Die Geschichte des anderen Ritters - Annie Sonnenberg - E-Book

Die Geschichte des anderen Ritters E-Book

Annie Sonnenberg

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Beschreibung

Tante Elvira behauptet, der Bibliothekar sei ein gemeingefährlicher Irrer. Philipp lässt sich dennoch von seinem Freund in dessen Geheimnis einweihen - er kann nicht ahnen, was Andrews Enthüllung für sein eigenes Leben bedeutet. Der Roman beleuchtet in mittelalterlicher Szenerie Grenzfragen menschlicher Kommunikation: Haben wir ein Recht, einander die Gültigkeit unserer Wahrnehmung abzusprechen? Wer bestimmt, was Wirklichkeit ist?

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Seitenzahl: 248

Veröffentlichungsjahr: 2021

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AnnieSonnenberg

DieGeschichtedesanderenRitters

Impressum

Text&Umschlag:

AnnieSonnenberg

Verlag:

AnnetteSonnenberg

Rösekenwinkel22,

38110Braunschweig

[email protected]

Du,Held,verurteileniemals.

SieherstmitdenAugendesAnderen,höremitseinenOhren,fühle,riecheundschmecke,wieerestut.

UndDuerkennst:EristwieDu.

✳ ✳ ✳

Philipps Mutter sah aus dem Fenster und versuchte, unterhalb ihres Hauses oder am Hang des gegenüberliegendenHügels ihren Sohn zu erspähen, aber der Hochweg lag versteckt zwischen Wäldchen, Baumreihen und fast mannshohemGetreide – abhängig von der Größe des infrage stehenden Mannes, natürlich. Dennoch, bei jedem Aufblitzen einer kleinenVeränderung der Anschauung erwartete Philipps Mutter, ihren16-jährigen Sohn zu erblicken, dessen Statur ihn die übrigenTeenager seines Dorfes überragen ließ. Dummerweise – odereher: anstrengenderweise – ragte Philipp auch sonst über diehiesigen Gewohnheiten hinaus. Und ausgerechnet das hatteTante Elvira ihr, seiner Mutter, vorhin aufs Brot geschmiert.Undjetztwarsiedeswegenbesorgt.PhilippsMutterseufzte.

IhrSohnwarunterwegsindieBibliothek,dieimsogenannten »Herrenhaus« untergebracht war – einem riesigen freistehenden Gebäude mit unzähligen Räumen und noch zahlreicherenFenstern,dasdennochgedrungenwirkteundinseiner Massivität aus kilometerweiter Entfernung hervorragendsichtbarwar.BemerkenswertwarandiesemObjektvorallem,dass es nicht nur aus diesem einen Block bestand: An gefühltsämtlichenSeiten,Winkeln,NischenunddurchErkerbedingten Anschlussstellen mit Ausnahme der Vorderfront grenztees an kleinere Bauten, mit denen es durch Türen, Tunnelsoder überdachte Fachwerkgänge verbunden war. Niemandwusste so recht, wann man begonnen hatte, diesen Komplexzu errichten – in Tante Elviras Tante-Emma-Laden munkeltemanjedenfalls,derEntstehungszeitraumreichebisinsMittelalter zurück. Philipps Mutter gefiel dieser Gedanke, obwohlsie annahm, dass die ältesten Teile inzwischen überbaut worden waren und höchstens noch als Fundamente existierten.SieliebtedasGefühl,inderGeschichteverwurzeltzusein,umdieGegenwart gestaltenzu können.

Wasihrwenigergefiel,wardasunheimlicheGefühl,dassie beschlich, wenn sie daran dachte, dass Philipp sich baldwieder in diesem unübersichtlichen Labyrinth aus Steinen,Büchern, Bildern und verwinkelten Möbelstücken befindenwürde. »Schräg«, dachte sie und musste kurz auflachen, weildieses Adjektiv sowohl eine Reihe von Regalen in der Bibliothek als auch ihre Gemütslage sowie ihre Einschätzung derGesamtsituation beschrieb. Was ihr aber überhaupt gar nichtgefiel,wardieTatsache,dasssiesichwünschte,selbstdieSpätsommerhitzeverlassenunddieKühledesGemäuersgenießenzu können – ihr Gemüt ließ sie den Duft der Steine förmlichriechen,dieseMischungausunangenehmerSchärfeunderdiger Ruhe. Das wollte sie genießen. Mit einem guten Buch inder Hand, selbstverständlich. Und es gab exzellente Werke indiesen Mauern, denn der Bibliothekar verstand sein Handwerk–daswarnichtzuleugnen,egalwiesehrPhilippsMutterversuchte, ihre Sympathie für die Welt der Bibliothek mit ihrerUnruhe wegen der merkwürdigen Gerüchte zu übertünchen.DerBibliothekarwusste,wasbewahrenswertwar.

ErarbeitetezusätzlichalsAntiquar,undTeiledes»Herrenhauses« waren zu einem Museum umgebaut worden. »Es isteine Welt für sich«, pflegte Tante Elvira zu bemerken. Dieseheute so vielseitige Nutzung gefiel Philipps Mutter sehr – imGegensatz zu dem Gedanken daran, dass niemand sich erinnern konnte, ob der Komplex früher ein Adelssitz oder einForsthaus gewesen war. Selbst Tante Elvira hatte keine konsistente Theorie und vermied es deshalb, über diese Frage zuelaborieren. Ihre Nichte allerdings, Philipps Mutter, fragte sichoft, ob es das Heim eines Fürsten oder die Kate des Waldhütersgewesen war. Vielleicht sogar beides, zu unterschiedlichen Zeiten, dachte sie wie schon so oft, fragte sich aber zugleich: WiesogabeskeinerleiNachweisdafür?Undwieso–sieschlugmit der Faust auf den Tisch – beschäftigte sie diese Banalität geradejetztsosehrundhieltsiedadurchdavonab,sichderSorgeumihrenSohn zu widmen?

PhilippsGedanken,davonwarseineMutterüberzeugt,bewegtensichinWelten,dievonbanalenFragennachSicherheit oder auch nur von simplem Misstrauen meilenweit entfernt waren. Sie pflegte sogar zu sagen, ihr Sohn lebe in eineranderen Welt – diese leicht übertriebene Ausdrucksweise hieltihr zumindest Tante Elvira und ihre Kaffeekränzchenfreundinnen vom Hals, und das war gut, auch wenn die einzelnvielleichtganznettseinmochten–imRudelentwickeltensie einen gesprächsdynamischen Drive, der Philipp und denBibliothekar regelmäßig wie Aliens aus einem mittelmäßigenSci-Fi-Moviedastehen ließen.

Philipp war der einzige Jugendliche im Dorf, der regelmäßigdie Bibliothek betrat; die anderen luden sich E-Books herunter oder lasen kürzere Texte im Internet (oder sie lasen überhaupt nicht). Philipp hingegen liebte es, zu lesen – egal was,HauptsacheeswarguterzähltoderbotihmneuesWissenundNahrung für seine Gedanken. Man konnte ihn einfach nichtdavonabhalten.DeshalbhattePhilippsMutterdasGefühl,alseinzige Mutter der Umgebung über dieses Thema nachdenken zu müssen, und zwar leider mit Tante Elviras abfälligemGerede darüber im Kopf. Tante Elvira hielt Philipp für übergeschnappt, und das Fremdwort »Eskapismus« war in ihrenWortschatzgeschlüpft,umihnschlichterenGemüterngegenüber zu schmücken. Alle anderen Mütter hielten Philipp nunauch für merkwürdig. Philipps Mutter seufzte. Allerdings: Wares nicht immer so, dass man als Eltern vor Entscheidungenstand, die – zumindest scheinbar und vielleicht auch nur in diesem Moment – nur das eigene Kind betrafen? Und war es nichtimmerso,dassmandanneigentlichnurhoffenkonnte,richtig gehandelt zu haben? Philipps Mutter seufzte erneut und ärgertesich,dasssiesichnichtandiesenpermanentenSchwebezustandgewöhnenkonnte.AlsderÄrgerverpuffte,hofftesie,das Richtige getan zu haben, als sie Philipp mit acht Jahren zumerstenMalerlaubthatte,mitseinemneuenBibliotheksausweisins»Herrenhaus«zugehen.Aberegalwie,jetztwaresohnehinzu spät: In der Pubertät war jedes Verbot, jedes bisschen moralischerDruckeinexistentiellesEreignis,daszwarinseltenenFällentatsächlichdiegewünschteWirkungerzielte,zumeistallerdingsmitTotstellen,KampfoderFluchtbeantwortetwurde.Und Philipps Mutter wollte nicht, dass ihr Sohn vor ihr floh.Andererseits hatte sie Tante Elviras Vermutungen nie ganzentkräften können, denn obwohl es sie störte, dass diese VermutungenbeiKaffeekränzchengernzuUnterstellungenwurden,wareinesmerkwürdig:DieFreundindesBibliothekarshattemanniewiedergesehen,seitsieausdemDorfverschwundenwar.AngeblichhattenihreElternsieaufeinePrivatschulegeschickt,abersiewarniewiederöffentlichinErscheinunggetreten.PhilippsMutterkonntesichdesEindrucksnichterwehren,dassderBibliothekaretwasdamitzutungehabthatte.UndjedesMal,wennElviraoderihreFreundinnenhintervorgehaltenerHandraunten,dasseikeinWunder,dennerhabeschließlicheinAnwesen»fürkindlicheGemüter«gekauftund habe mit Sicherheit eine Vorliebe für Kinder, wurde sie denVerdachtnichtlos,dasseinFünkchenWahrheitdarinsteckenmochte.Unddeshalbmusste sievorsichtigsein.Sehrvorsichtig.SiemussteihrenSohnbeschützen,egalwieselbstständigderzuseinwünschte.

Andrew,derBibliothekar,hieltdengroßen,ledergebundenenBandvorsichtigmitbeidenHänden,alsseiereinKind.Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er das Buch auf demeigens dafür hergerichteten Eichenholztisch deponierte, dieseidene Unterlage dekorativ drapierte und die Handschuheabstreifte. Ihm war gerade quasi die Quadratur des Kreisesgelungen, und das machte ihn glücklich. Es war immer wieder ein Hochgefühl, seltene Bücher antiquarisch zu erstehen.Manchmal,wieindiesemFall,handelteessichumFaksimiles,aber das bedeutete für Andrew keinen großen Unterschied.Mitunter–unddaswarenSternstunden–wurdeseinemInstitut die Ehre zuteil, Originalkodizes als Leihgaben auszustellen. Andrew seufzte vor Zufriedenheit: Der Treffpunkt desGeistes, den er geschaffen hatte, war vielleicht klein, aber vorallemwarerfein.DieWissenschafterkannteseineBemühungen an und gab ihm die Möglichkeit, kostbares Wissen derVergangenheit auf verschiedenste Weise in die Gegenwart zutransportieren.

Oh ja, Andrew liebte seinen Beruf – oder war es sogar, wennauch vielleicht nur auf Zeit, seine Berufung? Mitunter belebteein Lächeln seinen sonst oft schwermütigen Blick, wenn er sah,dass in der Literatur wie im Film oder Fernsehen BibliothekareHochkonjunktur hatten: Abenteuer reihte sich an Abenteuer,und Andrew fand diese Geschichten durchaus unterhaltsam.Aber einen gewaltigen Unterschied zu dem, was er darunterverstand, gab es dann doch, und dieser Unterschied war es, derihn zum Schmunzeln brachte: Die Geschichten dieser Bibliothekare waren ausgedacht. Und seine war es nicht. Er hattetatsächlich erlebt, wovon er erzählen konnte, auch wenn ersich bislang wohlweislich darüber ausgeschwiegen hatte – esreichte,einmaldamitaufderNasezulanden.Nichtsdestotrotz hatte Andrew sich entschieden: Heute würde er Philipps Drängen, ihm endlich wirklich alles zu berichten, nachgeben. Es warnurnoch ein wenigZeit zu überbrücken.

Andrew nahm seine irische Knieharfe und setzte sich aufeinen der einfachen, aber stabilen Holzstühle aus dem Inventar des Herrenhauses. Sie standen wie immer in dem Gang,der von der Eingangshalle abzweigte und zu seinen Privatgemächern führte. Hier fühlte er sich wohl, und hier wollte aufPhilipp warten und auf seine Nichte Molly, die ihn wie an jedemWochenendefüreinehalbeStundebesuchenwürde,währendihre Eltern in den Magazinen stöberten, um sich neuen Lesestoff für die häusliche Lektüre auszuleihen. Molly war achtJahrealtundliebtedieBibliothek,diesieals»OnkelAndrewsBurg«bezeichnete.

EszauberteAndrewstetseinLächelnaufsGesicht,wenner Molly so leidenschaftlich von seinem Haus reden hörte. Erhatte es sofort gewusst: Dieses Gebäude war ideal fürs kindlicheGemüt. Er hatte es gekauft, für sich selbst, für seine Erinnerungen, für Molly, für Philipp, für jedes Kind und für jeden,der ein Kind geblieben war. Sein ganzes Erbe war hineingeflossen, einschließlich der Zinsen seines Sparkontos, aber daswar es wert. Daran konnten auch die haltlosen Gerüchte umvermeintlichesexuellunnatürlicheVorliebennichtsändern.

AndrewnahmzärtlichseineHarfeaufdieKnie.DasdunkleHolz glänzte, die Intarsien auf dem Sockel dufteten nach Lindenholz, und als er in die Saiten griff, schenkten die Metallseileihm Töne, wie er sie sich schöner nicht hätte erträumen können.Er wusste: Wenn Philipp die Eingangshalle betrat, würde erseine Gitarre aus dem Kasten nehmen und ebenfalls spielen,und es wäre ein Gespräch jenseits der Worte, das beiden Heimat bedeutete. Manchmal war es auch andersherum: Dannwar Andrew nicht der Erste, der spielte, sondern er stimmtein Philipps sanfte Klänge ein, dass es war wie ein Gruß, dender Hausherr auf dessen Vorstellung hin einem willkommenenGastentrichtete.

Andrew sah Philipp gern an, wenn der sich noch unbeobachtetwähnte.ErtrughäufigdieselbeKleidung,dieaberniemalsstank oder vor Dreck starrte. Andrew fragte sich manchmal,ob Philipp von den meisten seiner Kleidungsstücke mehrereExemplare besaß. In seinen alten Wildlederschuhen, der Hochwasserhose, den irgendwie unpassenden weißen Socken unddem feminin anmutenden, langen geblümten Hemd müsstederjungeMannhilfloswirken,daswarAndrewbewusst,aberdas Gegenteil war der Fall. Philipp gab Andrew Festigkeit, MutundKraft.Erstandda,dielangenlockigenHaarezueinerArtDutt hochgesteckt, und lächelte von innen heraus, mit geschlossenenAugen,bevorerindieSaitenseinerGitarregriffundihrdie Welt entlockte. Sein sanftes Drücken und Zupfen entlangder Saiten, sein sachtes Klopfen auf den Korpus des InstrumenteswarenAusdruckeinerGemütslage,dieAndrewlangenicht mehr in ihrer Fülle verspürt hatte und die anzuschauen ihnwieder ein wenig näher zu sich selber brachte: absoluter Friedemitsichselbst undder Welt.

Friede, das war Andrews größte Leitidee. Er wünschte sichnichtssehnlicher,alswiederdorthinzugelangen,woerglücklich gewesen war, wo er andere glücklich gesehen hatte. UndPhilipps Spiel hielt die Hoffnung aufrecht, dass es ihm einesTages gelingen würde, zurückzukehren. Philipps Spiel war zeitlos – und es ähnelte trotz unterschiedlicher Melodien dem, waser, Andrew, in der Spielmannskunst des Barden vernommenhatte, den er einst gekannt hatte, vor vielen, vielen, wirklichvielenJahren.

Bis es soweit war, dass er heimkehren konnte, das hatteAndrew als seine Aufgabe erkannt, würde er für die Kinder dieser Welt Geschichtenerzähler sein: Er würde die Geschichtenerzählen, die manche zum Glück noch immer an ihre Kinderweitergaben,dieaberzunehmendwenigererzähltwurden.

Er würde die Geschichten erzählen, die sich in den BüchernseinerBibliothekverbargenunddiemancheKinderunderwachsenen Kinder noch immer lasen, mit offenen Herzenlasen – und die doch immer weniger gelesen wurden. Er würdesieinihrerFülleerzählen,mitunterauchinihrerMehrdeutigkeit, denn auch das machte das Leben aus. Das Leben war reichan Facetten. Aber es gab Dinge, die waren absolut gut, und esgab Dinge, die tat man einfach nicht. Davon wollte er erzählen. Andrew wollte Geschichten erzählen, die stark machtenund die die Menschen an das Gewissen erinnerten, die zumrechtenHandelnanleiteten,dieetwasAbsolutesvermittelten,auchwennindenGeschichtenimmereinekonkreteSituationvorlag: Man lernte aus ihnen etwas fürs Leben. Etwas Gutes.Und dem Guten, dem wollte Andrew dienen. Auch wenn erdas Gefühl hatte, dass er diesem Guten nur sehr, sehr seltengerechtwerden konnte.

Andrew seufzte und dachte wieder daran, dass sein HauseineSpielwiesefürkindlicheGemüterseinsollte.Dannsetzteer seine Harfe sacht auf den Boden, ging in die Küche undlegte selbst gebackenen Kuchen für Molly und Andrew zurecht,damit sie etwas essen konnten, bevor er zu erzählen begann.Sie sollten sich stärken, denn nach der für den Abend geplantenLesung würde er die beiden Menschen, die ihm in diesemLandstrich am nächsten standen, in die Geheimnisse seinesLebenseinweihen.

Irgendwo im Nirgendwo zwischen den Dörfern von PhilippsHeimat, am Rand des alten Wäldchens, das sich an dieser Stellebereits merklich lichtete und in Buschwerk überging, befandsich ein riesiger liegender Stein. Philipp fand, er sähe aus wieeinFindling,dendieletzteEiszeithierausgespuckthatte,so wie man Kirschkerne ausspuckte und damit manchmal – teils unbeabsichtigt–Bäumepflanzte.BäumewarengutfürdiePflanzerund für die Generationen danach, im Grunde sogar für alleLebewesen in der Umgebung (und bei Licht besehen nicht nurdort, weil Bäume Sauerstoff lieferten, der sich ja überall verteilte).DerSteinwarfürPhilippeinKirschkern,dererblühte:Sobald er in der Sonne auf dem Stein saß, wurde sein Kopf frei,undererkanntedasWesentliche.DefinitivetwasGutes.

Von diesem Stein aus konnte man, sofern man von PhilippsStatur war und sich auf den Monolithen stellte, über demRand des nächsten Hügels die obere Hälfte des riesigen Gebäudessehen,indemAndrewdieBibliothekuntergebrachthatte.Philipp liebte diesen Anblick: Der rostige Wetterhahn wurdeihmzueinemMinidrachen,diedunklenSteinedesGemäuersregten seine Phantasie an und ließen ihn immer neue Abenteuer ersinnen, während er weiter auf die Bibliothek zuging.Und nicht zuletzt erinnerte ihn das Gebäude, obwohl es erstdeutlich nach dem Mittelalter errichtet worden war, an seinumfangreiches Wissen über die Epoche zwischen SpätantikeundReformation.

Tausende Male war Philipp den Weg entlanggegangen, aufdem ihm jetzt eine sanfte Brise den hochsommerlichen Staubentgegenwehte;derWegwarihmvertrauteralsdermorgendliche Anblick seines verschlafenen Gesichtes im Spiegel. Aufdie Folie vertrocknender Gräser projizierte sein inneres Augedie verlockendsten Bilder, von denen er teils nicht mehr genauwusste, ob sie Erinnerungen an reale Erlebnisse waren oderder Widerhall seiner Vorstellungen bei der Lektüre oder demHören von Büchern: Er saß in einem Ruderboot und fuhreinen Fluss entlang, vorbei an einer verwunschenen Anlegestelle. Eine hölzerne Treppe, wie aus der Zeit gefallen, führtezueinerquadratischenPlattform,aufdereinMädchensaß.

IhrlockigesHaarwurdevoneinemverspieltgemustertenHutvor der Sonne geschützt, und auf dem Hut saß eine Libelle,die der Welt mit einem geradezu überirdisch leuchtenden Blaubegegnete. Um die Szenerie herum flog schützend ein Schwarmebenso blauer, ebenso leuchtender Schmetterlinge. Und vorihm, in leichtem Dunst vor einem makellos blauen Himmel,erblickte er eine Burg auf nacktem Granitrücken, stolz undstark. Ja, dachte Philipp, sofern er nicht als Kind mit seinenEltern an dieser Burg vorbeigefahren war, musste dies das Werkder Bücher sein – und damit irgendwie auch Andrews Werk.Erlächelte.

Es hieß, der Bibliothekar hätte einen an der Waffel. Alle imOrt wussten das, auch er, der Sohn der Schulleiterin: VieleJahre lang war Philipp mit diesem Gerücht konfrontiert worden,underwarüberdieJahreinsehrunterschiedlicherWeisedamit umgegangen. Er war acht gewesen, als er zum erstenMaldavongehörthatte.DeshalberinnerteersichsogenauanTante Elviras Wortwahl. Heute hieß es vor allem, der Bibliothekar sei vollkommen übergeschnappt, aber Philipp konnte auchdas in keiner Weise bestätigen. Es war ebenso unkonkret wiealles in allem unzutreffend, wenn man einmal von der Tatsacheabsah,dassjederMenschgrundsätzlichirgendwoeineMackehatte. Philipp störte das nicht im Geringsten. Seine Macke hatteimmerhin schon allein darin bestanden – das dachte er oftzwischenSorgeundNachsicht–,sehrgernezulesen.

Philipps Eltern waren alles andere als begeistert gewesen,als Philipp zum ersten Mal die Bibliothek betreten hatte, aberdie Schulleiterin und der Arzt des Ortes konnten ihren SohnkaumvomSchmökerninBüchernabhaltenundgleichzeitig glaubwürdig für Lesen und Bildung eintreten. Philipp warsehr dankbar für diese Art von Sachzwang, denn sie erlaubteihmdasZusammenseinmitAndrewgenausowiedasmitden BücherninderBibliothek.AlsspäterdieGerüchteaufkamen,der Bibliothekar sei während der unerklärten Fehlzeiten seinerBiographieineinerPsychiatriegewesen,hattendieMenschendes Dorfes sehr unterschiedlich reagiert: Tante Elvira bestärktediese Theorie in ihrer Ansicht, Andrew sei ein Psychopath,wohingegen Philipps Eltern ihn zwar für ein wenig seltsamhielten, sich aber freuten, dass Philipp in ihm einen väterlichenFreundgefundenhatte.UndPhilippselbst–darinwarermitseinen Eltern einig – störte es überhaupt nicht, dass Andrewsich vermutlich einer Behandlung unterzogen hatte. Er fand esgut,dassseinemFreundgeholfenwordenwar.

Wiegesagt,eshieß,derBücherfritzehabeeinenanderWaffel.Außerdem behaupteten Tante Elviras Freundinnen regelmäßigseinerMuttergegenüber,Andrewseigefährlich,undzwarinsbesonderefürKinder,unddeshalbauchfürTeenager,undfür Frauen sowieso, egal ob jung oder alt. Das machte Philippaber nur neugieriger. Er konnte das nämlich in keiner Weisebestätigen. Ohnehin hatte Philipp die Erfahrung gemacht, dassdie treibende Kraft hinter der Ablehnung anderer selten tatsächlichaufFaktengründete,sondernpraktischimmerAngstzu sein schien. Manchmal war die zwar sinnvoll – meistenstatsieaberanderenUnrecht,fandPhilipp.BesondersAndrew.DemBibliothekar.

Irgendwannhießessogar,deralteBibliothekarseieingemeingefährlicherIrrer,auchwennniemandihmetwasKonkretes nachweisen konnte. Er war das Lieblingsgesprächsthemagewisser Damen in der Nachbarschaft (und aus Tante ElvirasKaffeekränzchen), denen jeder unheimlich war, dessen LebenswegsienichtvonAnfanganhattenbegleitenkönnen,dennerhatteeineLückeinseinerBiografie.SeineElternstammtenzwarausdemOrt,abererselbstwareinesTagesplötzlichverschwundenunderstsehrvielspäterwiederaufgetaucht.Da lag für die alten Damen der Verdacht nahe, dass ein Gefängnisaufenthalt im Spiel gewesen war. Und das bedeutete für sie, dasser ein unberechenbarer Krimineller sein musste. Sie fandendas derart empörend, dass sie es weitererzählten – natürlichnur ihren Töchtern und Nichten, denn die mussten schließlichvor dem Bibliothekar beschützt werden. Und die konnten esdannihrerseitsihrenTöchternweitergeben.

SelbstverständlichwurdekeinkonkreterVorwurfgeäußert,aberdasverliehderSachenurnochmehrGewicht:DerBibliothekar könnte zu allem fähig sein. Nur dass sich niemand traute,das zu sagen. Immerhin war Andrew vor seinem Verschwindenhäufig mit Lucy zusammen gewesen, der zurückgebliebenenTochter des Vikars – einem hilflosen Mädchen aus einer leichtgläubigenFamilie.Werwussteschon,wasdavorgefallenwar?Der stille Junge sprach ja nie über etwas Relevantes. Stattdessen verbrachte er Stunden im Badezimmer. Wer wusste schon,waserdorttat?Außerdemweigerteersich,seinerMutterdenMüll rauszutragen. Die arme Frau hatte das jedes Mal selbstmachen müssen. Nein, der Bibliothekar musste ein ganz seltsamer Mensch sein. Geradezu gewissenlos. Da waren die Damensicher.PhilippjedochkonntedasnochimmerinkeinerWeisebestätigen.

DasKlingelnnachdersechstenStundekamimmereinerErlösunggleich.Sowaresauchheutegewesen.Philippkonntedie Schule nicht ausstehen. Aber er liebte die Geschichtsstunden – und nicht nur deswegen, weil er in diesem Fach bereitsaußergewöhnliches Vorwissen mitbrachte. Ihm stellten sichbeimNachvollziehenhistorischerGegebenheitenundZusammenhänge die Grundfragen des Menschseins: Wer sind wir,wokommenwirher,wogehenwirhin,wassollenwirtun …

Allerdings waren das Gedanken, die ihm ebenso in AndrewsBibliothek begegneten, und dort störte kein Pausenklingelnseine Überlegungen, dort unterbrach ihn niemand, wenn ereinen ganzen Tag lang über einer Fragestellung brütete. Philippwar überzeugt davon, dass ein Zehntklässler Besseres zu tunhatte, als herumzusitzen und immer wieder nur zu beweisen,waslängstbewiesenwar:DassmandasLesen,Schreiben,Rechnen,LernenundMitdenkenbeherrschte.

Gut, er nahm auch eine ganze Menge aus dem Unterricht mitfür sein Leben, aber diese Umwandlung geschah eben nichtimmuffigenaltenTraktseinerLehranstalt,undauchnichtimgerade angebauten modernen Flügel – der, trotz seiner KlarheitundSterilität,inPhilippeinGefühlderEinsamkeithinterließ.DieVerwandlungdesGelernteninsLebengeschahinseinemKopf, und zwar häufig auf dem Heimweg – so wie jetzt. Philippspürte, dass ihm die Gedanken, die seinen Kopf in unendlicherGrößeumwaren,guttaten,undersehntesichnachderKühleseines Lieblingsortes, der Bibliothek, um dieses Große, in demGefühl und Wissen vereint waren, mit seinem Freund zu teilen:demBibliothekar.

EswareineganzbesondereBibliothek.Sielagineinemkleinen Park neben einem großen Sanatorium, an dem Philippgerade vorbeigelaufen war, um auf das hölzerne Portal desHerrenhauseszuzusteuern.Eshieß,derBibliothekar habesie seinerzeit selbst hier untergebracht, in dem großen, altenGebäude, das so gut dazu passte, dass sich hier Werke ausaller Herren Länder und vielen, vielen Jahrhunderten befanden–undbereitstanden,umihreGeheimnissezuteilen.Daswar sein Werk: Andrew hatte alle diese Bücher gelesen und fürwürdig befunden, an diesen Ort in die Gesellschaft andererBücher und damit unterschiedlicher Sichtweisen auf dieselbeunumstößlicheWahrheitverbrachtzuwerden.

Aber der Bibliothekar hatte noch ganz andere Qualitäten.Es war nicht nur so, dass er die Geschichten aus den Büchernkannte,nein,erkonntesiewiedergeben,alsseierdabeigewesen, als sie sich zutrugen – auch bei Geschichten, die so ebenniemalsgeschehenwaren.ErwarnichtnureinMärchenerzähler,erwareinGeschichtenerzähler.UndfürPhilippwarereinMutmachgeschichtenerzähler.

In Gedanken strichen Philipps Hände wie immer zärtlichüber die alten und neuen Folianten, die Faksimiles und – ineinemseparatenRaum–überdiewenigenOriginale,diees dem Bibliothekar gelungen war, hierher holen zu dürfen.Die ernsthafte, zugleich aber freie Atmosphäre vermitteltePhilipp die Möglichkeit, täglich geistig zu wachsen und dabeidochmitbeidenBeinenimBodenverwurzeltzubleiben.WieimmerverharrteerbesondersinderMittelalterabteilung:ChrétiendeTroyes,LeChevalierdelaCharrête.WolframvonEschenbach: Parzival. Geoffrey Chaucer: The Canterbury Tales.Er liebte es. Aber auch die Antike faszinierte ihn. Er hättegerndieSchriftenausderBibliothekvonAlexandriagesehen:Das gesamte Wissen der damals Europa, Asien und AfrikabekanntenWelt.

Im Laufe der Jahre hatte Andrew Philipp praktisch jedesBuch in seiner Bibliothek nahegebracht. Entweder hatte erPhilipp in Ruhe durch die Regale stöbern und ein Werk seinerWahl herausnehmen lassen, auch aus der Faksimile-Abteilung,gelegentlich sogar von den Originalen, oder er hatte PhilippBücher empfohlen, von denen er überzeugt war, dass sie Philippnützlichsein könnten.

AbundanhatteerPhilippimVorhineinHinweisezumInhaltder Werke gegeben, und gelegentlich setzte er sich währenddesLesensoderbeiderRückgabeeinesBucheszuPhilippundunterhieltsich überdas Erfahrene.

Philipp liebte diese Momente, ja manchmal Stunden, indenen er neu erworbenes Wissen mit seinem Mentor teilteund oft zugleich an dessen großem Wissensschatz teilhabendurfte. Ja, Fakten, Zusammenhänge und Informationen überGedankenwelten fand man in der Bibliothek im Überfluss.Philipp schmunzelte, wenn er daran dachte, dass er für dieseAspekte des Lernens keiner Schule und keines anderen Lehrersbedurfte. Einen großen Teil seiner Bildung verdankte er denBüchern– undAndrew.

Weisheitallerdings,dieFruchtderBildung,hatteseinMentorihnnichtlehrenkönnen;dieseQualitätkonntesichnurinPhilippselbstentfalten.ManchmalbereiteteihmdasSorge:Erwusste, dass Andrew ihn in das Sortiersystem der Bibliothekeingeführt hatte, weil er ihn eines Tages zu seinem Nachfolger erklären wollte – aber wie um alles in der Welt sollte ernurinsogroßeFußstapfentretenwiediejenigen,dieAndrewhinterlassenwürde?

AndrewhatteihnallesüberjeneZeitgelehrt,dieerseine»Lieblingsjahrhunderte«nannte,wenngleichihm–unddamitauch Philipp – sehr wohl bewusst war, dass das HochmittelaltermitPest,Hungersnöten,Kriegen,KreuzzügenundeinerriesigenScherezwischenArmundReichweitdavonentferntwar,alsparadiesischbezeichnetwerdenzukönnen.Allerdings,und das hatte Philipp ebenso von Andrew gelernt, allerdings wardie Welt zu diesem Zeitpunkt noch nicht bis in die Alltagswelthineinzersplittertgewesen.EsgabgroßeGebiete,die(aus eher weniger nachvollziehbaren Gründen) einander feindselig gegenüberstanden, aber insgesamt war die Weltanschauung einheitlich: Es gab einen Gott, wie auch immer man ihnnannte;aufihnmusstemanhören,undinseinenHändenlag die Welt. Nicht in den Händen der Menschen. ManchmaldachtePhilipp,dasseinbisschenvondieserWeltsichtseinereigenen Zeit durchaus guttun könnte – selbst wenn man ihn obdiesesVorschlagesalsmittelalterlichbezeichnenkönnte.UndAndrewsahdasoffenkundig genauso.

Trotz seines Wissens um Armut im Mittelalter wollte esPhilipp aufgrund seiner Lektüre scheinen, als sei, zumindestvor dem Aufkommen der ersten Bankhäuser und bevor dieHanse riesig wurde, die Welt kleinräumiger und damit ökonomisch stabiler gewesen als heute. Die Menschen befandensich innerhalb ihrer begrenzten Örtlichkeiten, sie konntennicht einfach ins Flugzeug steigen und sich in anderen Teilen des Globus’ in einem Hotel einmieten. Aber sie kanntenihre Welt, die klare Regeln bot, selbst wenn diese Regeln beiFürstenauchbedeutenkonnten,dassderBrutalereundMächtigereschlichttunkonnte,waserwollte.AberdieVertrautheit und Zuverlässigkeit dieser Lebensräume erschien Philipp unermesslich anziehender als die vollständig verwirtschaftlichtenLagerplätze für human resources, die er in seiner eigenen Zeitvorfand.

ManchmalmusstePhilippsicheingestehen,dassersichfürAugenblicke lieber im Mittelalter aufhalten würde als in seinemeigenen Jahrhundert. Er sehnte sich nach Berührung, nach echtermenschlicherBegegnung,nachZeitfüreinanderundemotionaler Tiefe. Er sehnte sich nach Berührung wie ein kleinesKind.UndwieKinder,dashattePhilippausdemgeschlossen,waserüberdiespontaneFeierfähigkeitderMenschenimMittelalter gelernt hatte, wie Kinder mussten die Menschen damalsgewesen sein: Gab es schlimme Zeiten durchzustehen, vertrauten sie auf Gott, gab es etwas zu feiern, dankten sie Gott undfeiertenspontanmitausgelassenerFröhlichkeit–undgingihrWegzuende,standensieaufdemfestenGlaubensfundament,dassiedurchihrganzesLebengetragenhatte.WennIhrnichtwerdetwiedieKinder…Somussteesgewesensein.Davonwar Philipp überzeugt, auch wenn ihm die Einzigartigkeit jedesMenschen bewusst war und Verallgemeinerungen mit Vorsichtzugenießen waren.

Er fand die Vorstellung äußerst willkommen heißend, dassder Glaube damals von so vielen Menschen getragen wordenwar, dass nur wenige (oder vielleicht sogar überhaupt keine)Zweifelaufkommenkonnten.Philipphieltesnichtfürgefährlich oder gar für eine Täuschung, dass es kaum Alternativengab,sondernfüreineninhaltlichenGewinn.DasEinzige,waser sich wünschen würde, wenn er in dieser Zeit leben würde,das dachte er oft, wäre, dass die Verehrer seines Gottes ausanderenReligionennichtfürihreWeise,denAllmächtigenzuehren, zu Feinden Gottes erklärt wurden. Das war in PhilippsAugenabsolut absurd.

Liebe, dachte er, Liebe wäre – wie so oft – auch in diesemFall eine Lösung. Liebe war die einzige Macht, die sogar überdem Gesetz stand – sie und ihre Geschwister, Gnade, Verzeihung und wie sie alle heißen mochten. Insbesondere im Vergleich mit der Spätantike fand er, dass die angeblich »dunklen« Jahrhunderte der »Zwischenzeit«, wie man das Mittelaltermanchmal nannte, durch die Verbreitung der christlichen Ideeder Nächstenliebe in Verbindung mit der Liebe zu den Feinden, mochte sie im Einzelnen auch noch so sehr mit Füßengetretenwordensein,deutlichbesserabschnittenalsdasklare,aberbestimmtenGruppierungengegenübergnadenloserömische Gesetz. Hospitäler standen im Mittelalter jedem offen,das hatte Philipp gelesen, und das war in seinen Augen eingroßerethischerSchrittnachvorn.LiebedeinenNächstenwiedich selbst – das Doppelgebot der Liebe hatte den Sohn derSchulleiterin in den letzten Wochen und Monaten selbst fürseine Verhältnisse sehr stark beschäftigt. Liebe deinen Nächsten,dirgleich.

Wer war sein Nächster? Jeder, der ihm begegnete – unddamitauchAndrew.Imstaubig-klarenScheinderNachmittagssonne verlangsamte Philipp seine Schritte, er hieltinne und zog einen Zettel aus der Tasche seiner Jeans. DasGedicht,dassichdarauffand,hatteihnnochmehrbeschäftigtals das Liebesgebot. Er war darauf gestoßen, als er in derFaksimile-AbteilungderBibliothekvorsichtigeinenledergebundenen Codex aus dem Regal genommen hatte, umzu sehen, welchen Inhalts er war, denn bei diesem ManöverwarihmeinemehrfachüberschriebeneSeiteaufgefallen,derenoberste Schicht eindeutig in Andrews Handschrift verfasstwar.DaswarnunwirklichallesanderealseinnormalesPalimpsest, hatte Philipp gedacht, und er hatte das Gedichtabgeschrieben. Er konnte nicht sagen weshalb, aber ihn hattesofort mit seltener Wucht der Gedanke ausgefüllt, dass dieVerse mit Andrews Vergangenheit zusammenhingen – unddamit auch mit dem, was er, Philipp, heute Abend aus demMundseinesFreundes erfahrenwürde.SeinesNächsten.

DukommstnachHausnachlangenTagesMühen,sitztandesHausesreichgedeckterTafel,

genießt den Eintopf oder die Pastete,berichtest von der Arbeit auf dem Feld –undallesagen:Nein!Duwarstnichtdort.

Die leuchtenden Augen des Jungen durchbrachen die Stille desdunklen Raumes wie Schwerter aus Damaszenerstahl, währenddie letzten Besucher der Lesung, größtenteils erwachsene Zuhörer,denOrtdesErzählensverließen.WürdeseinhartnäckigesFragenjetztendlichbelohntwerden?