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Senator Sven Lührsens Vorstellungen über den Verlauf des Freitagabends decken sich mit rein gar nichts, was seine persönliche Assistentin Henrike von Leuenstein sich wünscht. Doch die Eröffnung einer Vernissage in Bremerhaven ist Arbeitszeit, sogar, wenn sie dafür einen blauglitzernden Nuttenfummel tragen muss. Auch Joris Wolfhagen muss seine Pläne für den Freitagabend spontan platzen lassen, wo er eigentlich mit den Kumpels online World of Warcraft spielen wollte, den Rest der Nacht in einem Club abhängen. Stattdessen soll er seinen erkrankten Vater, den Mäzen einer Kunstausstellung in Bremerhaven bei der Eröffnung vertreten. Mauritz Thibault wäre gern joggen gegangen, leider fegt der erste Herbststurm durch Bremen und sein Hund Rosenberg mag keinen Regen. Überraschenderweise startet seine Frau Sandrine an diesem Abend die Familienplanung, an sich super, aber Mauritz beendet den Akt mit einem vorgetäuschten Orgasmus. Am Vormittag hat ihn mit einem Anruf seine Vergangenheit eingeholt. Henrike erkennt mit Schrecken, dass die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten ist.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Für mich. In Liebe.
Die Handlung und die Personen des vorliegenden Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Verwendung von Namen bestehender Institutionen, Einrichtungen oder Unternehmen ist schöpferisches Stilmittel. Der Autor hat zahlreiche Quellen für die Recherche genutzt und beabsichtigt keine persönlichen Ansprüche verletzen zu wollen.
Susanne Erhard
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2022Susanne Erhard
Coverfoto:Holger Wiegleb
Verlag:Edition Sunrise
Herstellung und Vertrieb:BoD, Norderstedt
ISBN: 978-3-910537-00-2
Henrike
6.55 Uhr. Die LEDs der Ziffern glühten blutrot, schienen mahnend zu pulsieren. Henrikes müde Augen schielten im unregelmäßigen Abstand von wenigen Sekunden zur Seite auf das Display ihres Weckers und zurück zur dämmrigen Zimmerdecke. Warum wählten die Hersteller von Radioweckern eine so aggressive Farbe für eine Uhr? Die Zahlen brannten sich regelrecht in die Retina ihrer Augäpfel. Sie schluckte trocken und schloss die Augen. Ihr blieben noch fünf Minuten.
Fünf unendlich lange Minuten, die viel zu schnell vergehen würden. Das Paradoxon angsterfüllter Zeit. Sie spürte wie ihr Herzschlag mit den schwindenden Sekunden an Fahrt aufnahm und ihren Körper zum Beben brachte. Es hämmerte hart, ein Stakkato um mit den Massen an Adrenalin fertig zu werden, von dem sie permanent überflutet wurde.
Mit jeder Minute die unerbittlich verstrich, kam der Moment näher, wo sie endlich handeln musste, einmal mehr einen Haufen idiotischer Ideen aufgab, die ihr vorgaukelten, dass eine Krankmeldung ihr die ersehnte Ruhe brächte. Oder eine halbschwindelige Lüge, dass private Gründe ein, zwei freie Tage nötig machten. Ihr Auto in die Werkstatt müsste, die Katzen dringend zum Tierarzt. Es gab theoretisch unendlich viele Möglichkeiten einen Arbeitstag zu verhindern. Doch sie waren allesamt keine Lösung, nur ein Aufschub, damit es danach umso furchtbarer wurde.
Die Uhr wechselte auf 6.59 Uhr und Henrike rang ächzend um Luft, rollte sich wie ein Kind im Bett zusammen, zog mit einem kräftigen Ruck die Steppdecke über ihren Kopf, was den beiden Maine Coone Katern am Fußende des Bettes ihrer weichen Unterlage beraubte. Sie quäkten verdrossen, standen auf, trampelten quer über sie drüber. Wider Willen prustete Henrike belustigt. Beide Tiere waren keine Leichtgewichte.
Sie gab sich noch zwei Minuten in denen sie ihr Gesicht in die schnurrenden Felle drückte. Sie sammelte Kraft, um ihren Körper irgendwie in die Senkrechte zu zwingen, focht den allmorgendlichen Kampf gegen den Drang einfach liegen zu bleiben. Es tat beinahe weh. Die Müdigkeit hing wie Blei an ihr, die Angst vor dem neuen Tag krampfte sie zusammen. Wie sollte sie aufstehen?
Sie wusste nur zu gut, dass es mit jeder, sich selber abgebettelten Minute schwieriger werden würde, noch mehr wehtat und doch, nur eine Minute noch.Nein!Sie riss die Augen auf.VerdammteScheiße!Jetzt. Unbedingt. Es half nichts. Sie schwang die Beine aus dem Bett. Nein, es war keine energische Bewegung, sie war vielmehr schicksalsergeben, kraftlos.
Steifbeinig schleppte sie sich in ihr kleines Bad, die Katzen wuselten hinter ihr her. Den Kopf in die Hände gestützt hockte sie sich auf die Toilette, lauschte mit geschlossenen Augen auf das Plätschern in der Schüssel, während die beiden Kater versuchten sich um ihre Beine zu schlängeln, was mangels Platz und ihrer Körpergröße scheiterte.
Noch eine Minute. Sogar eine Toilette besaß mehr Verlockung als ein neuer Tag. Zögernd blickte sie auf, sah die Regentropfen gegen das schmale Fenster des Badezimmers prasseln und in langen Rinnen herabfließen. Na, toll. Sie hatte gehofft, nachmittags zum Werdersee zu joggen. Kilometerfressen gegen den Stress. Die einzige Chance ihrem Leben davon zu laufen. Auf dem Sofa abends ein paar Becks trinken. Dazu mit den Katern irgendeine seichte Komödienserie auf Netflix anschauen, sich dabei in cineastischer Romantik verlieren. So spät wie möglich ins Bett gehen, auf Schlaf hoffen. Mehr war aus einem Freitag nicht heraus zu holen. Und kein Wochenende der Welt würde ihr genug Entspannung verschaffen, bevor ab Sonntagmittag der Montagmorgen drohte.
Mechanisch zog sie sich ihren Morgenmantel über, schlurfte durch den viel zu langen Flur, ihrer viel zu kleinen Wohnung ins Wohnzimmer mit integrierter Küche. Dieses Apartment am Bremer Osterdeich war einmal ihr Traum gewesen. Hinter den beiden großen Balkontüren am anderen Ende des Zimmers dräute graue, regennasse Dämmerung. Sie trat an die Küchentheke aus echtem Granit, stupfte ihren Zeigefinger mit halb geschlossenen Augen auf die Starttaste des Kaffeeautomaten und lauschte auf das vertraute Geräusch der hochheizenden Maschine. Diese Siebmaschine war mit ihr einziger Luxus. Genauso abwesend ließ sie Trockenfutter in die Schalen der Kater rieseln, löffelte aus einer Dose Fleischbrocken in Gelee in die zwei anderen Schalen. Speziell für große Katzen.
Long John Silver und Hieronymus Bosch waren in der Tat große Katzen, brachten jeder mehr als zehn Kilo auf die Waage. Long John Silver hätte ein hochprämierter Zuchtkater werden sollen, beste Blutlinien und in schicker Pelzjacke, genannt black smoke. Sein rabenschwarzes Gesicht samt sattgrünen Augen und Pinselohren ragte aus einem voluminösen Kragen aus silbrigem Pelz. Leider verlor er als sechs Wochen altes Kitten durch einen tragischen Fehltritt seines Menschen ein Hinterbeinchen und damit war seine Karriere als Gigolo vorbei, noch bevor er sie begonnen hatte.
Henrike fand ihn zufällig bei Ebay Kleinanzeigen mit dem Vermerkweit unter Wert wegen Handicapin der Rubrik Sportzubehör, als sie nach einem Golfschläger für ihren damaligen Freund Andreas suchte. Kurz entschlossen kaufte sie den Kater anstatt des Schlägers und läutete damit das Ende ihrer Beziehung ein. Die Wahl zwischen Kater oder Mann war keine schwierige Entscheidung.
Sie zog von München nach Bremen. Mit dem Geld, dass sie ohne Andreas sparte, er studierte endlose Jahre Journalismus ohne je eine Zeile zu schreiben, geschweige denn, diese zu verkaufen und Henrike verdiente das Geld zum Leben, erwarb sie dieses Apartment und einen Kumpel für Long John Silver, den Kater Hieronymus Bosch. So getauft, weil er seltsame Dinge mit seinem Essen anstellte.
Schon als Kind träumte sie von einem Haus am Osterdeich mit Blick auf die Weser und die Deichwiesen. Wunderschöne alte Stadthäuser mit Erkern, Giebeln, verspielten Balkonen und schmiedeeisernen Geländern. Sie stand an der Hand ihres Vaters an der Weser, sie warteten auf die kleine Fähre, mit der er ihr eine Überfahrt versprochen hatte. Ein Ausflug von Oldenburg nach Bremen. Sie war sich damals sicher, dass in diesen Häusern Prinzessinnen wohnten, die von ihren Balkonen aus den Menschen zuwinkten. Typisch für sie, an diesem Tag regnete es und keine Prinzessin war zu sehen.
Für ein ganzes Haus hätte sie mehr als ein Leben Geldscheffeln benötigt oder einen satten Lottogewinn. Beides eher illusorisch. Das Apartment in genau so einem Haus war alles was die Bank ihr möglich machte, also sparte sie es sich eisern jeden Monat vom Mund ab. Ihr Reich, ihr Heim, ihre Zuflucht.
Doch ihr Traum werkelte seit einer geraumen Weile außerordentlich erfolgreich an einem zusätzlichen Wort, mit dem er sich unbedingt schmücken wollte. Es lauteteAlb. Und es passte zum Rest ihres Lebens.
Henrike drückte auf die Taste mit doppeltem Tassensymbol und kurz übertönte das Brummen der Maschine das Wummern ihres Herzens und das gemütliche Knacken mit dem die Katzen ihr Trockenfutter kauten. Ihr starrer Blick hing an dem Strahl Espresso, sie beobachtete wie sich ihre selbstgetöpferte Lieblingstasse langsam füllte. Diese Tasse war ein Geschenk ihrer kleinen Schwester Mika zu ihrem sechzehnten Geburtstag. Mika war damals gerade dreizehn.
Mika hatte wulstige Tonwürste gerollt und sie im Rund aufeinandergelegt, sie da und dort miteinander verschmiert. Wo die Würste dicker waren wurde die Tasse höher und entsprechend windschief. Mit krakeligen Buchstaben hatte sieHenrikein den Ton geritzt und Mika hatte das Gebilde in Henrikes Lieblingsfarbe türkisgrün glasiert. Henrike hütete sie wie einen Schatz, wusch sie nur mit der Hand ab, trug sie nie wie andere Tassen durch die Wohnung und benutzte sie nur für ihren Morgenkaffee, ihre wichtigste Mahlzeit des Tages. Viel zu oft auch ihre einzige.
Tief aufseufzend schluckte Henrike den ersten Mundvoll Espresso. Vermutlich wäre es eine gute Idee, wenn sie dazu etwas essen würde, doch ihr Magen war mit Espresso bereits restlos überfordert. Seinerseits gab es ein eindeutiges Veto gegen jedwede feste Nahrung, die zusätzliche, unmöglich zu bewältigende Arbeitsleistung erforderte. Sie verstand ihren Magen, denn ihr ging es genauso.
An die Arbeitsplatte gelehnt schlürfte sie Kaffee, bemerkte erschreckend gleichgültig wie die Kater jetzt gemeinschaftlich mit dem Nassfutter herumspielten und es mit geschickten Pfotenhieben auf dem anthrazitgrauen Fliesenboden verteilten, wo es garantiert festkleben würde. Unmöglich brachte sie in diesem Moment die Kraft auf sich zu bücken, die Sauerei weg zu wischen. Das musste warten, zumindest bis der Espresso einen Ansatz von Wirkung zeigte.
Alles lief so unfassbar schief. Die eigentlich echt widerlichen Bröckchen, die möglicherweise Spuren von Fleisch enthielten, schienen ihr wie ein Sinnbild ihres Daseins. Unwillkürlich presste sie eine Hand auf ihren Magen, der auf ihre Gedanken mit Rotation reagierte und schnaufte tief durch. Sie kippte einen großen Schluck Espresso auf die gestresste Magensäure.
Vielleicht lief es schon immer schief und sie hatte es bisher nur nicht wirklich bemerkt, weil sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, die grundlegende Schiefe zu vertuschen. Niemand durfte etwas bemerken, alles musste normal aussehen, heiter, solide, ehrbar. In diesem Moment fragte sie sich, ob sie ihre Rolle derart verinnerlicht hatte, dass sie gar nicht wusste was normalerweise normal war? Zweifellos wirkte ihr Leben nach außen hin total normal. Sie trank den Kaffee aus und stellte die Tasse in ihr katzensicheres Eck hinter der Kaffeemaschine.
Mit schweren Beinen schlurfte sie zu ihrem kleinen Schreibtisch in der Ecke neben der Balkontür, wo ihr Handy und ihr Tablet lagen. Achtlos wischte sie über das Display. Es war fast halb acht, sie musste sich beeilen, wenn sie um acht im Büro sein wollte. Nein, sie wollte nicht, doch sie musste. Ihr Job als persönliche Assistentin des Bremer Senators für Inneres bezahlte dieses Apartment, die Kater und ihr Leben und sie war gut in ihrem Job. Vielleicht sogar zu gut.
Ein paar belanglose Nachrichten gaben ihr weitere Minuten, in denen sie sich nicht ihrem Tag stellen musste. Sie las merkwürdig genervt, wie sich ein entfernter Bekannter bei ihr über einen anderen, noch entfernteren Bekannten beschwerte. Eine flüchtige Bekannte fragte, ob sie abends Lust auf Kino hatte, sagte mit der nächsten Nachricht aber gleich wieder ab, da ihr Kind spontan krank geworden sei. Das ersparte eine Absage ihrerseits. Okay.
Henrike stöhnte leise, stopfte dabei Handy und Tablet in ihre elegante Businesstasche aus naturfarbenem, pflanzlich gegerbtem Leder. Auch so etwas, was ihr komplett entgleist war. Manchmal kam sie sich vor wie der letzte Single auf Erden oder zumindest in ihrer Altersgruppe. Mit ihren einundvierzig Jahren hatte sie die erste Heiratswelle Anfang dreißig absichtlich verpasst, dann ein paar wieder frei gewordene Secondhand-Männer durchgefüttert und mit der zweiten Welle Ende dreißig keinen abgekriegt. Die dritte Welle kam erst irgendwann in zehn Jahren. Wahrscheinlich wollte sie dann keinen Kerl mehr. Laut ihrer früheren besten Freundin Franziska waren Katzen und Hunde sowieso die besseren Partner. Treu, ehrlich und immer bemüht ihrem Menschen ein gutes Gefühl zu geben.
Franzis Einstellung zu heterosexuellen Partnerschaften ernüchterte einen sogar im Delirium Tremens. Unter bestimmten Umständen hielt sie eine gleichgeschlechtliche Beziehung für erträglich. Soweit sich Henrike erinnerte, war sie laut Facebookstatus derzeit mit einer Frau liiert. Hmpf.
Grundsätzlich war ihr ein kräftiger Männerkörper schon echt wichtig, wenn sie um nerviges Sexgerangel nicht herumkam und wahrscheinlich hätte sie Sorge die Frau zu zerbrechen auf der sie gerade herum hoppste. Oder hoppste man gar nicht? Das Bild von ihr mit Umschnalldildo poppte in ihrem Hirn auf. Sie schüttelte sich. Da tummelten sich gerade extrem nutzlose Gedanken in ihrem Hirn, das sich strikt weigerte, sich auf seinen anstehenden Arbeitstag zu konzentrieren.
Mit einem resignierten Blick aus dem Fenster, wo die alten Linden an der Straße vom Wind gebeutelt wurden, den wehenden Regenfahnen über der Weser, schlurfte sie in den Flur zurück in ihr Schlafzimmer, wo sie sich die Kleider für den Tag heraussuchte. Mausgrauer Hosenanzug, cremeweiße Bluse, ein BH, der ihre D-Körbchen laut Verkäuferin angeblich auf ein gesellschaftsfähiges B reduzierte. Der gerade geschnittene Blazer vertuschte ihre schmale Taille und den Rest ihrer Brüste. Nicht mit übermäßig weiblichen Attributen auffallen. Sie geizte lieber mit ihren vermeintlichen Reizen.
Im Bad putzte sie sich die Zähne, tupfte Abdecker auf die blauschwarzen Schatten unter ihren Augen, darüber ein dezentes Make-up, die Augen nur minimal betont, nur die Wimpernspitzen getuscht. Ein Hauch von Rouge auf die Wangen um sie etwas voller wirken zu lassen. Sie war zu dünn.
Beinahe grob kämmte sie sich ihre goldblonden Haare zurück, drehte sie routiniert zu einem Knoten. Ihr kritischer Blick in den Spiegel zeigte ihr eine müde Frau mittleren Alters, geschäftsmäßig elegant, streng, abweisend. Ein Kollege bezeichnete sie bei der letzten Weihnachtsfeier alsinteressant androgyn.Man ahnte seiner Aussage nach nur, dass sie eine echte Frau sein könnte und er gäbe verdammt viel, wenn er es persönlich unter vier Augen herausfinden dürfte. Am liebsten gleich jetzt. Unübersehbar war er sturzbesoffen gewesen, nichtsdestotrotz traf seine Beschreibung perfekt ins Schwarze. Mit einem leeren Lächeln hatte sie ihn stehen gelassen.
Sie straffte sich und setzte die grau gerahmte Brille auf, die sie nicht brauchte, die jedoch ihr Image genau im richtigen Maß abrundete und von ihren grünen Augen ablenkte. Im Flur zog sie sich ihren ebenfalls dunkelgrauen Mantel an, suchte den Schirm in der obersten Schublade der Kommode. Sie sagte den Katern wie sehr sie sie liebte, bald wieder bei ihnen sein würde und machte die Wohnungstür auf. Das Handy in ihrer Tasche dudelte den Ton, den sie für ihren Chef eingespeichert hatte. Seine Anrufe mussten exakt identifiziert und immer beantwortet werden. Egal wann und egal wo. Sofort.
In ihrem Bestreben den Anruf schnellstmöglich anzunehmen, gleichzeitig die Tür wieder zu schließen, fiel ihr der Regenschirm aus der Hand, touchierte dabei den armen Hieronymus. Die Kater rasten synchron erschrocken an ihr vorbei, rammten sie und um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, stützte sie sich mit der Hand an der Kommode ab, womit dann die Handtasche dem Schirm gen Boden folgte. Es schepperte. Ein wüster Fluch donnerte allem hinterher. Henrike fiel auf die Knie, wühlte hektisch in ihrer Tasche herum bis sie das penetrant dudelnde Handy fand. Überstürzt wischte sie den grünen Pfeil, bemerkte dabei den feinen Riss im Display. Verdammte Scheiße!
„Guten Morgen, Herr Lührsen!“, zwitscherte sie überdreht.
„Henrike, meine Liebe“, tönte ihr die Stimme von Senator Sven Lührsen entgegen, „sind Sie schon unterwegs ins Büro?“
Atemlos fixierte Henrike den Schirm auf dem sie blöderweise kniete, es tat weh und sie fragte sich ob er das überlebte, wenn schon das Handy einen Sprung abbekommen hatte. Es war ihr einziger und es regnete in Strömen. Was sollte diese Frage? Hatte sie etwas vergessen? Einen frühmorgendlichen Termin verpatzt? Nein. Das konnte nicht sein. Oder wollte er, dass sie noch früher anfing? Ihr notorisch schlechtes Gewissen tippelte in ihr herum.
„Äh, …“, sie spürte, dass sie dämlich stottern würde und unterbrach sich, sammelte Spucke, „nein, Herr Lührsen, ich wollte gerade los, stehe allerdings noch an meiner Wohnungstür. Aber keine Sorge, ich bin in spätestens zehn Minuten im Büro, ich beeile mich.“
„Das trifft sich gut, meine Liebe“, erwiderte er wie immer zu jovial, was die Anrede eher wie eine verkappte Anzüglichkeit klingen ließ, „ich bekam nämlich eben einen Anruf von Senator Stahnke. Er wollte heute Abend eine Vernissage in Bremerhaven eröffnen, doch er ist krank. Er bat mich das zu übernehmen. Wir repräsentieren an seiner Stelle den Bremer Senat für Kunst und Kultur. Sie haben doch heute Abend noch nichts vor, oder? Wenn doch, müssen Sie das bitte absagen. Ich brauche Sie an meiner Seite.“
Henrike schwindelte und sie schmeckte die erste Spur von Magensäure mit Espresso auf ihrer Zunge. Fahrig nickte sie, schluckte verkrampft.
Das war es dann mit ihrem Freitagabend vor dem Fernseher. Adieu kleiner Frieden.
„Natürlich, Herr Senator, kein Problem, ich organisiere das sobald ich im Büro bin. – Soll ich Ihren Smoking holen lassen?“
„Nein, den bringe ich selber mit, ich bin noch daheim. Und Sie packen auch für eine Nacht, denn wir bleiben in Bremerhaven. Ich habe mir überlegt, dass wir uns einen angenehmen Abend machen. Sie buchen uns ein schönes Hotel, es darf teuer sein, der Steuerzahler bekommt die Rechnung und der Veranstalter der Vernissage sorgt für die notwendigen Getränke samt Häppchen. Danach gönnen wir uns einen zweisamen Absacker an der Hotelbar.“ Er lachte hustend. Sein Humor deckte sich selten mit Henrikes. „Morgen frühstücken wir fantastisch und schauen was das Wochenende für uns zwei hübsche noch zu bieten hat. Wie finden Sie das?“
Auf diese Frage durfte Henrike unmöglich eine ehrliche Antwort geben. Ihr brach der kalte Schweiß aus, Sternchen platzten vor ihren Augen. Das durfte nicht wahr sein. Nein.
„Super, Herr Lührsen“, stammelte sie und hoffte, dass er sich einbildete sie täte das aus freudiger Überraschung und immenser Dankbarkeit, „super Idee, danke. Wie ist der Dresscode heute Abend?“
„Scharf“, er lachte unangenehm dreckig, „rattenscharf, Frau von Leuenstein, kein grau. Eine Vernissage ist schrill, dekadent. Ein Haufen Snobs und Nerds. Wenn Sie kein Abendkleid haben, dann machen Sie nachher länger Mittagspause und kaufen sich eins. Die Rechnung geht an mich. Oder ich gebe Ihnen gleich meine Kreditkarte mit, wie in diesem Schmachtfilm mit Richard Gere.“ Wieder keckerte er lästerlich.
Henrike barg ihren Kopf in der Hand. „Kein Problem“, nuschelte sie mit ersterbender Stimme, „ich habe ein Abendkleid. Eventuell komme ich ein paar Minuten später ins Büro, mit packen schaffe ich es nicht mehr bis acht.“
„Das macht doch nichts, meine liebe Henrike“, sie hörte eine Autotür und Lührsens Fahrer im Hintergrund reden, „lassen Sie sich Zeit. – Bis nachher, ich freue mich auf Sie.“
Er war weg. Abrupt ließ Henrike das Handy fallen, sprang auf, stürzte blindlings ins Bad, krachte vor der Toilette wieder auf die Knie und erbrach sich. Der Espresso verätzte ihr mit der Magensäure die Kehle, er roch widerwärtig, vermischte sich mit dem Gestank von altem Urin. Erschöpft spuckte sie aus, würgte wieder, doch ihr Magen war gähnend leer. Das durfte alles nicht wahr sein. Das packte sie nicht. Nie. Über die Schüssel gebeugt riss sie die Augen auf, stierte leer auf das weißglänzende Porzellan, denn Tränen drängten und würden ihr Make-up ruinieren, wenn sie ihnen erlaubte den Kanal in ihren Augen zu verlassen. Tränen musste man wegsperren. Sie durften nicht laufen. Tränen brachten nichts.
Merkwürdig nüchtern bemerkte sie die Stellen am Porzellan, wo sie nicht ordentlich geputzt hatte, das musste sie umgehend reinigen. Wann betrachtete man sein Klo auch aus dieser Perspektive? Nun ja, sie tat das an sich zu oft.
Sie atmete konzentriert, fixierte die Dreckstellen, versuchte sich dabei nicht vor sich selbst zu ekeln und sich stattdessen zu beruhigen. Ihr blieb nur wenig Zeit, denn selbst wenn Lührsen ihr großmütig erlaubt hatte zu spät zu kommen, sollte sie das nicht überreizen. Genau genommen war er ein mieser Despot. Ein Verfechter von Zuckerbrot und Peitsche, ein Perfektionist, wenn es um unterschwellige Drohungen und Druck ging. Emotionale Erpressung in Reinkultur. Sie gestand ihm allerdings zu, dass er als Senator für Inneres mit diesen Fähigkeiten genau am richtigen Arbeitsplatz saß.
Sie schloss kurz die Augen, rupfte ohne hinzuschauen ein Stück Toilettenpapier von der Rolle und tupfte sich vorsichtig die Augenwinkel trocken, wischte sich dann behutsam den Mund ab, stemmte sich mit wackeligen Beinen in die Senkrechte. Ihr schwindelte. Nicht auf den Boden schauen, immer stur geradeaus. Sie musste etwas essen, das war ihr klar, aber allein der Gedanke, sich etwas in den Mund zu stecken war der nächste Startschuss für eine Rebellion in ihrem Magen.
Sie würde sich unterwegs beim Bäcker ein trockenes Brötchen kaufen und das knabbern. Jetzt musste sie packen. Flüchtig spülte sie sich den Mund mit kaltem Wasser aus, vermied den Blick in den Spiegel, versuchte stattdessen gleichmäßig zu atmen.
Langsam taumelte sie in ihr Schlafzimmer, öffnete mit einer Hand abgestützt die Schranktür. Die Kater musterten sie vom Bett aus, Long John Silver lugte unter ihrer Steppdecke hervor. Wann hatte sie zuletzt morgens ihr Bett gemacht? Noch einmal: Was lief hier schief? Eigentlich war sie ein echt ordentlicher Mensch. Sie mochte eine saubere, aufgeräumte und schön dekorierte Wohnung. Das war ihr wichtig, gab ihr Sicherheit.
Egal, auch das war jetzt nicht das Thema. Sie war so unfassbar gut darin, ihren Kopf mit unnötigen Dingen zu beschäftigen. Genauso locker fand sie für alles einen Grund, eine Entschuldigung und hatte für jede Entgleisung Verständnis. Heute Morgen war sie wirklich schrecklich drauf. Entschlossen ließ sie ihren Blick über die wenigen Kleider schweifen, die ganz rechts in der Ecke im Schrank hingen. Kleider trug sie nur selten und sie hätte sich gern nachträglich für die unbedachte Frage nach dem Dresscode in den Hintern getreten.
Natürlich wollte Lührsen ihre Kurven adäquat verpackt sehen. Kein Ausschnitt war tief genug, kein Schlitz zu lang. Sie wusste wie seine Frau bei Empfängen aufgetreten war. Ja, sie würde heute Abend unweigerlich genau diese Rolle übernehmen.
Ihr hätte klar sein müssen, dass dieser Abend passieren würde, auch wenn sie es bisher geschafft hatte, gemeinsame Abendveranstaltungen außerhalb Bremens zu verhindern. Vielleicht war ihre Schonfrist jetzt vorbei. Im November und Dezember würde Lührsens Terminkalender vor Benefizveranstaltungen, Weihnachtsfeiern, Charity, Bällen schier platzen. Die ersten Termine standen bereits. Sie brauchte eine Strategie. Und zwar ratzfatz.
Entschlossen rupfte sie ein schmal geschnittenes, langes und hochgeschlossenes, dunkelgrünes Paillettenkleid mit langen Ärmeln vom Bügel. Das war schick, aber kein extremer Figurschmeichler. Es betonte ihre Größe und ihren langen Hals, aber nicht die Taille oder ihre Brüste. Sie hielt es prüfend hoch, dabei wurden ihre Hände feucht und ihr Herz wummerte eine höhere Taktrate. Es war zu groß. Verflixt. Fassungslos fummelte sie nach dem Schildchen im Kragen das die Größe angab, in der Hoffnung, dass ihre Augen sie belogen. EU 38. Nein, sie logen nicht. Mit erfahrenem, weiblich geschultem Blick erkannte sie, dass die Zeiten wo Henrike wohlige 38 getragen hatte, eine ganze Weile her waren.
Ihren Hosenanzug hatteZalandoin Größe 34 geliefert, nachdem sie, unterschwellig erschüttert, den 36er zurückschicken musste, weil er ihr von den Hüften rutschte. An diesem Morgen zog sich jede verfügbare Schlinge um ihren Hals spürbar zusammen.
Okay, sie ließ das Kleid achtlos fallen und wappnete sich für den nächsten Blick auf die drei anderen in ihrer geschmähten Ecke des Schrankes. Das schwarze Cocktailkleid war nicht einmal knielang und stammte aus noch wohlgenährteren Lebensphasen als das grüne, fiel also umgehend raus. Dann war da noch das graue Teil aus Chiffon im Stil der zwanziger Jahre, was zum Anlass gepasst hätte, aber einen Rückenausschnitt bis zur Pospalte besaß. Indiskutabel, auch wenn aufgrund des geraden Schnittes zwei Kleidergrößen nicht aufgefallen wären. Ihr Blick blieb an dem roten Tellerkleid hängen, super entzückend, aber viel zu viel Figur, dazu schulterfrei und eigentlich zu kurz. Damit würde sie zum Paradebeispiel für den Ausspruch: Beine bis zum Hals. Dazwischen die passenden Titten. Nein, niemals. Sie schluckte und senkte den Kopf.
Genauso würde sie niemals freiwillig auf Lührsens Angebot zurückgreifen, ihre Mittagspause zum Shoppen auf seine Kosten zu nutzen. Aber in der halben Stunde, die ihr regulär zustand, war ein Kleiderkauf unmöglich zu schaffen und wenn sie länger blieb machte sie sich verdächtig. Nebenbei ließen ihre Finanzen diesen Monat eine solche Extravaganz nicht wirklich zu, selbst wenn sie beiH&ModerZaraein passendes Outfit fand. Scheiß Sackgassen-Situationen.
Abrupt drehte sie sich um, riss ihre kleine Reisetasche vom Schrank herunter, warf wahllos Wäsche hinein, stürmte ins Bad, wo sie die notwendigsten Sachen in einen Kulturbeutel stopfte. Sie wollte keine Nacht im Hotel. Schwer atmend stützte sie sich an der Badezimmertür ab. Es half nichts.
Ruhiger trat sie ins Schlafzimmer zurück, streichelte beiden Katern sanft über ihre dicken Katzenschädel und stampfte zur Tür, wo sie ihre Handtasche und den Schirm aufklaubte. Das Problem war für diesen Moment nicht lösbar, es musste auf einen späteren Zeitpunkt vertagt werden. Sie war die persönliche Assistentin eines Politikers, sie war geübt darin Lösungen zu finden, wo es eigentlich keine gab, umgehend, diskret, effektiv. Irgendetwas würde ihr schon einfallen. Jetzt musste sie dringend ins Büro, damit sich nicht noch mehr Schwierigkeiten aufbauten.
Unter ihren Schirm geduckt hastete sie im strömenden Regen, Sturmböen den kurvigen Fußweg durch die alten Wallanlagen. Der Wind heulte in den hohen Bäumen, riss das letzte bunte Laub von den Ästen und matschte es zu einem glitschigen Dreckbrei auf dem asphaltierten Weg. Auch das Wetter passte zum Rest des Morgens. Nur zwei Hundehalter kämpften sich mit missmutigen Gesichtern und vorgereckten Schirmen hinter ihren tropfnassen Hunden durch den Regen.
Schlag Viertel nach acht stieß sie die Tür der klassizistischen Lürman-Villa am Contrescarpe auf, die den Amtssitz des Senators für das Innere beherbergte. Von vorn wirkte das weiß getünchte Gebäude erstaunlich schmucklos, trotz des protzigen Säulenvorbaus. Sie winkte dem Pförtner flüchtig zu, wetzte dann mit tropfendem Schirm die breite Marmortreppe hinauf, vorbei an alten Gemälden, über sich die wundervollen Stuckarbeiten, bremste sich als sie die Tür zu ihrem Büro erreichte.
Einen Moment der Sammlung gönnte sie sich. Einen sehr kurzen Moment, denn zu ihren Füßen bildete sich umgehend eine Pfütze. Sie war patschnass. Fast hätte sie hysterisch gegackert. Das war alles so unglaublich banal und hässlich. Doch sie ächzte nur leise, drückte die riesige goldene Klinke und betrat das Vorzimmer zum Büro des Senators, ihr Büro, das sie sich mit der Sekretärin teilte.
Sieglinde Meyer war eine Frau in den späten Fünfzigern, die es für einen besonderen Verdienst hielt, seit Menschengedenken für den jeweiligen Senator zu arbeiten. Und zwar immer in diesem Büro, etwas, was sie regelmäßig und vehement betonte. Sie trug Birkenstocksandalen die in Regenbogenglitzerfarben funkelten, Stoffhosen mit Gummibund und perfekt gebügelten Rüschenblusen, die direkt aus den Achtzigern stammten, in denen Frau Meyer möglicherweise jung gewesen war. Aber das wusste niemand mit Sicherheit. Frau Meyer betrachtete die Herren Senatoren als ihre persönlichen Schützlinge und wäre sie katholisch, so würde sie sich sicherlich bekreuzigen, wenn jemand in Aussicht stellte, dass ja auch eine Frau Senatorin in diesen heiligen Hallen wirken könnte. Bewahre, nein. Für eine Frau war dieser Senatorenposten viel zu wichtig.
Mit ihrem weiblichen Chauvinismus passte sie hervorragend zu Sven Lührsen, der zwar politisch korrekt für eine Frauenquote im Senat gestimmt hatte, aber bitte keine davon in seinem persönlichen Dunstkreis haben wollte. Es reichte, wenn man denen die Ressorts Gesundheit und Familie überließ, alles andere war und blieb Männersache. Entsprechend war Henrikes Rolle in dieser Ménage a trois von zwei Seiten in Stein gemeißelt, was den Großteil ihrer Arbeit nicht wirklich vereinfachte.
Als Lührsen sie vor ungefähr zwei Jahren zur persönlichen Assistentin berief, wusste er sehr genau, dass die Leuenstein das System nicht revolutionieren würde. Henrike war nicht nur bezaubernd hübsch, sondern auch eine außerordentlich kluge, geistreiche und auf ihre Weise gewitzte Frau. Vor allem würde sie aber nicht aufbegehren. Mehr brauchte er nicht.
Henrike murmelte ein halblautesMoinin Richtung der Sekretärin, während sie ihren Schirm in den Ständer neben der Tür steckte, wo schon Frau Meyers ordentlich verstaut war.
„Die sollten sich nicht berühren, Frau von Leuenstein“, belehrte Frau Meyer spitz, „sonst fangen die an zu müffeln, weil sie nicht richtig trocken werden. So etwas lüftet nie wieder aus.“
Was ein massives Drama, dachte Henrike pissig, zupfte aber pro forma gehorsam an ihrem Schirm herum, damit er dem anderen nicht zu nahekam. Nebenbei hasste sie es, wenn Menschen denen es total egal sein sollte, so extremen Wert auf dasvonin ihrem Namen legten, das sie gern losgeworden wäre und nur selten freiwillig nannte. Der Adel ihrer Familie war schon vor Generationen menschlich wie finanziell verarmt.
Ohne ein weiteres Wort trat Henrike an ihrem grauen Stahlschreibtisch vorbei, knöpfte ihren nassen Mantel auf und hängte ihn an den Bügel an der Wand, wechselte die Straßenschuhe gegen anthrazitfarbenen Pumps mit einem silbergrauen Keilabsatz. Böse gesagt war irgendwie alles in ihrem Leben grau.
„Übrigens ist der Herr Senator schon da und hat bereits nach Ihnen gefragt“, flötete Frau Meyer mit falscher Freundlichkeit. „Sie sind spät heute Morgen.“ Ein rügender Blick traf Henrike, die eben das Tablet aus der Tasche zog und auf ihren Schreibtisch legte, mit der anderen Hand den Startknopf ihres PCs drückte.
„Er weiß, dass es bei mir ein paar Minuten später werden würde“, erwiderte sie emotionslos, „wir haben vorhin telefoniert.“
Gleiches mit Gleichem kontern war alles was bei Frau Meyer ansatzweise Wirkung zeigte. Betont gelassen, ohne die Sekretärin zu beachten putzte Henrike ihre Brille, wobei ihr einfiel, dass sie das Brötchen vergessen hatte. Passend dazu knurrte ihr Magen. Erschöpft senkte sie kurz den Blick, holte Luft, hielt sie sekundenlang an und schnaufte aus. Hunger war nebensächlich.
Als sie sich aufrichtete und ihre Brille aufsetzte, lächelte sie Frau Meyer an. „Dann gehe ich mal hinein.“
Die Sekretärin starrte ihr empört nach. Das Mädchen bildete sich auch immer mehr ein, unerhört! Dezent pochte Henrike an die geschnitzte, zweiflügelige Holztür, ein knurrigesHerein!ertönte. Henrike drückte die schwere Klinke und schob sich durch den Spalt ins Büro des Senators.
Es handelte sich um den ehemaligen großen Salon der Villa, mit bodentiefen Sprossenfenstern zum Garten, davor der geschwungene Balkon, fein geschnitzte Vertäfelungen an den unteren Wänden, Stuck an der Decke, ein herrlicher Kronleuchter über dem mächtigen Konferenztisch. Gerahmte Jagdszenen an den weißen Wänden. Senator Lührsen thronte hinter seinem passend klassizistischen Schreibtisch, direkt der Tür gegenüber.
Wäre es ihr Büro, hätte Henrike den Schreibtisch mit Blick auf den wunderschönen Garten gestellt, vielleicht weniger repräsentativ, dafür die schönere Aussicht. So jedoch hefteten sich die Augen des Senators sofort auf sie. Sie schloss die Tür, drehte sich dabei weiter um als nötig, damit sie diesen Blickkontakt unterbrach.
„Guten Morgen“, sie hob die Mundwinkel zu einem Lächeln und senkte das Kinn, was den Anschein vermittelte, sie könnte ein schlechtes Gewissen haben, weil sie zu spät kam. Egal was er am Telefon gesagt hatte. Henrike war immer auf der Hut. Sie kannte Männer wie ihn. „Sie wollten mich sprechen, Herr Lührsen?“
Lührsen nickte, es sollte wahrscheinlich väterlich wirken, war aber wie immer etwas schmierig und deutete auf den Ledersessel vor sich.
„Natürlich, Henrike, setzen Sie sich doch bitte, ich hoffe, ich habe Sie vorhin nicht allzu sehr überfallen mit meiner Idee?“
Eine weitere Frage, die zu keiner Zeit mit der Wahrheit beantwortet werden durfte, sofern die Wahrheit negativ war, Henrike bewegte die Schultern und lächelte, setzte sich korrekt damenhaft auf den Sessel, nachdem sie ihre Hose glattgestrichen und den Blazer sortiert hatte.
„Nein, keinesfalls“, ihre Kiefer verkrampften sich im Bemühen weiter zu lächeln, „eine Vernissage ist besser als ein Freitagabend vor dem Fernseher. Danke, dass Sie mich mitnehmen.“
Boahh… diese Lüge würde die Pfeiler der Golden Gate Bridge nicht nur verbiegen, sondern bersten lassen. Henrike schluckte, warum tat sie das? Weil Lührsen es hören wollte. Sein Grinsen wurde breiter, er lehnte sich lässig im Sessel zurück, schlug die Beine übereinander. Es stand außer Frage, er fand sich gut. Mit dem Zeigefinger tippte er auf die Gegensprechanlage.
„Frau Meyer, bringen Sie uns bitte zwei Kaffee.“
Dafür würde die Meyer Henrike den Rest des Tages hassen und am Montag irgendeinen fadenscheinigen Grund für Gezeter finden. Montag war erst in drei Tagen. Immerhin. Vielleicht war die Welt bis dahin untergegangen.
Keine zwei Minuten später tänzelte die Sekretärin wie ein in die Jahre gekommener Steintroll herein, ließ mit einem zuckersüßen Lächeln eine Tasse Kaffee mit zwei Mini-Butterkeksen vor dem Senator niederschweben, stellte die andere Tasse ohne Kekse im Gehen an der Tischkante von Henrikes Seite ab. Alles klar. Senator Lührsen bemerkte es nicht. Er rührte selbstvergessen in seiner Tasse herum, obwohl da nichts als Kaffee drin war, nahm einen Schluck, griff sich einen Keks und kaute.
„Haben Sie ein passendes Kleid, Henrike?“ Sein Blick fiel auf Henrikes keksfreie Untertasse, er runzelte kurz die Stirn, nahm den zweiten von seiner und reichte ihn über den Schreibtisch. Notgedrungen nahm Henrike das bröselige Teil, lächelte.
„Danke.“
Sie kaute bedächtig und überlegte fieberhaft. Verdammte Scheiße, mit dieser Frage hätte sie nie gerechnet und die Intimität seiner Geste war ihr unangenehm bewusst. Niemals hätte sie diese brutal verminte Grenze zwischen Chef und Angestellter überschreiten dürfen, egal wie triftig der Grund gewesen sein mochte. Zwar hatte sie den Hinweg überlebt, doch es gab kein Zurück ohne dabei lebensbedrohliche Verstümmelungen zu riskieren. Was sollte sie antworten? Sie hätte die Lösung des Problems nicht verschieben dürfen. Fataler Fehler. Wenn sie jetzt log, dann musste sie heimlich von irgendwoher ein Kleid beschaffen, sofern sie nicht doch noch eines der unpassenden Altstücke aus ihrem Schrank organisierte, um dann abends zur Peinlichkeit des Jahres gekürt zu werden.
So einen Faux pas verzieh Lührsen ihr nie. Er bezeichnete sich selber gern als Stilikone, Trendsetter, bestgekleideter Mann im Senat. Selbst in den härtesten Krisenzeiten erschien er frisch rasiert, ordentlich frisiert und gekleidet zu seinen Sitzungen, formvollendet im Auftreten und Benehmen, wenn auch nicht immer ganz nüchtern. Gleiches erwartete er von seiner Assistentin und seinem Fahrer. Der Paillettensack käme einer dritten schriftlichen Abmahnung mit fristloser Kündigung gleich.
Nein, der Weg war Mist und die Wahrheit würde sie einmal mehr in eine Abhängigkeit schubsen, die verdammt ungesund war. Henrike griff nach ihrer Tasse und trank einen großen Schluck Kaffee. Der sorgte für drei Sekunden Galgenfrist samt blubbernder Magensäure.
„Nein, habe ich nicht“, sagte sie tapfer und hob ihren Blick mit einer Herausforderung, die sie nicht fühlte und die absolut fehl am Platz war. Ihre verbalen Brötchen sollte sie eigentlich auf Puppenstubengröße backen. Lührsen ruckte ungläubig den Kopf. Sie schüttelte den ihrigen nachdrücklich. „Ich habe in den letzten Monaten abgenommen und heute Morgen nicht realisiert, dass meine Kleider mir nicht mehr passen. Ich kümmere mich in meiner Mittagspause darum. Sie können sich auf mich verlassen.“
Okay, ein Statement aus dem Stegreif, aber es erschien ihr erstaunlich gut gelungen. Ein bisschen zerknirscht, selbstbezichtigend und bereit eigenverantwortlich eine Lösung zu finden. Sie machte höflich klar, dass er nicht helfen sollte und sie alles im Griff hatte. Lührsen lachte überraschenderweise laut auf und patschte sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. Sein Ledersessel wippte dazu im Takt.
Nun ja, auch eine Reaktion. Allerdings keine, die sie in diesem Moment einordnen konnte. Verwirrt zupfte sie einen imaginären Fussel von ihrem Revers. Glaubte er ihr nicht? Fand er sie albern? War das die Einleitung zu einem schlechten Chefgespräch, weil sie morgens die Lage falsch eingeschätzt hatte? Möglich war alles. Es galt die Reste ihres Pokerface zu wahren, bis sie wusste wie sie reagieren musste. Also lächelte sie verkniffen und blickte demonstrativ gelassen an ihm vorbei in den Herbststurm draußen.
„Sie sind köstlich, meine Liebe“, ächzte der Senator heiter, Henrike nahm den gönnerhaften Unterton in seiner Stimme wahr. Der machte sie stutzig. „Ich bin dem Menschenverstand meiner Frau wirklich dankbar, mit dem sie damals sofort erkannt hat, was für ein Juwel Sie sind und ich Sie für mich gewinnen konnte.“
Henrike sog halb überrascht und durchaus peinlich berührt die Wangen ein, was ihr Gesicht ungünstig in die Länge zog. War das ein Kompliment? Musste sie sich dafür bedanken? Lührsens Frau war schwieriges Terrain, durchsetzt mit gefährlichen, sehr, sehr tiefen, fettgefüllten Löchern. Auf keinem Fall wollte sie in eines davon hinein plumpsen. Also lächelte sie unverbindlich, hob fragend die Schultern, während sie beiläufig nach ihrer Kaffeetasse griff.
„Wie auch immer“, fuhr Lührsen fort und beugte sich vor, stemmte seine Ellenbogen auf den Schreibtisch, womit er Henrike deutlich näherkam und sie von unten herauf fixieren konnte. „Das trifft sich ganz hervorragend. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Henrike, diese Vernissage ist eine wichtige Veranstaltung die immense Aufmerksamkeit bekommt, Presse, Medien, und der Mäzen ist einer der reichsten Industriellen des Landes, da müssen wir entsprechend auftreten. Also habe ich gleich nach unserem Telefonat die Firma kontaktiert, bei der meine Frau immer ihre Abendgarderobe ausgeliehen hat. Man kann gar nicht so viel kaufen, wie man in so einer Stellung benötigt und unmöglich darf man ein Kleid zweimal tragen.“ Der Senator hob dramatisch die Hände. „Sie bekommen heute Mittag drei Kleider zur Auswahl geliefert. Größe 34, oder? Und ich will das wir zusammen auswählen, denn ich bezahle diese Lieferung.“
Die Sätze prasselten auf Henrike herab, bis sie fast unter ihnen begraben dasaß. Ihre schnelle Auffassungsgabe war einer ihrer Stärken, für die sie in diesem Moment wirklich dankbar war. Sie schüttelte sich innerlich. Was erst einmal wie eine übergriffige Katastrophe klang, entpuppte sich beim näheren Nachdenken als willkommene Ausweichmöglichkeit. Keine Frage, ihr Ego musste massive Abstriche machen und die Vorstellung, vor Lührsen in einem geliehenen Abendkleid zu posen gruselte sie, mehr noch, dass er die Entscheidung über ihr Outfit für sich beanspruchte. Das ging wahrscheinlich schief, da seine Priorität garantiert woanders lag als Henrikes. Dafür war sie den Paillettensack, die Blamage und eine mittägliche Hetzjagd durch Billigboutiquen los. Ihr Konto musste keine ungeplante Ausgabe verkraften. Zumindest ein grob fairer Preis für einen Abend, den sie genau genommen gar nicht wollte.
Falsch, sie setzte ein Lächeln in ihre Mundwinkel, der Abend mit der Vernissage war Arbeitszeit, das danach wollte sie nicht. „Das klingt nach einer guten Idee, Herr Lührsen“, erklärte sie fest, „und die Größe ist richtig, danke. Vielleicht geben Sie mir den Kontakt der Firma, dann kann ich mich das nächste Mal persönlich und rechtzeitig um ein Kleid für den jeweiligen Anlass bemühen.“
Lührsen lachte selbstgefällig und ließ sich wieder in seinen Stuhl zurückfallen. „Nix da, Henrikchen“, er wedelte mit dem Zeigefinger verneinend vor ihr herum und, dass er ihren Namen so brutal verniedlichte machte deutlich, wie er sich und seine Rolle in der Sache sah. Das war nicht gut. „Den Kontakt werde ich hüten und mit Genuss auch weiterhin Kleider für Sie auswählen. Strafe muss sein.“
Strafe? Henrikes Gesichtszüge schlingerten. Für das Sugar-Daddy-Spiel war sie eigentlich zu alt, auch wenn Lührsen es perfekt spielte und das offensichtlich anders sah. Sie musste etwas tun, sonst würde die Story ganz bald böse in die Hose gehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Nur, was sollte sie tun?
„Na, dann“, wich sie aus, nahm den letzten Schluck Kaffee, „wollen wir über die Termine von heute reden?“
Der Senator grunzte ergeben, tat als müsse er sich notgedrungen den weniger amüsanten Aspekten seines Daseins widmen. Mit geschürzten Lippen nickte er. Henrike holte Luft, rief sich vor ihrem inneren Auge den Terminkalender dieses Freitags auf.
„Von zehn bis halb zwölf haben Sie eine Senatssitzung im Rathaus. Ihr Fahrer erwartet sie um viertel vor zehn unten vor dem Haus. Für zwölf Uhr habe ich Ihnen einen Tisch im Ratskeller reserviert.“ Sie suchte den Blick des Senators, der zustimmend mit dem Kopf wippte.
„Um halb zwei erwartet sie der Polizeidirektor hier, wegen der letzten Details zum diesjährigen Weihnachtsmarkt. Die Dossiers zur Sitzung morgens und dem Weihnachtsmarkt bringe ich Ihnen gleich. Der Herr Polizeidirektor muss sich etwas kurzfassen, denn um drei ist ein Gespräch mit Senator Stahnke geplant …“, sie stockte und biss sich auf die Lippen. Nein, der war ja krank und sie ahnte in dieser Sekunde, dass der geplatzte Termin Lührsens Startschuss in den Freitagabend werden würde. Scheiße, das war verdammt früh. Er grinste.
„Genau, meine Liebe, Stahnke ist krank und wir verabschieden uns ins Wochenende sobald der Polizeischwätzer aus dem Haus ist. Was halten Sie davon?“
„Super“, haspelte Henrike, „das klingt echt super.“
„Dann machen wir das so. Wolter soll den Wagen für halb drei bereithalten. Ihre Kleider werden gegen Mittag geliefert. Wir schauen uns an, was für Sie passt und dann düsen wir los. Jetzt reservieren Sie uns ein schönes Hotel. Die Vernissage beginnt um zwanzig Uhr in der Kunsthalle Bremerhaven. Stahnke schickt Ihnen per Email seine Rede, die müssen Sie mir bitte noch überarbeiten und anpassen.“
Steifbeinig stemmte sich Henrike aus ihrem Sessel und lächelte aufgesetzt. „Selbstverständlich, Herr Lührsen, ich bringe Ihnen noch die Unterlagen.“
Sie verließ das Büro, merkwürdig benebelt im Kopf. Das fühlte sich alles nicht richtig an. Mechanisch suchte sie an ihrem Schreibtisch stehend die Mappen für den Senator zusammen. Frau Meyer baute sich neben ihr auf, sie blinzelte nur flüchtig zur Seite. „Ja?“
„Ich muss dem Herrn Lührsen Dokumente zur Unterschrift bringen, ich nehme Ihre Unterlagen mit.“
Auch gut,dachte Henrike und reichte ihr die beiden Mappen ohne Frau Meyer anzuschauen. Sie war in ihren Gedanken mit allem und viel zu viel nichts beschäftigt. Frau Meyer rümpfte die Nase und ging. Henrike ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen. Es tat so gut für einen Moment allein zu sein. Draußen heulte der Sturm, es zog durch die alten Fenster, Regen prasselte gegen die Scheiben.
Nur um beschäftigt zu wirken, fuhr sie mit ihrer Maus herum, tippte ein paar Änderungen im Terminkalender, las Mails, auch die von Senator Stahnke samt geplanter Rede. Die zu überarbeiten schien auf den ersten Blick kein großer Aufwand. Frau Meyer hockte sich schweigend wieder an ihren Schreibtisch. Man hörte nur den Sturm draußen heulen und das leise klackern von Fingernägeln auf Tastaturen. Henrike fiel ein, dass sie ihre Fingernägel unbedingt noch lackieren musste. Irgendwo in ihrem Schreibtisch verwahrte sie ein Notfallset Nagellack, Feile und Klebenägel.
Das würde sie erledigen, wenn die Meyer ihre Runde durch die Büros drehte, vorgeblich um Akten einzusammeln, doch jeder wusste, dass sie mehr am alltäglichen Tratsch interessiert war. Um zehn wäre dann auch Lührsen erst einmal weg, ein Stressfaktor weniger. Sie äugte zur Kaffeemaschine, doch ohne feste Nahrung als Grundlage, war Kaffee keine gute Idee. Ihr Magen tat jetzt schon weh und ihre Kehle fühlte sich wund an von der Kotzerei am Morgen. Insgesamt machte dieser Tag den Eindruck, als sei es nicht neun Uhr morgens, sondern abends.
Henrike war so müde. Blind stierte sie auf den grellen Bildschirm, die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Da war das dringende Bedürfnis sie einfach zu schließen und nicht zum ersten Mal in ihrem Leben auch der Wunsch, das endgültig für immer zu tun. Endlich Ruhe. Den schrecklichen roten Faden einfach kappen. Aber sie trug Verantwortung für die Kater und sie wusste nur zu gut, was man damit den Menschen antat die einen mochten, egal wie wenige das waren. Bei Henrike war es genau einer, ihre Studienfreundin Franzi.
Und sie hatte es Mika versprochen. Sie hatte versprochen einen anderen Weg zu wählen und die Dinge in Ordnung zu bringen. Bisher war sie daran grandios gescheitert. Böse gesagt schob sie den Karren immer nur noch tiefer in den Sumpf. Heute hatte sie diesbezüglich mal wieder eine Meisterleistung vollbracht. Leider war der Tag noch nicht vorbei. Ihr schwante, dass sie den Karren heute Nacht endgültig versenken würde, Lührsen würde sich nicht mehr abweisen lassen. Nicht, nachdem sie morgens am Telefon der Nacht im Hotel zugestimmt hatte.
Wieso war sie nicht fähig richtig zu reagieren? Das zu formulieren was sie wollte. Keiner konnte sie dazu zwingen nach der Arbeit mit dem Chef ins Hotel zu gehen oder ihre Freizeit so zu verbringen, wie er es forderte. Sie war keine Leibeigene. Nein, aber sie machte sich zu einer. Abwesend drehte sie sich zum Fenster um, Regen rann in Bächen die Scheiben hinunter. Es sah schön aus. Daheim könnte sie jetzt auf die wogende Weser schauen, das Ansteigen der Flut beobachten, die getrieben vom Sturm deutlich höher ausfallen würde. Sie liebte Sturm und Wasser. Das wäre auch ein Grund sich auf Bremerhaven zu freuen. Dort war so ein Schauspiel noch beeindruckender.
Tief holte sie Luft. Wo war der Fehler? Das fragte sie sich seit Monaten und obwohl sie sich auch sagte, dass der Fehler nicht das Problem war, weil längst passiert, so war er doch vielleicht die Lösung. Ihr war dabei rational klar, dass sie nur nach dem Fehler suchte, weil das der einzig erträgliche Gedanke war, einer der ihr vorgaukelte, dass sie an dem Thema dranblieb und nicht hilflos im Dreck paddelte.
Immerhin war dieser Fehler nicht zum ersten Mal passiert. Sie geriet dauernd an Männer, manchmal auch an Frauen, die sich ihr gegenüber übergriffig verhielten. Sogar die Männer, die vorgeblich beteuerten sie zu lieben, wie zuletzt Andreas, dieser nörgelnde Schmarotzer. Sie war Long John Silver so dankbar, dass sein Erscheinen ihr die Augen endlich richtig geöffnet und die Kraft gegeben hatte, das Drama zu beenden. Was signalisierte sie diesen Menschen?
Sie kam einfach nicht darauf. Das konnte ihr wohl nur ein Psychologe sagen. Aber so einer war unmöglich. Nicht noch einmal, nicht nach allem was geschehen war. Das gab sie sich nicht. Sie brauchte niemanden der in ihrem Leben herumstocherte und die ekligen Bröckchen herausfischte, die sie dann schlucken musste, weil das angeblich so super heilsam war. Never. Alles Quatsch.
Bedächtig drehte sie sich zum PC zurück, ihre Hand an der Maus ruckte unschlüssig. Dann öffnete sie die Suchmaschine, tippte zauderndPsychologeundBremen.Enter.Google spuckte in Bruchteilen von Sekunden eine nicht zu überblickende Liste von allen möglichen Therapeuten aus, die mit den unaussprechlichsten Therapien jedwedes Trauma, Psychosen, Störungen in nullkommanix aus deinem Leben entfernen wollten.
Henrike blies überfordert die Wangen auf, ihr Blick schnellte zu Frau Meyer hinüber, weil sie das untrügliche Gefühl hatte, dass sie beobachtet wurde. Sie verzog den Mund zu einem abweisenden Grinsen, Frau Meyer verschwand blitzartig wieder hinter ihrem Bildschirm. Henrike musste auf der Hut sein, die brachte es fertig ihren Verlauf bei Google zu lesen, sobald Henrike das Büro verließ. Das Stichwort Psychologe sollte sie besser nicht finden. Noch in keinem Job war sie so einsam gewesen. Irgendwie mochte sie niemand in diesem Haus und sie mochte keinen der Kollegen. Aber sie wollte den Job auch nicht verlieren, eigentlich war er cool und verdammt gut bezahlt. Trotzdem musste sie raus aus der Situation, in die sie das alles hier brachte.
Nachdenklich scrollte sie die Seite einmal runter, dann wieder rauf, las Überschriften, einleitende Sätze, betrachtete die vereinzelten Fotos der Menschen, die sich zum Helfer berufen fühlten. Eines nichtssagender als das andere. Welches dieser Angebote könnte für sie passen? Die Stecknadel im Therapeutenhaufen.
Nur um etwas zu tun, klickte sie auf den FilterBewertungenund sortierte die Liste neu. Neue Gesichter, neue Therapien, noch mehr Verwirrung. Viele vergebene Sternchen, aber das oftmals durch eine einzige Rezension von einer Person. Offensichtlich machten sich die Patienten nur selten die Mühe eine Bewertung zu schreiben.
Die meisten Rezensionen und die meisten Sterne, immerhin viereinhalb von fünf, hatte ein Typ bekommen, der auf Kinder- und Jugendpsychologie spezialisiert war, aber auch Sexual- und Paartherapie anbot. Henrike murrte leise. Sie brauchte keins davon, wenn überhaupt. Aber was brauchte sie dann? Mit gemischten Gefühlen klickte sie auf den Link, eine Homepage öffnete sich, die wohltuend nüchtern aufgemacht war. Keine blinkenden Banner, keine nervend aufpoppende Werbung oder Ähnliches. Nur Information. Es gab leider kein Foto von dem Herrn mit Namen Mauritz Thibault, der in Freiburg und an der Sorbonne in Paris Psychologie und Pädagogik studiert hatte. Interessante Mischung fand Henrike. Aber irgendwie stimmig.
Herrn Thibaults Praxis befand sich in Schwachhausen, ein wohlhabendes Viertel, auch wenn es im Zusammenhang mit einem Psychologen witzig klang. Sie biss sich auf die Lippen. Sollte sie den einfach mal anrufen? Oder sollte sie als erstes checken, ob ihre Krankenkasse so einen bezahlte? Eine Stunde auf der Couch war sicher nicht billig. So spontane Eingebungen waren gar nicht ihr Ding. Sie tat sich grundsätzlich schwer mit Entscheidungen. So viel konnte schiefgehen, so viele Fallstricke und Fehler lauerten, sobald man ein:ja, okay, mache ich,von sich gab.
In diesem Augenblick stand Frau Meyer auf und schlurfte zur Bürotür.
„Bin im Haus unterwegs“, nuschelte sie schon halb draußen, Henrike erwiderte nichts, doch ihr Puls förderte spontan mehr Blut durch ihre flatternden Herzkammern. Das wäre jetzt die Gelegenheit für ein halbwegs ungestörtes Telefonat. Und noch eine Tür ging auf. Die von Senator Lührsen. Er kam im Mantel, die schwarzlederne Aktentasche unter den Arm geklemmt zu ihr herüber.
„Ich rauche unten noch eine Zigarette und bin dann im Rathaus, Frau Leuenstein.“ Er pochte jovial mit den Fingerknöcheln auf ihren Schreibtisch. „Bis nachher. Wenn etwas ist, dann bin ich auf dem Handy erreichbar. Schreiben Sie mir doch eine Nachricht, wenn die Kleider da sind, gern auch mit Fotos von sich, damit ich mir vorab ein Bild machen kann und es nicht so langweilig in der Sitzung ist.“
Henrike lächelte verkrampft und nickte. Lührsen verließ das Büro. Tatsächlich war sie jetzt richtig allein. Was für eine Erleichterung, der Druck ließ abrupt nach. Frau Meyer würde sicher eine gute halbe Stunde weg sein, eher noch mehr, wenn sie mitbekam, dass Lührsen außer Haus war. War das ein Wink des Schicksals? Sollte sie eine Chance wahrnehmen? Sie schluckte trocken und griff nach ihrem Handy, drehte es unschlüssig in den Händen. Mauritz Thibault. Ein Mann. Wollte sie im Zweifelsfall einem Mann ihr Herz ausschütten? War das gut? Oder eher sogar kontraproduktiv? Würde eine Frau sie besser verstehen? Da war ein spontanesJa, definitiv!in ihrem Kopf.
Hastig suchte sie die nächsthöchste Bewertung mit einem Frauennamen und verzog das Gesicht. Okay, nein. Die Dame war vermutlich sehr kompetent, könnte aber auch ihre Großmutter sein und sie fand das Gesicht auf Anhieb unsympathisch. Da hatte es der Herr Thibault schlauer angestellt. Falls er aussah wie der Glöckner von Notre Dame, dann bemerkte sein Klient das erst, wenn er in der Praxis vor ihm stand. Dann war es wahrscheinlich zu spät für einen Rückzug. Clever.
Mauritz Thibault. Sie schloss die Augen, fühlte sich gestresst, weil ihr nicht viel Zeit für eine Entscheidung blieb. Sollte sie das nicht sowieso besser auf Montag vertagen? Das Wochenende für Recherchen nutzen, ihre Krankenkasse konsultieren? Sie hatte für heute wahrlich genug am Hals. Mauritz. Nur unfreiwillig gestand sie sich ein, dass dieser Name wahrscheinlich ausschlaggebend dafür war, dass sie überhaupt noch mit dem Gedanken spielte, anstatt die Googlesuche zu schließen und ihren Verlauf zu löschen.
Allein die Buchstabenfolge reichte, dass sich gegen ihren Willen der Name aus ihrem sichersten Panzerschrank heraus zwängte, in den sie ihn mit ein paar anderen Episoden ihres Lebens für immer sicher weggesperrt glaubte. Jetzt fühlte es sich an, als bahnte er sich gnadenlos mit einem Presslufthammer seinen Weg in die Freiheit und in ihr Leben zurück. Das durfte nicht passieren. Unter keinen Umständen. Wieder fixierte sie den Bildschirm und den seit unendlichen Zeiten vertrauten Namen. Mauritz. Ein wenig alltäglicher Name und sie war wirklich erleichtert, dass der Nachname dazu nicht passte.
Wann hatte sie zuletzt an Mauritz gedacht? In ihrem Hals baute sich die vertraute Barriere auf, sie griff sich unwillkürlich an den Kragen ihrer Bluse, löste den obersten Knopf, doch es half nicht viel. Um Luft ringend legte sie den Kopf in den Nacken, starrte die stuckverzierte Zimmerdecke über sich an. Natürlich wusste sie genau wann das gewesen war. Sie hätte sich trotzdem gern selber angelogen.
Kurz nach ihrem Abitur und kurz vor ihrem neunzehnten Geburtstag. Ein regnerischer Vormittag Anfang Dezember, ähnlich wie dieser, nur ohne Sturm. Damals, zuhause in Oldenburg. Sie war mit einem der alten Hollandräder, die der Wohngruppe gehörten zu ihm nach Hause gefahren. Nach Tagen voll banger Sorge, Hoffnung und drohender Erkenntnis erreichte der Leidensdruck die notwendigen Bar, um sie zum Handeln zu zwingen.
Sie war durch halb Oldenburg geradelt und tropfnass, als sie endlich den heruntergekommenen Wohnblock erreichte, wo Mauritz seit der Trennung seiner Eltern mit seiner Mutter lebte. Eine klassische Hochhausmietskaserne aus den Siebzigern. Plattenbau, anonym, billig. In den Aufzügen roch es verqualmt, die Müllschlucker stanken, weil jeder seinen Müll hineinwarf, trotzdem das verboten war. Graffiti in dem breiten gekachelten Eingang mit aufgebrochenen Briefkästen. Die Polizei war Dauergast wegen Ruhestörung, Drogenrazzien, Koma saufen, häuslicher Randale.
Vor dem Haupteingang parkte der LKW eines Unternehmens für Möbelentsorgung. Nicht ungewöhnlich, so etwas gab es hier häufiger. Sie drückte sich mit ihrem Rad zwischen Hebebühne und großen Kartons vorbei zum Eingang, als die Packer ein Sofa heraustrugen und Henrike erstarrte. Sie versperrte ihnen den Weg. Die Männer mussten stehen bleiben, musterten sie mürrisch und genervt, doch Henrikes Blick hing an dem khakifarbenen Schlafsofa, das total durchgelegen war. Darauf hatte sie einen guten Teil ihres Lebens der vergangenen drei Jahre verbracht, zusammen mit Mauritz und ihren Superhelden.
Es gab keinen Zweifel mehr, Mauritz war fort. Ohne auf das Gemaule der Männer zu hören, schob Henrike ihr Rad zurück auf die Straße. Rike und Rizzi gab es nicht mehr und der Abend ihrer Abiturfeier war nur eine weitere nutzlose, aber umso schmerzhaftere Illusion.
Sie erinnerte sich nicht mehr wie sie ihr Zimmer im Heim erreichte, wo sie ihren inneren Panzerschrank entriegelte und alles hineinschob, was mit Mauritz, Rizzi und Rike zu tun hatte, so wie die Möbelpacker Mauritz Sofa in den LKW geschoben hatten. Danach stopfte sie die letzten Blätter vonLionWolf,an denen sie gearbeitet hatten in einen Karton, den sie bis heute nie wieder geöffnet hatte. Auch ihre Superhelden, die in ihren Geschichten für die Schwachen dieser Welt kämpften waren für immer fort. Zurück blieb Henrike, allein in einer brutal realen Welt.
Was war wohl aus den Ordnern mit ihrer Grafik Novel geworden? Mauritz zeichnete so unfassbar gut, so wild und facettenreich, bunt wie der Künstler nach dem er sich nannte. Rizzi. Sie war Rike, die Texterin. Widerstrebend erinnerte sich Henrike auch an ihren Traum Schriftsteller zu werden. Mauritz Wunsch war Grafikdesign und Kunst zu studieren, ihrer Germanistik. Am liebsten wollten sie zusammen studieren, irgendwo weit fort von Oldenburg. Sie bildeten sich ein, dass sie damit auch in der realen Welt unbesiegbar sein würden. Aber wie jede Tragödie endete dies alles vorzeitig mit einem Kuss und einem Sofa, das entsorgt werden sollte. Sie schrieb nie wieder etwas Anderes als Einkaufszettel, Listen, Mailings oder korrigierte Lührsens Reden, sodass sie nicht im Pathos ertranken. Sogar ihre Emails waren seitdem keine Ausgeburt an Eloquenz. Warum hatte sie nie online nach Mauritz gesucht?
Entschlossen nahm sie ihr Handy, es war kurz vor zehn und Lührsen sicher unterwegs. Mit erstaunlich zittrigen Fingern tippte sie die Nummer der Praxis für Psychotherapie von Mauritz Thibault. Anrufe bei Ärzten waren die einzigen, wo Henrike es schamlos ewig klingeln ließ. Die brauchten einfach lang und man musste hartnäckig sein. Ansonsten brach sie jedes Telefonat ab, wenn der Angerufene nicht nach drei oder viermal läuten annahm oder sie sprach knappe Sätze auf eine Mailbox. Sie wartete lieber höflich einen Rückruf ab. Wer im Zeitalter von Smartphones nicht sofort ans Telefon ging, der wollte ihrer Meinung nach nicht telefonieren, was es zu respektieren galt, wenn man von den Leuten etwas wollte.
Also ließ sie es klingeln, auch wenn ihr Puls mit jedemtuuttuuutein paar Schläge höher fuhr. Was sollte sie sagen? Was fragen? Wieso machte sie das?
„Thibault?“
Beinahe hätte Henrike das Handy fallen gelassen. Überrascht zwinkerte sie, überlegte fieberhaft ob sie aus Versehen eine private Nummer gewählt hatte oder einen Vertipper reingehauen, der blöderweise die direkte Durchwahl zum Psychologen war. Sie ächzte überfordert, am anderen Ende herrschte fragende Stille.
„Äh“, sie pumpte Luft in ihre Lungen, „hier ist Henrike Leuenstein.“ Fast stotterte sie ihren Namen, wie peinlich. „Ich rufe wegen eines Termins an, aber ich wollte nicht stören.“
„Sie stören nicht“, erwiderte eine ruhige Männerstimme, freundlich neutral, „entschuldigen Sie bitte meine unkorrekte Annahme dieses Gesprächs, ich habe nicht aufs Display geschaut, weil ich einen anderen Anruf erwarte. Die Praxiszeit ist eigentlich erst ab zehn.“
Okay, Henrike spürte Schweiß auf ihrer Oberlippe, den sie mit der anderen Hand wegwischte. Das hätte sie sehen müssen, wenn sie denn mehr als den Vornamen wahrgenommen hätte. Ihr Herz wummerte ihr in den Ohren. Sie sollte das sofort beenden, eigentlich umgehend und ohne noch mehr Gestammel einfach auflegen. Ein Psychologe sollte so eine grobe Unhöflichkeit aushalten. Sie schluckte und bewegte zögernd das Handy ein paar Zentimeter vom Ohr weg, bereit das rote Kreuz zu drücken.
„Meine Mitarbeiterinnen sind noch nicht da, kommen aber jede Minute“, fuhr die Stimme fort. Sie klang angenehm, durchaus Vertrauenerweckend, männlich selbstbewusst, ohne überheblich zu sein. Eine gute Stimme für einen Therapeuten. Dem hörte man gern zu. Henrike holte Luft. Für ihre Verhältnisse war sie weit gekommen, nun sollte sie auch fragen.
„Mit der Terminvergabe stehe ich echt auf Kriegsfuß.“ Jetzt meinte Henrike sogar einen Hauch von verschämten Lächeln zu hören. „Wenn Sie möchten, ruft man Sie in ein paar Minuten zurück und Sie können einen Termin vereinbaren. – Sind sie schon Klientin bei uns? Wie war gleich Ihr Name? Ich notiere das schnell.“
„Danke“, erwiderte sie zaudernd, „das ist sehr zuvorkommend von Ihnen.“ Henrike bemühte sich um einen souveränen, geschäftsmäßigen Jargon, im Zweifelsfall erlebte der Mann sie noch früh genug in aufgelöster Form. „Mein Name ist Henrike Leuenstein und nein, ich bin bisher noch nicht bei Ihnen in Behandlung gewesen. Ich bin leider auch nur noch die nächsten zehn Minuten erreichbar. Ansonsten melde ich mich noch einmal.“
So vermied sie, dass die Meyer ungünstig ins Telefonat platzte. Angespannt blickte sie zur Tür, versuchte zu hören ob sich auf dem Flur irgendetwas tat, doch der Sturm heulte zu laut und den Rest übertönte ihr aufgebrachtes Herz. Darüber bemerkte sie nicht die Stille am anderen Ende der Leitung. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder vollständig auf den Herrn Thibault richtete, hörte sie ihn merkwürdig schnaufen.
„Ahh, verflixt“, sagte er mit deutlich zerknirschtem Unterton, „neue Patienten kann ich derzeit nicht aufnehmen, Frau Leuenstein, das tut mir ehrlich leid, ich bin komplett voll. Absolut keine Kapazitäten mehr. Wenn Sie möchten gebe ich Ihnen gern eine Empfehlung für einen Kollegen, der sich garantiert kompetent um Sie kümmert.“
Erleichterung wirbelte wie ein Tornado durch Henrike hindurch, gefolgt von diffuser Enttäuschung. Sie schluckte und senkte den Kopf.
„Nochmals danke, für Ihr Angebot, aber nein, im Moment möchte ich keine andere Empfehlung. Eventuell kann ich ja noch einmal anrufen und danach fragen, oder?“
„Natürlich, jederzeit gern, Frau Leuenstein. Dann wünsche ich Ihnen alles Gute.“
Und weg war er. Henrike ließ verwirrt das Handy sinken. Zu dem Mann wäre sie wahrscheinlich schon allein wegen seiner schönen Stimme gegangen. Allerdings sollte es wohl nicht sein. Vielleicht wäre das Schicksal bei der ältlichen Frau Psychologin kooperativer?
Angespannt rollte sie etwas mit ihrem Stuhl herum, dabei fielen ihr die abgewetzten Stellen in dem alten Parkett auf. Sie sollte eine Matte unter ihren Stuhl legen lassen. Und nein, für heute war das Thema Psychologe beendet. Auf sie warteten noch genug andere Energiefresser. Einer davon schlurfte soeben mit glitzernden Schlappen wieder ins Büro und setzte sich wortlos an ihren Platz. Auch egal.
Henrike stand mit einem kraftlosen Schwung auf und verließ ihrerseits wortlos das Büro. Sie musste etwas essen, sonst kippte sie demnächst um. Mit schweren Schritten tappte sie die breite Freitreppe hinunter in die prunkvolle Halle der Villa, wo der Getränke- und Süßigkeitenautomat einen unschönen anachronistischen Akzent setzte.
Durch die Türen der anderen Büros hörte sie geschäftige Stimmen, vereinzeltes Gelächter. Am Freitag waren die meisten Angestellten schon unterwegs ins Wochenende. Freitage waren nicht die produktivsten Tage, schon gar nicht, wenn der Chef sich im Rathaus aufhielt. Bis er wiederkam waren die meisten weg. Nur sie nicht.
Mit geschürzten Lippen ließ Henrike ihren Blick über die verschiedenen Fächer schweifen. Was davon sollte sie wählen? Ihr Magen zog sich bei allem was sie sah schmerzhaft zusammen, doch es musste sein. Snickers? Mars? Ein fettes Bounty? Oder das schneidige Twix? Lieber ein paar Gummibärchen? Ohne es zu bemerken blieb ihr Blick unendliche Sekunden an einem Lion hängen, dieses vertraute Logo. Etwas überrollte sie. Es tat weh. Verdammte Scheiße, sie keuchte und krümmte sich wider Willen. Mauritz hatte ihr so oft ein Lion mitgebracht.Löwenfutterhatte er es genannt, für seine Löwin. Ma lionne. Leider gab es nichts Ähnliches was mit Wölfen zu tun hatte. Ein Lion hatte sie seitdem nie wieder gegessen, beim Einkaufen nicht einmal wahrgenommen. Heute würde es ihr Lichtblick werden. Sie warf ein paar kleine Münzen in den Schlitz und zog die entsprechende Lade auf. Wie einen Schatz trug sie den Schokoriegel ins Büro hinauf.
Um halb zwölf brachte ein Bote drei Kleidersäcke samt Schuhtaschen. Henrike nahm sie entgegen und drückte dem Mann ein Trinkgeld in die Hand. Ohne eine Erklärung abzugeben hängte sie die Säcke an ihren Aktenschrank. Man sah die Fragen wie hysterisch aufpoppende Sprechblasen auf Frau Meyers Gesicht. Sie rang ganz offensichtlich mit sich, ob die Info es wert war, sich mit ihrer Neugier vor der Leuenstein eine Blöße zu geben.
Henrike setzte sich wieder. Sicherlich würde sie keinen der Säcke im Beisein von Frau Meyer öffnen und keine schelmischen Selfies an Senator Lührsen schicken. Die Meyer war in einer halben Stunde weg, dann blieb ihr noch Zeit einen Blick zu riskieren bis Lührsen wiederkam. Dem würde sie vorlügen, dass die Kleider eben erst geliefert worden waren.
„Große Pläne fürs Wochenende, Frau von Leuenstein?“, säuselte die Meyer und schickte ein bezeichnendes Zwinkern zum Aktenschrank. Henrike zuckte ausdruckslos die Achseln. Sie bräuchte nur den heutigen Terminkalender anschauen, dann würde ihr die Erleuchtung wohl kommen.
„Nein, keine großen Pläne.“
„Dann vielleicht ein schöner kleiner?“, bohrte sie weiter. Henrike stellte erstaunt fest, dass die Frau sie aggressiv machte. Normalerweise war ihr berufliches Fell undurchdringlich was derlei albernes Geplänkel anging, doch heute hatte sie bereits um kurz nach sieben alle Geduld verpulvert.
„Nein, auch keinen kleinen, Frau Meyer. Es geht Sie nichts an.“
Pikiert krauste die Sekretärin ihre Nase. „Man wird doch noch höflich fragen dürfen und Interesse an seinem nächsten Kollegen zeigen. – Gott, sind Sie mal wieder empfindlich.“
Malwieder? Empfindlich?Henrike war sicherlich vieles und vieles davon war nicht besonders super, aber empfindlich war nicht das Attribut, dass sie beschrieb. Ganz sicher nicht.
„Sie haben kein Interesse an mir, Frau Meyer“, erwiderte sie eisig,
„und höflich sind Sie normalerweise auch nicht. Sie tun nur so. Wir arbeiten in einem Büro, mehr nicht. - Ich habe zu tun.“
Damit herrschte absolute Stille im Büro, bis Frau Meyer Schlag zwölf Uhr grußlos ins Wochenende abrauschte. Die Tür schepperte hinter ihr zu und Henrike brach auf ihrem Schreibtisch zusammen, als hätte jemand ihren Stöpsel gezogen. Zurück blieb eine leere Hülle. Ab Montag würde sie hier die Hölle auf Erden erleben. Sie war so dämlich. Eine Sieglinde Meyer machte man sich nicht mutwillig zum Feind.
Minutenlang lag sie den Kopf zwischen ihren Armen vergraben auf dem Schreibtisch. Der Regen prasselte mit neuer Kraft gegen die Scheibe, unten in der Halle rumste immer wieder die schwere Eingangstür ins Schloss. Die Kollegen verließen ihre Büros um nach Hause zu gehen. Nach Hause zu Familie, Freunden, Partnern, wo sie ihre zwei freien Tage genossen, sich erholten und am Montag lustige Geschichten zu erzählen hatten. Vielleicht noch etwas verkatert waren, frotzelten, dass sie unbedingt Wochenende bräuchten. Wieso schaffte sie das nicht?
Weil sie ihren Karren in den Dreck gefahren hatte und zu schwach, zu armselig oder zu dumm war, um ihn wieder heraus zu manövrieren. Schwerfällig stemmte sie sich auf die Beine und trat zu den Kleidersäcken. Sie musste auch das hinter sich bringen. Eine SMS von Lührsen dudelte. Es stand außer Frage was er wissen wollte.
Sie seufzte und zog den ersten Reißverschluss auf. Eine Wolke aus bordeauxroter Seide quoll ihr entgegen. Ein schulterfreies Abendkleid mit Schleppe, dezent bestickt, kein Glitzer, keine Perlen, dafür ein voluminöser Seidenschal um die Schultern, der in schimmernden Falten garantiert alles auf Püppchengröße reduzierte, was in ihm steckte. Ein Schneewittchenkleid. Es war traumhaft und Henrike vermied den Blick auf das Markenschild am Reißverschluss.
Im zweiten hing ein knallenges, superkurzes kobaltblaues Cocktailkleid, das bei jeder Bewegung massiv glitzerte. Dazu ein tiefer Ausschnitt. Abermals entglitt Henrike ein Seufzer. Das war genau Lührsens Geschmack. Eigentlich brauchte sie in den dritten gar nicht mehr hineinschauen. Sie öffnete ihn nur proforma. Ein schwarzes Kleid, schlicht, figurbetont wie ein Schlauch. Der Clou war der asymmetrische Schnitt mit einer freien Schulter und einem freien Knie.
Ergeben griff sie nach ihrem Handy und las Lührsens SMS. Kleider schon da?
Er hielt knappe Textnachrichten für besonders jugendlich und natürlich für sehr ergonomisch. Keine Zeit mit Grußformeln verschwenden, schließlich wusste der Empfänger ja wer schrieb. Manchmal fragte Henrike sich, ob er wusste, dass er eine Flatrate besaß und keine horrenden Preise mehr für eine SMS bezahlte. Aber genau genommen hatte Henrike es längst aufgegeben, mit gutem Beispiel voran eine vorbildliche Kommunikation zu führen. Mittlerweile schrieb auch sie nur noch in essentiellen Sätzen.
Kamen eben, anbei Fotos.Sie knipste die drei Säcke und schickte ihrem Chef die Bilder. Das war nicht das Spiel, das er sich vorstellte, doch sie hatte bei der Meyer schon alles vermasselt, da machte Lührsen heute auch nichts mehr. Diese minimale Selbstbestimmung gönnte sie sich.
Seine Antwort kam prompt. Henrike rollte die Augen. Der Mann sollte eigentlich beim Essen sitzen. Sie griff in Erinnerung an ihren eigenen Magen nach dem Lion und riss es auf. Zögernd biss sie in die Schokolade, kaute die karamellisierten Nüsse und kämpfte mit den Tränen. Es schmeckte noch genauso wie früher.
Fotos mit Ihnen, bitte, will sehen, was passt.Sie schloss kurz die Augen, biss wieder in den Schokoriegel. Okay, dann halt mit ihr. Sie stellte sich neben Sack eins, hielt das Handy mit ausgestrecktem Arm hoch und machte ein Bild, das gleiche mit zwei und drei. Senden.
An sich so blödsinnig unnötig. Sie war sich sicher welches Kleid Lührsen wählen würde, egal ob es ihr stand oder nicht. Ihre Wahl wäre auf das rote gefallen. Es war wundervoll. Aber sie würde mit dem blauen Nuttenkostüm bei der Vernissage an Lührsens Seite stehen.
2,dudelte das Handy. War ja klar. Sie warf das Handy auf den Schreibtisch und setzte sich, um sich endlich um ihre Fingernägel zu kümmern und drei Zimmer in einem Hotel in Bremerhaven zu buchen.
„Sie werden großartig aussehen, Henrike!“, rief Lührsen schon während er die Tür zum Büro aufstieß, Henrike schrak zusammen. Er kam zu früh. „Das wird ein fantastischer Abend!“
Der Schweiß brach ihr aus. Das war sicher Ansichtssache. Mit dem blauen Kleid erst recht. Lührsen steuerte ohne Umwege auf die geöffneten Kleidersäcke zu, blieb vor dem knallblauen Teil stehen. Langsam erhob sich Henrike von ihrem Bürostuhl, verharrte aber abwartend hinter ihm. Sein Fahrer, Jens Wolter, erschien in der Tür, er verzog das Gesicht als er Henrike sah. Wahrscheinlich ahnte er, welche Gratwanderung sie jeden Tag vollführte und das sie heute eine massiv erhöhte Chance bekam, sehr schmerzhaft abzustürzen. Jens war nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber ein grundlieber, anständiger Kerl.
Lührsen winkte ihn herbei. „Ist das nicht rattenscharf, Wolter?“ Er deutete enthusiastisch auf das Kleid. „Wie für die Leuenstein gemacht, oder?“ Um Zustimmung heischend schaute er den jungen Mann an. Jens interessierte sich nur für Autos und schicke Anzüge. Je fetter und protziger desto besser, deswegen war er Fahrer. Viele PS, Hubraum, Sound und ein maßgeschneiderter Anzug. Das war sein Aphrodisiakum. Er nagte nachdenklich auf seiner Unterlippe herum, betrachtete das Kleid, nickte dann mit einem halben Blick auf Henrike.
„Jau, schon scharf, Chef.“
„Danke“, murmelte Henrike mit einem gequälten Lächeln das keiner bemerkte, „das rote wäre natürlich stilvoller, Herr Lührsen.“ Ein hilfloser Versuch etwas zu retten, was vom ersten Moment an unrettbar verloren war. Lührsen wedelte entsprechend abwehrend mit der Hand, schaute sie dabei nicht einmal an.
„Nein, nein, Frau Leuenstein, eine Vernissage hat nichts mit Stil zu tun. Da dürfen Sie zeigen was Sie zu bieten haben. – Welches Hotel haben Sie uns gebucht? Da mag ich es eher stilvoll.“ Ohne ihr den Kopf nennenswert zuzuwenden, schielte er zur Seite. Henrike biss die Zähne aufeinander. Sie hatte ein unter Null Bedürfnis irgendetwas zu zeigen, geschweige denn etwas zu bieten. Schon gar nicht in Lührsens Beisein. Wolter grinste gezwungenermaßen.