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Die Achtziger: Deutschland im Spannungsfeld der Supermächte. Die Jugend schwankt zwischen MacGyver, Lateinunterricht und Discofox. Und Jakob begegnet Rachel. Die US-Diplomatentochter bestärkt Jakob in seinem durchdachten Umgang mit seiner eigenen Kultur. Der wiederum hat eine Überraschung in petto... Bonn, 1986: Das Zentrum des Weltgeschehens. Jedenfalls für Jakob.
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Seitenzahl: 52
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Annie Sonnenberg
Drachenfels
Kurzgeschichte
Impressum
Text & Titelbild:Annette Sonnenberg
Verlag:Annette SonnenbergRösekenwinkel 2238110 [email protected]
Vertrieb:epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Es gibt Orte, an denen ist einfach nix los. Dazu gehören in den Augen der meisten Menschen vermutlich Secondhand-Buchläden und Antiquariate. Aber in genau einem solchen, in Münster, obwohl nichts mit „Wils“ und auch nichts mit „Berg“ draufsteht, ist heute was passiert. Auch wenn das außer mir niemand bemerkt hat.
Bei den wahrscheinlich klimawandelindizierenden Waschküchentemperaturen draußen hatte ich kurz vor der Auslage innegehalten - und hatte prompt den Sog alter Bücher verspürt. Das geschieht jedes Mal, und eigentlich hätte ich es vorher wissen müssen: Fast gegen meinen Willen schoben sich meine Füße nacheinander die kleine Treppenstufe hinauf und dann durch die Tür. Bei mir steht „Nerd“ auf der Stirn.
Wie ich dann vor das Bild gelangte, weiß ich nicht mehr. Erst als die Nachmittagshitze im scharfen Staub der Innenraumluft von mir abfiel, registrierte ich, dass ich eine alte Postkarte anstarrte: Eine Abbildung von Burg Drachenfels, offenbar fotografiert von irgendwo in Bad Godesberg aus, vielleicht von Mehlem her. Der Blickwinkel ist mir allzu vertraut.
Ich bin plötzlich so angeregt, dass meine Augen wie ohne mein Zutun im Halbdunkel der Regale umherwandern. Mein Körper weiß, noch bevor meine Gedanken ins Bewusstsein steigen, dass das Freisetzen von Adrenalin angesagt ist: Ich kenne diesen Ort im Siebengebirge so gut! Noch besser allerdings das Gelände drumherum, außerhalb der touristisch erschlossenen Bereiche. Das ist es, was mein inneres Auge sieht, während mein äußerer Sehsinn wie ein Schwamm aufsaugt, was ihm vor die Linsen kommt. Mein Körper hält die Luft an.
Unterhalb der nachkolorierten Fotografie liegt ein aufgeschlagener Gedichtband, Heinrich Heine über einen Ausflug zum Drachenfels: „Deutschlands heilge Siege“... Mir wird schlecht, weil Siege mir nicht heilig sind. Aber ich lese weiter, ich kann’s nicht lassen. Die letzten Verse bringen mich zum Lachen: „Sieh nun, mein Freund, so eine Nacht durchwacht ich / Auf hohem Drachenfels, doch leider bracht ich / Den Schnupfen und den Husten mit nach Hause.“.
Zufälle gibt’s...
*
Im Dunst des Januarregens des Jahres 1986 hatte ich mich auf dem Fahrrad bis zum Eselsweg vorgekämpft. Ich kam mir vor wie ein Held - ein Paladin der achten Klasse. Das fühlte sich wundervoll an, da war das Alter egal. Mittlerweile hatte der Regen nachgelassen, auch wenn die Feuchtigkeit noch in der Luft hing wie ein durchsichtiges Handtuch.
Ich war mit dem Wetter durchaus gut zufrieden, denn es gab mir die Gelegenheit, über der dicken Strickjacke meine knallrote Regenjacke zu tragen. Aus heutiger Sicht war es ja mehr eine Art klammer Plastikverpackung, aber egal: Ich trug so etwas wie den Wappenhintergrund derer von Drachenfels, quasi die Folie (wie passend), auf der der silberne Drache thronte und Feuer spie. Passender gekleidet konnte man für einen Ausflug zum Drachenfels nicht sein. (Außer man hätte noch einen silbernen Drachen auf der Jacke, aber das war damals gar nicht so einfach zu bewerkstelligen, außer man hatte exorbitant hohes Taschengeldaufkommen oder stieß zufällig auf ein Billig-T-Shirt mit silbernem Drachen auf rotem Grund. Was eher selten der Fall war.)
Wobei ich, bei Licht besehen, gar nicht direkt zum Drachenfels unterwegs war, jedenfalls nicht zu dem, was ihn zu einem international beliebten Ausflugsort machte; nicht zur Burgruine und schon gar nicht zum Schloss. Selbst aus dem Drachenhöhlenalter war ich mittlerweile herausgewachsen. Lediglich der Reptilienzoo hätte eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausüben können - wenn darin Tiere zu erleben gewesen wären, die mich interessierten. Zumeist mied ich auch die touristisch geprägten Treffpunkte. Mir war die Umgebung lieber, so was wie das Nachtigallental. Oder meine „geheimen“ Feld-, Wald- und Wiesenwege. Man konnte sein Fahrrad auf den Boden legen, den Regentropfen zuhören, während sie von den Baumwipfeln heruntertropften, und die ganze Zeit über roch man das würzige Waldaroma, durch den himmlischen Tau hundertfach verstärkt. Paladin-Style eben.
Paladin. Ich wusste nicht genau, was der Terminus bedeutete, aber ich fand ihn klasse. Er bezeichnete offenbar eine Art Ritter, einen Helden - genau das, was ich gerne gewesen wäre. Unser Lehrer für Deutsch und Geschichte hatte uns davon erzählt: Zum einen im Zusammenhang mit Karl dem Großen und dem Rolandslied, zum anderen im Zuge unserer Lektüre der Nibelungensage. Und die hatte mich als Bonner Kind sofort fasziniert, Unbeweisbarkeit der Zuschreibung zum Drachenfels hin oder her. Es war schließlich unbestreitbar, dass die Möglichkeit bestand, und ich war irgendwie überzeugt davon, dass unsere Gegend der Ort war, an dem der sagenhafte Siegfried den Drachen erschlagen haben musste.
Und deshalb erklomm der Paladin von 1986 im Sturm des Jahresanfangs seinen Lieblingsfelsen in dem Bewusstsein, dass die Weite, die der Regen hinterließ, Geschichten barg, die lebendig waren. Irgendwo da draußen wartete ein Drache, so viel war sicher! - Ich kletterte weiter, auf Händen und Knien, weil das bei Regen das Mittel der Wahl war, das haushohe Vulkangestein hinauf, schnaufend wie... ein Drache? Ein Babydrache. Nein - ein Drache. Von der anderen Seite her würde gleich mein Gegenspieler auftauchen, ein anderer Drache, der sich mein Revier zu eigen machen wollte. Und ich würde es verteidigen. Vor meinem geistigen Auge erschien sein gewaltiges Haupt hinter der hohen Hügelkuppe, ein hünenhaftes Antlitz erhob sich über dem Scheitelpunkt... Aber... Tatsächlich! Ein riesiges braunweiß geflecktes Rund füllte mein Gesichtsfeld aus, als ich zur Kammlinie hinauf schaute, meine Augen fast parallel damit -...
„Ah!“, schrie ich den Bernhardiner an. Mein Körper verharrte stocksteif.
Die zugehörige Begleitperson, ein Mädchen in meinem Alter, sagte mechanisch, aber offenbar ehrlich: „Oh, sorry!“ Dann warf sie grüßend die Hand in die Luft und setzte forsch hinzu: „Hi, I’m Rachel. How are you?“
„Jakob“, stammelte ich und brachte die Redewendung „I’m fine; how are you?“ nicht über die Lippen. „Das war hier mal ein Steinbruch. - Seit der Römerzeit.“
Super hingekriegt. Sich nicht trauen, Englisch zu sprechen, und dann auch noch was sagen, was sie vermutlich ohnehin weiß. Zu allem Überfluss hatte meine Stimme vor Verwirrung gekiekst - als ob sie das nicht sowieso schon ständig täte, von wegen Stimmbruch und so.
Plötzlich erkannte ich sie, oder vielmehr, plötzlich drang die Tatsache in mein Bewusstsein, dass ich sie kannte - oder noch vielmehr, es traf mich wie ein Holzhammer, dass sie