Die Geister, die man ruft - Allan Varney - E-Book

Die Geister, die man ruft E-Book

Allan Varney

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Beschreibung

Nachdem die Völker der Welt vierhundert Jahre lang in ihren magischen Festungen dem Eindringen der Dämonen getrotzt haben, öffnen sich nun wieder die Pforten ihrer selbstgewählten Gefängnisse. Doch die Bewohner Barsaives müssen feststellen, dass ihre Welt vollständig verwüstet wurde und ihre alten Feinde immer noch gegenwärtig sind. Es liegt am Zwergenkönigreich von Throal, dem grausamen Theranischen Imperium und den verschlagenen Dämonen die Stirn zu bieten. Während der Plage blieb Travar verschont. Doch der Preis dafür ist hoch: Der einst hilfreiche Geist streicht auf der Suche nach Dämonen durch die Gassen der Stadt. Er ist außer Rand und Band geraten und die Leute von Travar ahnen, dass sie den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben haben.

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Allan Varney

Die Geister, die man ruft

Zehnter Roman desEarthdawn™-Zyklus

Originalausgabe

Feder & SchwertBand 10

Übersetzung: Christian JentzschIllustrationen: Jeff LaubensteinRedaktion & Lektorat: Catherine BeckE-Book-Gestaltung: Nadine Hoffmann

Earthdawn® is a Registered Trademark of FASA Corporation. Barsaive™ is a Trademark of FASA Corporation. Original Earthdawn® content copyright © 1993—2017 FASA Corporation. Earthdawn® and all associated Trademarks used under license from FASA Corporation. All Rights Reserved. © 2019 Deutsche Ausgabe Feder & Schwert GmbH.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Feder & Schwert GmbH, Köln, gestattet.

E-Book-ISBN 9783867623889

Inhaltsverzeichnis
PROLOG
Teil Eins Heimsuchung
1. Albans Arm
2. Padia Perplex
3. Tugendhafter Vilph
Teil Zwei WAHRNEHMUNG
4. Abschälen
5. Vilph gewinnt die Oberhand
6. Angemessene Vergeltung
Teil Drei WILLENSAKT
7. Gewalttaten
8. Adeptenfortschritte
9. Beharrliche Vision
EPILOG

Dieses extrem geradlinige Buchist Don Webb gewidmet,der gern Umwege beschreitet

PROLOG

Zehn Jahre zuvor

Ich kam an die Stätte meiner Geburt und rief: »Die Freunde meiner Jugend, wo sind sie geblieben?« Und das Echo antwortete: »Wo sind sie geblieben?«

Arabisches Sprichwort

Intrantiveres Scheitern, den Dämon zu beschwören, hinterließ Knochenfragmente und winzige Fetzen Eingeweide auf dem Arenapublikum. Vier Platzwarte beschafften sich den Palankin eines Magistrats und brachten Denson, den heldenhaften Waffenschmied, zu den Heilern. Abgesehen davon schienen alle anderen unverletzt zu sein. Als sie begriffen, dass die Gesellschaft der Grauen Eule nicht nur das Turnier gerettet, sondern die Ankunft eines Dämons in ihrer Mitte verhindert hatte, erhoben sich die Bewohner von Merron von ihren Sitzen und jubelten. Sie applaudierten den noch anwesenden Mitgliedern der Gesellschaft viele Minuten lang, bis die Helden sich würdevoll zurückzogen und zu Delmo gingen, um sich gründlich zu säubern.

Ihr Kampf gegen den bösen Zauberer hatte die Gesellschaft verändert, ihren Tavernenbesitzer aber vollkommen verwandelt. Delmos frühere Arroganz war serviler Höflichkeit gewichen. Er gab ihnen seine besten Zimmer. Er ließ ihnen saubere Laken und parfümierte Seife bringen. Später am Abend servierte er ›Merrons neuen Helden‹ in seinem privaten Esszimmer seine besten Speisen und ganze Fässer mit Ale und Wein. »Auf Kosten des Hauses«, sagte Delmo schmeichlerisch. »Ich bitte euch nur darum, dass auf den zukünftigen Reisen der Gesellschaft mein bescheidenes Gasthaus Erwähnung findet.«

»Warum nicht?«, sagte Wulf. Der Geisterbeschwörer legte einen abgenagten Knackschnabelflügel beiseite. »Wohin gehen wir als Nächstes?«

»Getrennte Wege«, sagte Denson, der in diesem Augenblick in der Tür auftauchte. Die anderen musterten ihn verblüfft. Denson sah völlig gesund aus, sogar noch besser als vor dem Kampf. Seine Wunden waren verheilt, ohne Narben zu hinterlassen, seine kräftigen Arme sahen stärker denn je aus, und die berühmten blonden Haare waren lang und glänzend nachgewachsen – wenngleich sie an der Stelle weiß waren, wo Intrantivere ihm den Daumen auf den Schädel gelegt hatte.

Wulf, Han Lun, Grimborn und Boffin starrten ihn an. Wie von einem guten Troubadour nicht anders zu erwarten, fand Boffin die Sprache zuerst wieder. »Nun, ich hoffe, ich komme dem Tod auch so nah wie du, Denson«, sagte er. »Das Verhängnis scheint dir gut zu bekommen.«

»Wunder! Ist großes Wunder!« Han Luns Finger bearbeiteten seine Onyxperlen in der Meditationsstruktur des Erhabenen Glücks.

Zur Abwechslung schien es Grimborn gleich zu sein, ob ihn jemand lachen sah. »Schön, dass wir uns begegnet sind, Schildmacher! Diese Worte sagte ich im Servos-Dschungel zu dir. Lass sie mich jetzt noch einmal mit Freuden wiederholen!«

Wulfs erstaunter Blick wanderte zwischen Denson und Grimborn hin und her. »Ich habe dich noch nie so viele Worte hintereinander sagen hören.«

Der Zwerg lächelte. »Alle paar Jahre entspanne ich mich einmal.«

»Was ist Grund für Wunder, Denson-gen?«, fragte Han Lun. »Warum du so schnell geheilt?«

»Das liegt an der zärtlichen, aufmerksamen Fürsorge.« Denson griff hinter sich und zog eine schlanke junge Frau in den Raum. Sie trug die weißen Gewänder der Heilerin, ein Questor Garlens. Ihr Haar leuchtete in strahlendem Blond. Es hatte denselben Farbton wie das von Denson. Mit eulengrauen Augen sah sie liebevoll zu ihm auf. Denson sagte: »Das ist Layla.«

Alle nickten höflich. Wulf flüsterte Boffin zu: »Ich schwöre, der Mann könnte auch noch in einem Vulkan weibliche Gesellschaft finden.«

Die violetten Augen des Troubadours weiteten sich. »Bring ihn nicht auf dumme Gedanken!«

»Das habe ich gehört«, sagte Denson. Er und seine neue Freundin gesellten sich zu den anderen an den Tisch. »Ihr braucht mir nicht länger in einen Vulkan oder in andere Gefahren zu folgen. Ich löse die Gesellschaft auf.«

Bestürztes Schweigen.

»Wir haben alle gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde«, fuhr der Waffenschmied fort. »Ich habe meine alten Rechnungen beglichen, sodass mir nichts mehr zu beweisen bleibt. Ich habe vor, nach Märkteburg zurückzukehren – vielleicht wird Layla mich begleiten. Grimborn, ich glaube, du hast dort noch ein paar Dinge zu erledigen?«

Das Lächeln des Bogenschützen wurde sehr dünn. »Ein paar Ziele, die es zu treffen gilt.«

»Komm mit uns. Aber wir wissen alle, dass Wulf weiter nach Süden ziehen muss. Alban ist Magistrat geworden, also werden er und Padia gewiss hier in Merron bleiben. Han Lun, hast du schon Pläne gemacht?«

Die Finger des Zauberers huschten unruhig über seine Perlenkette. »Gehe zurück nach Cathay. Muss Medizin finden, muss Dorf retten.«

Boffin verzog das Gesicht. »Aber – ich dachte, du hättest die Kräuter verloren, nachdem der Ghul deine Robe zerrissen hat...« Als sein Blick auf den Saum von Han Luns schwarzer Robe fiel, hielt er verblüfft inne. Dann: »Geflickt! Wo, um alles in der Welt, hast du die Zeit gefunden, deine Robe zu nähen?«

»Ich sie nicht geflickt. Robe sich selbst geflickt. Robe lebt, wie du, wie ich.«

Boffin rutschte zum Rand der Bank. »Eine lebende Robe. Na schön. Ich, tja, hätte nie – ach, was soll‘s. Also hast du diese Kräuter nie verloren?«

»Doch, habe Kräuter verloren. Aber ist klein wenig von Kräutern im Futter geblieben. Robe hat Rest benutzt und neue Pflanzen daraus wachsen lassen.«

»Ach so, die Robe lässt Pflanzen wachsen, ja? Sag jetzt nicht, dass sie auch Witze erzählt und die Laute spielt, sonst verbrenne ich sie, um die Konkurrenz loszuwerden.«

Jetzt runzelte Wulf die Stirn. »Wenn die Robe sich selbst flickt, warum stickst du dann jeden Morgen daran herum.«

»O ja, sticken.« Han Lun nickte. »Meditation.«

Boffin gab würgende Laute von sich. »Meditation, bäähh! Du klingst wie Alban. In all der Zeit, die ihr zwei mit Herumsitzen und Nichtstun verschwendet, könnte ich etwas Nützliches tun, wie – naja – schon gut, die Vorstellung, nützlich zu sein, entsetzt mich.«

Layla fragte ihn: »Seid Ihr der Troubadour, der dieses Lied über Intrantiveres entzündete Füße gedichtet hat? Ich hörte, wie es die Bootsleute in den Docks sangen. Alle haben ganz laut gelacht! Habt Ihr noch mehr erfunden?«

Boffin lächelte strahlend. Wulf verdrehte die Augen und murmelte: »Bitte, jemand möge ihm Einhalt gebieten.«

Doch niemand tat es, und Boffin erhob sich. »Nun, wie es der Zufall will, habe ich soeben etwas Neues über Intrantiveres Handlanger komponiert, einen erbärmlichen Ork namens Vilph. Ich habe es heute während des Turniers gesungen, und den Magistraten hat es so gut gefallen, dass sie mir hier eine Stellung angeboten haben.« Er räusperte sich. »Ich nenne das Lied ›Der Kleine Vilph bekleckert sich die Robe‹ , und es geht etwa so...«

Grimborn unterbrach ihn spitz. »Da wir gerade von Vilph reden, haben Padia und Alban ihn nicht verfolgt?«

Denson griff nach einer Flasche Feuerscheinwein. »Ich sandte sie ihm nach, als ich hörte, dass er etwas im Luftschiffhafen vorhat. Wann sind sie zurückgekommen?«

»Ich habe sie nicht gesehen.« – »Nicht gesehen.« – »Wahrscheinlich haben sie sich irgendwo verkrochen und schmusen miteinander.«

Densons Augen blitzten. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen uns hier vor Mitternacht treffen! Sie sind während meiner Abwesenheit doch nicht gekommen?«

Alle Gesichter nahmen einen Ausdruck der Furcht an.

»Nun hört schon auf«, sagte Boffin in die Stille hinein. »Das war doch nur Vilph, der Illusionist. Sogar ich habe gegen ihn gekämpft. Er könnte keine Katze besiegen.«

Sie starrten einander an, wobei ihnen der hohle Klang seiner Worte auffiel. Dann sprangen alle wie ein Mann auf und stürmten aus dem Esszimmer.

Im Vorraum blieben sie wie angewurzelt stehen. Padia Villandry stand vor ihnen, Alban Peyl auf den Armen. Sie sah unverletzt aus, obwohl ihre langen Haare verfilzt waren. Albans hagerer Körper war von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, und sein dichtes schwarzes Haar schien blutverkrustet. Als Padia näher kam, sahen die anderen, was mit Alban geschehen war, und sie wichen zurück.

Padia sagte matt: »Er lebt noch. Er braucht einen Heiler. Vilph ist entkommen.« Als sie ihr Alban abnahmen, sank sie zusammen und setzte sich auf den Boden. Sie starrte ins Leere, und die Falten ihrer braunen Robe umgaben sie wie ein welkes Blatt.

Teil Eins Heimsuchung

Das letzte Wissen um die Wirklichkeit in Bezug auf das Begreifen meines eigenen Daseins überkam mich [...] In diesem Augenblick wurden meinem Herzen die folgenden Verse enthüllt, die ohne mein Wissen und Zutun über meine Lippen kamen:

Ich wusste nicht, dass diese Leiche etwas anderes war als Wasser und Staub;

Ich kenne nicht die Kräfte des Herzens, der Seele und des Körpers.

Welch Unglück, dass diese Zeit meines Lebens ohne dich verstrich!

Du warst ich, und ich wusste es nicht.

- Tevekkul-Beg, Schüler des moslemischen Mystikers Molla-Shah

1. Albans Arm

Alban Peyl verlor seinen rechten Arm bei einem Kampf kurz nach seiner Ankunft in Merron. Zehn Jahre später, während des Chaos‘ der Heimsuchung, kehrte der Arm zurück.

Zehn Tage lang war der Regen auf die Stadt niedergeprasselt und hatte den Byrose anschwellen lassen, bis er über die Dämme getreten war. Der Fluss überschwemmte zuerst das Acker- und Weideland im Süden und trieb dabei eine stinkende Last nordwärts zum Flachland an die Westküste: tote Schweine und Ziegen, Wagenräder und die Splitter von Getreidesilos. Die Alten Familien ritten von ihren Kuppelanwesen im Stadtteil Altstadt herab und sahen die Trümmer vorbeitreiben. Am Ostende – dem richtigen Ende – der Schwalbenschwanzbrücke schlugen Bedienstete zwei befestigte Zelte aus wasserfester Leinwand auf, eines für die Reichen, das andere für deren Pferde. Dann warteten die Bediensteten im strömenden Regen, während ihre Herren sich niederließen und Weizenbrötchen mit Aprikosenkäse aßen. Während der Donner grollte und der Fluss kaum eine Armeslänge unter ihnen vorbeirauschte, plauderten die Gründerfamilien müßig miteinander. Bald waren sie ihres eigenen Geschwätzes überdrüssig und blickten über die Holzbrücke zum Stadtteil Zweipfennig, wo Familien mit weniger Ansehen über den reißenden Fluten auf schrägen Hausdächern hockten.

Boote der T‘skrang trieben kieloben über den untergetauchten Docks des Stadtteils Hanfseil, durch ihre kurzen Schlepptaue halb versenkt. Sie boten ihre Namen den Wolken dar: Niokus Bug, Handelsprinzessin, Chorrolis‘ Freund. Wasser strömte graubraun in die Häuser des Stadtteils Schulenburg. Zauberlehrlinge unterbrachen ihr Gespräch über Zaubermatrizen, um Grimoire in die oberen Stockwerke von Schulen und Teehäusern zu schleppen. Ein Student versicherte den anderen, das Flusswasser könne den hiesigen Tee nur verbessern, aber niemand lachte. In Kürze mochten die Häuser der Kaufleute im Stadtteil Schlußstein fallen, und wer blieb dann noch den Magistraten auf dem Hohen Hügel zu regieren übrig? Merron, Barsaives Juwel, die Stadt Der Tausend Herzen, seit Jahrhunderten meine Heimat, würde noch vor Sonnenaufgang in den Fluten versinken.

Sogar im Stadtteil Nachtschatten war alles ruhig. Seine schwarzen Schindelhäuser waren geschlossen, die gewundenen Gassen noch trocken, aber leer. Nachtschatten lag im Regenschatten des Westendes der Schwalbenschwanzbrücke, nördlich von Zweipfennig und einen Palankinritt für ein halbes Silberstück von Altstadt entfernt jenseits der Brücke. Doch jetzt überquerte niemand den Fluss, um nach Nachtschatten zu gehen. Der Regen hatte Altstadts Verlangen nach Würfelspielen, Troubadouren, Erotomanen, Blendstaub und Sühneveranstaltungen in den Geißlungssalons ertränkt.

Außerdem hatte der Regen Nachtschattens Flussufer aufgeweicht, und doch wimmelte es von Namensgebern, da jede Rasse hektisch arbeitete, um seine Enklave zu schützen. Neben der Irrenanstalt Antimer im Menschenviertel stapelten fünf starke Männer mit Sand gefüllte Jutesäcke am Flussufer. Hier hatte der Fluss die Flutmarke weit überschritten und war bis fast an den Rand des Sandwalls angestiegen.

Ein Regentropfen fiel auf Alban Peyls Immerreinen Mantel, perlte von seinem goldenen Brokatstoff ab und fiel herunter. »Mehr, Roodville! Mehr Säcke!«, rief er aus dem Hintereingang der Irrenanstalt. »Wenn ich zurückkomme, muss noch eine Lage Säcke für den Wall fertig sein, sonst, bei Mynbruje, hole ich Euch, bevor es der Fluss tut!«

»Herr! Sofort, Herr!« Am Ufer salutierte ein hochgewachsener, kantiger Mann. Er drehte sich um und schrie eine Gruppe von Pflegerinnen an, die erschöpft auf einem Stapel Jute lagen. Dabei wedelte er mit einem langen Messingrohr, das in eine Onxyspitze auslief, einer Stachelrute. Regentropfen, die auf die Spitze der Stachelrute fielen, verdampften zischend. Die Frauen nahmen ängstlich ihre Schaufeln auf und machten sich wieder daran, Säcke zu füllen.

»Ermuntert die Männer auf den Sandwällen ebenfalls, Roodville!«

»Sehr gut, Herr!« Die Stachelrute blitzte auf, ein Arbeiter stieß einen Schrei aus, und alle verstanden sofort viel besser, wie Merron seine Arbeiter ›ermunterte‹ .

»Ausgezeichnet.« Für den Augenblick zufrieden, zog Alban sich in den Eingang zurück. Über seinem kastanienbraunen Wams trug er die gelbe Schärpe, die ehemaligen Magistraten vorbehalten war, und er war froh, dass sie noch immer einiges Gewicht trug. Tatsächlich lastete auf der Schärpe mehr Gewicht, als ihm lieb war. Eine dicke Speckrolle quoll ebenso darüber, wie das Fett seiner Oberschenkel die Beine seiner schwarzen Hose ausbeulte. Seine Wangen wurden mit jedem Jahr feister, und seine Stirn drängte seine glatten schwarzen Haare immer mehr zurück, sodass Alban Peyl ein sich beständig wandelndes Muster aus Wölbungen und Grenzlinien bot.

Nichtsdestoweniger hatte er mit achtunddreißig Jahren den durchdringenden Blick, der alternden Männern zu eigen war. Er konnte sich in einem Spiegel betrachten und unter einem Jahrzehnt der Fettpolster noch den jungen Kriegeradepten erkennen. Dann dachte er immer noch: Abgesehen von dem Arm ein im Grunde ordentliches, reizvolles Äußeres.

Ein kalter, heulender Wind fegte zwischen dem gewölbten Mittelpfeiler der Schwalbenschwanzbrücke und dem wogenden Byrose hindurch und über den Sandwall. Er raste durch die Tür und in den Hermelinaufschlag von Albans leerem rechten Ärmel, um eine Gänsehaut auf dessen haarloser Brust zu erzeugen. Schaudernd eilte er in das dunkle, stickige Irrenhaus.

Aufseher Ennis Roodville folgte Alban eiligst. Mit seiner triefenden Baumwolljacke, der braunen Hose, den unordentlichen blonden Haaren und dem teigigen Gesicht bildete der junge Roodville in jeder Beziehung einen Gegensatz zu Alban. Seite an Seite sahen der dürre Aufseher und der feiste Kaufmann wie ein Kreis neben einer Linie aus. Beide blickten sich alle paar Schritte um, als befürchteten sie, der Fluss könne ohne Warnung über den Wall schwappen und sie davonschwemmen.

Keiner von den Insassen kümmerte sich um den Fluss. In ihren Lumpen zitternd, hockten sie in Holzpferchen, die Männer links, Frauen und Kinder rechts. Die meisten starrten ins Leere, als die beiden Männer vorbeigingen. Andere brabbelten ›Ameisen Ameisen Ameisen‹ oder ›Wo ist meine Alachia?‹ Eine Frau kreischte wie ein Papagei, da sie sich immer wieder eine Nadel aus Knochen in eiternde Geschwüre an ihren Knöcheln stach.

Roodville, der die lauteren Patienten mit seiner Stachelrute bedrohte, redete leise und schnell. »Was das Füllen der Säcke betrifft, Herr, so läuft jetzt alles reibungslos. Die Verzögerung tut mir aufrichtig leid, und ich muss mich bei Euch bedanken, dass Ihr die Bummler ermuntert habt.«

»Aufrichtig leid wird es Euch erst tun, wenn die Flut meine ganze Ware ruiniert.« Albans laute Stimme hallte in dem höhlenartigen Raum. Er betrat den Pferch für die Männer und ließ rasch die Haufen schmutzigen Strohs hinter sich, um zu den hölzernen Packtischen an einer Wand zu eilen, wo stapelweise Kisten standen, die für Märkteburg bestimmt waren. »Wenn wir diese zusätzlichen Kisten, die Ihr so sorgfältig gepackt habt, nicht retten können, wird uns der Verlust doppelt schwer treffen.«

Üblicherweise faszinierte Ennis Roodville Gerede über schwere Treffer. Im Bereich der Finanzen zog er jedoch friedliches Wachstum vor.

»Genau, Herr, Ihr habt in der Tat vollkommen recht. Ich dachte nur, da wir angesichts des Verlusts der Flussboote und Luftschiffe ein paar Tage auf die Karawane warten müssen, könnte ich aus untätigen Händen sozusagen emsige Hände machen.«

»In der Tat.« Das Stöhnen in dem großen Raum bestätigte Albans Auffassung eines müßigen Lebens in der Antimer-Irrenanstalt. Zumindest würde die Flut diese armen Teufel von ihrem Elend erlösen, dachte er, um den Gedanken dann jedoch zu verdrängen. Wo konnte er so billig neue Packer finden?

»Vielleicht ist Euch nie die Idee gekommen, Roodville«, fuhr Alban fort, »dass diese neue Ware, die Ihr zum Verpacken habt herbringen lassen, zuvor trocken und sicher in meinem Lagerhaus in Altstadt gestapelt lag. Jetzt habe ich so viele Kisten, dass ich zusätzliche Packtiere mieten muss, wenn ich bei diesem Wetter welche finde, immer vorausgesetzt, der Fluss nimmt Abstand davon, uns heute Nacht hier einen Besuch abzustatten, und jeder Tag Verspätung kostet mich laut Vertrag mit Tinka Vodromian in Märkteburg 1400 Silberstücke!«

»Ah, ach so«, begann Roodville und schluckte dann. Als ihm klar wurde, dass er nicht ›Herr‹ gesagt hatte, bellte er es heraus, ein explosiver Laut, der wie ein Rülpsen durch das Irrenhaus hallte. Er fügte lahm hinzu: »Ich hoffe, die Karawane trifft bald ein.«

Regen hämmerte auf das Holzdach, und Blitze zuckten am Himmel. Alban sagte: »Unwahrscheinlich. Wir müssen Vorkehrungen treffen, um die Kisten wegschaffen zu können, bevor hier alles von der Flut überschwemmt wird.«

»Vierzehnhundert pro Tag!« Roodville fand das unbeschreiblich aufregend. »Was könnte ich alles mit vierzehnhundert anfangen! Die Anstalt hier bringt mir ein Almosen, Herr: fünf Kupferstücke und sieben Zehntel pro Insasse pro Tag aus dem Fundus des Rates mal einhundertzweiundvierzig Insassen gegenwärtig, und ich sehe nicht, wie ich noch mehr unterbringen könnte.«

»Es sei denn, Ihr lasst ein paar unter die Deckenbalken treiben.« Alban warf einen vielsagenden Blick auf den Fluss, doch Roodville ging nicht darauf ein.

»Nett ausgedrückt, Herr, wie Ihr das gesagt habt. Also bekommen wir insgesamt achtzig Silber und neun Kupfer pro Tag, sagen wir einundachtzig Silberstücke. Das macht pro Jahr neunundzwanzigtausendzweihundert brutto. Ziemlich üppig, könnte man meinen, Herr, bis Ihr die traurige Geschichte meiner laufenden Unkosten hört. Essen, fünf Kupferstücke pro Insasse pro Tag und mehr, wenn die Weizenernte schlecht ausfällt. Steuern auf das Gebäude, ruinöse ein und ein Zehntel pro hundert bei einer krass übertriebenen Wertveranschlagung von zwölftausendneunhundert Silberstücken. Einhundertzweiundvierzig Silberstücke wandern jedes Jahr in die Taschen der vollgesogenen Steuereinnehmer des Rates, mögen die Dämonen ihre Augäpfel fressen! Hinzu kommen Reparaturen, Löhne, das Ausleihen der Arbeiter, meine Stachelrute...«

»Glaubt Ihr, einige dieser Arbeiter könnten damit beginnen, meine Kisten wegzuschaffen, Roodville? Der Pegel des Flusses steigt beständig.«

Der Aufseher hielt inne. »O ja, Herr. Nun, eigentlich ist es gerade jetzt ziemlich schwierig, jemanden zu erübrigen – das heißt...«

Ein aufgeregtes Heulen nicht weit entfernt erschreckte beide Männer. Ein ausgemergelter Mann wedelte mit seinen knochigen Armen über den Füßen eines anderen Insassen. Der Mann lag nackt und zusammengekrümmt auf dem Boden, und auf seiner Haut bewegten sich dünne Linien.

»Er ist mit Ameisen bedeckt! Ameisen!« Dichte Reihen der Insekten marschierten über Rücken und Oberschenkel des bewusstlosen Insassen. Alban hatte das Kreischen des knochigen Mannes für Angst gehalten, doch als andere Insassen hinzugeeilt kamen, erkannte er mit Abscheu, dass der Ruf etwas anderes zu bedeuten hatte. Ausgehungerte Männer griffen nach den Ameisen und stopften sie sich in den Mund.

Während Alban entsetzt wegsah, nickte Roodville beifällig ob dieser von Unternehmergeist zeugenden Sparsamkeit. Eine Pflegerin kam aus den dunklen Tiefen des Irrenhauses gelaufen. Dabei warf ihr Leuchtjuwelanhänger wilde Schatten auf die Ziegelmauern.

»Ach, meine Herren, wir wollen uns doch nicht den Appetit auf das Abendbrot verderben, oder?« Heiser vor Erschöpfung scheuchte sie die hungrigen Insassen davon und beugte sich über den Fremden. Er hatte sich nicht bewegt.

Roodville spitzte die Lippen. »Witwe Decrevi, soll ich den Leichenbestatter rufen?« Dann murmelte er Alban zu: »Ich habe eine Vereinbarung mit dem Leichenbestatter getroffen.«

Die Pflegerin, Filantha Decrevi, sah Roodville über die Schulter hinweg an. In ihrem Tonfall lag Verachtung. »Ich bin sicher, der Leichenbestatter ist heute zu beschäftigt, so gelegen manchem der Tod dieses Mannes auch kommen mag.«

»Decrevi, Ihr seid zu fix mit Eurer Zunge!« Roodville hob seine Stachelrute, doch Alban hielt seinen Arm fest.

»Ich meinte den Leichenbestatter, Herr«, sagte die Pflegerin unschuldig. Sie wischte rasch die Ameisen weg. »Wem sollte der Tod dieses armen Mannes sonst gelegen kommen?«

Zunächst einmal den meisten Bewohnern von Altstadt, dachte Alban. Merrons herrschende Klasse sah in dem Irrenhaus ein Ärgernis, das den Fundus des Rates belastete. Immerhin hielt es die Verrückten davon ab, die Ordnung in der Stadt zu stören. »Wird er bald sterben?«, fragte er.

»Wenn die Passionen nicht einschreiten«, sagte die Schwester. »Ich habe es schon zu oft gesehen, sogar in meiner eigenen Familie. Sein Geist weilt nicht mehr bei uns.«

»Lasst den Leichenbestatter rufen und kümmert Euch darum, dass diese Kisten weggeschafft werden«, sagte Alban zu Roodville. Während der Aufseher sich auf die Suche nach einem Boten machte, betrachtete Alban Filantha Decrevi eingehend von oben bis unten. Bei seinen bisherigen Besuchen in dem Irrenhaus war ihm diese Pflegerin noch nicht begegnet. Ihre Stimme klang sehr jung für eine Witwe. Sie war klein und stämmig, trug die vollen braunen Haare in einem Knoten und hatte dünne Hände. Sie kniete mit dem Rücken zu ihm neben dem Bewusstlosen, und das Licht ihres Amuletts ließ ihre Umrisse scharf hervortreten. »So etwas ist schon in Eurer Familie vorgekommen?«, fragte er Filantha.

Während sie sich um den sterbenden Fremden kümmerte, sprach Filantha mit sonderbar fröhlicher Stimme. »Herr, so viele Mitglieder meiner Familie sind bereits gestorben, dass es ein Versehen sein muss, dass ich noch atme. Meine Mutter starb, als ich sieben war und die Fähre zwischen Zweipfennig und der Polsterfabrik in Schlußstein kenterte. Drei Jahre später folgte ihr mein Vater. Er durchstach sich den Finger mit einer Lederahle, denn er war Schuster. Die Wunde entzündete sich schlimm. Er starb am Fieber, bevor der Ladenbesitzer es für richtig hielt, nach einem Heiler zu schicken.«

»Tatsächlich.« Alban kannte die Besitzer der handwerklichen Geschäfte in Merron. Die Hälfte von ihnen würde den eigenen Vater verbluten lassen, wenn sie dadurch zehn Silberstücke sparen konnten.

»Danach habe ich meine beiden Brüder und meine Schwester aufgezogen«, fuhr sie fort. »Nat und Devin sind beide vor fünf Jahren am Fleckfieber gestorben. Keeta hat geheiratet und starb im Kindbett. Ihre kleine Tochter, meine Nichte, starb ebenfalls, noch vor der Namensgebung. Traurig, nicht wahr?«

Dann sah Alban Filanthas Gesicht, das von dem leuchtenden Kristall von unten beleuchtet wurde. Sehr traurig, dachte er. Wenngleich ihr Gesicht klar und faltenlos war, wies es eine spitze, vorspringende Nase, ein gleichermaßen spitzes Kinn und hohle Wangen unter hohen Wangenknochen auf. Ein altes Weib, das noch jung war. Sie sah auf und lächelte: Zahn, Lücke, Zahn, Zahn, Lücke. Alban erwiderte das Lächeln diplomatisch.

»Everard«, fuhr sie fort. »Er war der beste Mann, den man sich vorstellen kann, als wir heirateten. Everard hat hier gearbeitet, bis er aufs Dach stieg, um die Schindeln auszubessern, und ausglitt. Den Fall hat er überlebt, aber danach konnte er nicht mehr sprechen und nicht mehr laufen. Ich habe ihn zweiundfünfzig Tage lang gepflegt, und dann sah ich eines Tages das Licht aus Everards Augen weichen wie bei diesem armen Burschen hier. Kurz darauf ist er gestorben.

Das ist jetzt drei Jahre her. Wisst Ihr, die Schindeln sind seitdem noch immer nicht ausgebessert worden.«

Ihr Tonfall war bis auf ein leichtes Beben bei den letzten Worten die ganze Zeit über von einer heiteren Gelassenheit erfüllt gewesen. Alban erwog eine höfliche Antwort. Schön, dass Ihr das so gut überstanden habt. Nein. Wie nett, dass Ihr Euch an einer Tragödie erfreuen könnt. Nein, sie klang nicht erfreut, sondern gelassen. Schließlich fragte er sie ganz offen. »Wie kommt es, dass Ihr so gefasst seid?«

»Es ist ein wenig pietätlos, nicht wahr, Herr?« Sie lächelte wieder. »Ich glaube, ich sollte mir die Haare ausreißen oder mich zusammenkrümmen wie dieser arme Fremde. Jedenfalls habe ich das immer getan, wenn einer meiner Verwandten starb, bei jedem einzelnen, manchmal mehrere Monde lang. Aber ich hielt es nicht lange aus, Herr, das widerspricht meinem Wesen. Ich sah dann einen Sonnenuntergang über dem Byrose oder hörte ein Kind lachen oder nahm einfach nur einen tiefen Atemzug. Es liegt darin solch eine Magie, nur zu leben, oder etwa nicht? Seht her, er hat jetzt nicht mehr lange.«

Sie wiegte den Fremden in den Armen. Sein Atem kam jetzt abgehackt und stoßweise, und seine Augen waren glasig. Seine Lippen zitterten, als wolle er mit aller Macht noch etwas sagen. Alban sah zum ersten Mal das Gesicht des Fremden und verspürte einen Schock des Wiedererkennens. Dann sah er ein Zeichen auf der Stirn des Mannes, und Verwirrung umnebelte seinen Verstand. Ich wünschte, ich hätte ihn warnen können. Ich hatte große Schwierigkeiten, seinen einander widersprechenden Gedanken zu folgen. Nein, Alban sah kein Zeichen. Ein Teil von Albans Verstand überzeugte den anderen, dass er diesen Mann noch nie zuvor gesehen hatte. Dennoch, der Nasenrücken (du hast ihn noch nie zuvor gesehen) und die Kinnlinie (du kennst ihn nicht) – Alban blinzelte und schüttelte den Kopf. Das Haar sah aus wie — die Nase, die Ohren, sie hatten einen gewissen ...

»Lächerlich!« Alban redete zu laut, und Filantha sah erschreckt auf. Alban suchte nach Worten. Schließlich sagte er mürrisch: »Ich kenne ihn nicht.«

»Oh. Nun, niemand scheint ihn zu kennen, Herr. Die Wache hat ihn letzte Nacht auf dem Hohen Hügel gefunden, nackt, wie Ihr ihn jetzt vor Euch seht. Niemand weiß, wer er ist und wie er in diese Lage geriet. Ich selbst kann auch nicht erkennen, warum er stirbt. Vielleicht hat es etwas mit der Heimsuchung zu tun.« Beide blickten auf den rauschenden Fluss. Donner grollte über der Stadt.

Der Aufseher kehrte zurück, und Alban nutzte die Gelegenheit, um sich von dem Fremden zu entfernen. Alban hatte den Mann noch nie zuvor gesehen. Jetzt, da er den Mann nicht mehr vor sich sah, konnte er sich nicht einmal mehr an das Gesicht erinnern. Dennoch kam er ihm auf eine merkwürdige Weise bekannt vor. Er zwang seine Gedanken in andere Bahnen. »Diese Witwe Decrevi scheint gut genug zu sein«, murmelte er Roodville zu.

»Mit Verlaub, Herr, sie stellt ein weiteres Hindernis für ein gewinnbringendes Unternehmen dar, daran besteht kein Zweifel. Sie kostet mich zwei Silberstücke pro Tag, und dafür bekomme ich einen halben Tag lang Widerworte und freche Antworten. Siebenhundertdreißig Silberstücke im Jahr, so, wie Ihr sie dort seht, und ich habe noch drei weitere solcher Pflegerinnen! Sie kosten nicht ganz so viel und haben nicht annähernd ihr Schandmaul, aber die Insassen geraten bei jedem anderen als Decrevi außer sich, könnte man sagen. Zudem musste ich ihr noch das Leuchtjuwel kaufen, weil sie ständig gejammert hat, ›es ist zu dunkel hier Fünfundsiebzig Silberstücke, aber meine Güte, schließlich ist es nur Geld, nicht wahr?«

Abgesehen von den lächerlich geringen Summen, um die es ging, konnte Alban sich nicht vorstellen, was ihn an Roodvilles Gerede so beunruhigte. Wenn es um sein eigenes Unternehmen ging, gab Alban routinemäßig dieselben Floskeln von sich. Warum dieses Unbehagen? Hatte der sterbende Fremde Alban irgendwie an eine frühere Zeit erinnert, an seine jungen Jahre in der Krieger-Disziplin?

Idiot! Du kennst den Mann nicht. Alban wechselte das Thema. »Ameisen, Roodville. Wenn dieser arme Kerl voller Ameisen war, sind sie vielleicht auch in mein Lager eingedrungen. Wir können befallene Kisten zurücklassen, wenn wir den Rest verlegen. Holt ein Brecheisen.«

Sie überließen Filantha ihrer Totenwache und machten sich daran, die Kisten zu öffnen. Donnerschläge übertönten den Krach, da Roodville eine Kiste nach der anderen aufstemmte. Durch das Kreischen angeregt, das zur Abwechslung einmal nicht auf den Einsatz der Stachelrute zurückzuführen war, fand Roodville Gefallen an der Arbeit.

»Pro Tag Verspätung vierzehnhundert!«, murmelte er bei der Arbeit vor sich hin. »Hier geht es wirklich um Geld, Roodville.«

Alban sah die Arbeit Hunderter Handwerker, Alchemisten und unbedeutenderer Adepten gründlich durch, fand aber keine Ameisen. Das Astendar und andere Gewürze der T‘skrang in ihren Sandelholzkästchen, die Immervollen Krüge mit Süßigkeiten, Augenglanz-Pilze, prismatische Weinkrüge, Senfkörner, Liebestränke, Heiltränke und Stärkungsmittel, alles erwies sich als unversehrt. Auch solche Delikatessen wie Espagraknochen in Gelee und der kandierte Konfekt schienen unangetastet. Alban machte sich nicht die Mühe, die Heißen Töpfe zu überprüfen, die Essen erwärmten, wenn der Besitzer das auf den Topf gemalte Wort sprach, auch nicht die Rundumspiegel, Feueranzünder und Panflöten der hundert Melodien. »Alles sieht gut aus«, sagte er zu Roodville. »Nagelt sie wieder zu. Wo sind die Arbeiter, um sie in Sicherheit zu bringen?«

»Wir können sie jetzt nicht vom Wall abziehen, Herr, wirklich nicht. Sie tun, was sie können, um den Fluss einzudämmen.« Zwei stämmige Insassen machten sich daran, die Kisten wieder zu packen. Ein letzter Funke Zurückhaltung ließ Roodville davon absehen, von Alban für jede wieder geöffnete Kiste die doppelte Vergütung von vier Kupferstücken zu verlangen.

»Na schön.« Alban seufzte. Er betrachtete die Kisten mit einiger Enttäuschung. In diesen Waren steckte der größte Teil seines Vermögens. Als er die Insassen Antimers so billig gemietet hatte, um seine Kisten zu packen, hatte er von einem riesigen Profit geträumt, genug um die ganze Anstalt zweimal kaufen zu können, falls es ihn danach gelüstete. Jetzt, viele Tage später, hoffte er nur noch, seine Ware aus Merron wegschaffen zu können.

»Vielleicht kennt Ihr einen anderen Kaufmann«, sagte er, »der mit dieser, wie Ihr es nennt, beeindruckenden Investition größere Katastrophen erlebt hat als ich.«

»Gar nicht, Herr, nein.«

»Dann kennt Ihr also niemanden, der die Verschickung seiner Ware auf einem Flussboot der T‘skrang zu einem Spottpreis in Auftrag gegeben hat? Und dann miterleben musste, wie zwölf Tage vor dem Transportdatum jedes Schiff in der Stadt kenterte, sank oder explodierte?«

»Die meisten Leute, die ich kenne, Herr, glauben, dass die Heimsuchung genau da begonnen hat.«

»Wisst Ihr von anderen Kaufleuten, die zum Luftschiffhafen geeilt sind, um auf dem nächsten Drakkar nach Throal Frachtraum zu überhöhten Preisen zu kaufen? Und dann miterleben mussten, wie katastrophale Stürme jedes Luftschiff zwangen, die Stadt leer zu verlassen und zum sicheren Hafen in Urupa zu fliegen? Wisst Ihr von einem ähnlichen Fall?«

»Pech und doppeltes Pech, wie man so sagt, Herr.«

»Ich habe dreifaches und vierfaches Pech mit der Karawane erlebt, die ich zu einem aberwitzigen Preis gemietet hatte. Zehn Tage Regen bisher, und von meiner Karawane ist nichts zu sehen, richtig?«

»Wahrscheinlich liegt sie irgendwo flussaufwärts fest, Herr.«

»Wahrscheinlich weiß man dort, dass irgendetwas oder irgendjemand diese Stadt verflucht hat! Giftige Rauchschwaden in den Magieschulen. Pflastersteine, die weich werden und Wagenräder festhalten. Alle Bewohner einer Straße vergessen, wie man spricht. Und jetzt sind wir nur noch eine Stunde von einer Überschwemmung entfernt.«

»Eher eine halbe«, ertönte eine Stimme aus dem Vordereingang.

Einen Augenblick lang fragte Alban sich, ob der Sturm selbst Gestalt angenommen hatte. Der gewaltige Mann in der Tür hatte wirre schwarze Haare, und ein Windstoß zerzauste seinen langen schwarzen Bart. Auf seine meerblaue Robe waren mit leuchtend weißem Faden Blitze gestickt, in seiner weißen Schärpe, die mit Brombeerblüten und gelbem Fingerkraut behangen war, steckten Glasphiolen mit Stopfen aus Wachs und Folie. Zwischen den Stopfen sprangen Funken hin und her.

Obwohl er aus dem Regen kam, sah der Adept trocken aus. Seine Stimme klang wie Donnergrollen. »Bald wird der Regen noch heftiger fallen. In einer halben Stunde wird der Fluss weit über jede Barriere gestiegen sein, die Ihr bauen könnt.«

Sprachlos starrten Alban und Roodville dem Adepten in die meerblauen Augen. Sie sahen Überzeugung darin. Sie sahen seine dicken Lippen, blass wie Sandstein und zu einer Miene der Entschlossenheit gespitzt. Sie hörten seine Stimme, und sie glaubten ihm.

»In einer Stunde wird hier jeder schwimmen«, fuhr der Zauberer fort. Er hob eine Hand, die mit vielen Ringen geschmückt war. »Evakuiert die Verrückten auf höheres Gelände auf der anderen Seite der Brücke.«

»Herr«, begann Roodville mit zitternder Stimme, doch Alban unterbrach ihn. Er schob seinen Umhang beiseite, um seine gelbe Schärpe zu zeigen. »Herr Elementarist, ich werde über Euer Ansinnen nachdenken. Aber zuerst stellt Euch vor. Und als nächstes muss ich Euch rekrutieren, um die Flutwälle hinter dieser Anstalt zu befestigen. Wir haben nur wenig Zeit.«

»Man nennt mich Britham Boyhan«, sagte der Elementarist ungerührt. »Bevor Ihr Euch Sorgen um Eure dem Untergang geweihten Wälle macht, Landmann Wer-Ihr-Auch-Seid, solltet Ihr Euch um Eure Manieren kümmern. Wir, die wir die fünf Elemente der Natur gestalten, beugen uns weder Merrons gegenwärtigen drei Magistraten, noch seinen ungezählten ehemaligen Magistraten.« Er wandte sich zum Gehen.

»Ich bin Alban Peyl, Krieger im Orden des Inneren Lichts!« Albans Stimme hallte durch die Anstalt. Alle anderen schwiegen.

»Tatsächlich«, sagte Boyhan nach einer kleinen Weile. Er trat näher. Insassen der Anstalt beeilten sich, ihm Platz zu machen. Ein Hauch kühler Luft schien ihn zu begleiten.

»Habt Ihr von mir gehört?«, fragte Alban einen Augenblick, bevor der Elementar ist das Wort ergreifen wollte. Als Krieger, Magistrat und Kaufmann wusste Alban, wie man sich die Initiative bewahrte.

Boyhans Miene behielt ihren Ausdruck nichtssagender Höflichkeit. »Ich kenne die Geschichte eines Kriegeradepten namens Alban Peyl, der dabei geholfen hat, Merron vor dem theranischen Magier Intrantivere zu retten. So, wie mir die Legende erzählt wurde, endete sie, als er den Rat der Magistrate nach einer Amtsperiode verließ.«

Roodville zeigte stolz auf Alban. »Das ist er! Natürlich haben uns zehn Jahre alle verändert.«

Alban musterte Boyhan mit stetem Blick. »Roodville, nehmt die Witwe Decrevi und alle Insassen, denen Ihr vertraut, und lasst den Sandwall höher und schneller bauen. Sofort.«

Sekunden später standen Kaufmann und Zauberer – abgesehen von den teilnahmslosen Insassen des Irrenhauses – allein da. Alban betrachtete Boyhan, der ihn um einiges überragte. »Merrons Zauberer haben nichts gegen diese Heimsuchung unternommen. Ich werde nicht nach dem Grund fragen.«

»Nicht? Tausende tun es dieser Tage.«

»Alle bekommen sonderbare Antworten, sie seien damit beschäftigt, Krankheiten zu vertreiben, Wunden auszubrennen oder...«

»Brandige Glieder zu amputieren. Verzeihung, Landmann Peyl.« Boyhans Blick wanderte kurz zu Albans leerem Ärmel, und die Brise, die ihn umgab, kitzelte unverschämt Albans Nase. »Also nutzt Ihr nicht Eure angebliche Vergangenheit aus, um Antworten zu finden? Ich bewundere solcherart Zurückhaltung.«

»Ich kenne die Antworten schon. Ich habe mit Geokosmos geredet.«

Der Zauberer fuhr zusammen, und die Luft rings um ihn beruhigte sich plötzlich. Er runzelte die Stirn und versuchte, seine Überraschung zu verbergen. »Ihr benutzt einen Ausdruck, der mir nicht geläufig ist.«

»Ich bitte Euch, Boyhan. Überrascht es Euch, dass ein Magistrat und Adept – und natürlich ein ›Was-auch-immer‹ – von Eurer geheimen Gilde der Elementaristen weiß? Und von Euren Rivalen in den Gilden der Geisterbeschwörer und Magier, Oneiros und Noesis?«

»Rivalen! Geokosmos lässt sich kaum dazu herab, sie zur Kenntnis zu nehmen.« Der Wind, der Boyhan umgab, wurde warm und unbeständig.

»Höre ich da Verachtung?«, sagte Alban. »Ihr scheint Eure Verachtung vor Euch herzutragen wie einen Mantel, Adept, und doch haben die Führer von Geokosmos angedeutet, dass sich zumindest ein Zauberer die Achtung der Gilde verdient hat. Dieser Zauberer hat die Flut mit stillschweigender Duldung von Geokosmos geschaffen. Doch die Gilde kennt nicht einmal den Zweck der Flut! Wie könnt Ihr diese Katastrophe entschuldigen?«

Offene Verwunderung war in Boyhans blauen Augen zu erkennen, die gleich darauf Argwohn wich. »Ihr scheint eine Menge zu wissen. Warum nicht auch das?« Boyhan warf wiederum einen Blick auf Albans leeren Ärmel. »Kennt Ihr den Namen ›dieses Zauberers« oder seine Absichten?«

»N-nein, aber...«

»Jetzt erinnere ich mich an das Ende der Legende.« Die Brise um Boyhan zupfte an seinem Bart. »Alban Peyl, der neue Magistrat, heiratete die Magierin, die ihm geholfen hatte, das Amt zu erringen, Padia Villandry. Vielleicht redet in Wirklichkeit jemand anders mit den Führern von Geokosmos, hmm?«

Alban verbarg seine Enttäuschung über das Misslingen seines Bluffs. Boyhan hatte mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Zauberer, die Alban missachteten, pflegten mit Padia zu reden. Tatsächlich übersah Padia Alban ebenfalls seit Jahren, wenn sie ihn nicht gerade schalt. Er versuchte Boden gutzumachen. »Ich habe Euch eine Frage gestellt, Boyhan. Wie könnt Ihr diese Katastrophe gutheißen?«

»Eine Katastrophe ist es nur aus dem beschränkten Blickwinkel der Namensgeber, aber die Natur webt an einer größeren Decke, und ihre Nadel heißt Wandel. Das Feuer, das die Pinie verbrennt, verstreut Samen in alle Richtungen. Regen trägt den Berg ab, und aus seinem Staub entsteht reiche schwarze Erde.«

»Wahrscheinlich widersprechen Baum und Berg dieser Vorstellung«, sagte Alban schroff. »Angesichts der Tatsache, dass ihr Elementaristen nicht einmal wisst, warum ihr die Nadel der Natur auf Merron einstechen lasst, könnte sie ihr Stopfen nicht woanders erledigen?«

»Laffe.« Boyhan wandte sich angespannt ab. Staub wirbelte hinter ihm auf. Er ging an den Kisten vorbei, und ihre Beschriftung fiel ihm ins Auge.

»Aha.« Boyhan entspannte sich und lachte. »Jetzt verstehe ich die noble Besorgnis des Kriegeradepten. Sollen die Verrückten ruhig ertrinken, sollen sich ihre Leichen stapeln wie Klafterholz, Hauptsache ist, die Natur rührt meine Töpfe und Gewürze nicht an, nicht wahr, Krieger?«

»Hört, Ihr...«

Ennis Roodville kam nass und verzweifelt von draußen hereingelaufen. »Der Pegelstand ist bereits eine halbe Spanne höher als noch vor zehn Minuten, Herr.«

»Zwei Minuten zu früh«, flüsterte Boyhan.

»Schickt einen Boten auf die Straße«, sagte Alban zu Roodville. »Er soll jedem kräftigen Mann, den er trifft, fünf Silberstücke oder Ware im Wert von zehn Silberstücken anbieten, wenn er beim Bau des Walls hilft. Er kann sich auf mich berufen.«

»Wartet«, sagte Boyhan. »Vergesst den Wall und schafft die Patienten heraus. Dieses Haus steht keine Stunde mehr. Dann ertrinken alle Insassen, und Eure Gier ist daran schuld!«

»Ich weiß, wer die Schuld hat.« Albans Stimme zitterte vor unterdrückter Wut. »Wenn wir jetzt fliehen, überflutet das Wasser den ganzen Stadtteil. Jeder verliert ein Heim und sein Lebenswerk. Die Leute halten Nachtschatten für lasterhaft, Boyhan, aber hier leben viele ehrliche Familien. Ich bin nicht bereit, deren Leben wie Klafterholz zu stapeln.« Selbst Alban wusste nicht, ob er log, um seine Halsstarrigkeit zu entschuldigen, oder ob er seinen wahren Gefühlen Ausdruck verlieh, die er erst entdeckt hatte, während er sie aussprach.

»Roodville, geht!«

Blitze zuckten, als Roodville hinauslief. Licht glimmte mitfühlend um Boyhans aufgestickte Blitze. »Landmann Peyl«, sagte Boyhan, »versteht doch. Geokosmos hat diese Flut heraufbeschworen oder einem anderen dabei geholfen, es zu tun, aber wir können sie jetzt nicht mehr aufhalten. Das Wasser steigt.

Wie der Byrose in seiner Furt«, fuhr Boyhan fort, »fließen auch die Bestandteile der Welt. Feuer, Luft, Wasser, Holz, Erde, alles fließt in seinem ganz eigenen Rhythmus. Jedes Korn Materie folgt einfachen Regeln, die meine Disziplin kennt. Doch wenn sich Massen von diesen Körnern sammeln, drängen sie sich gegenseitig auf Bahnen, die so komplex sind, dass sie auch der Weiseste nicht vorhersagen kann.«

Der Elementarist bekam einen entrückten Blick, seine Stimme wurde leise. »Auf der flachen Ebene fließt der Fluss ohne Störung, und ein Fels in seinem Bett kann die Strömung nicht verändern. Doch in einer Stromschnelle kann derselbe Fels hoch oben den Sturzbach weit flussabwärts verändern. Ein Kiesel, den ich auf einen flachen Boden werfe, bewirkt gar nichts. An einem Steilhang kann er eine Lawine auslösen. Das Flattern der Flügel eines Sperlings kann die Luft aufladen, sodass ein entferntes Gewitter einen anderen Lauf nimmt.

Elementaristen finden die Domänen der Belastung der Natur, wo eine gezielte Willensanstrengung die Lawine oder die Flut bringt. Wir von Geokosmos helfen dem Willen, der diese Flut bringt, schon seit langem.«

»Und Ihr könnt sie nicht rückgängig machen?«

»Rückgängig machen? Nichts wird je rückgängig gemacht. Nur der Fluss verändert sich. Aber nein, wir können die Flut nicht eindämmen.«

»Vielleicht könnte es derjenige, dem Eure Gilde dient?«

»Ja. Wahrscheinlich. Ich glaube, ihm ist nichts unmöglich.« Wiederum wanderte Boyhans Blick zu Albans rechtem Ärmel. »Wie habt Ihr diesen Arm verloren?«

Verblüfft sagte Alban: »Wenn ich es Euch sage, helft Ihr uns dann beim Bau des Sandwalls?«

Der Elementarist schwieg. Er strich nur mit der Hand über die gepackten Kisten. Er sang leise vor sich hin, und das Holz quoll um seine beringten Finger wie geschmolzenes Glas.

»Also schön«, sagte Alban. »Wenn Ihr es unbedingt wissen wollt, es ist kurz vor der Auflösung der Gesellschaft der Grauen Eule passiert. Wir haben Intrantivere von Throal nach Merron verfolgt. Er und seine Schergen wollten einen Dämon beschwören, um alle Zuschauer bei einem Turnier zu töten.

Im letzten Augenblick durchkreuzte die Gesellschaft seine Pläne, obwohl, um die Wahrheit zu sagen, Padia und ich den Kampf versäumten. Diese Ehre gebührt den anderen: Denson, der unser Anführer war, den Zauberern Wulf und Han Lun, Grimborn dem Bogenschützen und – es gab noch einen anderen ...«

Du kennst ihn nicht.

»Der Name liegt mir auf der Zunge ...«

Dummkopf! Kein anderer. Es hat nie einen anderen gegeben!

»Komisch, ich dachte, sie hätten noch mehr Hilfe gehabt.« Wiederum konnte Alban keinen klaren Gedanken fassen. Ohne zu wissen, warum, wanderte sein Blick zu dem reglos da liegenden Fremden. Sofort überfiel ihn ein Unbehagen, und er wandte sich rasch wieder ab. »Doch mein Gedächtnis lässt mich nach all den Jahren im Stich. Wo war ich?«

»Padia und Ihr habt den Kampf verpasst«, sagte Boyhan.

»Ach ja. Wir gerieten bei der Verfolgung eines von lntrantiveres Handlangern, einem elenden kleinen Ork-Illusionisten namens Vilph Axtgriff, in einen Hinterhalt. Wir erwischten ihn auf seinem Luftschiff über dem Hafen von Altstadt, als er versuchte, aus der Stadt zu fliehen. Es war Nacht. Während Padia mit Vilph kämpfte, musste ich sie vor einem Dutzend mit Enterhaken bewaffneter Luftschiffmatrosen beschützen. Ich erledigte sie alle, aber dem letzten, einem großen Troll, gelang es, mich mit sich über Bord zu reißen.

Weil der Troll mich ständig störte, konnte ich nicht sehr gut gleiten. Ich schlug schwer auf, wenngleich nicht so schwer wie er, Mynbruje sei Dank. Vilphs Besatzung hatte alle Hafenarbeiter getötet. Ich lag dort auf dem Luftschiffhafen, tot für die Welt, bis Padia Vilph verlor und nach mir suchte. Sie sagte, als sie unten ankam, habe sie jemanden mit einer leuchtenden Silberschnur weglaufen sehen. Als ich erwachte, war mein rechter Arm verschwunden. Die Narben zeigten, dass er Magie zum Opfer gefallen war. Vilph muss die Schnur um meine Schulter gewickelt und wie eine Garotte durchgezogen haben. Er ist entkommen.«

»Nehmt Ihr an, dass Vilph Euch den Arm abschnitt?« Boyhan zeigte neues Interesse bei der Erwähnung der silbernen Schnur.

»Ja, natürlich. Er war der rachsüchtigste und böswilligste Schurke, den ich je kennengelernt habe, außerdem ein Lügner und ein Dieb. Wer würde mir sonst einen Arm amputieren und mich am Leben lassen? Außerdem hat er mir mein Lieblingsamulett gestohlen.«

»Zeigt mir die Narben.« Boyhan ging mit ausgestreckter Hand auf Alban zu.

»Hört her, wir sind hier nicht auf einer Ausstellung für Zauberlehrlinge. Werdet Ihr mir dabei helfen, den Sand ...? Was fällt Euch ein, hört auf!«

Boyhan riss grob Albans Immerreinen Umhang beiseite, öffnete das Samtwams und entblößte die rechte Schulter. Vor zehn Jahren noch hatte Alban ein Dutzend Angreifer besiegt. Jetzt zerrte er unbeholfen an Boyhans muskulösen Armen. Der Zauberer riss das weiße Seidenhemd auf und betrachtete die gerunzelten Narben auf Albans Schulter.

»Exakt«, murmelte Boyhan. Winzige Runen waren wie Male in Albans Haut eingebrannt und bildeten einen Kreis um den Kreuzungspunkt des strahlenförmigen Narbengeflechts. »Ganz genau. Das sind theranische Runen. Übersetzt lautet die Inschrift Zum Wohle Merrons.«

»Glaubt Ihr, das wüsste ich nicht?« Alban schlug um sich wie eine Maus in der Falle. »Für Intrantivere bedeutete ›das Wohl Merrons ‹ , dass das Theranische Reich die Stadt zurückeroberte! Offensichtlich hat er Vilph die Schnur gegeben.«

»Warum heißt es dann aber ›Merron‹? Die Theraner nennen diese Stadt immer noch ›Wasserstadt‹. Sie haben sie gegründet, um elementares Wasser im Byrose zu sammeln.«

Alban riss sich los, oder vielmehr ließ Boyhan ihn frei. »Auch das weiß ich! Wie kann ich theranische Magie erklären?«

»Niemand bestreitet, dass die Theraner dazu in der Lage sind«, sagte Boyhan nachdenklich, »aber diese Schnur ist nicht theranisch, obwohl sie auf Theras Kunstfertigkeit beruht. Und Vilph hat Euren Arm nicht abgetrennt. Aber ich rede zu viel. Ich bin froh, Eure Geschichte gehört zu haben, denn sie stärkt mein Zutrauen. Ich weiß, dass Geokosmos‘ Handlungen seltsam erscheinen, aber wir haben einen Grund dafür.«

»Ach, habt ihr das?« Alban traten die Augen aus den Höhlen. »Eure Gilde überschwemmt die Stadt, ertränkt Gebrechliche und Kinder, treibt Tausende von unschuldigen Familien aus ihren Häusern, verwüstet mehr Besitz als eine plündernde Armee und gibt uns eine Erklärung dafür, die ich nicht einmal einem Hund anbieten würde? Ihr begeht diese seltsamen Handlungen aus einem Grund? Aus welchem Grund?«

»Zum Wohle Merrons«, sagte Boyhan leise.

Alban sprang. Seine Finger krallten nach Boyhans rechtem Auge, und sein Knie schoss hoch. Luft drang wie eine Windbö aus Boyhans Lungen, die Insassen der Anstalt stießen bestürzte Schreie aus, und einen Augenblick lang empfand Alban wieder die erhebende Klarheit, die vor langer Zeit seine Kämpfe ausgezeichnet hatte. Er zog am Bart des Zauberers – in der Absicht, ihn niederzuwerfen. Er konnte seine Probleme bekämpfen, seine Lebenskrisen, wie er seine Gegner bekämpfte. Sie besiegen. Triumphieren!

Plötzlich frischte der Wind auf, blendete Alban und schob ihn zurück. Sein Heulen in Albans Ohren hatte Boyhans Stimme. Bevor Alban aufschreien konnte, prallte er gegen einen Stapel Kisten, fiel auf den Steinboden und lag still.

Gequälte Schreie hallten durch das Irrenhaus. Roodville, Filantha Decrevi und die anderen Pflegerinnen kamen vom Flussufer hereingelaufen. »Steh still!«, rief Boyhan. Der Wind legte sich, und in die Stille hinein sagte er: »Der Magistrat lernt gerade eine Lektion.«

Kratzer bluteten auf Boyhans Wange. Der Zauberer gestikulierte, und ein kerzenflammengelber Feuerkreis leuchtete rings um eine Fingerspitze auf. Er zog das Feuer langsam über seine Wange wie eine Klinge. Dann wischte er das pulverisierte Blut weg. Darunter wurde frische Haut sichtbar. »Eine Lektion«, wiederholte er, indem er sich in Bewegung setzte. »Dass der Weg des Adepten Einsicht und Selbstbeherrschung ist. Dass er von beidem nicht mehr hat als jeder beliebige Geldraffer und weniger als ein Pferd. Dass seine Weigerung, euch alle zu retten, keinem Heldentum, sondern lediglich eigensinniger Gier entspricht.«

Immer noch benommen, erlitt Alban die Qual der Demütigung. In diesem Augenblick hätte er sich und die Erinnerung an ihn mit Freuden zerstört, um Boyhans Worten zu entrinnen.

Boyhan kniete sich neben Alban, und in seiner Stimme lag Mitleid und Verachtung. »Diese Schnur hat mehr abgetrennt als Euren Arm, Landmann Schmerbauch. Oder vielleicht verschwindet Magie nicht mit einer Schnur oder ähnlichem Schnickschnack. Vielleicht habt Ihr Euch nur von Eurer Disziplin losgesagt und Euch vom Wohlleben abstumpfen lassen.«

Im Tonfall des Bedauerns fügte Boyhan hinzu: »Eine gewöhnliche Person sollte keinen Adepten angreifen. Ich fürchte, ich muss an Euch ein Exempel statuieren. Diese Lektion ist noch nicht ganz vorbei.« Er streckte wieder seine beringten Finger aus.

Nik-nik-nik. Boyhan erstarrte überrascht, als ein leises Klicken wie von Metall auf Glas von seinem Ärmel ertönte. Braune Punkte verdunkelten die leuchtenden Fäden und wurden rasch größer, während sie sich seiner Schulter näherten. Boyhan starrte entsetzt auf Beine wie Stängel, segmentierte Leiber, Facettenaugen und ein zuckendes Fühlerpaar auf jedem dreieckigen Kopf. Es waren die Beißzangen der Ameisen, die das Klicken verursachten.

Boyhan sprang auf und schüttelte seinen Arm. Mittlerweile krabbelten auf beiden Ärmeln, auf Brust und Rücken und auf dem Rockteil seiner Robe Ameisen. Die Insekten waren jetzt so groß wie Weintrauben, und alle krochen stetig auf sein Gesicht zu. Boyhan sprang hin und her wie ein Derwisch und rief Teile von Beschwörungsformeln, die Schneestürme, sengende Flammen oder Eiskristalle herbeibringen sollten. Doch bei jedem Zauber hielt er mittendrin inne. Kein Zauber konnte die wachsenden Ameisen von seinen Gewändern fegen, ohne ihn dabei ebenfalls zu verletzen.

Flammen, Schnee und Eis, Blitze zuckten immer wieder rings um Boyhan auf, da er sich gegen die Ameisen wehrte, die mittlerweile so groß wie Ratten waren und immer noch wuchsen. Nik-kikikk. Bei einem Insekt brach der geschwollene Hinterleib weg, und schwarzes Blut quoll aus dem Rumpf. Boyhan krümmte und wand sich, und bei einer Ameise nach der anderen brachen die überlasteten Beine.

Einen Augenblick später hätte Boyhan wahrscheinlich einen geeigneten Zauber gefunden. Und kurz darauf wären die Ameisen an ihrem eigenen Gewicht gestorben. Doch bevor es dazu kam, ertönte eine tiefe Frauenstimme in der Dunkelheit. In dem Zeitraum zwischen einem hastigen Atemzug und dem nächsten waren die Ameisen verschwunden. Boyhan schlug noch ein paar Augenblicke um sich, bevor er es begriff. Er sprang keuchend von einem Fuß auf den anderen und suchte seinen Angreifer.

»Nun denn, Städter Boyhan«, ertönte die Frauenstimme erneut. Die dazugehörige Gestalt tauchte mit königlichem Schritt aus den Schatten des Vordereingangs auf. Ihr zusammengefaltener magischer Regenschutz tropfte bei jedem Schritt. Die schlanke, kräftige Frau trug die Robe eines Zauberkundigen, aber nicht die weite Gewandung eines Adepten. Sie hatte ihre braune, engsitzende Robe im Stil von Altstadt ihrer schlanken Taille angepasst, und darüber trug sie ein Mieder in einem satten Orangeton. Ihr kurzes schwarzes Haar, das Spuren von Grau aufwies, kräuselte sich unter einem orangefarbenen Käppchen mit einer kleinen Finkenfeder. Die Kleidung war zwar unpraktisch, folgte aber der anspruchsvollsten Mode. »Es tut mir ja so leid, dass ich mich so plötzlich eingemischt habe«, fuhr sie fort. »Verzeiht meine Grobheit. Ich bin sicher, Ihr versteht, dass ich meinen Mann beschützen musste.«

»Die Magierin«, sagte Boyhan benommen. »Padia Villandry.«

Padia lächelte, als biete sie ein Tablett mit Appetithäppchen an. Große, schwarzumrandete Augen glänzten über einer kleinen, dünnen Nase. »Es tut mir leid, mir war ganz entfallen, dass wir einander noch nicht vorgestellt worden sind. Ihr Freund, Städter Laverlane – gehören ihm nicht diese vier reizenden Gasthäuser in Schlußstein und Altstadt? –, hat sich bei den Theatervorstellungen so lobend über Euch geäußert – unsere Logen liegen nebeneinander –, dass ich das Gefühl habe, Euch bereits zu kennen.«

»Zügelt dieses Gefühl«, sagte Boyhan scharf. »Nennt mir nur einen Grund, warum ich nicht...!«

»Verzeiht mir, Adept, aber könntet Ihr mit der Ausführung Eurer Gedanken vielleicht noch ein wenig warten? Ich habe meinen Mann noch nicht begrüßt.« Padia ließ Boyhan einfach stehen. »Alban, mein Lieber, lass mich dir aufhelfen. Diese Robe muss gereinigt werden. Oh, und du hast dein Hemd zerrissen.«

Sie wandte sich wieder an Boyhan. »Habt Ihr Euren Kampf gegen diesen einarmigen Mann jetzt beendet, Adept? Oder stellt er noch immer eine Gefahr dar?«

Wenn sie ihn bedroht, um Gnade gefleht oder Hilfe herbeigerufen hätte, wäre Boyhan ihr die Antwort nicht schuldig geblieben. Doch mit zwei Sätzen hatte Padia den Konflikt in ein ganz anderes Licht getaucht, sodass Boyhan keine ehrenhafte Antwort einfiel. Ein Insasse lachte, aber der feurige Blick des Elementarsten ließ ihn rasch verstummen. Das Schweigen dehnte sich.

Geschlagen richtete Boyhan sich auf. »Aufseher!«

Ennis Roodville trat vor. »Herr! Äh, ich meine ...«

»In einer Viertelstunde wird der Fluss die Anstalt überschwemmen. Schafft die Insassen zum Westende der Schwalbenschwanzbrücke. Questoren von Garlen und Mynbruje warten dort, um Euch zu helfen. Landfrau Villandry, Landmann Schmer... Peyl: Lebt wohl.«

Der Elementarist verließ die Anstalt. Ein Blitz erhellte den Himmel, und einen Augenblick später ließ ein Donnerschlag das Dach erbeben.

Padia richtete Albans Hemd und Robe und sprach leise und durch zusammengebissene Zähne. »Wenn es um großartige Abgänge geht, ist auf einen Elementarsten immer Verlass. Ich wollte dir eigentlich den neuen Zauberstab zeigen, den ich Romantin abgekauft habe, aber ich hatte nicht damit gerechnet, ihn gleich hier und jetzt zu benutzen. Muss ich dich fragen, wie du in dieses idiotische Gerangel verwickelt worden bist?«

Alban suchte nach einer Antwort, die seine Würde in ihren Augen wiederherstellen würde, fand jedoch keine. Vielleicht konnte er sie in die Defensive drängen. Welch eine Ehe, in der er sich Gesprächstaktiken überlegen musste! Es wäre ihm lieber gewesen, von Boyhan verstümmelt zu werden, als Padia Zeuge seiner Demütigung werden zu lassen, denn diesen Vorfall würde sie ihm wahrscheinlich sein Leben lang Vorhalten. »Was für ein Zauberstab? Du hast mir nichts von einem Zauberstab gesagt.«

»Landmann«, sagte Roodville zögernd, »ich denke, ich beginne jetzt am besten damit, die Leute zur Brücke zu bringen, wenn es Euch recht ist. Ach, und guten Abend, Landfrau Villandry.« Er wählte seine Worte in ihrer Gegenwart sehr sorgfältig. Die beiden hatten eine gegenseitige Abneigung entwickelt, sorgsam verhüllt, seit Padia damit begonnen hatte, sich in der Altstädter Gesellschaft lautstark für eine Verbesserung der Zustände in der Anstalt auszusprechen.

»Hoffen wir, dass es ein guter Abend für jemanden in Merron werden wird, Städter Roodville«, sagte Padia spröde. »Alban? Sollen sie evakuieren?«

»Evakuieren«, wiederholte Alban. Das Wort schien ihn zu verhöhnen. Evakuieren, Landmann Schmerbauch? »Ja. Ich denke schon.« Seine Stimme bekam einen wehleidigen Unterton. »Ich war nicht gierig, weißt du, oder wenigstens steckte mehr dahinter.«

»Würdest du dich bitte zusammenreißen?«, flüsterte seine Frau. »Du bist ein Magistrat. Also benimm dich auch wie einer!«

Ich war ein Krieger, aber jetzt – Groll erfasste Alban, eine bittere Entfremdung von Padia, diesem Ort und seinem Leben. Doch ihre Worte klangen wahr. Er atmete tief. »Roodville, sind neue Männer aufgetaucht, um an dem Wall zu bauen?«

»Sechzehn, Herr, als ich zuletzt gezählt habe.«

»Ihr Passionen! So schnell?«

»Wie es der Zufall will, Herr, war mein Läufer – der junge Selby, der rothaarige Bursche – auch im Keller von Bondromes Bestem, wo ein Spiel um hohe Einsätze stattfand. Ein Spieler hat die anderen soeben mit einer Serie von vier Zwölfen ausgenommen, und diese anderen brauchen jetzt rasch frisches Kapital.«

»Wie ich sehe, ändert die Überschwemmung an einigen Dingen gar nichts. Zieht die Arbeiter und Pflegerinnen vom Wall ab. Sie können die Insassen zur Schwalbenschwanzbrücke bringen. Die neuen Männer sollen den Wall weiterbauen. Je länger sie die Überflutung hinauszögern, desto besser. Später können sie dann meine Waren in Sicherheit bringen.«

»Gewiss, Herr.« Roodville hob seine Stachelrute und wandte sich zum gehen.

»Könntet Ihr die Rute vielleicht ein wenig sparsamer einsetzen, Städter Roodville?« rief Padia. Roodville drehte sich mit beleidigter Miene zu ihr um. Als er in den Regen hinausging, hatte er die Stachelrute gesenkt.

Jeder Arbeiter in der Anstalt begann mit den Vorbereitungen für den Auszug. Insassen schrien vor Angst auf, als sich die Türen ihrer Pferche kreischend öffneten. Alban und Padia standen unbemerkt da. Vor seinem geistigen Auge sah Alban sich vergeblich gegen einen berobten Arm wehren. »Landmann Schmerbauch«, hallte es in seinen Gedanken. In seiner Verzweiflung ging er auf das nächste Ziel los. »Du musst kritisieren, nicht wahr? Mag die Katastrophe auch noch so groß sein, wir verändern die Welt!«

»Nachdem ich dich aus dieser lächerlichen Rauferei herausgeholt habe!«

Padia brach ab und sah sich um. Wandfackeln tropften in der feuchten Luft und vertieften die Schatten. Sie zog Alban zu einer dunklen Stelle neben den Kisten und drückte ihn gegen eine schimmlige Wand.

»Ich hätte keinen Dank erwarten sollen«, zischte sie. »Zweifellos schämst du dich zu sehr, um klar denken zu können. Warum? Weil jetzt jeder weiß, was wir schon seit zehn Jahren wissen? Löse dich von deiner Vergangenheit. Sei stolz auf das, was du noch bist!«

»Vielen Dank für dein liebevolles Mitgefühl. Was soll dieser Zauberstab? Hast du noch nicht genug Stäbe in deiner Sammlung?«

»Dieser ist ziemlich originell.« Aus ihrem Mieder zog Padia einen Kupferstab mit Messingbeschlägen. Eingeritzte Insekten bildeten darauf eine Doppelhelix. Padias Zorn verrauchte, während sie ihn bewunderte. »Die Einzelheiten seiner Herstellung sind für Sachverständige von Belang, aber da sie überwiegend technischer Natur sind, werde ich sie dir ersparen. Der Zauberstab funktioniert prächtig, wie du gesehen hast, aber ein Zauber, um Insekten zu vergrößern, reizt nicht viele Kunden. Romantin hat ihn mir billig überlassen.«

Alban wappnete sich. »Für wieviel?«

»Neunzehnhundert Silberstücke, auf Rechnung.«

»Chorrolis errette mich!« Er sank in sich zusammen und rieb sich die Augen.

Padias Mundwinkel verkniffen sich vor Empörung. »Dieser Zauberstab hat dich bereits errettet, als die Passion sich nicht hat blicken lassen. Dann musst du eben noch ein Dutzend Heiße Töpfe mehr verkaufen. Ist das ein Grund für billige Theatralik?«

In Albans Geist fand sich ein Durcheinander unklarer und einander widersprechender Gefühle vor. Er beschwerte sich aus Gewohnheit über den Preis des Zauberstabs, aber auf einer ganz bestimmten Ebene empfand er Stolz darüber, dass er Padia immer noch glücklich machen konnte. Andererseits lehnte er diese seine Nachgiebigkeit ab, die sie ausbeutete. Schließlich hatte sie ihrer Sammlung und ihren gesellschaftlichen Pflichten so viel Aufmerksamkeit gewidmet, dass sie ihre Disziplin fast ebenso sehr vernachlässigt hatte wie er seine.

Seine Verwirrung hatte einen Namen: Liebe. Nach einer Dekade der Querelen und Treuebrüche war seine Liebe nicht gestorben, sondern abgetaucht wie ein gejagtes Tier, hatte sich so gut versteckt, dass er sie selbst vermisste. Er vermisste sie sehr.

Angesichts dieses inneren Aufruhrs konnte er nur eine ausweichende Antwort anbringen. »Wir werden uns später über deine Extravaganzen unterhalten. Bist du bei diesem scheußlichen Wetter wirklich losgegangen, um einen Zauberstab zu kaufen?«

Padia lächelte, als wolle sie sagen, kein Unwetter könne einem Adepten etwas anhaben. »Nein. Ich habe Romantin zufällig auf der Brücke getroffen, als alle herausgekommen sind, um sich den Fluss anzusehen. Tatsächlich ist mir, während wir zugeschaut haben, eine ziemlich gute Idee gekommen. Ich dachte, wir könnten vielleicht in nächster Zeit eine große Abendgesellschaft für die Familien geben, sagen wir in sieben oder acht Tagen, und zwar zum Wohle der armen Opfer in Zweipfennig. Die Überschwemmung hat alles zerstört, Alban. Wir könnten ein hübsches Sümmchen für den Wiederaufbau sammeln und Lebensmittel, Spielzeug für die Kinder und ähnliche Dinge kaufen.«

»Hervorragende Idee, natürlich immer vorausgesetzt, die Überschwemmung vernichtet uns nicht auch.«

»Das bezweifle ich. Ich wage zwar zu behaupten, dass bei dieser Heimsuchung alles möglich ist, aber wir sollten trotzdem helfen.« Padia hielt inne wie ein Taucher, der kurz davor steht, von der Klippe zu springen. »Ich dachte, die Gesellschaft könnte auch der Anstalt helfen.«

»Was willst du damit sagen?« Albans Stimme bekam einen kalten Unterton. »Ich nehme an, du willst wieder unsere furchtbare Unmenschlichkeit anprangern?«

»Alban, ich habe lediglich gesagt...«

»Du hast nichts dagegen, mein Geld auszugeben, und dann reißt du mit selbstgerechtem Stolz alles ein, was ich aufgebaut habe!« Erinnerungen drangen ungebeten in sein Bewusstsein, Bilder von den Insassen, wie sie sich Ameisen in den Mund stopften, von Roodvilles Stachelrute, von verdrehten Gliedmaßen und rauem Husten. Er vertrieb sie wieder in das Dunkel seines Verstandes.

»Dann wäre dir lieber, wenn diese armen Teufel unter diesen schauderhaften Bedingungen verrotten und sterben?« Sie sah ihn ebenso an, wie Boyhan es getan hatte, ungläubig und verächtlich.

Er erhob die Stimme. »Warum willst du dich nicht dafür einsetzen, das zu verbessern, was bereits da ist, anstatt von Altstadt zu verlangen, es zu beseitigen?« Blutunterlaufene Augen von Insassen in der Dunkelheit, Roodvilles Grinsen, Boyhans höhnisches Gelächter, Landmann Schmerbauch! Er bekämpfte seine Gedanken wie Feinde.

»Wenn das dein Ernst ist«, begann sie, als plötzlich der Fremde Laute von sich gab.

Keiner von beiden hätte seine Stimme hören dürfen. Das Irrenhaus hallte vom Fluchen und Schluchzen wider, und der sterbende Fremde flüsterte beinahe. Dennoch erreichten sie seine Worte, als habe er gerufen. Einen Augenblick lang erkannten sie die Stimme, aber dann verwirrten sich ihre Gedanken, und sie wussten, dass sie sie noch nie zuvor gehört hatten. Dennoch liefen sie beide zu ihm. Er lag allein da, denn die Pflegerinnen hatten den Rest der Männer am Vordereingang versammelt.

Alban kniete sich neben den Fremden und hörte ihn verzweifelt die Worte wiederholen: »Vilph hat mir das angetan.«

»Was hat er getan? Wann? Wer seid Ihr?«

Jeder Muskel im Leib des Mannes war angespannt. Er wiederholte die Worte, als sei er von einem einzigen Gedanken besessen. »Vilph hat mir das angetan.«

Während er dem Fremden zuhörte, erinnerte Alban sich daran, gesagt zu haben: Komisch, ich dachte, sie hätten noch mehr Hilfe gehabt.

»Sieh nur, er zittert.« Padia sah sich um. »Keine Decken. Was für ein Schweinestall. Alban, gib ihm deinen Umhang.«

Alban zögerte. »Das ist mein Immerreiner Umhang.« Padias starrer Blick beschämte ihn. »Wenn dieser arme Kerl sich herumwälzt, könnte er das Gewebe beschädigen.« Padia starrte ihn noch immer an. Er geriet ins Stottern. »Außerdem sind ... sind mein Wams und mein Hemd zerrissen, und ich wäre lieber nicht so ungepflegt.«

»Besser das als etwas anderes.«

»O ja, spiel du nur die Rechtschaffene, du mit deinem Ameisenzauberstab. Von dem Geld, das du für ihn bezahlt hast, könntest du hier jeden Insassen einen Monat lang ernähren!«

Unter anderen Umständen wäre dies der Beginn einer stundenlangen Willensprobe gewesen. Dann richtete sich der Fremde mühsam auf und keuchte: »Vilph hat mir das ...« Die letzten Worte kamen heiser heraus, und dann sank der Mann schlaff zurück.

Der Leichenbestatter, der dünn wie eine Bohnenstange war, traf ein, um seine Vorbereitungen zu treffen. Arbeiter wickelten die Leiche ein und brachten sie weg. Alban, der mit überkreuzten Beinen in einer dunklen Ecke saß, achtete kaum darauf. Die Ereignisse schienen sich ringsumher zu überstürzen, und er fühlte sich isoliert und irgendwie gezwungen, sich nach innen zu wenden und sich seinen Gedanken zu stellen.

Die Leiche hätte ihm nicht so zu schaffen machen dürfen. In seiner Zeit als Adept hatte er Hunderte gesehen. Bei näherer Betrachtung wurde ihm jedoch klar, dass er nicht eine mehr gesehen hatte, seitdem Vilph oder sonst jemand seinen Arm gestohlen hatte.