Elisabet erneut die Geschichte.

„Ja, was gibt es denn?“

„Der Albenkönig und der Zwergenkönig sind

Dummbatze!“, merkt die Kleine an.

„Das ist richtig, Liebes“, lacht der Großvater, „du bist ein schlaues Mädchen! Nur leider haben es die Völker von damals nicht geschafft, zu dieser Einsicht zu gelangen.“

„Und wieso nicht?“, fragt die Kleine.

„Nun, das liegt wohl daran, dass sie einfach nicht so

klug waren wie du es bist“, sagt Erngard und streichelt ihr den Kopf.

Elisabet grinst zufrieden.

„Weiter, Großvater! Lies weiter!“

„Also gut …“ Er räuspert sich. „Es stellte sich die

Frage, wo sie alle von nun an hausen sollten.

Die Alben zogen sich in die Wälder zurück und behausten fortan drei Städte: die fliegenden Inseln von Ardor, auf denen ihre prächtige Hauptstadt Albengard, für die Ewigkeit gebaut, in die Höhe ragt; die kleinere Küstenstadt Sunar und zuletzt ihre größte Stadt, Vidalba, versteckt irgendwo in den Ilynavewäldern hinter dichtem Geäst.

Unter den Zwergen waren sowohl Liebhaber des

Sommers, als auch des Winters zu finden. Um diesem schwer lösbaren Dilemma entgegenzuwirken, kam der werte Zwumtli Grimm, der Zweite auf die Idee, eine Stadt im Süden und eine im Norden zu errichten. So geschah es, das Berkhall in den Verisbergen erbaut wurde und Xignar in einem großen Berg im Süden der Schattenberge, nahe der Arihuwüste.

Die Menschen, die sich wie die Kaninchen zu

vermehren wussten, beanspruchten den Großteil des Landes Rakomir. Um einiges interessanter schien jedoch weniger das irdische, sondern vielmehr das himmlische Geschehen:

Was taten die Götter, als sie sahen, dass sich die Völker voneinander distanzierten? Vor dem Krieg gegen die Kreaturen der dreizehn Abtrünnigen hatten die drei großen Rassen doch auch friedfertig zusammengelebt! Gerrus, dem Gott des Krieges, war als einzigem klar, wie sehr Krieg die Seele verändern kann …

Nun, wie dem auch sei, die sieben Götter regierten seit jeher mit kühlem Kopf – mehr oder weniger. Um ihre eigene, mit enormen Mühen geformte Schöpfung vor sich selbst zu schützen, erlegten sich die Götter Regeln auf. Regeln, die verhindern sollten, dass jemals wieder solche Massen an bösartigen Kreaturen in Rakomir wüten würden. Diese Regeln lauteten:

Regel 1:Es soll den Göttern verboten sein, eine fleischliche oder irdische Gestalt anzunehmen.

Regel 2:Es soll den Göttern verboten sein, neue Dinge zu schaffen, die in den Augen der anderen Götter als Dinge angesehen werden, die dem geformten Flecken schaden könnten.

Regel 3:Es soll den Göttern erlaubt sein, eine irdische Gestalt anzunehmen, solange sie dies tun, um den Verstoß an Regel 1 oder an Regel 2 (sowie die daraus entstandenen direkten Folgen) durch andere Götter zu ermitteln und deren Missetaten offenzulegen.

Sollte gegen eine der Regeln verstoßen werden, so trifft den Verantwortlichen der Zorn der anderen Götter.“

„Und?“, fragt Elisabet.

„Und was?“, erwidert der Großvater.

„Wie geht es jetzt weiter? Hört die Geschichte da schon auf?“

„Die Geschichte hört niemals auf, Kleine. Wie sie weitergeht, werden wir wohl schon sehr bald erfahren …“

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 1

Der Wind weht stark. Es ist kein Wunder, denn in diesen Höhen waltet er aus dem Osten und sucht sich seine Pfade über die zerklüfteten Spitzen des Verisgebirges. Die anhaltenden Windböen vermischen sich, umso weiter man Richtung Norden kommt, zunehmend mit klirrender Kälte und machen die Wälder immer karger und die Leute immer stumpfer. Ganz weit im Norden, dort, wo die Leute besonders derb sind, dort liegt die Stadt Grufnor. Wie in den Fuß des letzten Berges gemeißelt, ragen zahlreiche hohe Türme wie Pfeilspitzen aus der Erde, weit in den Himmel. Die Stadtmauer, die die hohen Türme umschließt, geht bis zur ersten steilen Bergwand, die fast waagerecht viele hundert Meter in die Höhe reicht und in den tiefhängenden Wolken verschwindet.

Jin Dooza fliegt nun bereits seit vielen Tagen, als sich Grufnor vor ihren Augen von der rauen Berglandschaft absetzt. Die große weiße Eule trägt einige goldene Ketten um ihren Hals und auf ihrem Kopf ruht eine zierliche goldene Krone. Oberhalb ihrer mächtigen Krallenfüße sind zwei goldene Armreife zu sehen. Ihre Schwingen tragen sie schnell und hoch durch die Lüfte, doch ein starker Schneesturm wütet und allmählich verlässt sie die Kraft. Jin legt die Flügel an und geht über in einen Sturzflug. Wie ein Meteor schießt sie Grufnor entgegen. Im letzten Moment bremst sie ab und landet mit weit ausgebreiteten Schwingen auf einem der hohen Türme Grufnors:

„Kalt, dunkel und karg“, stellt sie für sich fest und springt vom Dach des hohen Turms auf eine der vom dämmrigen Licht der Laternen behutsam beleuchteten Straßen. Auf dem Weg nach unten hat sie Zeit, sich zu verwandeln: Ihre Federn verschwinden in glatter Haut. Die Schwingen werden kürzer und verwandeln sich in menschliche Arme. Bald weichen auch die knorrigen Krallen gesunden Zehen und der Schnabel des Raubtiers wird zu einem Mund mit vollen Lippen. Unbemerkt und erstaunlich leichtfüßig landet sie auf dem menschenleeren Weg. Schwarze Haare hängen ihr bis zur Taille und schimmern violett, wann immer sie an der Flamme einer Straßenlaterne vorüberschreitet. Grünschwarze Augen bilden den perfekten Kontrast zu ihrem seidenen weißen Kleid mit geschwungenen, grünen Linien, das fast so hell ist, dass es aus eigener Kraft zu glühen scheint.

Die Wege und Straßen dieser Stadt sind mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, die viel befahrenen und begangenen Abschnitte sind voller Matsch. Jin Dooza schlendert lächelnd und frohen Mutes durch die dunklen Pfade Grufnors und biegt in eine schmale Seitengasse ab. Trotz der Abgelegenheit dieser Gasse ist sie recht sauber. Links und rechts führen schmale Türen in Schenken und Gasthäuser, deren Eingangsbereiche von beiseite geschippten Schneehaufen umrahmt werden.

„Das Gasthaus zum einäugigen Knacker“, liest Jin Dooza von einem Schild ab, das im Wind schaukelt und quietscht. Sie öffnet die Tür zu einem von Kerzen beleuchteten Raum. Es ist warm und der Geruch von Wachs und Kräutern liegt in der Luft.

Die meisten Kerzen sind halb heruntergebrannt. Ramponierte Holztische stehen auf dem kargen Steinboden. Der Wirt putzt eine Melodie vor sich her summend die Bierkrüge und ignoriert den neuen Gast. Eine Gruppe von drei Personen sitzt etwas abseits und isst Würstchen mit Apfelkompott. Sie stopfen das Mahl in sich hinein, als würden sie befürchten, dass ein Wolf ihnen die Würstchen klauen könnte. Doch sie halten inne, als Jin eintritt und vergessen für einen Moment ihren Hunger. Ein dunkelhäutiger Mann mit einem Filzhut sitzt an der Theke und schlürft sein abendliches Bier. Er trägt einen vielgeflickten Rauledermantel. Er stellt die Flasche ab und ein Lächeln umspielt seine Lippen, als er Jin Dooza im Eingang stehen sieht.

Nur ein Mann sieht nicht zu ihr hin. Er sitzt einsam an einem Tisch in der hintersten Ecke und schaut verträumt in das flackernde Licht der Kerze, die vor ihm auf dem Tisch steht. Ab und zu bewegt er seinen Zeigefinger hoch und runter, woraufhin die Flamme größer oder kleiner wird und im selben Rhythmus seiner Bewegungen über den Tisch tanzt. Jin Dooza schließt die Tür hinter sich und schreitet langsam zu ihm herüber, während sich die Dreiergruppe wieder ihrem Essen zuwendet und der Mann an der Theke wieder nach seiner Flasche greift. Sie bleibt vor ihm stehen und die Kerze auf dem Tisch flackert schwächer. „Jin.“ Der Mann blickt zu ihr hoch. Eine Strähne seines grauen Haares fällt ihm aus dem Gesicht und offenbart einen eisernen, allwissenden Blick. Er trägt einen dunkelgrauen Mantel, braune Stiefel und an seiner Brust, nahe des Halses, sieht man die Enden einer schwungvollen Tätowierung, die sich anscheinend noch weiter über seinen Rücken zieht.

„Meister?“, fragt Jin erstaunt. „Seid Ihr … seid Ihr es auch wirklich?“

„Du kannst mich Sindrael nennen.“ Der Mann setzt ein angedeutetes Lächeln auf. „Sindrael Moorewalker.“

„Meister, weshalb soll ich Euch so nennen?“

„Wäre es nicht seltsam, wenn du deinen Gesprächspartner bei dem Namen eines Gottes nennen würdest? Die anderen Leute hier im Gasthaus wären sicher verwirrt.“

„Hören die denn zu?“

„Einer versucht es …“

„Tatsächlich? Nun gut, Sindrael. Ihr habt mir vor langer Zeit einen Auftrag gegeben. Ich sollte eine Person namens Richard Cliff finden.“

„Und ich nehme mal an, das hast du, sonst wärst du jetzt nicht hier“, murmelt Sindrael und nimmt einen Schluck von dem Bier, das vor ihm auf dem Tisch steht.

„Er ist stark.“ Sie setzt sich Sindrael gegenüber an den Tisch und ihr Gesichtsausdruck verleiht ihren Worten Nachdruck.

„Ich habe ihn ausgebildet“, erwidert Sindrael mit Bestimmtheit.

„Meister … ich meine Sindrael“, räuspert sich Jin. „Ich habe ihn mit dem Fluch der Verfolgung markiert. So weiß ich immer, wo er ist.“

„Gut.“

„Und was soll ich als Nächstes machen?“ Sie blickt ihn eindringlich an. „Ich habe ihn gefunden und ich erinnere mich, dass ihr immer bei wichtigen Angelegenheiten in diesem Gasthaus erschienen seid, um mich zu sprechen.“

„Das ist richtig.“

„Meine Frage ist: Wie lautet meine Aufgabe? Ich habe ohne zu wissen weshalb einen Mann gesucht, der sich als Euer Schüler herausgestellt hat. Wieso soll ich jemanden finden, den Ihr bereits kennt?“

Sindrael Moorewalker nimmt den letzten Schluck aus seinem Bierkrug und stellt ihn ab.

„Weil“, sagt er, „ich ihn kenne, aber er mich nicht mehr kennt.“

Jin Dooza denkt kurz nach und legt dann ihre Stirn in Falten. „Ihr habt mir vor so langer Zeit die Aufgabe gegeben, ihn zu suchen, obwohl er noch nicht geboren war, weil ihr wusstet, dass er alles vergessen würde?“

Sindrael schaut belustigt: „Ja, paradox, nicht wahr?

Auch wenn es weniger visionärer Natur war, als vielmehr ein Bauchgefühl. Mittlerweile glaube ich, dass er sich an mich erinnert oder zumindest an Bruchstücke.“

„Ihr verwirrt mich, Sindrael. Ich erkenne nun noch weniger, was meine Aufgabe sein soll.“ Jin stöhnt und massiert sich die Schläfen.

„Nachschenken, bitte!“, ruft Sindrael dem Wirt hinüber. Er kommt und schenkt nach. Der Wirt hat eine Augenklappe über seinem rechten Auge und sein Grinsen erscheint irgendwie zwanghaft und verkrampft. Dann geht er wieder und fährt damit fort, einige Tonkrüge zu spülen, in die mit verschnörkelter Schrift Salarmandis süßer Wein eingeritzt ist. Sindrael trinkt den ganzen Krug am Stück, setzt dann mit einem ausgedehnten Seufzer ab, der von maßloser Glückseligkeit zeugt, und wischt sich den weißen Schaumbart mit dem Ärmel seines Mantels weg.

„Hör zu, Jin. Wie du weißt, sind wir an die drei Regeln gebunden. Die Raelka-Schriftrolle wurde zwar noch vor den Regeln geschaffen, aber trotzdem will ich die anderen dort oben nicht unnötig beunruhigen. Ich will nur sicher sein, dass sie bei dir auch wirklich in sicheren Händen ist“, erklärt Sindrael.

„Das ist sie, Meister“, bestätigt Jin.

„Das höre ich gerne, denn es war ein großer Fehler von mir, diese Schriftrolle zu erschaffen … Wie dem auch sei. Worüber ich mit dir eigentlich reden wollte, ist der Grund für mein Erscheinen hier in Rakomir.“

„Ich verstehe schon, Meister. Regeln sind zum Brechen da.“

„Nein“, sagt Sindrael ernst, „diese Regeln mit Sicherheit nicht. Ich würde doch jetzt nicht schon die zweite Gestalt in Folge annehmen, nur des Spaßes wegen! Wer bin ich, Lokeris?“

„Ist ja gut, Sindrael. Nun sagt schon, weshalb Ihr hier

seid. Ich nehme an, dass es mit meiner Aufgabe zusammenhängt.“

„Da liegst du richtig … Ich fange am besten von vorne an. Nachdem Richard seine Ausbildung beendet hatte und ich ihn nach Rakomir zurückschickte, passierte etwas, was nicht hätte passieren dürfen. Irgendwie wurde er von jemandem verletzt und fiel in einen tiefen Schlaf.“

„Dieser Magier Älos hat ihn zurückgeholt, ist aber im schwarzen Haus gestorben“, merkt Jin an und hebt dabei vielsagend ihre Augenbrauen.

„Ja, ich weiß. Nur ehrlich gesagt bin ich mir ziemlich sicher, dass das nicht die Schuld des Magiers Älos war. Es gibt unbekannte Nebenwirkungen, ja. Immerhin habe ich mir diese Nebenwirkungen ausgedacht. Doch ein Gedächtnisverlust stand nie auf der Liste“, erklärt Sindrael. „Die Sache ist die: Ich vermute, dass Richard von einer dunklen, göttlichen Macht verfolgt wird.“

„Etwa einer der Abtrünnigen? Das ist unmöglich!“, erwidert Jin.

„Ich weiß es nicht … noch nicht. Aber eines steht fest: Richard ist etwas Besonderes, sonst hätte man ihn nicht daran hindern wollen, nach Rakomir zurückzukehren. Er befindet sich in großer Gefahr, dessen bin ich mir sicher. Meine Aufgabe an dich lautet also: Beschütze Richard Cliff. Ich werde das nicht tun können, da die Götter bereits gemeckert haben, wie aktiv ich in meiner letzten Gestalt war, um diese göttliche Macht zu verfolgen.“

„Hausarrest ist also eine Erfindung der Götter?“, lacht Jin Dooza.

„Ich werde auf dich warten, in den westlichen Landen“, fährt Sindrael ungerührt fort. „Zesna ist ein guter Treffpunkt, eine der drei großen Städte der Rebellenvereinigung. Vielleicht finde ich heraus, woran diese dunkle Macht interessiert ist. Aber hüte dich, Jin Dooza! Es kann sehr gut sein, dass dieses was-auch-immer bereits auf dem Weg zu Richard ist!“

„Eine göttliche, dunkle Macht sagtet Ihr, Meister?“, rätselt Jin vor sich hin. „Ich sollte also hierhin in den Norden fliegen, damit ihr mir dann sagt, dass ich wieder zurück zu Richard in den Süden soll?“

Sindrael guckt leicht verlegen.

„Ihr solltet Euch mal die Mühe machen, in dieser Gestalt mehr als nur den Boden eines Bierkruges zu erkunden!“, ärgert sich Jin.

„Rede nicht so mit deinem Gott!“, entfährt es Sindrael und er schaut sie ernst an. Eine Frau, die gerade pürierte Äpfel isst, blickt wie versteinert zu Sindrael herüber. Dieser entspannt seine Gesichtszüge schnell wieder. Jin erstarrt ebenso wie die Frau und bemerkt, dass sie wirklich etwas barsch geredet hat, dafür, dass sie einem Gott gegenübersitzt.

„Es tut mir leid. Ich vergaß, dass auch Ihr den Regeln Folge leisten müsst.“

„Ist schon gut.“ Sindrael guckt sich um, als ob sie jemand beobachtete. „Jetzt mach dich bitte auf, um über Richard zu wachen. Er ist mein Krieger in diesem Jahrhundert. Der Vollstrecker göttlicher Gerechtigkeit. Er darf nicht von falschen Mächten gefunden, oder noch schlimmer, geleitet werden. Das ist meine Aufgabe an dich. Doch greife nur ein, wenn es wirklich notwendig ist. Deutlich schlimmer wäre es, wenn diese dunkle Macht dich in die Finger bekäme oder die Schriftrolle!“

Sindrael erhebt sich nun ebenfalls und legt sechs Silberstücke auf den Holztisch. Dann verlassen sie zusammen das Gasthaus. Die Tür zum Gasthaus fällt hinter ihnen ins Schloss.

„Der Sturm wird sich gleich legen“, sagt Sindrael Moorewalker und blickt zum Himmel auf.

„Meint Ihr?“, fragt Jin und folgt seinem Blick. Doch als sie sich wieder zu ihm umdreht, ist Sindrael bereits verschwunden.

Kapitel 2

„Wachen, verlasst den Raum!“

Fürst Simba Sarios von Ny-Azh-Naduur wartet, bis auch die letzte der Wachen den Thronsaal verlassen hat. Fackeln erhellen den gesamten Raum, doch trotz des warmen Lichtes verspürt man hier eine Kälte, die das Herz umfängt und die Seele zittern lässt.

„Wer weiß alles davon?“, fragt er.

„Nur ich, der Rat und Ihr, mein Fürst!“, versichert ihm Wilbert, der neue persönliche Berater des Fürsten und Nachfolger des Meisters Älos.

„Wilbert, schick augenblicklich einen Boten mit einer Nachricht zu Nizedir. Teile ihm mit, dass sie wieder aufgetaucht ist.“

„Eure Majestät? Haltet Ihr das für eine weise

Entscheidung?“

„Das entscheide alleine ich, Wilbert! Auf diese Weise zeigen wir Azbalon, dass wir auf derselben Seite stehen. Die Octamagier sind fort von zu Haus und die Allianz war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Wir haben jetzt freie Bahn! Nizedir soll wissen, dass wir die Allianz für nichtig und Calabra den Krieg erklären. Diese Allianz zwischen Calabra, Zesna und unserem geliebten Ny-Azh-Naduur! Lächerlich! Als wenn diese drei Städte sich gegen Nizedirs Macht behaupten könnten! Sobald Calabra gefallen ist, bleibt nur noch Zesna. Dass Jack Morgan alleine gegen Nizedir besteht, ist unmöglich. Wir stehen so kurz davor, Wilbert. So kurz! Und dann muss sie auftauchen! Damit hätte Nizedir doch eigentlich rechnen müssen!“

Wilbert verbeugt sich. „Ich werde augenblicklich einen Boten entsenden, Fürst Sarios.“ Wilbert geht mit gesenktem Haupt einige Schritte rückwärts auf den Ausgang zu und dreht sich dann um. Dabei rutscht Wilberts Ärmel nach oben. Für einen kurzen Moment kann Fürst Sarios die Tätowierung auf seinem Arm erkennen, das magische Pentagramm mit den Runen Manaz und Othala, dass ihn als Verbündeten des Ordens der magischen Octa kennzeichnet.

„Ach, eines noch“, ergänzt der Fürst und Wilbert hält inne. Im selben Moment wird dieser sich bewusst, dass er heute vergessen hat, das Bleiweiß auf seine Tätowierung aufzutragen. Eine Schweißperle läuft an seiner Stirn herab, bahnt sich den Weg bis zum Kinn und tropft dann auf den Boden.

„Ja, Eure Majestät?“

„Ich habe es mir anders überlegt. Nur der Rat und ich dürfen über diese Person in Kenntnis gesetzt sein.“

„M-mein Herr?“

Wilbert hat die Augen weit aufgerissen und dreht sich langsam zu Fürst Sarios um, wobei er sein Zittern nur schwer unterdrücken kann. Der Fürst erhebt sich. „Wachen, es sei euch erlaubt wieder einzutreten!“ Die Türen schwingen auf und die Wachen treten ein. „Wilbert pflegt Treuebünde mit dem Feind – tötet ihn.“

„Nein, mein Fürst, bitte!“, fleht Wilbert panisch. „Ich werde nie wieder auch nur ein Wort mit dem Orden wechseln!“

„Nein, das wirst du gewiss nicht.“

Die Klingen machen ein widerwärtiges Geräusch, als sie den Flehenden zerhacken. Ähnlich dem Schmatzen eines vollen Mundes, hier das spritzende Blut, die Nahrung für den Hunger geschliffenen Stahls. Fürst Sarios wendet angewidert seinen Blick ab, als er über Wilberts toten Körper hinwegtritt und den Thronsaal verlässt. Zwei der Wachen begleiten ihn.

Den Boten schicke ich lieber selbst, überlegt Fürst Sarios. Schnellen Schrittes wandeln die Wachen und er durch die Gänge des Palasts. Dann biegt er rechts in einen weniger beleuchteten Gang ab, während die Wachen dort stehenbleiben, um den Gang im Auge zu behalten. Sarios klopft rechts an eine Tür. Als sie sich öffnet, sieht man eine besonders voluminöse Frau im Türrahmen stehen. „Guten Abend. Was kann tun?“, fragt sie verschlafen und kratzt sich am Bein.

„Margaret, guten Abend. Ich brauche den besten Boten. Du weißt, wen ich meine“, verlangt der Fürst.

Margaret knallt ihm die Tür vor der Nase zu. Schritte entfernen sich. Die Wachen laufen heran und sind im Begriff, die Tür einzutreten, doch Fürst Sarios bedeutet mit einer Handgeste, dass alles in Ordnung ist. „So ist sie immer. Aber sie weiß auch, Wunden zu heilen und sich um die Boten zu kümmern. Hört ihr, sie holt ihn gerade.“

Noch während er spricht, kommen Schritte wieder näher. Als sich die Tür erneut öffnet, steht eine ziemlich schlanke Frau mit schulterlangen braunen Haaren hinter Margaret, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Bernsteinfarbene, emotionslose Augen blicken regungslos geradeaus. Sie wirken dafür sehr alt und weise, als verberge sich das Wissen eines Sterns tief im Dunkeln des Universums den Blicken der Kurzsichtigen. Ihr Blick bleibt regungslos auf die Leere gerichtet. Ihre Mundwinkel zucken nicht einmal, um ein Wort zu sagen.

„Wo ist Brak, mein bester Reiter?“, fragt der Fürst empört.

„Tot“, erwidert Margaret. „Sie. Besser.“

„Ach ja, hatte ich bereits vergessen. Aber sie?“

Margaret drückt das Mädchen in Richtung des Fürsten.

„Idris, sag Name“, befiehlt Margaret und hält inne, als sie bemerkt, dass sie den Namen bereits genannt hat.

„Ähh, das Name: Idris“, erklärt Margaret und schnäuzt sich die Nase mit einem von Motten zerfressenen Stofffetzen. „Wenn das alles …“

Dann dreht sich Margaret wieder um, gähnt und schließt die Tür hinter sich. Noch immer gibt Idris keinen Laut von sich.

„Mädchen, du willst ein Bote sein? Ich wusste nicht einmal, dass ich Botinnen in meinem Haus habe“, macht Fürst Sarios sich über sie lustig und lächelt seinen Wachen zu. „Wie dem auch sei, ich vertraue der alten Margaret, denn sie ist vertrauenswürdig, obgleich sie alt und hässlich ist. Ich habe einen Auftrag für dich …“

Kapitel 3

„Arnt, was weißt du eigentlich über unseren Vater?“, fragt Richard seinen Bruder in die Stille der Nacht hinein. Arnt Cliff und er laufen auf leisen Sohlen über die dicht bewaldeten Hügel. Das Mondlicht, das durch die vom Wind schaukelnden Baumkronen dringt, wirft magisch anmutende Muster auf den Waldboden und ermöglicht es ihnen, nach möglichen Verfolgern zu spähen. Im Moment scheint die Luft rein zu sein.

„Weshalb fragst du mich das jetzt so plötzlich?“, entgegnet Arnt perplex. Richard erschrickt, als er Arnts angewiderten Gesichtsausdruck sieht.

„Nun, ich habe meine Erinnerungen noch immer nicht wieder und ich wüsste einfach gerne etwas über unsere Vergangenheit.“

„Unsere Mutter hieß Ariana.“ Arnt geht sich durch seine Bartstoppeln und versucht möglichst beiläufig zu klingen, wobei er seine Abneigung nicht ganz unterdrücken kann. „Über unseren Vater brauchst du nichts zu wissen, denn es gibt nichts über ihn zu wissen, das von Belang wäre.“

„Ist gut. Wir sollten allmählich zurück zu den anderen Magiern“, lenkt Richard ein, der gleich bemerkt, dass das Thema für Arnt höchst unangenehm ist.

„Ja, wir sollten zurück“, stimmt Arnt ihm zu.

Ich habe es ihm noch nicht gesagt, gesteht sich Richard auf dem Rückweg ein. Ich sollte noch warten. Zumindest so lange, bis ich meine Erinnerungen zurückhabe. Ich weiß nichts über unsere Kindheit. Ich weiß nicht, ob ich Arnt nicht verletze, wenn ich es ihm sage … Wenn ich ihm sage, dass Meister Älos wohl auch sein Vater war.

Die anderen Magier der Octa warten an einer Klippe am Rande der nordischen Wälder. Von dort oben haben sie ideale Sicht auf den Hauptweg, der nach Azbalon führt und auf Azbalon selbst, die Hauptstadt Rakomirs.

„Und? Wie sieht‘s aus, Jungs?“, fragt Erea, als Richard und Arnt wieder zu ihnen stoßen.

„Die Luft scheint für den Moment rein zu sein“, erklärt Arnt und steckt die Hände in die Seitentaschen seines Rauledermantels.

„Wohlan, gehen wir den Plan nochmal durch“, bestimmt Richard. Er hält einen knorrigen alten Ast, Älos Stab, als Wanderstock in der rechten Hand. Es ist das Letzte, was ihm von seinem Vater geblieben ist. Seine linke Hand ruht auf dem Knauf des Schwertes Christak, einer legendären und unzerstörbaren Waffe, die er schon lange mit sich führt. Richards weißes Haar ist mittlerweile länger, als es das noch im Haus der Hölle war. Zudem trägt er jetzt einen kurzen Bart. Allerdings ist er kein alter Greis, wie man annehmen würde, sondern erst Ende dreißig. Das weiße Haar zeugt von seinen starken astralen Kräften. Derartige Verfärbungen können bei besonders mächtigen Magiern schonmal auftreten. Dies muss nicht zwangsläufig sein, ist bei Richard aber eindeutig der Fall. „Wir schleichen über den großen Pfad zum See Ansuz, was eine Gefahr darstellt, da wir von Spähern gesehen werden könnten. Daher macht uns Erea mit ihrer Finsternismagie schwerer in der Dunkelheit erkennbar“, erklärt Richard.

„Immer zur Stelle!“, wirft Erea grinsend ein. Sie ist vor einigen Tagen neunzehn geworden. Auch ihre Hand ruht auf dem Knauf eines legendären Schwertes, das Schwert der schwarzen Seelen, das in einer Scheide an ihrer linken Taillenseite ruht. Mit jedem erlegten Monster wächst die Stärke dieser schwarzen Klinge.

„Danach nehmen wir den Weg entlang des Flusses Sonva“, fährt Richard fort. „Wir überqueren ihn einige Meilen südlich von Azbalon und meiden den Hauptweg durch das gefährliche Cataractagebirge, da dieser Weg angeblich von Monstern und Kreaturen verseucht ist. Um in keinen Kampf verwickelt zu werden, der die Aufmerksamkeit der Späher auf sich ziehen würde, die höchstwahrscheinlich in der Umgebung lauern, suchen wir eine Möglichkeit, das Gebirge südlich zu umgehen, um dann Richtung Westen nach Zesna zu gelangen.“

„Und du bist dir sicher?“, hakt Ariagon nach. „Wir waren zwar ein halbes Jahr im Irrgarten und leben nun seit einigen Monaten in der Wildnis, doch können wir uns sicher sein, dass Calabra während unserer Flucht vor den Kleinheeren der Ritter des dunklen Bundes gefallen ist?“

Die Wehmut in seiner Stimme ist ihm nicht zu verdenken. Calabra ist seine Heimat. Ihrer aller Heimat. „Dem zu Folge, was ihr mir erzählt habt, habe ich folgenden Eindruck gewonnen: der Fürst Ny-Azh-Naduurs scheint der Allianz mit Calabra und Zesna nur widerwillig beigetreten zu sein. Ich befürchte, dass er ihr nur beitrat, um keinen Konflikt mit uns zu riskieren, immerhin waren wir in Calabra immer vor Ort. Er wird sich, so nehme ich an, in Kürze mit Azbalon und diesem Nizedir Crime verbünden, über den so wenig Genaues bekannt ist. Wenn es soweit ist, sollten wir nicht versuchen, Calabra zu verteidigen, eine unhaltbare Stadt mit niedrigen Holzmauern, sondern den Schutz einer stabilen Mauer suchen. Zesna lässt sich gut verteidigen und es braucht unsere Hilfe. Stimmt‘s?“

Er blickt in die Runde.

„Ja, ich bin derselben Meinung.“ Arnt nickt ihm zu.

„Wahrscheinlich wird es das Richtige sein, aber trotzdem …“ Ariagon hadert mit seinem Entschluss. Er, als der älteste von ihnen, hat bereits mehr erlebt und gesehen als die anderen. Es ist hart für ihn, Calabra ohne Gewissheit aufzugeben.

„Früher einmal, da war Calabra eine große Stadt. Sie lebte vom Handel und es waren keine Holzpfähle, die den Stadtrand schützten, nein. Es waren Mauern! Feste, hohe Mauern, so prachtvoll wie die Azbalons. Doch dann kam der dunkle Zauber, der sich mit Nizedir Crime und seinen Schergen über dieses Land legte. Der Meeresstrudel riss Teile Calabras in die Tiefen des Meeres und trennt die Stadt noch immer über See von der Außenwelt. Erdbeben rissen eine Schlucht in die Erde, zwischen dem Cataracta- und dem Verisgebirge, den Riss von Netrak. Netrak, die freie Stadt selbst, wurde zerstört. Ebenso wie Calabra, war Netrak einst wunderschön. Jetzt sind es nichts weiter als Ruinen. Das ist jetzt bereits dreißig Jahre her.“

Trübselig starrt er in die Luft. Die anderen können die Blitze und Feuerschwaden förmlich sehen, die vor seinem inneren Auge toben.

„Ja, Netrak ist nur noch eine Ruine. Du warst dabei, als die Stadt fiel. Willst du auch dabei sein, wenn Calabra fällt, oder willst du lieber überleben, um Calabra rächen zu können?“, entgegnet Arnt und zeigt mit seiner legendären Waffe, dem knöchernen Kampfstab, auf Ariagons Brust.

„Wir müssen überleben“, nickt Rebecka zustimmend. „Alleine dafür, dass wir dieser Welt für ein halbes Jahr den Rücken kehrten, müssen wir überleben!“

„Wir können nichts dafür. Nicht einmal Älos wusste, dass die Zeit im Irrgarten um ein Vielfaches schneller vergeht als in Rakomir“, wirft nun auch Will, Älos ehemaliger Schüler, beschwichtigend hinzu. Bei dem Gedanken an Älos halten alle kurz inne. Es ist ein schwerer Schlag gewesen, als ihre Freunde gestorben sind. Nicht nur Älos, auch El Artren und Darvon.

„Sie alle haben für eine ehrenwerte Sache ihr Leben gelassen, doch egal wie ehrenwert sie war, unsere Freunde bleiben tot. Ich für meinen Teil will sagen können, dass ihr Tod nicht umsonst war!“ Richard legt sich die flache rechte Hand auf die Brust, wie es Brauch im Octaorden ist. Seine Erinnerungen, abgesehen von einigen wenigen an die Unterweisungen durch Wizzle, hat er zwar fast vollkommen verloren, doch mittlerweile sind die ihm zuvor fremden Leute zu echten und wertvollen Gefährten, nein, zu Freunden geworden. Sein Herz ist nicht mehr so leer wie es zuvor war.

Plötzlich wendet Erea, deren Magie sie bei Nacht um ein Vielfaches besser sehen lässt, ihren Kopf in Richtung Azbalon. Neben den Lichtern der Hauptstadt können die anderen, die ihren Blicken folgten, nichts erkennen. „Ein Bote nähert sich der Stadt“, berichtet sie besorgt. „Er reitet schnell!“

Arnt runzelt die Stirn. „Bist du dir sicher? Dann warten wir, bis er die Stadt erreicht und gehen dann los. Wir können die Gelegenheit als Ablenkung nutzen.“

„Ja. Der Bote kommt aus nördlicher Richtung. Also wurde er höchstwahrscheinlich von Ny-Azh-Naduur geschickt. Wenn ein Bote von dort aus nach Azbalon reitet, können wir davon ausgehen, dass Sarios die Allianz verraten hat, denn Azbalon verhandelt nicht. Es war die richtige Entscheidung, den Weg Richtung Zesna zu wählen.“

Die Wolken verziehen sich nun vollständig und Lumion, der größere der beiden Monde über Rakomir, kommt einer leuchtenden Sichel gleich zum Vorschein. Trestar hingegen, der kleinere Mond, verbirgt sich in dieser Nacht. Kurz darauf meldet sich Erea erneut.

„Der Bote ist am nordöstlichen Stadttor angelangt. Der Zeitpunkt ist gut. Lasst uns aufbrechen!“

Erea geht mit Richard und Arnt vorne, während Ariagon, Will, Rebecka und Adria dicht hinter ihnen folgen.

Sie laufen bergab und gehen dann den Waldrand entlang Richtung Süden, um den Fluss Sonva zu erreichen. Normalerweise wäre es Rebeckas erster Instinkt, in der Dunkelheit ein Feuer in ihrer Hand zu entfachen, doch ihr ist klar, dass dies zu auffällig wäre und die Aussichtstürme Azbalons, die Tag und Nacht nach ihnen Ausschau halten, sie entdecken könnten. Dementsprechend stolpert die Gruppe mehr, als dass sie geht. Lediglich das Licht des Mondes und Ereas Führung helfen ihnen, nicht vom Weg abzukommen.

„Auf wen von uns ist eigentlich das höchste Kopfgeld ausgesetzt?“, fragt Will die anderen, um die Stimmung etwas zu lockern.

„Ich glaube, auf mich“, äußert sich Ariagon. „Sechzig

Gulden.“

„Was? So viel?“, wundert sich Will. „Auf mich nur zwanzig!“

Die anderen müssen kichern. Mittlerweile sind sie weit genug weg von der Stadt, um sich leise unterhalten zu können, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden.

„Auf mich vierzig“, sagt Erea und streckt Will die Zunge grinsend raus, „und sicher wären es noch mehr, wenn sie wüssten, dass ich jetzt eine legendäre Waffe trage!“

„Auf mich auch“, meint Adria.

„Mein Kopfgeld liegt bei fünfzig Platinmünzen“, neckt Rebecka die anderen hochmütig. Platinmünzen sind dasselbe wie Gulden.

„Du alte Prahlerin!“, erwidert Erea.

„Mein Kopfgeld“, beginnt Arnt und grinst, „liegt bei satten siebzig.“

„Wie bitte, siebzig?“, wundert sich Ariagon.

„Da bist du platt, was?“ Arnt macht eine siegessichere

Miene.

„Richard, wie viel Kopfgeld ist auf dich ausgesetzt?“,

will Rebecka wissen.

„Der Haftbefehl lautet, soweit ich weiß, mich tot auszuliefern. Mein Kopfgeld beträgt zweihundert Gulden“, antwortet Richard leise.

„Bei den Göttern!“, ruft Adria.

„Der Haftbefehl lautet, mich, den Glorreichen, tot auszuliefern …“, äfft Will ihn nach.

„Pscht“, mahnt Ariagon, „nicht so laut, ihr Dumpfbacken, wir sind noch nicht weit genug weg!“

Da hält Will inne. „Wartet!“, sagt der Windmagier, dessen Ohren Frequenzen wahrnehmen, die für andere nicht erahnbar sind und bleibt stehen. „Ich habe etwas vernommen.“

Die Gruppe dreht sich um und versucht, irgendetwas in der Dunkelheit, aus der sie gekommen sind, zu erkennen.

„Da hinten sind sie!“, erschallt der Ruf eines Ritters des dunklen Bundes hinter ihnen. Mit einem Mal brechen zahlreiche Ritter, die knurrende Sleetcher an den Leinen halten, durch ein dichtes Buschwerk. Sleetcher muss man sich wie große Hunde, mit fiesem Mundgeruch und der schuppigen Haut eines Krokodils vorstellen, die für ihr Leben gern Dinge zerfetzen.

„Lauft!“, ruft Ariagon und die Magier des Ordens nehmen die Beine in die Hand.

„Wie haben sie uns finden können?“, ruft Rebecka panisch. „Wir haben genug Distanz gewahrt!“

„Sie haben uns wohl in den Büschen aufgelauert“, erwidert Richard schwer atmend, „wo das Licht Lumions sie nicht erreichen konnte!“

Die Ritter lassen ihre Sleetcher von den Leinen und mit lautem Gebell rennen sie auf die Octamagier zu. Jetzt, da der Feind sich ihnen nähert, können die Octamagier erkennen, dass mehrere Stoßtruppen des dunklen Bundes hinter ihnen her sind.

„Rennt schneller!“, ruft Will, der am Ende läuft.

„Bleibt stehen!“, brüllt einer der Ritter des Bundes.

Pfeile fliegen dicht an den Köpfen der Magier vorbei.

„Dort hinten! Wir müssen den Fluss erreichen!“, ruft Richard, der an der Spitze läuft. Es sind vielleicht noch hundert Meter bis zum Fluss. Viel zu weit, um den schnellen Sleetchern zu entkommen.

Geifernd stürzt sich die Meute auf die Magier. Will kann sich gerade noch zur Seite werfen, als der mit messerscharfen Reißzähnen besetzte Kiefer hinter ihm zuschnappt.

„Sowilo Tiwaz Othala Sowilo Sowilo!“, ruft Ariagon und verwendet diese Formel rakomirischer Runenmagie, um den Sleetcher, der ihn anvisiert hatte, mit einer Steinsäule in die Magengrube zu stoßen.

Ein weiterer Sleetcher springt auf Adria zu. Sie versucht ihm zu entkommen und setzt zu einer Runenformel an, doch das nächste Wasser, das sie für den Zauberspruch benötigt, ist im Fluss und damit zu weit entfernt. Das Ungetüm landet mit voller Wucht auf ihrem Rücken und schmettert sie zu Boden.

„Aaahh!“, kreischt sie und tastet, um Luft ringend, mit ausgestreckten Armen den schlammigen Boden ab. Die Pranken des Sleetchers drücken mit solcher Kraft auf ihre Wirbelsäule, dass sie glaubt, ihr Körper würde gleich zerquetscht. In ihrer Verzweiflung versucht sie erneut einen Zauber zu stammeln. Doch das Brennen in ihren Lungen lässt ihr die Worte im Hals ersticken. Dann erschlaffen ihre Hände und sie bleibt bewegungslos liegen.

Währenddessen treffen Richard und die anderen Magier mit Kampfgebrüll auf die Ritter des dunklen Bundes. Will entwaffnet einen der Ritter nach einem kurzen Schlagabtausch und tauscht seine stumpfe Klinge gegen das zweihändige Langschwert des Ritters. Doch sogleich muss er sich gegen den Sleetcher wehren, dem er zuvor knapp entkommen war und der sich jetzt erneut auf ihn stürzt.

Gerade rechtzeitig kommt Arnt angesprungen und schlägt der Bestie seinen knöchernen Kampfstab gegen die linke Gesichtshälfte. Eine Druckwelle bricht vom Schädel des Sleetchers über das Schlachtfeld und schleudert die Kreatur mehrere Meter beiseite. Als sie regungslos liegen bleibt, ist ihre Schnauze nicht mehr zu erkennen.