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Dorfwaise Leonie lebt beim Müllergesellen, als ein ungerechtes Urteil sie aus ihrer Kindheit reißt. Gemeinsam mit ihren Freunden, einem Knappen, einem Gaukler und einem Barden, folgt sie Ritter Cuculaínn, in den sie mit Haut und Haaren verliebt ist. Und über allem schwebt diese sanfte, kraftvolle Melodie… Der Leser begleitet Leonie auf der Reise zu ihrem Ursprung: Die poetische Erzählung entführt den Leser in eine Welt zwischen zwei Religionen, in der ein Mädchen, ein Gaukler und ein Knappe auf der Suche sind nach ihrer Identität.
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Seitenzahl: 111
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Annie Sonnenberg
Leonies Rosenbeet
eine Erzählung zum Vorlesen
an langen Herbst- und Winterabenden
Impressum
Text & Umschlag: Annette Sonnenberg
Verlag: Annette Sonnenberg, Rösekenwinkel 22, 38110 Braunschweig; [email protected]
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Stellt euch vor, wir wären gute Freunde. Stellt euch vor, wir hätten uns auf einer Reise abends gemeinsam in einer großen westfälischen Bauernstube zusammengesetzt. Es ist kalt geworden draußen, dunkel und feucht. Drinnen brennt das Feuer im Kamin und hält uns warm, doch auch das Herz verlangt nach einer Stärkung. Drum hört, ihr Weisen, Denker, Wissende, die einfache Geschichte zweier Seelen in einem Land nicht weit von hier, dort draußen. Ein gutes Land ist es, mit all seinen Hügeln und fruchtbaren Tälern. Ein Land, in dem es mannigfaltige Geheimnisse zu entdecken gibt. Für einen Jungen in einem Alter, in dem er Knappe werden könnte, ist es dort wie im Traum.
Das gilt natürlich auch für Mädchen.
1. Das Siegel
„Nein”, meinte Ricardo und lächelte. „Bei allem Respekt, aber ich denke, so einfach ist das nicht.” Der Knappe stand neben seinem Fürsten Cuculaínn am Rand der Gruppe erwartungsvoller Dorfbewohner und wärmte seine Hände am Lagerfeuer.
„Nicht so einfach? Wieso, was soll es denn sonst sein?” Der junge Ritter tauchte aus seiner offensichtlichen Verliebtheit auf und schaute verwirrt umher.
Ricardo wurde unsicher. „Sie ist... komisch. - Einfach komisch.”
„Ric, lass den Quatsch. Jeder weiß, dass sie sich seltsam benimmt, aber niemand kann es begründen. Die meisten können nicht einmal beschreiben, was sie stört. Dass sie anders sein soll als wir, ist vermutlich nur Gerede.”
Der Jüngere der beiden wandte leicht den Kopf und sah mit klaren blauen Augen das Mädchen an, das ihm gegenüber auf einer Bank am Feuer saß und die sein Ritter bereits den ganzen Abend angestarrt hatte. „Vermutlich”, sagte er. Und damit schwiegen sie.
*
Leonie war gar nicht wohl. Aus irgendeinem Grunde hatte sie sich nie richtig zugehörig gefühlt zu ihrem Dorf. Sie hatte sehr früh ihre Eltern verloren, lebte im Gebäude der alten Mühle unten am Fluss und verdingte sich um ein paar Schnitten Brot beim Müller, der keinen Hehl daraus machte, dass er sie nicht besonders mochte.
Das junge Mädchen stand von der Bank am Feuer auf und wandte sich in die Richtung des großen Waldes.
Dieser Ritter Cuculaínn und sein Knappe Ricardo starrten sie so komisch an. Sicher würden sie gleich über sie sprechen, und es würden keine freundlichen Worte sein. Es war gut, wenn sie ging. Aber aus irgendeinem Grunde vermochte sie den Anblick von Ricardos freundlichen Augen nicht aus ihren Gedanken zu vertreiben. Der junge Mann wirkte anders als die anderen, nicht so roh.
Cuculaínn dagegen konnte sie nicht recht einschätzen. Die Ritter waren im Dorf hoch angesehen; allerdings sprachen sie zumeist nicht mit dem einfachen Volk. Nur bei Festen wie diesem zeigten sie sich ohne Rüstung - bei Opferfesten, die Leonie verabscheute.
Die anderen Dorfbewohner glaubten, dass mit einem Opfer das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt wieder in Ordnung gebracht werden konnte, und das war eine Vorstellung, die auch ihr guttat. Aber ihr war nicht wohl dabei. Es war, als ob ihr irgendetwas fehlte.
Leider konnte sie sich niemandem anvertrauen, außer dem Müllergesellen. Den fragte sie, weshalb ihr als einziger die Freude am Fest verborgen blieb, aber sie erhielt nur ausweichende Antworten, denn er wusste auch nicht genau, was mit ihr nicht stimmte. Und davon wurde ihr erst recht nicht wohler.
*
Die Dorfbewohner begaben sich in einer langen Prozession vom wärmenden Lagerfeuer in die Kälte hinaus. Opferfesttage waren zugleich potentiell Tage des Gerichts, und auch diesmal war jemand angeklagt worden. Die Spannung stieg mit jedem Schritt, bis es endlich so weit war: Die Richter hatten entschieden, und der Müllergeselle erklomm den Glockenturm, bereit zu läuten. Wenn alle versammelt waren, würde die sanfte Bronze erklingen. Zweimal verkündete Schuld, dreimal Unschuld des Angeklagten.
Auf der höchsten Klippe, am Rand des Dorfes, stand eine junge Frau mit einem Strick um den Hals. Leonie musste nicht ihre Sehkraft bemühen, um zu wissen, dass daran ein Stein befestigt war. Die Frau sollte dem Meer überantwortet werden. Nahmen die Wellen ihren Leib auf und ging sie unter, galt sie als unschuldig und mit der Mutter Erde versöhnt. Andernfalls war sie mit Sünde verseucht und musste umgebracht werden, um das Dorf zu schützen.
So ging es an jedem Gerichtstag im Dorf zu.
„Was ist?”, fragte Cuculaínn freundlich und legte einen Arm um Leonies Schultern. „Du solltest dich freuen.”
„Ja”, sagte sie nur. Aber in ihrem Inneren rebellierte es: Cuculaínn hatte keine Ahnung. Die arme Frau hat gar keine Chance, dachte sie. Und sah ihr direkt in die sanften braunen Augen, die vor Angst ganz groß geworden waren.
Plötzlich schrie die Unbekannte auf. Leonie fuhr aus ihrer Betrachtung.
„Caitlínn”, kam es von der Klippe, „Caitlínn!”
Erst jetzt erkannte Leonie, dass die Frau ein Amulett in der Hand hielt, das an einer Kette befestigt war. Sie sah der Unbekannten wieder in die Augen.
Die Fremde starrte zurück. „Caitlínn!”
Mit diesem Wort schwang die Verurteilte das Amulett in die Zuschauerschaft.
Leonie hatte nur noch einen Gedanken: Sie musste das Siegel finden! Sie kroch zwischen den Füßen der Herumstehenden hindurch und zwängte sich an der beifallklatschenden ersten Reihe vorbei.
Die Glocke ertönte.
Bim. Leonie riss das Siegel an sich.
Bim. Nur ein Herzschlag - - -
Bim.
Das leiernde Gemurmel des Priesters kam Leonie abscheulich vor.
Fiona entzündete eine Fackel und summte eine kleine Melodie.
*
Keiner von ihnen wusste später zu berichten, wie es genau geschehen war. Leonie war in ihrer Wut nach vorne gestürmt und hatte sich auf den Priester gestürzt. Cuculaínn hatte das bemerkt und war ihr gefolgt, um sie zurückzuhalten, Ricardo dicht auf seinen Fersen. Aber Leonie war schneller.
Der Priester schrie um Hilfe und wehrte die Hände des Mädchens ab, die seinen Hals umklammerten. Ihre entschlossenen Augen trafen auf dem Höhepunkt des Zorns die seinen: ihre voller Leben, seine schwach und ohne jede Hoffnung. Noch nie hatte sie solche Verachtung gefühlt. Sie drückte ohne Erbarmen weiter zu.
Cuculaínn packte sie am Kragen; gleichzeitig schrie einer der Wächter: „Nehmt sie fest und werft sie in die See!”
Ricardo versuchte, Leonie etwas zu sagen, aber er kam gegen den Lärm der Menge nicht an. Cuculaínn drängte sie, völlig gegen seinen Willen, auf die Klippe zu. Da packte ihn eine fünfzehnjährige Hand am Arm: sein Knappe Ricardo. Eine Stimme an Leonies Ohr rief laut und vernehmlich: „Lauf!” - und ehe Cuculaínn wusste, wie ihm geschah, war er zum Komplizen und Hochverräter geworden.
*
Das Leben absorbierte jeden Gedanken im staubigen Sandweg, bevor er geäußert werden konnte, und bewahrte ihn sicher in einer Schublade der Ewigkeit auf. So liefen die Freunde schweigend nebeneinander her.
Wegen des Opferfestes war ein Feiertag ausgerufen worden, deshalb hatten die Ritter ihre Waffen in einer gut bewachten Hütte mitten im Dorf deponiert; ihre Pferde standen im gemeinschaftlichen Stall, der ebenfalls unter Aufsicht stand. Nicht einmal Rüstungen trugen die Kämpfer, aus Respekt vor der Zeremonie. So war Cuculaínn sämtlicher ritterlicher Kennzeichen beraubt, was ihn nachdenklich machte.
Schließlich meinte Ricardo: „Wir werden ein Nachtlager brauchen.”
Cuculaínn antwortete: „Zehn Meilen von hier liegt Chesterford, von dort können wir uns zu meinen Ländereien durchschlagen.”
„Zehn Meilen?” warf Leonie schmollend ein. „Dann muss ich aber vorher rasten.”
„Ja”, stimmte Ricardo zu. „Am besten jetzt. Mir tun die Füße weh.”
Leonie latschte betont langsam auf einen Eichenstamm zu und setzte sich. „Ich bin jedenfalls froh, da raus zu sein. Die Frau tat mir leid.”
„Wieso?”, fragte Cuculaínn verblüfft. „Sie hatte es verdient. Das ist überall so: Abtrünnige werden verurteilt.”
„Ich hoffe nicht”, murmelte Leonie und rupfte einen Grashalm ab. Damit verstummte das Gespräch. Sie pfiff eine kurze Melodie auf dem grünen Instrument.
„Sag mal”, fragte Ricardo unvermittelt, „Chesterford - das ist doch da, wo Dragon George gelebt hat?”
„Ja”, antwortete Cuculaínn, „aber das ist lange her.”
Leonie war mit einem Schlag wieder wach. „Dragon George? Toll! Er ist einfach toll!”
„Du meinst, er war einfach toll”, besänftigte Cuculaínn. „Er ist tot.”
„Oh, sei doch nicht so langweilig. Ich will jedenfalls so werden wie er!”
„Du?”, staunte Ricardo. „Du bist doch ein Mädchen!”
„Na und?” Leonie war beleidigt. Und danach sofort wieder begeistert: „Wie er den Drachen besiegt hat... Zu Fuß! Große Klasse, ganz große Klasse!”
„Du, Ric?” fragte Cuculaínn mit einem Gesicht, das unbewegt auf Leonie gerichtet war. „Sie ist wirklich komisch.”
*
Eine Eule flog auf, lautlos. Einige Zweige des Astes, auf dem sie sich niedergelassen hatte, zitterten. Ein Tannenzapfen fiel zu Boden. Der Mond stand endlos tief gelblich am Himmel, vom Boden aus erkennbar durch Lücken im Dickicht der Bäume. Modriger Geruch lag in der Luft.
Die Fliehenden hatten Chesterford beinahe erreicht, es waren nur noch drei Meilen bis dorthin, aber Leonie hatte plötzlich Bauchschmerzen bekommen, und außerdem war es bereits seit einiger Zeit völlig dunkel gewesen. So hatten sie beschlossen, ihr Lager im Wald aufzuschlagen.
Als der Mond aufging, schlief Ricardo bereits. Cuculaínn hielt Wache. Leonie lag wach und wunderte sich, wie schnell man erwachsen werden konnte. Dieser Gedanke hielt sie für geraume Zeit in seinem Bann und half ihr über die Krämpfe in ihrem Unterleib hinweg.
Schließlich hörte sie auf, über das Erwachsenwerden nachzusinnen, und da kam ihr zu Bewusstsein, wie schön Cuculaínn im Mondschein aussah. Seine langen blonden Haare, die unklar ließen, wie er sie in einem einzigen Helm unterbringen konnte, umrahmten ein längliches Gesicht von großer Klarheit. Seine grünen Augen lächelten geheimnisvoll, während der Rest seines Antlitzes ernst hinaus in die Welt blickte. Aus irgendeinem Grunde musste die kleine Löwin tief seufzen.
*
Als Leonie am nächsten Morgen aufwachte, war das erste, das ihr in die Hände fiel, das Amulett der fremden Frau. Sie versuchte, es aufzuklappen. Sie musste herausfinden, wer diese Caitlínn war, deren Namen die Verurteilte gerufen hatte. Vielleicht gehörte das Siegel ihr. Sie musste sie finden und es ihr zurückgeben! Aber die beiden silbernen Hälften waren wie aneinandergeschmolzen. Sie ließen sich nicht öffnen, so sehr Leonie sich auch bemühte - nicht einmal unter Zuhilfenahme eines Stockes und grober Gewalt.
Cuculaínn wurde aufmerksam. „Lass mich mal versuchen”, bot er an und benutzte die Spitze seines Dolches als Hebel. Völlig wirkungslos.
„Caitlínn”, murmelte Leonie.
„Was?” Cuculaínn sah ihr in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand.
„Das ist der Name, den die... die Fremde gerufen hat.”
„Ach so”, flötete der Ritter fröhlich und verstand nicht.
„Wer sie wohl ist?”, fragte Leonie in fast zärtlichem Ton und betrachtete das Amulett von außen.
„Ich weiß nicht”, sagte er. „Lass uns essen.”
„Auf jeden Fall klingt es abenteuerlich”, sagte Leonie. „Caitlínn. Richtig romantisch.”
Ein weniger romantisches Röhren ertönte, als hinter ihnen jemand herzhaft gähnte. „Hunger!” kommentierte Ricardo, der inzwischen aufgewacht war und aus dem Versteck seiner Wolldecke hervorkroch. „Redet nicht von Weiberkram, wenn’s was zu essen geben soll.” Wobei er geflissentlich verschwieg, dass auch er beim Klang des alten Namens erschauerte.
Fiona saß im Schein der Fackel und summte eine kleine Melodie.
*
Zwei Meilen vor Chesterford hielten die Flüchtenden sich nahe am Weg, aber immer bereit, sich tiefer in die Büsche zu schlagen, falls Verfolger auftauchten. Plötzlich raschelten die Büsche.
Leonie blieb stehen und hielt die Nase in den Wind. „Was ist das?”
„Ich weiß nicht. In die Bäume, los!” Cuculaínns starke Hände drängten seine Begleiter tiefer in den Wald. Drei Augenpaare starrten auf den Sandweg, sechs Ohren lauschten dem Atem ihrer Körper.
Ein Reiter kam vorbei.
Und was für einer.
Ein Bündel bunter und ehemals kostbarer Stoffe, wild zusammengeflickt, bildete sein Wams. Unter dem linken, zerschlissenen Ärmel befand sich eine Leier. Mit derselben Hand hielt der Reiter die Zügel, die Schwerthand war frei - aber er trug keine Waffe.
„Was für’n komischer Vogel!”, brach es aus Ricardo heraus.
Der Reiter drehte sich um. Weil er dabei unversehens an den Zügeln zog, blieb das Pferd abrupt stehen. Der Fremde ruckte nach vorn, hielt aber den Kopf unbeeindruckt nach hinten gewandt. Anscheinend war er an derlei Manöver gewöhnt.
„Die Augen des Waldes, jetzt sprechen sie schon!”, kommentierte der Unbekannte mit zitternder Stimme, die für einen Mann viel zu hoch klang. Offensichtlich gefiel ihm die Melodie seiner eigenen Worte, denn er nahm unvermittelt Abstand von der Idee, nachzusehen, wer ihn aufgeschreckt hatte, befreite seine Leier aus ihrer Verankerung unter seinem Arm, probierte ein wenig herum und komponierte ein Lied zum Text.
Leonie fasste nur ein ganz kleines bisschen Vertrauen.
Praktischerweise stellte sich kurz darauf heraus, dass der Barde John hieß, einst Hofsänger gewesen war und sich in Chesterford gut auskannte; schließlich war er dort geboren. Er bot sich an, ihnen die Stadt und die Stätten Dragon George’s zu zeigen, also machten sie sich gemeinsam auf den Weg.
Dabei erzählte der Sänger so ganz nebenbei praktisch sämtliche Sagen, die sich im Laufe der wenigen Jahre seit dem Tod des Helden um dessen Person gerankt hatten. Mitunter nahm er seine Leier zur Hand und sang einige Passagen, die ihn besonders faszinierten.
Leonie, die wegen ihrer Bauchschmerzen auf dem Pferd sitzen durfte, das er am Zügel führte, gewann ein wenig mehr Vertrauen zu dem unbekannten Sänger und lauschte begeistert seinen Worten.
*