Die gerühmte Frau - Jürgen Kaizik - E-Book

Die gerühmte Frau E-Book

Jürgen Kaizik

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Beschreibung

Das literarische Debüt einer jungen Schriftstellerin wird zum sensationellen, international gefeierten Erfolg. Ihre neuen Werke werden mit Spannung erwartet. Der Druck wächst. In dieser Zeit trifft sie auf einen gleichaltrigen Regisseur. Wie sie ist er auf der Suche nach der rechten Sprache für das, was Menschen bewegt. Trotz ihrer oft verschiedenen Ansichten versuchen die beiden eine Annäherung und künstlerische wie private Gegensätze zu überwinden. Doch als sie ihn ihr neues Manuskript lesen lässt, verlieren sie den Halt, den sie einander gegeben haben. Die Sprache der Gefühle kennt keine Kompromisse.

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Seitenzahl: 252

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Jürgen Kaizik

Die gerühmteFrau

ROMAN

Gewidmet Brigitte Schwaiger1949–2010

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

In New York schneite es. Der Wind trieb den Schnee durch die Straßenschluchten und den Passanten immer entgegen, egal aus welchen Richtungen sie kamen. Ihre Gesichter waren zu Knoten zusammengezogen und schimmerten rötlich feucht. Haare, Augenbrauen und Bärte flockenweiß. Die Körper im Kampfmodus, jeder gegen jeden. Taxis steckten irgendwo im Stau oder hatten sich sonst wie unsichtbar gemacht. Aus den Subway-Stationen dampften Schwaden verbrauchter Luft nach oben. Zu reden oder gar zu besprechen gab es in solchem Treiben nichts mehr. Trotzdem war es dem Mann gelungen, die Frau heil zurück ins Hotel zu schaffen. Als er ihr die Stiefeletten auszuziehen half und den Anorak, entdeckte er in dessen Innentasche die Handschuhe, die vor ein paar Stunden so vergeblich wie dringend gesucht worden waren. Da schlief sie schon, und wie ihm schien, friedlich.

Ihn selbst zog es noch einmal hinaus ins winterliche Durcheinander. Ein wenig Zeit war ja gewonnen, immerhin, vielleicht bis zum Abend. So lange würde sie schlafen. In wenigen Minuten hatte er den Central Park erreicht. Einige Schritte weiter und er war allein. Die Ruhe dort fühlte sich nicht anders an wie irgendwo sonst auf der Welt zwischen verschneiten Bäumen, wenn das einzige übriggebliebene Geräusch der Wind ist, der durch die Äste fährt, und man selbst einfach ein Teil des Waldes sein möchte. In der Stille erst spürte er, wie schneidend kalt es war, und wie wenig Schutz sein dünner Mantel ihm bot. So trieb die Kälte ihn bald wieder zurück zu den Menschen.

Eine unauffällige kleine Bar lockte ihn einzutreten. Drinnen saßen verloren einige Gestrandete, als deren Gefährte er sich sofort fühlte. Ohne miteinander in Kontakt zu treten, bildeten sie eine heimlich verschworene Gemeinschaft. Nachdem er sich ein Bier bestellt und auf einem angelaufenen Fenster ein Guckloch freigewischt hatte, überließ er sich angenehm erwärmt der Aussicht nach draußen. Dort tanzten die eisigen Flocken, sie tanzten wie verrückt, als wollten sie einander gegenseitig überbieten. War es auch allein der Wind, der sie jagte, so waren sie doch die Tänzer. Aber wenn der Wind einmal nachließe und endlich aufhörte, würden sie alle so friedlich auf den Straßen liegen wie die Frau jetzt in ihrem Hotelbett. An diesen seltsamen Gedanken erinnerte der Mann sich noch viele Jahre später Wort für Wort.

Das alles war nun fast ein halbes Menschenleben lang her. Von Anfang an waren sie beide so verschieden voneinander gewesen, wie Mann und Frau es nur sein konnten. Wie zum Trotz hatte sie das Leben Hals über Kopf aufeinander losgejagt, als hätte es gegolten, ein Exempel zu statuieren, an dem sich höchstens ein kindischer Gott erfreuen konnte. Als Nächstes hatte sich der Mann am Fenster gefragt, ob es ihm weiterhelfen würde, wenn so ein allwissender Geist ihm seine Geschichte und die der fremden Frau erzählen würde. Die ganze Geschichte, so als hätte er sie miterlebt und verstanden. War es möglich, die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen? Wer verstehen will, muss es selbst versuchen. Allerdings stecken wir alle in unseren Leben fest wie die werdende Statue in einem von vielen Stümpern grob behauenen Steinblock. Als da sind: Eltern, Lehrer und Lehrerinnen, Zufallsbekanntschaften, Konkurrenten, Kolleginnen, Freundinnen und Feinde. Oft genug auch beliebige Passanten, welche mit ihrem Hammer zugeschlagen hatten, ohne erst recht hinzusehen, um wen es da ging. Wie soll sich einer in solch zusammengeschustertem Machwerk erkennen?

Damals vor dem Fenster in New York, in der kleinen Bar, in der mich die sanfte Musik eine Zeit lang vom Sinn des Lebens träumen ließ, habe ich mir vorgenommen, wenn ich jemals wieder zu Verstand kommen sollte, nach der Wahrheit dieser Geschichte zu suchen. Es hat lange gedauert, sehr lange, bis ich mich traute. Der erste Schritt war dann, dass ich den beiden Figuren fremde Namen gab. Niemand sollte sich auf „sie“ oder „mich“ berufen können. So wurde die Frau zu Magda Lena und ich zu Josef, einfach, weil mein Vater so hieß.

Magda Lena war eine über Nacht international berühmt gewordene, junge Schriftstellerin. Josef ein Regisseur, dessen erster Film vor einigen Wochen im Fernsehen gelaufen war. Im Nachtprogramm. Beide jung genug für einen Kopf voller Pläne, und ein Herz offen und neugierig, was aus ihnen werden könnte. Dass es ein ausgeklügeltes Zusammenspiel vieler unterschiedlichster Dämonen gewesen sein musste, das sie beide zuletzt gemeinsam bis nach New York geführt hatte, ahnten sie erst, als es zu spät gewesen war.

Begonnen hatte es zwischen ihnen etwa ein halbes Jahr vorher. Es war Herbst gewesen. Am Ende eines viel zu langen, viel zu trockenen Sommers, als das Wetter endlich und nachhaltig umschlug. Da hing der Himmel mit einem Mal tiefer und schwer über dem Land und drückte aufs Gemüt. Die Nächte begannen früher und wollten oft nicht mehr enden. Da hatte Magda Lena jenen Fernsehfilm von Josef gesehen: Das einfühlsame Porträt eines Dichters, der vor hundert Jahren geboren worden war und zu Lebzeiten als eher schwierig galt. Der Film hatte ihr außerordentlich gefallen. Er hatte sie aufgemuntert und ihr wieder Mut gemacht, den eigenen Weg weiterzugehen, allen Zweifeln und Widerständen zum Trotz. Vielleicht hatte sie den unbekannten Gestalter des Filmes ein wenig mit dem verstorbenen Dichter identifiziert. Jedenfalls hatte sie den Regisseur im Telefonbuch gesucht, gefunden und spontan angerufen. Ob er Lust hätte, einmal als Regisseur mit ihr zusammenzuarbeiten, fragte sie ohne lange Einleitung. Sie nannte ihren Namen und ging davon aus, dass Josef sie kennen würde.

„Ein Film über Sie?“

„Nein. Eine Geschichte von mir.“

„Was für eine Geschichte?“

„Das weiß ich noch nicht.“

Zu dieser Zeit hatte er trotz ihres Ruhms noch keine Zeile von ihr gelesen. Aber ihre Stimme sprudelte aus dem Hörer wie ein Waldquell. Keine abgenutzten Phrasen, kein vorausbedachter Satz. Alles klang, als erzählte ein Mädchen ihrem älteren Bruder von den Träumen der vergangenen Nacht. Wenig später erst machte Josef sich kundig, dass Magda Lena etwa gleich alt war wie er.

Am einfachsten wäre, schlug sie zuletzt vor, er käme sie so bald wie möglich besuchen.

„Morgen?“

Sie zögerte plötzlich.

„Das ist etwas zu bald …“

„Übermorgen?“

„Einverstanden.“

Es klang, als lächelte sie. Das Bächlein plätscherte weiter. Josef hörte gern zu. Erster Stock. Altbau mit Hochparterre und Mezzanin, dafür aber ohne Lift! Die Beschreibungen der Schriftstellerin klangen knapp, waren aber ausführlich genug. Übrigens wohnte sie im selben Viertel wie er.

Wie in den meisten Gründerzeitbauten stammten auch dort die Treppen aus den ehemaligen Kronländern Österreichs. Aus grauem Granit gehauen, meinte man ihre Herkunft noch riechen zu können: Die dunklen Wälder Böhmens und die Armut der einheimischen Steineklopfer.

An der Tür der prominenten Autorin suchte Josef vergebens nach ihrem Namen. Zu sehen war eine verschlossene harmlose namenlose durchschnittliche Tür. An der Stelle, wo früher einmal ein Namensschild angebracht gewesen sein mochte, war das Holz heller. Ein vielsagender heller Fleck. So könnte ein „Tatort“ beginnen, dachte er, in dem er Regie führen würde. Er zückte seine kleine Bereitschaftskamera und richtete sie auf die Tür mit dem leeren Rechteck in der Mitte. Als er den Auslöser drückte, öffnete sich im selben Moment die Tür. Nicht bloß einen Spalt breit, sondern weit, wie plötzlich aufgerissene Augen. Im Türrahmen stand die junge Frau. Durch ein vorhangloses Fenster traf sie das Sonnenlicht von hinten. Es leuchtete rund um sie, beinahe wie ein Strahlenkranz. Sekundenlang fühlte Josef sich von dieser Erscheinung überwältigt. Das Bild passte so gar nicht zu der Stimme, die er per Telefon vernommen hatte. Kein sprudelnder Quell, eher ein Waldteich. Von dunklen Bäumen umwachsen, durch die ein paar Lichtpfeile flogen.

Sie stand da, als müsste sie erst überlegen, von welchem Stern und weshalb er da gerade vor ihrer Wohnungstür gelandet war. Ihr Denken kam nur mühsam von der Stelle, weil sie müde war. Sehr müde. Plötzlich fiel es ihr ein.

„Vergessen! Unsere Verabredung, ja. Vollkommen vergessen! Ich habe die ganze Nacht gearbeitet. Und nichts weitergebracht. Wenn ich jetzt aufhöre zu arbeiten, werde ich den ganzen Tag, und die darauffolgende Nacht ebenso, das Gefühl haben, ich hätte weiterarbeiten müssen. Verstehen Sie mich?“

Er war zu überrascht, um zu verstehen. Wahrscheinlich ist sie launenhaft, dachte er und murmelte etwas, das zumindest nach Verständnis klingen sollte. Sie spürte seine Hilflosigkeit. Es tat ihr leid.

„Könnten wir unseren Termin verschieben? Auf morgen? Ein zweites Mal werde ich ihn sicher nicht vergessen!“

Josef bekämpfte seinen aufkeimenden Ärger analytisch, das heißt, er löste ihn in Fakten auf: So sieht sie also aus, die Schriftstellerin! Ein Stern am heimischen Literaturhimmel, mit ungekämmten, halblangen Haaren. Überdies trägt sie eine Brille. Mit dieser Brille mochte man sie für eine Lehrerin halten, nein, eher noch für eine Schülerin. Fast eine Million Mal hat sich ihr erstes Buch verkauft. Es ist in den Schulbüchern abgedruckt. Ein Durchbruch, wie man sagt, mit Pauken und Trompeten, immerhin.

Josefs steile Stirnfalten schienen ihr einige von seinen Gedanken zu verraten.

„Es tut mir wirklich leid! Glauben Sie mir.“

Ihr Bekenntnis kam reumütig über die Lippen, und war von einem sanften Lächeln begleitet.

„Mir tut es auch leid. Aber es macht nichts.“

Das sollte klingen, als wäre er es, der sie nun tröstete.

„Vielleicht morgen? Und Sie sind dann nicht mehr böse?“

Josef nickte.

„Ja! Also ich meine ‚Nein‘. Ich bin auch jetzt gar nicht böse!“

„Fein. Dann bis Morgen, um die gleiche Zeit.“

„Wo? Wieder hier bei Ihnen?“

„Nein, lieber nicht.“

Sie verabredeten sich in dem Café in der Nähe, das ihm als Erstes eingefallen war. Dann verschwand ihr Lächeln. Die Tür fiel zu. Er stand vor dem leeren, von feinen Sprüngen durchzogenen, braun lackierten Holz. Im letzten Moment noch war etwas durch den Spalt herausgehuscht. Ein unhörbar über den Boden gleitender Schatten. Gleich darauf fühlte er eine zarte Berührung zwischen seinen Beinen. Eine semmelfarbige Katze mit weißen Flecken drängte sich an ihn. Er konnte ihr Schnurren hören und sah, wie sie mit aufgewölbtem Rücken zu ihm hochschaute.

Ein paar Augenblicke lang standen sie Aug in Aug, der Mensch und das Tier. Dann ging die Tür wieder auf und die Schriftstellerin bückte sich, um die Katze in einem Schwung hochzuheben und an sich zu drücken.

„Das ist Nora. Sie ist schrecklich neugierig. Wahrscheinlich wollte sie sich an meiner Stelle nochmals bei Ihnen entschuldigen. Oft benimmt sie sich, als wäre sie die Hausherrin hier.“

Obwohl ihre letzten Worte mehr an die Katze gerichtet waren als an den Fremden, mischte er sich ein.

„Es gibt gar nichts zu entschuldigen. Alles okay!“

Um für das Wohlwollen zu danken, versuchte er die Katze zwischen den Augen zu kraulen. Ihre Antwort war ein blitzschneller Schlag mit der Pfote, der eine kleine blutige Spur auf seinem Handrücken hinterließ. Die Schriftstellerin fand das lustig.

„Ich glaube, Sie sind ihr sympathisch. Nora kann auch ganz anders, wenn ihr jemand nicht passt.“

Leise summend vergrub die Schriftstellerin ihr Gesicht im Katzenfell. Die beiden schnurrten im Duett wie zwei Freundinnen, die sich wortlos verständigten, zum Nachteil des Dritten. Allein die Augen, von ihren kreisrunden Brillengläsern geschützt, deuteten über den Katzenrücken hinweg noch ein Lächeln in Josefs Richtung an, bevor die Tür dann abermals ins Schloss fiel. Im leeren Treppenhaus schien dieser zweite Abschied bedeutsam lange nachzuhallen. Wie ein Startschuss, dachte er, und wusste nicht, weshalb er das dachte.

„Ab jetzt läuft also die Zeit.“

Eine Weile lauschte der Mann auch danach noch in die Stille hinein. Aber nichts Bemerkenswertes geschah mehr. Von heute aus gesehen könnte es auch eine erste Warnung gewesen sein. Vielleicht hören die Menschen viel zu wenig auf das, was Dinge uns zu sagen hätten.

Auf Umwegen schlenderte Josef in Richtung seiner Wohnung und kam dabei an einer Buchhandlung vorbei, in deren Auslage einige Bücher der Schriftstellerin, prominent hervorgehoben und geradezu liebevoll präsentiert. Rundherum, bloß wie nebenbei, lagen, deutlich liebloser, Neuerscheinungen jener Tage. Kurz entschlossen betrat er den mit Büchern überfüllten Laden und griff nach Magda Lenas berühmtestem Buch.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Als hätte der Buchhändler hinter einem seiner Stapel auf ein Opfer gelauert, fiel er nun über den Fremden her. Josef, in seine Überlegungen eingesponnen, war darüber einerseits erschrocken und andererseits verärgert.

„Danke, nein. Meist finde ich von allein, was mich interessieren könnte.“

Fast hätte er hinzugefügt, dass er eben von der Autorin persönlich käme, also keinerlei Ratschläge brauche. Doch er begnügte sich damit, dem Verkäufer den Rücken zuzuwenden, den Bestseller wegzulegen und nach einem anderen Buch zu greifen. Der Buchhändler gab nicht so rasch auf. Aus dem Regal gegenüber zog er ein schmales Bändchen heraus und streckte es dem Kunden entgegen.

„Für mich ist das ihr bestes Buch, auch wenn es im Schatten der großen Publikumserfolge steht.“

Der Kunde tat, als hätte er nichts gehört, langsam blätterte er die Seite um, die er gerade gelesen hatte. Der Buchhändler setzte nach und hielt ihm seinen Vorschlag noch dringlicher unter die Nase.

„Dieser Text ist rau, beinahe menschenunfreundlich. Aber sie hat recht. Es gibt genügend Menschen, denen man mit Freundlichkeiten nicht nahekommt. Da muss man ihre Anteilnahme eben mit dem Brecheisen erobern.“

Die beiden Männer blickten einander feindlich an. Anzunehmen war, dass jeder den anderen für einen Rüpel hielt. Keiner wollte nachgeben. Schließlich legte der Regisseur das Buch zurück und steckte die Hände mit trotziger Miene in die Hosentaschen. Da er sich zum Gehen wenden wollte, fiel ihm das durch die kreisrunden Brillengläser versöhnlich lächelnde Augenpaar der Autorin wieder ein.

„Gut. Geben Sie mir bitte drei Bücher, die ich unbedingt lesen sollte, um Magda Lena angemessen kennenzulernen. Ihrer Meinung nach.“

Wenig später verließ er besser gelaunt und mit einem kleinen Päckchen den Laden und hörte dann, wie der Buchhändler hinter ihm die Türe noch einmal öffnete.

„Verzeihen Sie. Mein Herr, es ist sonst wirklich nicht meine Art, Kunden zu bevormunden, aber in diesem besonderen Fall …“

„Was ist das Besondere an dem Fall?“

„Nun ja … manche Männer greifen nach ihren Büchern nur, um sich ihre Vorurteile bestätigen zu lassen. Aber bei dieser Autorin geht es nicht um die bloßen Geschichten, die sie erzählt. Zumindest nicht in erster Linie … Ich hatte vorhin das Gefühl, ich sollte Ihnen das sagen.“

„Um was geht es denn bei ihr? In erster Linie?“

„Mittlerweile bin ich sicher, dass Sie von selbst draufkommen werden, wenn Sie ihre Bücher lesen. Verzeihen Sie also bitte meine Aufdringlichkeit.“

Mit diesen Worten zog er sich wieder in sein Reich hinter den Büchermauern zurück.

Unsere gemeinsame Welt des Tages zerfällt nachts in beinahe ebenso viele Teile, wie es Menschen in ihr gibt. Ängste, Hoffnungen, unerfüllte Wünsche wachen auf. Im Finstern rauscht das Blut eben gewaltiger als im Licht. Der Mensch träumt oft schlecht oder wälzt sich ruhelos, schreckt auf aus den Träumen und lauscht in die Stille, an deren Rand er sein eigenes Herz schlagen hört, als wollte es demnächst zu schlagen aufhören.

Für Magda Lena gab es viele solche Nächte. Manche erlebte sie wie eine tiefe schwarze Leere, über die sie auf schmalen Satzbrücken hinweg zu balancieren versuchte. Auf der Suche nach den Schatten vergangener Tage schwankten diese Brücken und die Schatten wuchsen ins Unheimliche. Meist waren das jene Menschen, die sie verloren hatte auf immer. So viel hätte sie ihnen noch zu sagen gehabt und so schwer waren sie zu erreichen. Nach solchen Nächten fiel ihr das Sprechen schwer, und schwerer noch das Denken. Was ihr schmerzhaft fehlte, war die Fähigkeit des Normalmenschen, sich des Morgens die Augen zu reiben und sich selbst glaubhaft zu versichern, dass sie selbst nicht aus solchem Stoff sind wie ihre dunklen Träume.

Josefs Fall lag irgendwo zwischen diesen Extremen, so hätte es zumindest dem ersehnten unparteiischen Beobachter erscheinen müssen. Er stellte sich den Geistern der Nacht, indem er rauchend auf seinem Bett saß. Die Rauchschwaden ließ er durch das offene Fenster dem Mond entgegenschweben. In den Formen, die sie dabei bildeten, vermochte er dann jenen Weg zu erahnen, den er sich im tiefsten seines Herzens so sehr wünschte: Mittler zu werden zwischen getrennten möglichen Welten. Die der Frauen, die er liebte, ohne sie ganz zu verstehen, und jene der Männer, die gelernt hatten sich durchzusetzen. Zwischen Künstlern und Wissenschaftlern, zwischen Analysen und Intuitionen, in denen sich mehr zeigte, als jene zu zerlegen vermochten. Und nicht zuletzt zwischen der Reinheit von Heiligen und der Lust, das Leben samt seinen Irrgängen so freudig wie möglich zu genießen.

Am Morgen des mit einiger Ungeduld erwarteten Treffens mit der Schriftstellerin machte sich der Regisseur früher als nötig auf den Weg, um einen strategisch vorteilhaften Platz in seinem Café zu ergattern. Nach der nächtlichen Lektüre quer durch die drei literarischen Neuerwerbungen war nicht nur seine Fantasie angeregt, sondern auch sein Widerspruchsgeist geweckt. Aus Magda Lenas knappen Sätzen sprach deutlich ein neuer Ton. Immer wieder stürzte sie alteingesessene Vorurteile von den Podesten. Teils mit offener Schadenfreude, dann wieder mit feiner Ironie oder trockenem Sarkasmus. Oft war er sich jedoch nicht ganz sicher, ob die Männer, die in ihren Geschichten vorkamen, reale Menschen darstellen sollten, oder ob diese vor den Augen des Lesers längst zu Karikaturen ihrer selbst deformiert waren. Josef war teils amüsiert, teils fühlte er sich an empfindlichen Stellen attackiert. Jedenfalls reizte es ihn, die Autorin aus der Reserve zu locken. Das Gelesene einfach als „Frauenliteratur“ abzutun und hinzunehmen, erschien ihm als zu simpel. Stattdessen plante er einen Überraschungsangriff, aus dem Hinterhalt einer scheinbar naiven Frage. Seine Vorfreude darauf wurde allerdings auf die Probe gestellt, denn die Schriftstellerin erschien um mehr als eine halbe Stunde zu spät. Sein Schwung war in der Wartezeit spürbar ermattet. Sie aber benahm sich, als hätte sie ihre Verspätung gar nicht bemerkt. Als er mahnend auf seine Uhr blickte, zuckte sie bloß mit den Schultern. Immerhin war Magda Lena aus den Wolkengebirgen ihrer Arbeit ohne Stärkung am Tisch des verabredeten Cafés gelandet, das sie überdies erst hatte suchen müssen. Da zählte doch eine halbe Stunde nichts, fand sie und lächelte ihr charmantestes Lächeln. Gleichzeitig bestellte sie ein umfangreiches Frühstück. Josef hatte Mühe, sich auf ihre unerwartete Fröhlichkeit einzustellen. Statt ebenso fröhlich zu improvisieren, griff er auf seine längst vorbereitete Frage zurück, als säßen sie beide in einem Germanistik-Seminar für Anfänger. Es ging um das feministische Grunddogma, man werde als Frau nicht geboren, sondern frau werde von der Gesellschaft nach und nach dazu gemacht. Zur Frau nämlich. Magda verschluckte sich fast, schien ihm aber die naive Nachfrage nicht weiter übelnehmen zu wollen.

„Die Männer müssen eben noch üben, das alles einzusehen, das wird dauern. Wir stehen ja erst am Anfang. Bis es so weit sein wird, müssen wir Frauen uns eben wehren. Gott sei Dank gehört das zur biologischen Grundausstattung jedes weiblichen Wesens. Da brauchen Sie nur ein ganz normales Taubenpärchen zu beobachten. Wie die Taube die dümmlichen Annäherungsversuche des Täuberichs elegant abwehrt oder sie einfach ignoriert, indem sie weiter nach ihren Krümelchen pickt. Viel anders ist das im Normalfall bei den Menschen auch nicht. Allerdings ist es auf die Dauer anstrengend und zuletzt leider eintönig. Seit Tausenden von Jahren haben die Männer nichts dazugelernt. Wiederholen bloß die alten Reflexe. Es gibt aber auch genug Frauen, die das ähnlich machen.“

Ihr Redefluss stockte. Sie sah sich um, als hätte sie sich in einer fremden, unfreundlichen Gegend verlaufen. Dann blieb ihr Blick an Josef hängen, als fragte sie sich erst jetzt, wem sie denn das alles erzählt hatte, und warum.

Josef hielt ihrem Blick stand. Es war wie ein stummes Eingeständnis, das Gespräch an einer ganz falschen Ecke begonnen zu haben. Er schämte sich sogar dafür. Aber da hatte sie schon das Thema gewechselt.

„Mein nächstes Buch wird von Kindern handeln. Ein Kinderbuch. Ja, genau. Das möchte ich machen. Vielleicht ist das heute die wichtigste Aufgabe für jeden Schriftsteller. Man muss doch verhindern, dass den Kindern andauernd Übles widerfährt. Falsches eingeredet wird. Zu Hause, in der Schule. Oft gar nicht aus Bosheit, sondern aus Dummheit, weil es keiner besser weiß.“

Sie kam wieder in Fahrt. Ihre Gedanken turnten von einem Gerät zum nächsten, nicht ohne sich zwischendurch zu überschlagen. Dass sie dabei nicht streng methodisch vorging, gab sie auch ungefragt gerne zu.

„Die meisten Erwachsenen halten sich ja an das, was ihnen selbst eingebläut wurde. Dann bläuen sie es den Kindern ein. Tag und Nacht. Von allen Seiten. Schalten Sie den Fernseher an. Hören Sie Radio. Lesen Sie Zeitung. Dann wissen Sie genau, was ich meine.“

Der Regisseur fühlte, mit steigendem Vergnügen, wie er auf seinen vorbereiteten Argumenten sitzenblieb. Trotzdem nutzte er den Moment, in dem sie sich eine erste Zigarette anzündete, um dem Gespräch noch eine andere, persönlichere Richtung zu geben.

„Warum eigentlich schreiben Sie so oft über Ihre Vergangenheit? Über Ihr Privatleben?“

Sie antwortete wie aus der Pistole geschossen. „Ist doch klar: Der Zukunft wegen! Haben Sie das nicht bemerkt? Nennen Sie mir ein einziges Beispiel, wo es mir nicht um die Zukunft geht.“

Sie lehnte sich herausfordernd zurück.

Dazu fehlten Josef wegen seiner eher flüchtigen Lektüre die passenden Zitate. Bedauernd hob er die Hände.

„Eins zu null für Sie!“

Sie wollte ihn nicht wirklich blamieren und half ihm daher aus der Verlegenheit.

„Ein Beispiel: Wenn Sie Bauchschmerzen haben, werden Sie sich doch fragen, was Sie zuvor gegessen haben. Oder? Sie müssen sich also um die Vergangenheit kümmern, damit es Ihnen in Zukunft bessergeht. Unglück ist eine Art seelischer Bauchschmerz, dessen Ursache man finden und beschreiben muss. Auch wenn diese meist viel weiter zurückliegt als bloß eine verdorbene Mahlzeit.“

Immer noch sprach sie lebhaft und oft wie ins Blaue hinein. Es war das Blau ihrer Pläne und Vorhaben. Das Blau umgab sie, wie der Himmel die Wolken umgab, die durch ihn segelten.

„Für mich ist das ganz einfach: Ich grabe in der Vergangenheit, um Licht in die Zukunft zu bringen. Mir genügt das als Grund. Ihnen nicht?“

Statt auf eine Antwort zu warten, zog sie einen kleinen Block aus der Tasche, überlegte kurz und schrieb ein paar Worte auf. Während der entstandenen Pause schien sie ihn zu vergessen. Obwohl er sie die ganze Zeit über aufmerksam beobachtete, war für ihn kaum zu erkennen, wie ernst sie ihre Argumente im Einzelnen meinte. In ihren Augen spielten Lächeln und Ironie mit dem Ernst Katz und Maus. Oder Hase und Igel. Vielleicht merkte sie es selbst gar nicht. Was sie jedoch genau merkte, war, dass ihr da einer zuhörte. Einer, der sie verstehen wollte. Schon lange nicht mehr hatte sie so viel und so frei geredet. Er hörte zu und seine vorgefassten Einwände verblassten wie Wolken, die sich in ihrem Blau auflösten. Man sah es ihm an. Mehr und mehr war sie von dem Mann überrascht, sehr angenehm überrascht.

Geraume Zeit war schon vergangen, und noch hatte sie kein Wort über ihre Filmpläne verloren. Als er nach einem Blick auf die Uhr fragte, ob sie noch etwas mit ihm trinken wolle, lehnte sie zwar ab, ermunterte ihn aber, für sich selbst etwas zu bestellen. Als er dann tatsächlich einen Campari bestellte, blickte sie ihn erstaunt an. Er glaubte, sich verteidigen zu müssen.

„Ausnahmsweise! Normalerweise genehmige ich mir erst nach Sonnenuntergang einen ersten Schluck.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.“

Ihr Blick war, er wusste nicht wie, weicher geworden. Gleichzeitig nahm sie, wie nach getaner Arbeit, ihre Brille ab. Es war nur eine kleine Geste. Auf ihn wirkte sie, als ob sie einen Schutz aufgab, oder eine Bastion räumte. Oder wollte sie unbewusst ihr Aussehen verbessern?

Als sie mit einer halben Stunde Verspätung das Lokal betreten hatte, hätte er sie beinahe übersehen, so sehr war sie in ihren Kleidungsstücken wie eingegraben gewesen. Ein etwas unmodischer Anorak, ein kratziger Schal, eine konturlose Hose, die über geschnürten Wanderschuhen hing. Achtlos hatte sie Anorak und Schal auf die Bank neben sich geworfen. Ein Pullover war zum Vorschein gekommen, der die Formen ihres Körpers verbarg oder – mit Absicht? – verunstaltete.

Jetzt, so ohne Brille, ungeschützt durch das Glas, wirkten ihre Augen wie nackt. Nackter hätte sie in diesem Moment gar nicht sein können, dachte er plötzlich, selbst wenn sie sich gänzlich ausgezogen hätte. Fast alles Kindliche war aus ihrem Gesicht gewichen.

Während seine Gedanken sich verwirrten, hatte sie weitergeredet. Er musste etwas versäumt haben. Der Ton ihrer Stimme war fremder, ernster geworden. Er folgte, so gut er vermochte. Das vertiefte ihr Vertrauen zu ihm weiter. Sie sprach von sich, von ihrer jüngsten Trauer. Es ging um zwei Tote. Ein Mann und eine Frau. Ein schwarzes halbes Jahr lag hinter ihr, denn beide waren ihr sehr nah gewesen.

„Sehr, sehr nahe …“

Die Erinnerung an die Trauer verdunkelte ihr Gesicht, ließ es älter erscheinen. Vor wenigen Wochen noch hätte sie gar nicht darüber sprechen können. Erst kürzlich hatte sich das erdrückende Gefühl ein wenig gelichtet.

„Das schlimmste Grauen für einen Menschen, der aus einem inneren Bedürfnis heraus schreiben muss, ist das Erleben seiner eigenen Sprachunfähigkeit. Es ist, als könnte man nicht mehr atmen. Niemals mehr etwas verstehen. Das ist wie ersticken. So war es mir gegangen, nachdem ich die Todesnachrichten erhalten hatte.“

Im Gegensatz zu vorhin sprach sie nun langsam und wie nach Worten suchend. Jedes schien mit Bedeutungen überladen zu sein, wie zu schwer für einzelne Wörter allein. In dem rundum perlenden Gerede des mittlerweile gut gefüllten Cafés wirkten ihre Worte unpassend, wie viel zu groß geraten.

Der Kellner, im schwarzen Smoking, wie es sich gehörte, servierte endlich den vor einigen Minuten bestellten Campari Soda. Das Rot und die hell klirrenden Eiswürfel schienen sie in die banale Wirklichkeit zurückzuholen. Sie ergriff das Glas, hielt es gegen das Licht und nahm einen kleinen Schluck, dann stellte sie das Glas behutsam zurück.

„Verzeihung! Der Schauspieler, von dem ich vorhin sprach, liebte Campari. Jetzt ist er tot. Vorhin war ich noch beinahe erschrocken, als Sie bestellten. Aber jetzt fühle ich keine Trauer. Das ist für mich wie ein Wunder.“

„Soll ich noch einen bestellen, für Sie?“

„Nein, vielen Dank. Mir genügt das Wunder, dass die Trauer vorbei ist. Endlich.“

Er trank ihr zu, während sie zunächst nachdenklich weitersprach.

„Das Leben eines Künstlers, wenn er oder sie einer ist, besteht aus solchen Wundern, wie sie nur aus echten Schmerzen unerwartet wachsen können. Mir ist vor ein paar Tagen ein solches Wunder in den Schoß gefallen. Ich verspürte plötzlich wieder Lust an neuen Plänen. Diese waren auch der Grund, weshalb ich Sie angerufen habe. Ihr Film hat mir übrigens wirklich sehr gut gefallen. Vielleicht war sogar er es, der das Wunder ausgelöst hat. Für das, was ich jetzt vorhabe, werde ich aber Hilfe nötig haben.“

Es hatte lange genug gedauert, aber jetzt war heraus, was sie so heftig antrieb. Für sie fühlte es sich fast wie damals an, als sie nach ihrer Ehekatastrophe beschlossen hatte, aus ihrem Desaster eine Komödie zu machen, anstatt sich umzubringen. Sie hatte sich einfach hingesetzt und geschrieben. Daraus war dann ihr erster Roman geworden. Und ihr erster großer Erfolg.

„Sie haben ihn gelesen?“

Instinktiv schüttelte er ein wenig undeutlich den Kopf, aber so, dass es auch als ein bewunderndes Nicken wahrgenommen werden konnte.

Sie lächelte verschmitzt.

Er fragte sich, ob sie ihn durchschaut hatte.

Aber da meinte sie bereits etwas anderes, und das verlangte danach, jetzt sofort ausgesprochen zu werden.

„Diesmal möchte ich einen richtigen Film schreiben. Für das Kino!“

Sie schaute ihn erwartungsvoll an. Er sie auch. Es entstand eine spannungsreiche Pause, Blick in Blick.

„Gehen Sie gern ins Kino?“, fragte sie dann.

„Sehr gern sogar! Und nicht nur wegen meines Berufes.“

Sie aber schüttelte heftig den Kopf.

„Ich gar nicht. Ich lese lieber. Filme machen mich nervös, weil ich nie weiß, was wichtiger sein soll: Das Bild oder der Text.“

„Trotzdem wollen Sie einen Film machen?“

„Genau. Und deshalb brauche ich einen Partner. Das klingt alles ein wenig unlogisch, ich weiß. Aber die Logik muss ja nicht unbedingt immer das letzte Wort behalten. Oder?“

Jedenfalls war sie deshalb auf der Suche nach jemandem, der Erfahrung mit Filmdrehbüchern hatte.

„Um was soll es denn gehen?“

Es handelte sich um die Geschichte jener Freundin, die vor einigen Monaten Selbstmord begangen hatte.

„Und warum, wenn ich das fragen darf? Ich meine, warum soll gerade aus dieser Geschichte ein Film werden? Und kein Roman?“

„Gute Frage!“

Sie antwortete nicht gleich, schien plötzlich wieder wie abwesend. Aber sie dachte bloß nach. Das alles war ihr sehr ernst. Dann sprach sie noch leiser als zuvor. Josef musste etwas näher zu ihr rücken, um überhaupt noch etwas zu verstehen.

„Ich hatte das Gefühl, sie hat es an meiner Stelle getan. Sich umgebracht an meiner statt. Und jetzt bin ich ihr diesen Film schuldig.“

„An Ihrer Stelle? Das verstehe ich nicht ganz.“

„Ihr größter Wunsch war es gewesen, Filmschauspielerin zu werden. Ihr Wunsch soll jetzt in Erfüllung gehen.“

„Aber sie ist doch tot.“

„Genau. Deswegen.“

Mit dem letzten Wort hatte sie nach seiner Hand gegriffen. Die Berührung war sanft und leicht. Aber ihm war, als fühlte er nun ihre Erregung, und wie diese sich nun von Körper zu Körper auf ihn übertrug. So saßen sie ein paar zeitlose Augenblicke lang. Dann lehnte sie sich zurück und begann ihre Geschichte zu erzählen.

Er bemühte sich, ihren Gedankensprüngen entgegenzukommen. Es kostete Mühe. Mit ungezählten Fäden fühlte die Schriftstellerin sich dem Schicksal dieser Freundin verbunden. Sie kannten einander seit frühesten Schultagen. Bis sie einander plötzlich gar nicht mehr kannten. Obwohl sie ähnlich waren wie Schwestern. Zwillingsschwestern.

„Und jetzt ist sie ganz fremd geworden. Wer kennt die Toten? Niemand. Niemand weiß von ihnen. Wie kann man das einmal Versäumte nachholen?“

Dachte sie wirklich daran, mithilfe bewegter Bilder die Zeit zurückzuspulen? Er hatte fast atemlos gelauscht. Jetzt wollte er es genau wissen.

„Im Film wollen Sie sich also ein Bild machen von ihr. Ein lebendiges, bewegtes Bild. Deshalb also ein Film und kein Buch …“