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»Wer nimmt, dem wird gegeben.« Das ist das Motto von Paul Gertsch. Der Fünfzigjährige betreibt einen Trödelladen in Bern. In der Regel kommen Leute mit der Absicht, ihren alten Kram in Zahlung zu geben. Nicht selten gehen sie mit neuem Kram. Weniger oft kommen Leute, die Gertsch einen besonderen Auftrag erteilen wollen, einen Auftrag, der im Flüsterton geäußert wird und für den eine Anzahlung getätigt werden muss: Bargeld in unbeschrifteten Kuverts. So räumt Gertsch gemeinsam mit seiner Tochter etwa ein gut überwachtes Luxuschalet in Gstaad aus – die Art Familienausflug, die sie beide schätzen – oder macht seinen Auftraggeber durch einen fingierten Raubüberfall zum Helden eines Theaterabends und verhilft ihm so zur Beförderung. Als Gertsch die Leiche eines landesweit bekannten Unternehmers untergeschoben wird, muss er all seine Fähigkeiten aufbieten, um sich die Polizei vom Leib zu halten. Aus dem Dieb wird ein Detektiv, und bei der Aufklärung des Falls sind ihm nicht nur legale Mittel recht.
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Seitenzahl: 191
Veröffentlichungsjahr: 2025
Christoph Simon
Ein Gertsch-Krimi
Kriminalroman
Atlantis
Für Theres, Yuma, Lena und Bastian
»Was stehlen wir?«, fragte Alina.
Komm schon, das schaffst du doch, sagte Gertsch zu sich selbst. Er quälte sich die Steinmauer hoch, während seine Tochter bereits oben auf der Mauerkrone kauerte.
»Schmuck? Diamanten?«
Gertsch kam schwer schnaufend neben Alina zu liegen. »Ich bekomme keine Luft.« Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und schaute wie Alina zum Chalet hinüber. Kein Licht in den Zimmern. Kein Auto auf dem Kiesplatz, das Badefass vor dem mondbeschienenen Alpenpanorama zugedeckt. Der Kugelgrill auf der Veranda untätig. Offenbar war niemand da. Wie sie es erwartet hatten. Keine Wachleute, keine Wachhunde. Das Feriendomizil gehörte keinem Filmstar oder Oligarchen, sondern einer vermögenden Informatikerin aus der Stadt. An ihren Wochenenden pflegte sie sich mit der Weitsicht aufs Berner Oberland von der Kurzsicht auf den Computerbildschirm zu erholen. Jedoch nicht an diesem Wochenende.
»Was stehlen wir? Eine Sammlung historischer Speichermedien? Lochkarten, Magnetbänder, Disketten?«
Gertsch lag auf der Mauer und rührte sich nicht, um seinen Puls langsam wieder auf unter Hundert abzusenken. Mauern überwinden – das war etwas für seine Tochter, die, frisch diplomiert zurück aus der Accademia Teatro Dimitri im Tessin, wohl am liebsten die Mauer vertikal hochgespurtet und mit einem Salto in den dunklen Garten gesprungen wäre.
»Weiter, Paps!«
Gertsch seufzte. Hinter ihm erstreckte sich Gstaad und darum herum das nachtschlafende Saanenland mit verstreuten Häusern, Bauernhöfen, Scheunen und Wellblechbauten. Vor ihm eine Rasenfläche, ein Brunnen und das aufwendig umgebaute Chalet. Ein Luxus-Chalet mit Überwachungskameras, einem kunstvoll geschnitzten Balkongeländer und einer Schindelfassade aus importierter nordamerikanischer Zeder statt heimischer Fichte. Was Gertsch alles von seiner Klientin erfahren hatte.
Alina sprang von der Mauer und rollte sich im millimetergenau geschnittenen Gras ab. Sie wartete hinter dem Brunnen, der bis obenhin mit Erde gefüllt und mit Blumen bepflanzt war.
Gertsch, besorgt um seine körperliche Unversehrtheit, ließ sich vorsichtig die Mauerwand hinuntergleiten. Unten stellte er beruhigt fest, dass er sich keinen Fuß gebrochen und kein Hüftgelenk ausgekugelt hatte. Die Mauer war überwunden, das Schwierigste geschafft.
Alina zog das Gewehr von der Schulter und prüfte, ob es geladen war. »Gemälde, Graphik, Kunst?«, fragte sie. »Chinesische Vasen? Japanische Schirmchen? Meissener Porzellan? Sag schon, wofür sind wir gekommen?«
»Konzentrier dich.«
Es war Nacht, aber hell genug. Mondlicht, klarer Himmel. Abgesehen von einer Eule keine Geräusche in der näheren Umgebung. Und von der anderen Seite der Mauer auch nichts, das ihnen verdächtig vorkam. Sie mussten dennoch vorsichtig sein. Vor ihnen lagen das Haus mit versicherungsrelevanten Überwachungskameras und einer vielleicht sogar eingeschalteten Alarmanlage. Gertsch und Alina blieben versteckt hinter dem Brunnen.
»Goldbarren? Silberbesteck?«
»Du hättest auf der Fahrt von Bern bis hierher anderthalb Stunden Zeit gehabt, dich nach der Beute von heute Nacht zu erkundigen«, meinte Gertsch. »Weshalb fragst du mich ausgerechnet jetzt?«
»Ich war mit den Gedanken woanders.«
»Ja, du warst sehr still.«
»Was man von deiner Karre nicht behaupten kann.«
»Was ist mit meiner Karre?«
»Magst du dir bitte bald ein neues Auto kaufen?«
»Mein BMW ist unauffällig und lautlos. Er fährt jeden Kilometer, als wäre es sein erster. Er ist mir seit zwei Jahrzehnten treu. Genauso wie du, und genau so sehr wie dich liebe ich auch ihn.«
»Er ist überhaupt nicht lautlos, er ist der letzte Benziner auf der Straße. Du bekommst seinen Kofferraum nicht zu. Du benutzt ein Spannseil, um ihn zu schließen. Das ist überhaupt nicht unauffällig.«
»Ich will kein neues Auto. Ich brauche kein Glockenzeichen, das mich auffordert, mich anzugurten. Weshalb warst du die Fahrt über so still?«
»Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht.«
»Mario?«
»Antonio. An den Pulli, den ich trage, hat er immer sein Gesicht gelegt.«
»Hast du im Tessin noch anderes gemacht, außer dich unglücklich zu verlieben?«
»Wenn wir hier fertig sind, erfüllst du mir einen Wunsch?«
»Klar.«
»Ermorde ihn.«
»Wen? Antonio?«
»Antonio. Mario. Ricardo. Töte sie alle.«
»Ich bin ein Dieb, kein Mörder.«
»Erweitere deine Fähigkeiten, Paps. Es ist nie zu spät, neue Dinge zu lernen.«
Alina hob das Gewehr, legte den Lauf auf den Brunnenrand und drückte ein paar Blumen flach, die aus dem Brunnen ragten und ihr die Sicht versperrten. Dann zielte sie auf die Überwachungskamera, die am Vordach bei der Haustür auf den Eingangsbereich gerichtet war. Einen Schritt weiter nach vorn, und sie würde von der Kamera erfasst. Alina atmete langsam ein, hielt den Atem an und drückte ab. Ein Plopp war alles, was zu hören war, als der Paintball gegen das Gehäuse der Kamera prallte und die Linse mit klebriger gelber Farbe überdeckte. Die Eule im Baum schreckte auf und flog, die Schwingen schlagend, davon. Alina schwang das Gewehr über die Schulter.
Gemeinsam gingen sie übers Gras zur Haustür. Sobald sie sich dem Eingangsbereich näherten, stellte der Bewegungsmelder Bewegungen fest, und das Licht ging an. Das war riskant, klar. Aber den Bewegungsmelder auszutricksen war ein Aufwand, den sie sich sparten. Nach dreißig Sekunden würde das Licht wieder ausgehen, eine Sache, die auf dem Land jede Nacht passierte, wenn eine Fledermaus vorbeisauste oder ein Marder vorbeistrich und den Sensor auslöste. Nichts, worauf Nachbarn noch regelmäßig zu reagieren pflegten, hoffte Gertsch.
»Treten wir die Tür ein?«, fragte Alina.
»Nicht überreagieren«, sagte Gertsch und hielt Alina einen Schlüsselbund hin, den er aus einer Tasche des Heimwerkeroveralls gezogen hatte.
»Mach du doch auch mal was.« Aber Alina nahm die Dietriche, bückte sich und untersuchte das Türschloss. Diese Art Familienunternehmung war etwas, das beide schätzten.
Die Umgebung war ruhig. Gertsch blickte über die Mauer hinweg in die dunkle Bergkulisse. Am Hang auf der anderen Seite des Tals bemerkte er ein Feuer. Zu groß für ein Lagerfeuer. Er tippte auf einen brennenden Bauernhof. Oder einen Speicher. Oder ein Pistenfahrzeug unter einer Plastikplane im Sommerschlaf, das sich spontan selbst entzündet hatte. Das Informationszeitalter sorgt bestimmt dafür, dass sie die Ursache des Feuers bald erfahren werden, dachte Gertsch.
Gertsch sah zu, wie Alina Dietriche ausprobierte, bis sie den passenden fand. Er zog Luft in seine Lungen. Durch die Stalltür wittert der Fuchs fette Beute …
»Nach dir«, sagte Alina und hielt ihm die Haustür auf. Sie gingen hinein. Alina schloss hinter Gertsch die Tür. Zehn Sekunden später ging das Licht vor der Haustür aus, sie standen im Dunkeln. Alina setzte sich eine Stirnlampe auf und schaltete sie ein.
In der Ferne waren Sirenen zu hören.
»Die Alarmanlage?«, fragte Alina.
»Ist nicht eingeschaltet worden«, sagte Gertsch.
Die Sirenen kamen rasch näher.
»Bist du sicher?«, fragte Alina.
»Nein.«
Alina machte die Stirnlampe aus.
Gertsch tastete sich die Stufen hoch in den oberen Stock, drückte eine Tür auf und tastete sich an einem Kingsize-Bett entlang, bis er am Fenster stand und über die Mauer hinweg zur Straße sehen konnte. Er sah eine Kolonne von Fahrzeugen mit Blaulicht.
»Alles gut«, rief er Alina zu. »Die Feuerwehr. Drüben brennt was. Das gilt nicht uns.«
Tatsächlich schien sich der Ton der Sirenen zu entfernen. Die Feuerwehr hielt mit blinkenden Lichtern auf den gegenüberliegenden Hang zu. Gertsch schloss die Vorhänge und schaltete seine Stirnlampe ein.
»Ich dachte schon, wir hätten einen Fehler gemacht«, sagte Alina, »oder seien reingelegt worden. Traust du ihr?«
»Meiner Klientin? Wären wir sonst hier?« Gertsch kam die Treppe hinunter. »Ich weiß, du hast mit all deinen Marios und Antonios schlechte Erfahrungen gesammelt in letzter Zeit, aber dem einen oder anderen Menschen kannst du durchaus vertrauen. Zum Beispiel deinem Vater. Und seiner Klientin.«
Gertsch nahm eine Sporttasche aus schwarzem Nylon von der Schulter und zog den Reißverschluss auf. In der Tasche befanden sich weitere Taschen. Er schüttete die gefalteten Taschen heraus und warf Alina eine zu.
»Beeilen wir uns, ich habe bereits Heimweh.«
Gertsch ließ das Licht der Stirnlampe über die Gestelle und Ablageflächen gleiten, die voll waren mit Vasen, Skulpturen, Miniaturen, kunstvollen goldenen Lampenfüßen, Statuetten von pausbäckigen Putten, Silberdosen in Schwanenform.
Ein Sammelsurium von Kunst, Kunsthandwerk und Kitsch.
»Jetzt sag schon, Paps«, fragte Alina und faltete die Tasche – Fassungsvermögen fünfzig Liter – auf. »Was stehlen wir?«
»Alles«, sagte Gertsch.
Gertsch hatte Alina vor ihrer Bleibe abgesetzt, hatte dieBeute an einen sicheren Ort gebracht, er hatte vier Stunden geschlafen, und jetzt wischte er frühmorgens den Bereich vor seinem Trödelladen am Seidenweg, einer unspektakulären Seitenstraße im Norden Berns.
Einem aufmerksamen Beobachter wäre vielleicht die Müdigkeit in Gertschs Augen aufgefallen oder sein vom Muskelkater erschwerter Gang. Verdammte Mauerkletterei. Gertsch legte Wert auf eine saubere Erscheinung, was man an der tadellosen schwarzen Jeanshose und dem frischen T-Shirt sofort erkannt hätte. Aber niemand der Passantinnen und Passanten kümmerte sich um ihn, an einem grauen Montagmorgen wie diesem waren alle mit sich selbst beschäftigt.
Boutique Suchen & Finden – der Name des Trödelladens versprach vielleicht mehr Eleganz und Romantik, als er halten konnte. Der Laden lag im Parterre eines mehrstöckigen Gebäudes, eingezwängt zwischen zwei Barbershops. Suchen & Finden – eine Boutique, ein Trödelladen, eine kleine Brockenstube. In Zürich oder Basel hießen solche Läden Vintage Shop, oder Retro Chic Antique Store, oder kokett: Puce et Plus.
An Laufkundschaft hatte der Trödelladen die Anwohnerinnen und Anwohner und die Leute, die aus dem Bus an der Mittelstrasse ausstiegen, um sich am Eck in der Metzgerei Au Cochon Rose mit Bio-Grillgut einzudecken oder in der Kindertagesstätte Dängelibänz ein Kind abzuliefern. Studierende eilten die Mittelstrasse hinauf zu ihren Vorlesungen in den verschiedenen Universitätsgebäuden und würdigten das überladene Schaufenster von Suchen & Finden mit seinem Angebot an Kleidern, Geräten, Möbeln, Instrumenten, Schmuck, Geschirr, Spielzeug und Plunder mit einem kurzen, verträumten Blick.
Gertsch stützte sich auf den Besen und sah hoch zum bedeckten Himmel über Bern. Wie so oft. Gertsch konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als jeden Morgen aufzustehen, vor die Tür zu gehen und in einen blauen Himmel zu blicken. Den Rest seines Lebens würde er gern so verbringen: in einen blauen Himmel blickend. Gertsch war fünfzig. Er ging davon aus, dass der Rest des Lebens längst angebrochen war. Die Boutique warf nicht viel ab. Mit Aufträgen wie dem, der ihn und Alina letzte Nacht ins Saanenland geführt hatte, hielt er sich über Wasser. Mit der abgeschlossenen Theaterschule Accademia Teatro Dimitri waren hoffentlich die teuersten Unterhaltsjahre seiner Tochter überstanden.
In der Regel kamen Leute in den Laden mit der Absicht, ihren alten Kram zu verschenken oder in Zahlung zu geben. Nicht selten gingen sie mit neuem Kram wieder hinaus. Weniger oft kamen Leute in den Laden, die sich von Gertsch die Erledigung eines besonderen Auftrags erwünschten, eines Auftrags, der im Flüsterton geäußert und mit Bargeld in unbeschrifteten Kuverts angezahlt wurde. Gertsch war offen für alles, außer Auftragsmord, wofür man mit ein bisschen Werbung durchaus eine Nachfrage hätte schüren können, glaubte er in besonders pessimistischen Momenten. Er wünschte sich sehnlichst Aufträge, mit denen er sich rasch einen blauen Himmel ansparen konnte.
Zurück im Laden lehnte Gertsch den Besen an eine Schaufensterpuppe. Die Puppe steckte in einem elfenbeinfarbenen Brautkleid, das um die Taille zu locker saß. Trotzdem hatte sie einen wahrhaft zauberhaften Eindruck gemacht, bevor sie den Besen zu halten bekam. Die Schaufensterpuppe gehört ins Schaufenster, dachte Gertsch, aber ehe er sich darum kümmern würde, setzte er im Wasserkocher Wasser auf, füllte ein Tee-Ei mit getrockneten Pfefferminzblättern und hängte das Ei in die Kanne. Alles Aktionen, die seine volle Konzentration erforderten.
Als das Glöckchen über der Tür klingelte, goss Gertsch mit dem Rücken zur Tür das heiße Wasser in die Kanne. »Komme sofort«, sagte er, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.
Er fragte sich, wer in den Laden gekommen war. Jemand, der etwas Bestimmtes suchte, oder jemand, der sich »nur mal etwas umsehen wollte«? Gertsch tippte auf jemanden aus der dritten Kategorie: Jemand, der ihm einen alten Toaster und weiteren Sperrmüll unterjubeln wollte, um sich die Entsorgungsgebühren zu sparen.
Aber es war niemand aus diesen drei Kategorien.
Er wandte sich um. »Tee?«, fragte er die Frau, deren Chalet in Gstaad er letzte Nacht mit Alinas tatkräftiger Unterstützung leer geräumt hatte.
»Haben Sie auch Kaffee?«, fragte die Informatikerin.
»Kaffee, sicher, einen Moment, Frau Hurni«, sagte er. Viel mehr als ihren Namen, ihren Beruf und ihr Wochenenddomizil kannte Gertsch nicht.
Die Frau sah sich um, während Gertsch neues Wasser kochte, in eine Tasse goss, zwei Löffel Nescafé einrührte und ihr die Tasse rüberschob.
»Die Stühle passen nicht zusammen.«
»Sie stehen zum Verkauf. Einzeln. Sie müssen nicht zusammenpassen.«
»Es wirkt ein bisschen traurig, finden Sie nicht?«
»Kaufen Sie sie, das hebt sofort die Stimmung. Lieferung frei Haus. Die Adresse kenne ich ja.«
»Deswegen bin ich hier. Wo sind meine Sachen?«
»Anderswo.«
»Da bin ich beruhigt, ich befürchtete schon, Sie verkauften sie im Laden.«
»Gestohlene Ware im Laden zu verkaufen wäre recht leichtsinnig. Egal, ob die Ware von mir gestohlen worden ist oder von jemand anderem.«
Die Frau kam zur Theke und richtete den Blick auf das trübe Getränk, ohne es anzufassen.
»Wann bekomme ich die Sachen zurück?«
»Wollen Sie sie denn zurück?«
»Es sind Erbstücke. Emotionen.«
»Ich dachte, Sie hassten diesen ganzen – wie nannten Sie ihn? – Schrott. Sie haben mir erzählt, Ihr Vater sei Kunstliebhaber gewesen, und nun, da er gestorben sei, hätten Sie kein Interesse daran, alles regelmäßig abstauben zu lassen.«
»Wann bekomme ich die Sachen zurück?«
»Es ist ein großes Risiko, sie zurückzunehmen.«
»Ich werde sie nicht behalten.«
»Sie wollen doppelt kassieren? Erst die Versicherung und dann alles verscherbeln?«
»Warum nicht?«
»Nur weil ich Ihnen beim einen Betrug dienlich bin, heißt das nicht, dass ich Ihnen auch den zweiten raten würde.«
»Ich verkaufe sie anonym im Netz.«
»Nun.«
»Meine Angelegenheit, wollen Sie sagen?«
»Sie schulden mir übrigens noch die zweite Hälfte des Honorars.«
»Sie haben doch Handschuhe getragen?«
»Sie kennen sich aus, wie? Es lief alles wie geplant. Die Polizei wird genügend Spuren finden, um die Geschichte mit dem Einbruch zu bestätigen, aber nicht genug, um den Täter zu finden. Sie kassieren die Versicherung, ich kassiere mein Honorar, alle sind glücklich. Abgesehen vom Rechtsstaat.«
»Es könnte Sie jemand gesehen haben. Vielleicht waren Sie nicht so vorsichtig, wie Sie meinen. Was ist, wenn die Polizei Sie schnappt? Nur für den schlimmsten Fall. Ich würde es gern wissen.«
»Ich nehme das bittere Los des Freiheitsentzugs auf mich, Frau Hurni.«
»Sie könnten versucht sein, zu verraten, wer und was hinter dem Einbruch steckt.«
»Ich bin an guten Geschäftsbeziehungen interessiert. Könnte ich nicht schweigen, wäre es sofort vorbei mit meinen Geschäftsbeziehungen, vor allem mit den guten.«
»Vielleicht wäre es das Klügste, wenn ich Sie beseitigen ließe, damit ich vor Ihnen sicher bin?«
»Ich habe gewusst, dass Leute, die tagein, tagaus Computerprogramme schreiben, ein kaltes Herz haben.«
»Wissen Sie, wo ich jemanden finde, der Sie erledigt?«
»Googeln Sie.«
»Wahrscheinlich haben Sie irgendwo einen USB-Stick versteckt, den eine Vertrauensperson den Behörden übergibt, genau für den Fall, dass Ihnen etwas zustoßen sollte, stimmt’s?«
»Das Einfachste wird sein: Sie bezahlen die zweite Hälfte des Honorars, lassen sich die Versicherung auszahlen und erleichtern sich die lange Trennungszeit von Ihren Erbstücken mit einer kleinen Reise in die Karibik.«
»Nichts anderes hatte ich vor. Haben Sie etwas mit dem Feuer zu tun?«
»Mit welchem Feuer?«
»Die Alphütte.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Schochs Alphütte ist abgebrannt. Am Hang gegenüber von meinem Chalet. Luftlinie zweitausend Meter. Es kam in allen Nachrichten heute.«
Gertsch erinnerte sich. Die Sirenen der Feuerwehr, die sie gehört hatten. Der Brand, den er über die Mauer des Chalets hinweg beobachtet hatte. »Sind Menschen gestorben?«
»Nein, glücklicherweise nicht.« Sie tippte auf ihrem Handy herum, bis sie die Nachrichtenseite fand, und zeigte Gertsch ein Video – auf stumm geschaltet. Lodernde Flammen an Hauswänden. Ein Mann, der ins Mikrophon eines Reporters spricht. Eine junge Frau im Hintergrund, die ungläubig in das Inferno schaut.
»Das ist Schoch. Ihm gehört die Hütte … gehörte die Hütte. Charles Schoch, der Architekt. Sie haben doch sicher schon von ihm gehört?«
Gertsch zuckte die Schultern.
»Haben Sie etwas damit zu tun?«
»Weshalb sollte ich damit etwas zu tun haben?«
»Vielleicht ein Ablenkungsmanöver?«
»Wenn Sie sich bei jemandem in den Computer hacken, sprengen Sie dann als Ablenkungsmanöver den Fahrradständer auf der gegenüberliegenden Straßenseite in die Luft?«
»Ich bin keine Hackerin. Oder versuchen Sie originell zu sein?«
»Sie haben angefangen damit. Ablenkungsmanöver! Hören Sie, das ist alles furchtbar interessant, aber …«
»Oh, ich will Sie natürlich nicht aufhalten.« Sie blickte sich im leeren Laden um. »Sieht so aus, als führten Sie hier ein sehr erfolgreiches Geschäft.«
Gertsch schwieg.
»Wann bekomme ich meine Sachen zurück?«
»Wann immer Sie wollen.«
Die Informatikerin legte ein Kuvert auf den Tisch. »Wie haben Sie überhaupt alles allein wegschaffen können?«
»Den antiken Schreibtisch im Arbeitszimmer habe ich dagelassen, auch den teuren Füller, der auf dem Schreibtisch lag. Sie können also die Schadensmeldung an die Versicherung gleich dort und bequem ausfüllen. Das Porträt ihres Vaters im silbernen Rahmen habe ich ebenfalls nicht mitgehen lassen. Mein Beileid übrigens.«
Sie biss sich betreten auf die Lippen.
Gertsch nahm das Kuvert und blickte hinein. Geldscheine. Ein kleines Stück vom blauen Himmel.
»Danke für den Kaffee.« Die Frau drehte sich um und öffnete die Ladentür.
»Empfehlen Sie mich weiter, Frau Hurni.«
Die Tür fiel hinter ihr zu. Gertsch sah, dass sie den Nescafé nicht einmal probiert hatte. Die Tasse stand unberührt auf dem Ladentisch. Er steckte das Geldkuvert in die Tasche seiner Jeans, schüttete die Brühe in die Spüle. Dann erlöste er die Puppe im Brautkleid von ihrem Dienst als Besenhalterin und stellte sie ins Schaufenster.
Gertsch wunderte sich, dass er schlechte Laune hatte.An der Informatikerin konnte es nicht liegen, sie hatte das vereinbarte Honorar bezahlt. Auftrag erledigt, alles wunderbar. Die Laune äußerte sich in ungehemmten Flüchen, als er sich mit einer Anstecknadel in die Hand stach beim Versuch, das Brautkleid um die Taille enger zu fassen.
Zwei Frauen im hohen mittleren Alter betraten die Boutique und sahen sich um, gingen an den Tischen mit den Lampen, Spiegeln, Vasen und schmucken Schatullen entlang, betrachteten die Gemälde, die an den Wänden hingen und vor den Regalen standen, blieben einen Moment lang vor der alten Bauernkommode aus dem Emmental stehen und begutachteten dann einen Philips-Plattenspieler, der sogar an den Strom angeschlossen war. Gertsch wollte eben aus dem Schaufenster steigen und ihnen anbieten, eine Schallplatte aufzulegen, um ihnen die Funktionstüchtigkeit des Gerätes zu demonstrieren, da verschwanden die Frauen wieder.
Dann eben nicht, dachte Gertsch und mühte sich weiter mit der Schaufensterpuppe ab. Nur zu gern hätte er die vorteilhafte Präsentation des Brautkleids und überhaupt die Gestaltung des Schaufensters seiner Tochter überlassen. Er liebte es, Alina um sich zu haben, und sie ließ sich auch öfters im Laden blicken, seit sie aus dem Tessin zurück war. Sie versuchte in der Theaterszene Fuß zu fassen und stürzte sich in jedes sich bietende Projekt, aber vielleicht würde sie doch auch wieder mehr Zeit mit ihrem Vater verbringen können? Die Hoffnung darauf hellte Gertschs Laune auf.
Der erste Mann am heutigen Tag betrat den Laden. Er schaute sich unsicher um, ohne Gertsch im Schaufenster zu bemerken, und näherte sich der unbesetzten Ladentheke.
»Waf kam iff fü Fie pum?«, fragte Gertsch mit einer Stecknadel zwischen den Lippen.
Der Mann wandte sich erschrocken der Seite zu, aus der die seltsamen Geräusche gekommen waren.
Gertsch kletterte aus dem Schaufenster und ging an ihm vorbei hinter den Ladentisch.
»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«
Der Mann war jung, gepflegt, langgliedrig. Jackett, Button-down-Hemd. Unspezifische Frisur, unspezifisches Gesicht, eingefallene Schultern. Für Gertsch verströmte er den Geruch eines ängstlichen Menschen. Da er nichts dabeihatte, keinen Koffer, keine Tasche, keine Ware, und da er auch nicht wirkte wie jemand, der sich nach einem halb kompletten Geschirrset für seine Junggesellenwohnung umsehen wollte, nahm Gertsch an, dass es sich um einen Klienten für einen Auftrag handelte.
Der Mann legte seine zehn Finger auf die Thekenkante, als wäre dort eine Tastatur. Hinter einem Computer ist er sicher am besten aufgehoben, dachte Gertsch. »Atmen Sie tief ein, und dann nur mutig raus mit der Sprache. Was kann ich für Sie tun?«
Der Mann atmete tief ein und sagte: »Mir wurde gesagt, Sie seien diskret im Erledigen von allen möglichen Jobs.«
»Da erzählt jemand nichts Falsches über seine Mitmenschen. Was führt Sie zu mir?«
»Ich komme mir etwas dumm vor.«
»Sie haben ein Problem, und vielleicht kann ich Ihnen helfen, das Problem aus der Welt zu schaffen.«
»Es ist kein Problem. Es ist mehr ein Wunsch. Und ich habe einen Plan.«
Gertsch nickte.
»Das Ganze klingt vielleicht verrückt in Ihren Ohren. Ich weiß aber, dass es funktionieren kann.«
»Wenn es funktioniert, dann ist es egal, was ich davon halte, Herr …?«
»Wollen Sie meinen richtigen Namen?«
»Wie es Ihnen am wohlsten ist.«
»Nun. Renner. Felix Renner.«
»Tee, Herr Renner?«
»Danke, nein.«
»Niemand trinkt mehr Tee heutzutage. Na gut, weihen Sie mich in Ihren Plan ein.«
»Ich arbeite in einer Firma und komme da einfach nicht vorwärts. Der Patron …«
»Es geht um Ihre Karriere?«
»Ja.«
»Wo steht Ihr Schreibtisch?«
Renner schaute Gertsch überrascht an. »Mein Schreibtisch steht in einem Großraum mit vielen anderen Tischen. Warum?«
»Ich möchte mir ein Bild Ihrer Lage machen. Trennwände?«
»Nein. Auf der nächsten Hierarchiestufe haben sie eigene Nischen, aber noch keine eigenen Büros.«
»Wie viele Leute sind auf Ihrer Hierarchiestufe?«
»Dreiundzwanzig.«
»Wie viele Stufen bis zum Patron?«
»Drei. Ich bin auf der Stufe unter der Stufe unter der Stufe unter dem Patron.«
»Auf der Stufe unter dem Patron tummeln sich wie viele Leute?«
»Sechs. Die Bereichsleiter. Sie leiten, nun, die Bereiche.«
»Und dort gehören Sie hin? Oder verlangt es Sie nach dem Posten des Patrons?«
»Nein, nein, Bereichsleitung, exakt. Ich bin vielleicht keine schillernde Führungskraft, aber ich kann strukturieren und delegieren und die Leute ihr Bestes machen lassen. In der Bereichsleitung werden zwei Stellen frei: die eine aufgrund einer vorzeitigen Pensionierung, die andere, weil der Mitarbeiter von einem Konkurrenten abgeworben worden ist. Das Beförderungskarussell läuft. Aber nicht zu meinen Gunsten.«
»Sind Sie schon länger in der Firma?«
»Sechs Jahre.«
»Nicht seit gestern also.«
»Die Favoriten für die Bereichsleiterstellen sind eine Stufe über mir.«
»Die in den Nischen mit Trennwänden.«
»Ja.«
»Sie möchten diese Stufe überspringen.«
»Ich wurde ein paar Mal übergangen.«
»Weshalb? Machen Sie Ihre Arbeit nicht gut?«
»Sehr gut, was das Fachliche angeht. Aber ich bin nicht der, der seine Leistung gut verkauft.«
»Jetzt geht Ihnen die Geduld aus.«
»Viele auf der Stufe über mir haben einen guten und direkten Draht zum Patron, und ich weiß mittlerweile, dass ich noch so gute Arbeit leisten kann, ohne eine Chance zu haben, dafür wahrgenommen oder sogar belohnt zu werden. Ich wollte eine wichtige Projektgruppe übernehmen, aber der unfähigste Kollege in der Nische bekam sie.«
»Wie lief das ab?«
»Was?«
»Wie haben Sie sich ums Projekt beworben?«
»Nun, ich bin direkt zu ihm gegangen, zum Patron. Herr Albrecht. Die Tür zu seinem Büro steht jedem offen. Ich wollte gerade fragen, ob ich die Projektgruppe übernehmen dürfe, da drängte sich ein Kollege dazwischen und kam mir zuvor.«