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Susanne Erhard, 1966 in Paris geboren, arbeitet als freischaffende Autorin und Therapeutin in der Nähe von Memmingen, wo sie mit ihrem Mann, Pferden, Eseln und Katzen auf einem Bauernhof lebt. Bisher hat sie verschiedene Krimis veröffentlicht, mehrere Liebesromane, sowie einen historischen Roman, die alle im Allgäu spielen, außer dem siebenbändigen "Sunrise"-Zyklus.
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Seitenzahl: 705
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für Dich! In Liebe!
Die Handlung und die Personen des vorliegenden Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Verwendung von Namen bestehender Institutionen, Einrichtungen oder Unternehmen ist schöpferisches Stilmittel. Der Autor hat zahlreiche Quellen für die Recherche genutzt und beabsichtigt keine persönlichen Ansprüche verletzen zu wollen.
Susanne Erhard
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2022Susanne Erhard
Verlag:edition sunrise, Niederrieden
Herstellung: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 978-3-910537-02-6
Henrike
Joris Büro war nur bedingt weniger eindrucksvoll als der hanseatische Prunksaal seines Vaters. Der Ausblick aus den großen Rundbogenfenstern sogar noch fantastischer. Sie schaute auf die Weser, die hier im alten Hafen korrekt begradigt und kanalisiert dahin strömte. Egal, Wasser war immer gut für die Augen, Seelenbalsam. Heute war die Weser so grau wie der Tag. Ein kräftiger Wind verlieh den Wellen weiße Schaumkronen. So wunderhübsch.
Sehnsüchtig glitt ihr Blick über die Szene unter sich, rostige Hafenbefestigungen, glitzernde Glasneubauten, ein Binnenfrachter der mit aller Kraft gegen die ziehende Ebbe flussaufwärts stampfte. Im Heck beim Kran parkte ein alter Fiat Panda. Das fand Henrike immer lustig. Und an der Wäscheleine zwischen Leitstand und Schlot flatterten weiße T-Shirts im Wind. Diese Binnenfrachter kamen ihr meist so vor wie die Wohnwagen des fahrenden Volks. Manchmal hatte sie diese Menschen beneidet, wenn sie am Osterdeich aus dem Fenster schaute. Sie bewegten sich zwar auf klar definierten Straßen aus Wasser, doch schienen sie ihr trotzdem unglaublich frei zu sein. Heute hier, morgen fort, während Henrike in ihrem Leben gefangen festhing.
Eine Woge von Freude schwappte über sie hinweg und sie senkte mit klopfendem Herzen den Kopf. Heute war sie glücklich hier zu sein, sogar allein ohne Joris. Insgesamt war sie seit Wochen so glücklich wie vermutlich noch nie seit ihrem zehnten Lebensjahr. Sogar in der Zeit mit Mauritz war alles außer ihm furchtbare Finsternis, eine grausame Welt in der sie nicht leben wollte, aber musste. Jetzt war diese Welt trotz Novembergrau lichtdurchflutet, warm, voll Freude. Ja, aus Scheiße war etwas unglaublich Wunderbares hervorgegangen.
Ein Email bimmelte. Überrascht huschte ihr Blick zu Joris PC. Seit mehr als einer Stunde versuchte sie sich möglichst sinnvoll allein zu beschäftigen, obwohl sie am Tag zwei ihres neuen Assistentenjobs null Ahnung hatte wie die Dinge bei derWolfhagen AGliefen. Aber sie musste Joris ins Krankenhaus schicken, er war seit gestern Abend ein Nervenbündel und als sein Vater anrief, während sie ihre Mittagspause am Kapitänstisch verbrachten, um seinem Sohn zu sagen, dass er um vierzehn Uhr ein Arztgespräch über die Ergebnisse des gestrigen MRTs haben würde, war Joris nur noch körperlich anwesend gewesen.
Das brauchte niemand. Natürlich wollte er sie nicht allein im Büro zurücklassen, natürlich mimte er ein bisschen den harten Kerl, eine Rolle für die er so gar nicht gecastet war. Als sie ihm das sagte, lachte er freudlos und war unübersehbar erleichtert das er gehen durfte.
„Ich hole dich nachher ab“, stammelte er schon mit der Jacke in der Hand, „mach dir keinen Stress hier.“
Henrike nickte mit einem sanften Lächeln. „Mach hinne, Joris, und im Zweifelsfall kann ich auch mit dem Bus heimfahren, also, mach auch du dir keinen Stress. Bleib bei deinem Vater solange du willst. – Fahr vorsichtig.“
Mit sehr gemischten Gefühlen ruckelte sie an der Maus, damit der Bildschirm wieder anging und klickte auf die neue Nachricht. Unwillkürlich musste sie schmunzeln. Joris Wolfhagen schrieb von seiner privaten Emailadresse an Joris Wolfhagen COO. Aber die Mail war an sie. Warum hatte er ihr nicht aufs Handy geschrieben? Joris hatte ein bisschen getobt, weil die IT ihr am zweiten Tag noch keinen PC samt notwendigen Accounts hingestellt hatte.
Wir warten gerade auf den Arzt, schrieb Joris, dahinter ein genervter, augenrollender Smiley,das kann dauern. Da wir heute Morgen zusammen aufgestanden sind, was echt super war,hier setzte er eine pulsierende Sonne,bekommst Du Deinen täglichen Song halt jetzt. Vielen Dank, dass Du mich gestern getröstet hast. xxx J.
Im Anhang der gewohnte Link zu YouTube. Ich + Ich, las Henrike verwundert,Vom selben Stern.Zur Sicherheit überprüfte sie erst die Lautstärke am PC, bevor sie den Link anklickte, nicht das die ganze Etage beschallt wurde. Wobei derzeit ja nur sie, Hauke Wolfhagens Assistentin, seine Sekretärin und die Assistentin seiner Mutter hier herumwuselten und auf extrem wichtig machten. Davon abgesehen waren sie echt umgänglich.
Versonnen lauschte Henrike der Stimme von Adel Tawil, echt cool, den Song hatte sie ewig nicht gehört und eigentlich auch noch nie genau auf die Lyrics geachtet. Wie passend. Ja, manchmal sah es so aus, als seien Joris und sie vom selben Stern, obwohl sie in allen Bereichen ihres Lebens und ihres Seins unterschiedlicher nicht sein konnten und sie hatten sich gegenseitig den Schmerz genommen. Versonnen lauschte sie, spürte dem Gefühl nach. Seit Joris in ihr Leben getreten war, fühlte sie sich geborgen, das war so warm mit ihm, er spielte nicht mit ihr. Der erste Mensch, der keine emotionalen Daumenschrauben ansetzte um sie auf seiner Spur zu halten. Mit Joris durfte sie ihre eigene Spur hinterlassen und er fand diese Spur sogar gut, bestärkte sie weiter ihren Weg zu gehen.
Am Abend zuvor sprach Joris zum ersten Mal offen über seine Befürchtungen, was hinter der Gelbsucht seines Vaters stecken könnte. Ungewohnt schüchtern fragte er im Bett, als sie das Licht schon ausgemacht hatten, ob sie ihn in die Arme nehmen könnte, nur ein bisschen.Halt mich, bis ich schlafen kann,zitierte er Herbert Grönemeyer. Joris schreckte musikalisch vor nichts zurück. Überhaupt war er auf seine eigene Art ein außerordentlich mutiger Mensch.
Keine Frage, dass sie ihn ohne Zögern an sich zog und ihre Arme um ihn legte. Bei Joris war das so einfach und immer richtig. Er kuschelte sich an sie, barg seinen Kopf an ihrer Schulter, wobei seine Nasenspitze an ihre Brust stieß. Ihr stockte nur kurz der Atem vor Schreck, aber der Übergriff blieb aus. Mal wieder. Sacht streichelte sie seinen Rücken, barg seinen Kopf noch näher an ihrem Hals. Er ächzte leise, verkrampfte sich im Bemühen seine Gefühle in Schach zu halten.
In Henrike wogte die Liebe, machte sie ganz weich und wattig im Kopf, pulsierte in ihr. Das alles hatte verwirrender Weise wie immer nichts mit Sex zu tun, vergeblich wartete sie einmal mehr auf den Startschuss zum Vögeln. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass kein Mann derart an ihr hängen konnte, ohne auch seinen Schwanz zu versenken oder an ihren Möpsen fummeln zu wollen. Doch Joris wollte etwas Anderes. Er war ihr Freund. Mit Begehren hatte das nichts zu tun.
„Ich habe mal gegoogelt“, nuschelte er halb unter der Steppdecke, sie brummelte schläfrig, ignorierte ihre seltsamen, immens tosenden Gefühle.
„Was?“
„Was schon?“ In seiner Stimme klang eine Spur von Spott.
„Natürlich, wie ich dich zu einer Ehe mit mir zwingen kann.“
Für eine klitzekleine Sekunde bekam ihre zärtliche Blase ein paar Risse, sie war sich nicht sicher, ob er sie gnadenlos verarschte oder eine unerfreuliche Wahrheit blubberte, sie zuckte sogar leicht zusammen, doch seine Hand strich ihr beruhigend über den Rücken.
„Bullshit“, er lachte leise, was ihn an ihrer Schulter wackeln ließ,
„sorry, nein, ich habe nachgelesen, was alles an der Leber kaputt sein könnte. Leberkrebs, Leberzirrhose, Organversagen, AIDS. Echt extrem gruselig. Ich habe total Angst um Dad. Der war noch nie krank. Was, wenn er etwas Schlimmes hat? Was, …“, er presste seine Stirn an ihre Brust, atmete angestrengt „wenn er stirbt.“ Die letzten Worte sprach er kaum hörbar, aber ein Ächzen entwich seinem verkrampften Körper.
Sie zog ihn noch enger an sich, wollte ihn so gern trösten und etwas Mut machen, was er sich mit einem peinlich berührten Grunzen gefallen ließ. „Lass den Scheiß, Joris“, erwiderte sie sanft und sie ertappte sich dabei, dass ihre Lippen zart über seine Schläfe strichen, „Krankheiten im Internet zu recherchieren ist wirklich dämlich. Da führt jedes mickrige Symptom zu einer unheilbaren, garantiert tödlichen Krankheit. Morgen wissen wir sicher mehr. Hoffen wir einfach das Beste.“
Ihr Handy brummte auf dem eleganten Schreibtisch aus Glas und Nussbaumholz und riss sie aus ihren Gedanken. Joris. Sie griff nach dem Handy und nahm das Gespräch an.
„Moin, mein interstellarer Partner“, frotzelte sie, obwohl sie just befürchtete, dass sein Anruf keinen guten Grund haben könnte. „Du warst 2007, als der Song modern war doch noch viel zu klein für Musik.“
„Wawawa“, äffte er sie fröhlich nach, „als Beethoven seine neunte Sinfonie komponierte, war ich sogar noch nicht einmal Sternenstaub und trotzdem höre ich mir das an. – Wir warten noch immer, Dad sollte die Krankenversicherung wechseln. Echt, wenn wir so arbeiten würden, wären wir mit unserer Firma nicht bis zur fast vierten Generation gekommen. – Ich habe Lust heute Essen zu gehen, kommst du mit?“
Mit einem halben Auge schielte sie zur Uhrzeit. Fast fünfzehn Uhr, der Termin hätte also schon vor einer Stunde sein sollen. Alles klar. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Essen gehen? Kurz hielt sie inne, eine schöne Idee, doch dann fiel ihr ein, dass sie ihren Termin mit Thibault auf den heutigen Abend verschoben hatte. Sie grummelte zerknirscht.
„Ich hätte eigentlich meinen Termin mit dem Psychologen“, stotterte sie unerwartet unschlüssig. Sie schlug Joris nur ungern etwas ab, „den müsste ich verschieben. Das geht wahrscheinlich.“
Joris stieß ergeben Luft aus. „Richtig, der Psycho hat heute das Vergnügen mit dir. Dann verschieben wir das. So wie du gestern gestrahlt hast, will ich dir dein Date mit dem nicht versauen. – Ansonsten alles okay bei dir?“
„Ja, alles okay, ein Freund hat mich mit einer Email und YouTube Videos vom Arbeiten abgehalten.“ Sie lachte entschuldigend.
Übermütig fiel er in ihr Lachen ein. „Solange es nicht der Schmusestimmen-Psycho ist und es dir Spaß macht, ist mir das egal. Mir ist als Chef wichtig, dass meine Mitarbeiter gut drauf sind. – Dann bis nachher, Henrike, ich glaube, da kommt der Arzt endlich.“
„Nein, das war mein Sternen-Freund, ein wundervoller Mensch, der mir sehr wichtig ist. Bis nachher, Joris.“
Sie wischte ihn schnellstmöglich weg, das war ein ungeplant emotionales Statement, das ihr schon peinlich war bevor sie den Satz beendete. Nachdenklich schnippte sie das Handy vor sich im Kreis auf der glatten Tischplatte herum. Ehrlich, es war ihr außerordentlich unangenehm gewesen, dass Joris gestern Abend bemerkte wie toll sie den Thibault fand und wirklich überrascht war, als sie ihm erklärte, sie habe keine Ahnung wie der Mann aussah. Aber seine Stimme war wie eine samtige Kuscheldecke. Und er hatte eine schöne Art zu reden, sehr feinfühlig und achtsam. Ein guter Gesprächspartner mit viel Humor, der sich anscheinend auch selber nicht immer über Gebühr wichtig nahm. Sie mochte ihn.
Joris wollte nicht glauben, dass auf seiner Homepage kein Foto sei, griff nach ihrem Tablet und fing an zu suchen. Sein Männerego wollte sich messen, witzelte er schnoddrig, nicht, dass Monsieur Schmusestimme ihn unbemerkt bei ihr ausstach und ihm die Braut wegschnappte. Henrike quiekte vergnügt. Sein Suchergebnis war genauso unergiebig, wie es Henrikes gewesen war.
Diesen Mann gab es nicht. Joris fand das ansatzweise verdächtig. Komisch jedenfalls. Er fantasierte eine Story vom bösen Psycho, der seine Kundinnen mit seiner Stimme becircte um sie sich gefügig zu machen. Henrike fand das nicht lustig, echt nicht.
„Ich mache es wie Odysseus“, zischelte sie ungnädig, „mit Wachs in den Ohren konnten dem die Circen nix.“
„Das waren Sirenen, Henrike.“
Abwesend starrte Henrike wieder aus dem Fenster. Komisch war das auf jeden Fall, aber auch der andere Mauritz war ja unauffindbar. Vielleicht war es wirklich möglich sich aus dieser vernetzten Welt heraus zu halten? Früher musste man Telefonbücher wälzen oder Privatdetektive engagieren, wenn man jemanden finden wollte und Fotos gab es auch nicht in der inflationären Menge. Heute wunderte man sich, wenn keine schlecht bearbeiteten Selfies auf Instagram gepostet wurden, keine Google-Fotoalben vom letzten Strandurlaub öffentlich zugänglich waren, oder man den Beziehungsstatus bei Facebook nicht checken konnte. Sie war sich nicht schlüssig wie sie das fand. Es war gut und schlecht zugleich. Die schlechteste Seite des Internets hatte sie am eigenen Leib erfahren. Und dieser Shitstorm würde auf ewig im Netz zu finden sein. Dort ging nichts verloren, womit es irgendwann gefüttert worden war.
Okay, sie rollte ihren Bürostuhl vom PC weg. Sie sollte etwas tun. Unsicher fing sie an Joris Terminkalender für den morgigen Donnerstag zu prüfen und die dazugehörigen Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen zu suchen. Insgesamt suchte sie mehr als das sie fand, doch nur so würde sie das System hoffentlich irgendwann durchschauen. Try and error. Immerhin saß ihr hier niemand drängelnd im Nacken, hier lauerte keiner auf ihren nächsten Fehler. Sieglinde Meyer war so gnadenlos gewesen. Manchmal lockte sie Henrike regelrecht in eine Falle, damit Lührsen sie rügte. Vorbei, total endgültig vorbei. Henrike schüttelte sich um diesen Schatten los zu werden. Auch Sieglinde Meyer war nur ein Produkt ihrer Geschichte. Eigentlich sollte sie Mitgefühl für die Frau empfinden.
Hier beiWolfhagenerlebte sie das Gegenteil, sie wurde regelrecht hofiert. Das Liebchen vom Chef war sie noch nie gewesen. Eigentlich wollte sie das auch nicht sein.
Am Tag zwei sollte sie sich jedoch noch nicht daran stören, sondern es genießen so lässig in einen neuen Job zu tänzeln. Es musste ja nicht immer einer Form von Horror gleichen. Gegen halb vier brachte ihr Claudi Jensen, Hauke Wolfhagens Assistentin einen Kaffee. Sie bedankte sich freundlich. Die ältere Frau war sichtlich um eine konkurrenzfreie Atmosphäre bemüht, die Henrike ihr nur zu gern gewährte. Henrike war nicht der Meinung, dass Konkurrenz irgendetwas belebte. Eine völlig überholte Manageridee, die sicherlich noch nie wirklich funktioniert hatte. Miteinander, Unterstützung, Respekt, das sollte gelebt werden. Daraus entstand Produktivität. Joris sah das genauso und versuchte die Firma entsprechend behutsam an seinen Eltern vorbei in die richtige Richtung zu dirigieren.
Sie plauderten ein paar Minuten, tauschten harmlose Belanglosigkeiten aus, auch das empfand Henrike als erleichternd. Kein nerviges Erwachsenen-Quartett im Stil von: mein Haus, mein Boot, meine überschlauen, hochsensiblen Indigo-Mensa-Kinder, mein Yoga-Lehrer. Nein, Claudi war einfach nur nett. Unspektakulär, normal und offensichtlich froh, dass der Junior-Chef keine Karrieretussi auf die Etage geschleppt hatte. Henrike stieß ihre Kaffeetasse prostend gegen ihre, als Claudi das hübsch diplomatisch formulierte und lachte.
„Auf gute Zusammenarbeit, Frau Jensen, die Karriere hat mich angeschaut und hysterisch die Kurve gekratzt. Ich bin an sich immer froh, wenn man mir nix tut und ich tue garantiert niemandem etwas mit Absicht.“
Bevor die Assistentin antworten konnte, dudelte Henrikes Handy erneut. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl und linste über die Schulter zum Schreibtisch. Eine Nachricht von Joris. Unwillkürlich sog sie die Wangen ein und angelte nach dem Handy.
„Der Junior“, murmelte sie zur Erklärung auf den interessiert fragenden Blick der Assistentin. Ihr Instinkt schlug Alarm. Rational gab es keinen Grund, doch Henrike sah die roten Warnleuchten regelrecht blinken. Bang wischte sie über das Display, sah als erstes, dass Joris noch online war, also vermutlich auf ihre Antwort wartete. Eine Antwort auf das, was etwas in ihr nicht lesen wollte, auch wenn sie nicht wusste warum. Sie kaute zeitschindend an ihrer Unterlippe, richtete dann zögernd ihren Blick auf die wenigen Zeilen.
Leberkrebs, las sie bestürzt und das Wort krümmte sie schockartig über ihrem Handy, als hätte es ihr die Wirbelsäule in Gummi verwandelt. Ächzend rang sie nach Luft,Metastasen im Bauchraum. Medizinisch geht wahrscheinlich nix mehr, außer rauszögern. Der Doc hat nur bedauernd die Schultern gezuckt. Das ist ein falscher Film. Wir sitzen hier, Dad trinkt seinen Nachmittagstee und ich zähle die Fliesen auf dem Boden. 17 mal 20 Reihen. Die Fliesen sind echt dreckig.
Nicht wahr. Sie war versucht es wie Joris zu machen und einfach mal den Boden anzustarren, doch dieser hier war blitzblank und bestand aus edlem Parkett, hübsch in einem Fischgrätmuster gelegt. Leberkrebs? War das möglich? Fuck, der Mann war doch nur gelb im Gesicht. Ihm war ein bisschen schlecht und schwindelig.
„Frau Leuenstein?“ Claudi Jensen berührte sie respektvoll an der Schulter. „Alles okay? Ist etwas passiert?“
Henrike schüttelte sich, raufte sich durch ihre locker hochgesteckten Haare, es ziepte, denn sie verfing sich in einem der Kämme. Verstört fingerte sie an dem Kamm herum, steckte ihn wieder fest und bewegte ausweichend den Kopf. Claudi Jensen musterte sie skeptisch. Zweifellos, sie hatte schon besser gelogen. Aber es war nicht an ihr, diese Nachricht in der Firma zu streuen, wie es die Metastasen in Hauke Wolfhagens Bauch taten. Metastasen im Bauchraum. Das klang entsetzlich, auch wenn ihr gerade ein Bild dazu fehlte. Sie schluckte angestrengt und fühlte die ersten Wellen von drohendem Verlust in sich schwappen. Noch ganz klein, wie die zauseligen Wellen denen sie vorhin auf der Weser zugeschaut hatte. Die lustigen T-Shirts im Wind auf dem Frachter. Ihr Hirn jonglierte mit sinnentleerten Gedankenfetzten.
„Nein, nein“, fahrig hob sie die Hände und hängte ein ansatzweise irres Grinsen in ihre Mundwinkel. „Alles okay, nix passiert. Joris hat nur etwas vergessen. Ich muss ihm das jetzt bringen. Danke, für den Kaffee, Frau Jensen.“
Sie hoffte inständig, dass Frau Jensen den Wink mit dem Beil verstand und umgehend in ihr eigenes Büro verschwand, denn sie wollte Joris ungestört antworten. Claudi Jensen hüstelte pikiert, bewegte ein bisschen steif die Schultern und nickte. Mit einer auffordernden Geste deutete sie auf Henrikes Tasse, die noch halbvoll war. Henrike reichte sie ihr notgedrungen, auch wenn sie den Kaffee gern auf den Schrecken getrunken hätte.
Wortlos rauschte Frau Jensen durch die offene Bürotür in den breiten Gang, Henrike blieb allein mit einer Nachricht zurück, die sie grad so gar nicht packte, weder inhaltlich, noch emotional. Das war unmöglich. So etwas passierte nur anderen. So etwas hörte man vereinzelt im Bekanntenkreis, wenn man anstatt über das Wetter zu lästern mit der Überheblichkeit des Gesunden ein paar widerwärtige Krankheiten durchkaute. Man krauste mitfühlend die Nase und murmelte unverbindliche Trostworte und ging sein Glas nachfüllen.
Würde Hauke Wolfhagen sterben? In ihrem Nacken kribbelte es, sie schüttelte sich. Okay, das mussten alle irgendwann. Mika. Mika war zu früh gestorben und auch Joris Vater war für ihr Gefühl noch lange nicht dran. Langsam nahm sie ihr Handy, holte die grausige Nachricht wieder heran, las sie noch einmal. Joris klang wie betäubt. Ungläubig.
Ich bin fast unterwegs, schrieb sie,komme so schnell wie möglich.
Mit bebenden Fingern packte sie ihre wenigen Sachen zusammen, fuhr den PC herunter, griff nach ihrer Jacke an der eleganten Garderobe, an der ein Anzug von Joris in einem Kleidersack verstaut hing und zog sie an, während sie das Büro verließ, hastete zum Aufzug, der ausnahmsweise gefühlte Jahre brauchte bis er in der Chefetage anlangte und noch einmal ein paar Jahrhunderte mehr, um sie unten in der Lobby abzuliefern. Knapp grüßend stürzte sie an den Mädels der Information vorbei.
Sie verschwendete für jetzt keinen Gedanken daran, ob es angebracht war ins Krankenhaus zu fahren oder Joris sie dort überhaupt haben wollte. Keinesfalls ließ sie ihn und seinen Vater mit der Diagnose allein. Flüchtig erinnerte sie sich an Emma Wolfhagen, die in der Karibik herumgondelte. Wusste sie schon Bescheid?
Wie damals, als Mika halbtot in ihren Armen lag, dieses selige Lächeln in den Mundwinkeln, fragte sie sich, wie man als Lebender das Unfassbare des Sterbens verarbeiten sollte? Sie hetzte durch die Automatiktür, ihr Blick sprang zum Hotel hinüber, wo ein einziges Taxi auf dem dafür vorgeschriebenen Parkplatz wartete. Still bedankte sie sich bei demjenigen, der ihr damit den nächsten Schritt erleichterte und extrem beschleunigte. Nur der Form halber schaute sie links und rechts, wetzte dann über die breite Industriestraße auf das Taxi zu.
Der Fahrer ließ mit einem lässigen Blick zur Seite die Scheibe herunterfahren, Henrike verzog das Gesicht zu einem gehetzten Lächeln. Theoretisch kam es nicht auf eine halbe Stunde an, doch sie wollte keine Sekunde vergeuden, für sie war es wichtig. Sie gab sich dafür keine Rechenschaft.
„Moin, ich muss schnellstmöglich zum Klinikum Mitte“, stieß sie hervor, „würden Sie mich fahren? Bitte.“
„Geht klar, junge Frau“, sein Daumen zeigte auf den Rücksitz, „nur rein in die Karre. Dann geht´s gleich los.“
Henrike schwang sich auf den Rücksitz und fingerte an dem Sicherheitsgurt herum. Irgendwie erheiternd, sie hatte sich schon so an die hyperkorrekte Förmlichkeit der Chauffeure gewöhnt, dass dieser Taxifahrer ihr zu schnoddrig vorkam. Wen mochte Jens Wolter jetzt fahren, wo Lührsen kein Senator mehr war? War er an den Nachfolger weitergereicht worden? Das alles war so unendlich weit weg. Ein anderes Leben, eine andere Henrike. Für ein paar Atemzüge lang war sie zutiefst dankbar, sie hatte sich zurückbekommen, Joris kennengelernt und sie mochte Hauke Wolfhagen, egal wie einschüchternd er noch immer auf sie wirkte.
Blicklos starrte sie aus dem Fenster, die Häuserzeilen, Straßen rasten als verzerrte graue Linie an ihr vorbei. Leberkrebs. Sie hatte keine Vorstellung was das bedeutete oder wie der Verlauf sein würde. Krebs verband sie mit furchtbarem Siechtum und noch furchtbareren Schmerzen, doch bisher hatte Joris Vater noch nicht über Schmerzen geklagt. Vielleicht hatte sich Joris missverständlich ausgedrückt oder die Worte des Arztes falsch verstanden und es war gar nicht so dramatisch?
Angespannt zupfte sie an ihrem Pony, vermutlich nicht. Unfug. Sie ging grundsätzlich eher selten davon aus, dass etwas besser als die schlechteste Prognose sein könnte. Meistens kam es sogar noch ärger. Resigniert atmete sie aus. Sie konnte nur versuchen bestmöglich für Joris und seinen Vater da zu sein, wenn die das wollten.
Überrascht schaute sie auf, als das Taxi abrupt anhielt. Der Fahrer hatte ihre Worte offensichtlich sehr ernst genommen und aus der Fahrt eine Trainingsrunde für die Formel 1 gemacht, die ihm definitiv die Pole Position gesichert hätte. Henrike lächelte dankbar, bezahlte und stieg aus. Lange Augenblicke stand sie am Bordsteinrand, atmete tief durch, sie musste unter allen Umständen Ruhe und Sicherheit vermitteln.
Zögernd fummelte sie dann ihr Handy aus der Tasche, um zu schauen was Joris ihr geantwortet hatte. Falls er sie nicht bei sich haben wollte, würde sie wohl oder übel von hier aus nach Hause laufen und dort auf ihn warten. Vielleicht etwas kochen.Danke!war alles, was er geschrieben hatte, dahinter ein rotes Herz.
Okay, dann stand sie also am richtigen Ort. Sie fühlte sich ungewöhnlich erleichtert, auch wenn ihr just einfiel, wie sie Sven Lührsen damals erst ins Krankenhaus, dann ins Hospiz begleitet hatte als seine Frau im Sterben lag. Schon erschütternd wie sich die Dinge wiederholten. Allerdings würde es mit Joris nicht so verlaufen wie mit Lührsen. Garantiert nicht. Sie würde nicht noch einmal den gleichen Fehler machen und Joris war nicht Lührsen.
Doch auch dieses Mal traf es niemanden, den man nur um fünf Ecken und lockere Bekanntschaften kannte, sondern direkt den innersten Kreis. Noch einen stillen Moment gab sie sich. Eigentlich nicht ganz richtig. Genau genommen kannte sie Sabine Lührsen nicht und hart gesagt war auch bei Hauke Wolfhagen das Wort kennen ansatzweise übertrieben. Aber sie kannte Joris und würde das für Joris stemmen. Sie straffte sich, ihr Blick fiel auf eine Bäckerei schräg gegenüber.
Perfekt. Wieder schenkte sie dem Verkehr nur die aller notwendigste Beachtung und spurtete quer über die Straße, die drei Stufen hinauf und in den Laden hinein. Die Glocke über der Tür bimmelte nostalgisch, der Duft von frisch gebackenem Brot, süßen Teilchen, Kaffee wallte ihr entgegen. Ihr Magen knurrte unwillkürlich. Wahrscheinlich konnte man satt sein bis zur Schädeldecke, aber dieser Geruch würde immer die Magensäfte animieren.
Suchend glitt ihr Blick über die Auslagen. Was mochten Vater und Sohn? Er blieb an der Kühltheke mit Torten hängen. Buttercremetorte. Richtig. Frau Thönnies kreierte den Männern Torten, wenn Emma Wolfhagen auf Kreuzfahrt ging, dazu Pharisäer. Und Buttercreme extra. Ein Lächeln stieg in ihr auf, sie schaute hoch, direkt in die Augen der wartenden Verkäuferin, die ihr Lächeln überrascht erwiderte und den Kopf fragend neigte.
„Krankenhausalarm“, sagte Henrike und schürzte die Lippen, was hoffentlich klarmachte, dass sie keinen glücklichen Besuch vor sich hatte, „haben Sie zufällig Buttercreme zu verkaufen?“
Die Verkäuferin runzelte die Stirn. „Buttercreme?“ Sie trat zu den Torten, deutete unschlüssig herum. „Das sind Buttercremetorten, Nuss, Schoko, Banane mit Krokant.“
„Sorry“, Henrike rollte entschuldigend die Augen und hob die Schultern, „ich meinte nur Buttercreme. Ich bräuchte drei kleine Portionen. Der Patient liebt es Buttercreme zu löffeln.“
„Aha, okay?“ Unschlüssig schaute die Frau über ihre Schulter zu einer Tür. Henrike realisierte erst in diesem Moment, dass im Verkaufsraum nirgends die typischen Backautomaten standen, also gab es vielleicht eine richtige Backstube? Das war schon fast eine Rarität und erklärte den wunderbaren Duft.
„Ich frage mal den Konditor“, sagte die Frau dann entschlossen, schickte Henrike dabei ein kleines Lächeln, „einen Moment bitte.“
„Danke, super lieb!“
Die Verkäuferin verschwand durch die Tür, Henrike schloss kurz die Augen, sog den friedlichen Geruch auf, die Wärme und überraschende Stille in dem leeren Verkaufsraum. Nicht der blasseste Schimmer war in ihr, was sie in Hauke Wolfhagens Zimmer erwarten könnte. Joris Nachricht klang nach Schockstarre und Verdrängung, eine verständliche Reaktion. Was kam danach?
Jeder Schock löste sich irgendwann, spätestens wenn der Schmerz einsetzte, egal ob physisch oder psychisch. Nur ungern erinnerte sie sich an den Moment, wo sie an jenem Freitagabend die Wohnungstür hinter sich schloss und die Geschehnisse aus Bremerhaven ungebremst über sie herfielen. Sie war in die Knie gegangen, haltlos zusammengebrochen und genau genommen erst wieder aufgestanden, als Joris sie am Montagvormittag nach Langwarden fuhr.
Wie war das, wenn man die Diagnose unheilbar bekam? Womöglich mit einer positiv gedehnten Zeitspanne als Trost. Gut gemeinten Ratschlägen, man möge sein Leben ordnen, sich verabschieden, das tun, was man schon immer mal machen wollte, mit allen Sinnen leben, exzessiv und überaus endlich. Henrike zog es wieder den Nacken hoch, Gänsehaut rollte ihr über die Arme. Ihr Körper verstand was ihr Hirn nicht verarbeiten wollte.
In diesem Moment kam die junge Verkäuferin mit einem breiten Grinsen im Gesicht wieder durch die Tür. Triumphierend hielt sie eine kleine Metallschüssel hoch. „Tätäää!“, rief sie fröhlich. „Der Konditor hat sich erweichen lassen. Ist Vanille okay?“
„Mehr als super okay!“ Henrike strahlte und lachte, trotz der verstörenden Gedanken. „Sie sind mein Schatz des Tages, danke!“
„Schatz des Tages war ich noch nie“, trällerte die Frau, „das klingt hammergeil. Soll ich Ihnen die Creme in essbare Förmchen füllen?“
„Cool, gern, gute Idee. Sagen Sie dem Konditor bitte auch vielen Dank, und dann hätte ich gern noch drei Becher Kaffee dazu.“
Mit einem Nicken löffelte die Verkäuferin Buttercreme in knusprige Waffelbecher, steckte einen Eiskeks und Eislöffelchen darauf und ließ drei Becher Kaffee aus der Maschine. Liebevoll verpackte sie alles in eine Trage und reichte Henrike das Paket an der Theke vorbei. Tief holte Henrike Luft.
„Nochmals herzlichen Dank, was macht das?“
Schulterzuckend verdrehte die Frau die Augen. „Die Creme wäre heute Abend in den Abfall gegangen, die drei Becher Kaffee sind sechs Euro.“
Henrike kramte ihren Geldbeutel aus der Handtasche und reichte der Frau einen zehner. „Das stimmt so“, erklärte sie freundlich, „Sie haben mir sehr geholfen und werden einen sehr kranken Vater und seinen Sohn richtig glücklich machen. Das ist unbezahlbar. Sie hätten einfach nein sagen können und sich Zeit und Arbeit gespart.“
„Wie es in den Wald rein ruft“, nuschelte die Frau verschämt lächelnd, „den Spruch kennen Sie sicher, oder? Es war mir eine Freude.“
„Dann nehmen Sie das bitte so an.“ Henrike legte den Schein auf den Tresen, presste die Lippen entschlossen zusammen und drehte sich auf dem Absatz um. „Auf Wiedersehen.“
Hinter ihr bimmelte leise die Türglocke. Auf der Straße musste sie sich erneut sammeln, dann eilte sie hinüber zum Haupteingang des Krankenhauses. Es war schon fast dunkel. Die Straßenlaternen warfen Lichterkegel auf den Gehsteig, die Luft roch nach Nebel, vielleicht auch etwas nach Schnee. Das hatte sie am Abend zuvor schon gedacht.
Schätzungsweise sollte sie Thibault absagen, kaum wahrscheinlich, dass sie bis acht Uhr daheim sein würde und wenn, dann mit Joris im Gepäck, der ihre Zuwendung sicher mehr brauchte als sie eine Stunde mit Monsieur Schmusestimme. Der Name passte wie maßgeschneidert. Ehrlich, sie hätte wirklich gern gewusst, wie der Mann zur Stimme aussah. Wer der Mensch war, der den Vornamen trug der ihr der liebste der Welt war.
Sie zwängte sich auf den letzten Spalt mit in einen vollbesetzten Aufzug, murmelte eine Entschuldigung für die Verzögerung und drückte auf Etage drei. Angestrengt stierte sie auf das Bäckereipaket in ihren Händen, es war ihr ein bisschen unangenehm. So etwas sah man in einem Krankenhaus garantiert nicht gern und in Anbetracht, dass Hauke Wolfhagen ein massives Problem mit seiner Leber hatte, war Buttercreme nicht das, was ein Arzt befürworten würde. Doch so wie Joris sich ausgedrückt hatte, war das ab heute egal. Dieser Waffelbecher voll Buttercreme brachte Hauke Wolfhagen nicht mehr um. Einem Kettenraucher mit Lungenkrebs im Endstadium brauchte man die Zigarette auch nicht mehr ausreden. Nun ja, möglicherweise war das eine diskussionswürdige Einstellung.
DasPlingdes Aufzugs holte sie aus ihren Gedanken. Sie brummelte einen Gruß und trat ohne den Kopf zu heben auf den Krankenhausflur, wendete sich mechanisch nach links zur Abteilung Innere A, Zimmer 311. Ihr Pochen gegen die Tür war fast zu leise. Diese schweren Türen schluckten jeden Schall, also schob sie sich mit einer diskreten Drehung hinein.
Es war fast dunkel im Zimmer, nur auf dem Schränkchen neben dem Bett brannte die Nachtlampe. Die Stille war unheimlich, schrecklich bedrückend. Henrike holte gepresst Luft, ihr Blick versuchte mit dem Moment des Eintretens alles zu erfassen und versagte kläglich, denn er zerschellte umgehend am Bett und Hauke Wolfhagens schlafendem Gesicht. War das der Mann, der ihr noch vor zwei Tagen frotzelige Männersprüche ins Ohr gedrückt hatte? Unmöglich.
Bestürzt schaute sie zu Joris, der ihr vom Stuhl neben dem Bett aus reglos entgegenblickte, in sich zusammengesunken, die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt. Er verzog nur bestätigend den Mund. Auf Zehenspitzen tippelte Henrike näher, etwas Anderes blieb ihr leider nicht übrig, auch wenn der Schock sie mit Macht rückwärts aus dem Zimmer drängte, wegrennen schien die einzige Alternative. Doch Wegrennen durfte sie nicht. Joris zuliebe musste sie bleiben. Ihm zuliebe wollte sie auch bleiben.
Leise stellte sie das Paket auf den Nachttisch und wendete sich zu Joris um. Wortlos sah er zu ihr hoch, unaussprechliche Trauer und namenlose Angst im Blick. Impulsiv schob sie sich zwischen seine Beine und nahm ihn in die Arme. Er barg seinen Kopf zwischen ihren Brüsten, schlang seine Arme um ihre Hüften. Sein erstickter Schluchzer schlitzte Risse in ihr Herz. Sanft kraulte sie seinen Nacken, zauste seine Haare.
„Sie geben ihm ein halbes Jahr“, ächzte er, seine erstickte Stimme war ein einziger Schmerzenslaut, „vielleicht auch weniger. Wir haben die MRT-Bilder gesehen.“ Henrike fasste ihn fester und beugte sich über ihn, wünschte, sie könnte ihn vor dem Schmerz bewahren. Doch der fraß sich schon an ihm satt.
„Der Krebs ist überall, Henrike, er hängt wie ein fetter Klumpen an seiner Leber, die Metastasen sind schwarze Flecken, es ist so gruselig das zu sehen und ich verstehe es nicht. Es will einfach nicht in meinen Schädel.“ Er hämmerte sich unterdrückt stöhnend mit den Handballen gegen die Schläfen. Hastig griff Henrike nach seinen Händen.
„Nicht hier“, flüsterte sie, drückte ihn begütigend an sich, „wir reden daheim über alles. Hier bewahren wir die Fassung. – Ich habe uns Kaffee und Buttercreme mitgebracht. In der Bäckerei gegenüber haben sie mir extra welche in Waffelbecher abgefüllt.“
Joris lachte kieksig. „Buttercreme? Wie geil. Das ist genau nach Dads Geschmack.“ Tief durchatmend machte er sich von ihr los und rüttelte sanft an der Schulter seines Vaters. „Dad, Henrike hat Kaffee und Buttercreme, es gibt endlich etwas Vernünftiges zu essen, wach auf.“
Hauke Wolfhagens Lider flatterten, sein Blick war glasig, weit entfernt als er die Augen öffnete. Henrike schluckte hart. Wie konnte das sein? Innerhalb von zwei Tagen war der Mann verfallen. Ein Schatten seiner selbst. Ungläubig hing Henrikes Blick an ihm, musterte die hohlen Wangen, die schwarzen Schatten unter seinen Augen, die tief in ihre Höhlen gesunken schienen. Kerben um den Mund, der völlig erschlafft war, schmallippig. Ein Totenschädel mit gelbgrauer Haut.
Auch die Bettdecke wölbte sich nicht mehr so mächtig über ihn, als sei auch sein Körper zusammengefallen, nur der Bauch stand vor. Ein Klumpen an der Leber. Der Hüne war gefällt. Erschütternd. Ein halbes Jahr, eher weniger. So wie er jetzt aussah, tendierte Henrike zu eher weniger. Sie rang sich ein Lächeln ab und strich dem Mann respektvoll über den Arm. Er verzog das Gesicht, ein verunglückter Versuch von Tapferkeit.
„Buttercreme?“, brummte er mit belegter Stimme. „Immer her damit. Diese Schonkost bringt mich um.“
„Das ist der Plan der Ärzte, Dad“, witzelte Joris, auch ein klassisch verunglückter Versuch, Henrike runzelte die Stirn. „Dann lass uns mal essen. Frau Thönnies sorgt sicher gern für Nachschub. Eine super Idee, Henrike. Danke, dass du da bist.“
Henrike nickte nur und packte dreimal Kaffee und dreimal Buttercreme aus. Joris drehte das Tablett des Nachttisches zu seinem Vater, stand dann auf, um ihm das Kopfende des Bettes hochzufahren und ihn zu stützen. Henrike war tief berührt von seiner Fürsorge. Sie trug keine Spur von erzwungenem Einsatz oder Widerwillen. Joris kümmerte sich offensichtlich von Herzen gern, womit er bei Henrike sein längst völlig überfülltes Konto an Pluspunkten erneut satt bereicherte.
Er setzte sich auf den Bettrand, bot Henrike seinen Stuhl an, sie ließ sich befangen nieder, fummelte mit dem Daumennagel an ihrem Kaffeebecher herum, hielt den Waffelbecher in der anderen Hand. Der Geruch der Buttercreme gab der Szene eine surreale Note. Genuss zwischen Desinfektionsmitteln, steifen Laken und dem Anblick des Todes. Wie sollte sie hier einen Bissen oder einen Schluck herunterbringen. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen.
Aufmerksam half Joris seinem Vater mit dem kleinen Eislöffel, stupfte ihm den Keks in die Creme, ließ ihn abbeißen und reichte den Kaffeebecher. Hauke Wolfhagen strahlte Henrike an, gab ihr einen Daumen hoch.
„Wenn Joris dich nicht heiratet“, nuschelte er kaum hörbar, „dann ist er dämlich. Du bist ne verdammt feine Deern. Danke, Henrike.“
Sie freute sich über den Satz und auch, dass er sie jetzt unkonventionell schnörkellos einfach duzte. „Was das heiraten angeht“, erwiderte sie sanft, „bin ich anderer Meinung, aber ich freue mich sehr über das Kompliment.“
„Alles vor dem aber ist freundlicher Bullshit“, erwiderte er mit brüchiger Stimme und unübersehbar erheitert, „du solltest dir das zügig und genau überlegen.“ Sein Atem ging rasselnd, die wenigen Worte reichten um Kraftreserven zu vernichten. „Joris ist bald eine noch bessere Partie als jetzt schon. Mein Erbe. Vermutlich ist das für dich allerdings kein Anreiz, oder?“
Henrike schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf. „Nein, im Gegenteil, erstens wäre mir Sohn mit Vater lieber als Erbe und zweitens schrecken mich solche Erbschaften eher ab.“
Er lachte, rang röchelnd nach Luft und hustete. Sein Teint wurde fahlgelb. Joris stützte ihn, reichte ihm ein Glas Wasser, das er durstig trank.
„Ach, Henrike“, Hauke Wolfhagen versuchte einen tiefen Atemzug, der aber irgendwo einfach steckenblieb, was ihn keuchen ließ, „beides lässt sich wohl nicht vermeiden, die Diagnose ist eindeutig. Ich verrecke an einem Zellklumpen, der an meiner Leber hängt und sich nicht wegmachen lässt. Das ist schon merkwürdig, aber immerhin geht es angeblich recht schnell und tut nicht so arg weh. Das ist vielleicht etwas.“
„Scheiße, Dad, echt“, Joris zog eine Grimasse, ein weiterer, erschütternd kläglicher Versuch belustigt zu klingen, „wir holen uns eine zweite Meinung und in Amerika gibt es super Spezialisten die das reparieren und so kommen wir endlich mal wieder zu einem Trip nach USA.“
Besänftigend tätschelte Hauke Wolfhagen seinem Sohn die Hand, die auf seinem grotesk gewölbten Bauch lag. „Das machen wir, Joris, natürlich. Gleich morgen kümmere ich mich darum.“
„Nein, das tue ich, du ruhst dich hier aus.“
Joris wirkte wie ein trotziges Kind, das sich gegen eine Realität sträubte, die es nicht wahrhaben wollte. Henrike tat das leid. Sie fasste nach Joris anderer Hand und sah, wie er krampfhaft an seinen Tränen schluckte und um seine Fassung rang. Sacht streichelte sie seinen Handrücken, stand dann auf und legte ihre Hände zu denen der Männer auf Hauke Wolfhagens Bauch. Für ein paar Atemzüge herrschte etwas wie friedvolle Ruhe, die sich der Akzeptanz des unabänderlichen zögernd näherte.
Dann löste sich Henrike behutsam, reichte Joris seinen Kaffee und seine Buttercreme, löffelte seinem Vater ohne darüber nachzudenken die Reste seiner Buttercreme mit dem Waffelbecher in den Mund. Hauke Wolfhagen kaute langsam, die Waffel knusperte, er schmunzelte, Joris stierte auf seine Buttercreme.
„Jetzt fahrt nach Hause, ihr beiden“, brummte Hauke Wolfhagen gutmütig, „mein Sohn möchte, dass ich mich ausruhe. Macht euch einen gemütlichen Abend.“
„Wir können gern noch bleiben, Dad“, erwiderte Joris mit einem halben Blick zu Henrike, „wir haben Zeit.“
Henrike bewegte zustimmend den Kopf, obwohl ihr klar war, dass Wolfhagen ihnen eine Pause anbot, die Joris sicher dringend nötig hatte, aber nicht haben wollte. Verständlich. Seit heute war jede Minute mit seinem Vater noch kostbarer.
„Ich bin müde, Joris“, Hauke Wolfhagen betrachtete seinen Sohn mit zusammengekniffenen Augen, „wir sehen uns morgen wieder. Dann klären wir auch, wann ich nach Hause darf. Ich muss hier nicht mehr rumliegen, wo klar ist, dass ich sterbe. Geht jetzt, bitte.“
Joris keuchte unterdrückt, auch Henrike biss sich auf die Lippen. Der Mann war anscheinend kein Fan von Diplomatie oder verbalen Samthandschuhen. Vielleicht musste er sich aber auch nur selber die harten Tatsachen klarmachen. Wie auch immer. Henrike straffte sich und wendete sich zu Joris. „Dann lass uns fahren. Komm, Joris.“
Notgedrungen, unübersehbar widerstrebend stemmte sich Joris auf die Beine, er schwankte leicht, Henrike fasste seinen Ellenbogen. Sein dankbares Zwinkern konnte den Schmerz in seinen Augen nicht verhüllen.
„Gute Nacht, Dad“, er beugte sich tatsächlich zu seinem Vater hinunter, küsste ihn zart auf die Wange, „ich bin morgen früh wieder da.“
„Morgen früh ist dein Platz im Büro“, moserte Hauke Wolfhagen nachsichtig, „die Firma hängt jetzt an dir. Ich bin hier versorgt.“
„Henrike packt das im Büro“, erwiderte Joris, was Henrike innerlich erblassen ließ. Am dritten Tag packte sie bestenfalls die Starttaste für den PC und die Kaffeetasse, aber mehr auch nicht. Sie verzog das Gesicht, hielt jedoch wohlweislich den Mund. „Ich komme morgen früh. Punkt.“ Abermals küsste er seinen Vater, der leise schmunzelte und wendete sich abrupt zur Tür. Henrike strich Hauke Wolfhagen scheu über den Arm, nickte ihm zu, folgte dann Joris, der ihr höflich die Tür aufhielt.
Schweigend, Seite an Seite schritten sie über den abendlich stillen Gang zum Aufzug, Joris drückte die Ruftaste, vermied dabei jeden Blick in ihre Richtung, starrte auf einen Punkt vor sich auf dem Boden. Henrike fühlte mit ihm, er tat ihr unsagbar leid und sie hätte verdammt viel dafür gegeben, wenn sie irgendetwas tun könnte. Mehr als ihren Beistand konnte sie aber just nicht in die Waagschale werfen.
Der späte Nachmittag war längst einem frostigen und irgendwie bedrückend finsteren Novemberabend mit Nieselregen gewichen. Henrike linste auf ihr Handy, halb sieben. Mist. Unschlüssig blieb sie stehen.
„Ich sage eben meinen Termin mit Thibault ab“, erklärte sie auf Joris verwunderten Blick hin, seine Brauen zuckten schwankend zwischen Sarkasmus und Dankbarkeit.
„Nein, Henrike, das ist dir wichtig, also mach die Stunde mit ihm.“
„Ja, es ist mir wichtig“, sie nickte und schenkte ihm ein liebevolles Schmunzeln, „aber du bist mir wichtiger. Warte kurz.“
Das Handy in Richtung einer Straßenlaterne haltend, obwohl ihr klar war, dass es keinerlei Effekt auf die Helligkeit des Display hatte, tippte sie auf Mauritz Thibaults Kontakt, noch immer der einzige außer Joris in ihrem Handy. Es rief dreimal, viermal und als sie den Anruf beenden wollte, nahm Thibault das Gespräch an.
„Hallo, Henrike!“ Sie hörte Schritte, Autos im Hintergrund und seinen Atem. Er schien irgendwo zu laufen. War er mit seinem Hund unterwegs?
„Moin Herr Thibault“, grüßte sie befangen, drehte sich dabei halb von Joris weg, es war ihr extrem peinlich, dass sie schon anfing zu strahlen, wenn sie nur die Stimme hörte, etwas was Joris auf keinen Fall bemerken durfte. Vor allem nicht jetzt. „Es tut mir leid, ich muss extrem kurzfristig unseren Termin nachher absagen.“ Sie dämpfte automatisch sogar ihre Lautstärke. „Der Vater meines Freundes liegt ja im Krankenhaus und wir haben vorhin eine sehr schlechte Nachricht bekommen. Joris braucht mich jetzt. Echt, es ist mir super peinlich und ich bitte um Ihr Verständnis. Sein Vater hat Leberkrebs im Endstadium.“
Ungläubig lauschte sie ihren Worten. Was war in sie gefahren, dass sie einem eigentlich wildfremden Mann solche intimen Details erzählte? Sie war doch sonst keine Labertasche, schon gar nicht, wenn es um die Angelegenheiten anderer ging. Diskretion war in ihrem Job ein absolutes Muss. Verflixt.
Die Schritte stoppten abrupt. Sie vernahm nur noch das Verkehrsrauschen und die tiefen Atemzüge des Mannes am anderen Ende. Sie klangen erschrocken, angespannt. Eigenartig. So viel Empathie hätte sie jetzt nicht erwartet.
„Das …, das tut mir außerordentlich leid, Henrike“, stammelte Thibault, „keine Frage, wir verschieben das, melden Sie sich einfach. Wenn ich ansonsten etwas für Sie tun kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen.“
„Danke“, einen langen Augenblick zauderte Henrike, sollte sie ihn auch bei seinem Vornamen nennen? Sein Angebot kam ehrlich rüber, er schien tatsächlich betroffen und, dass würde diese kleine Intimität vielleicht rechtfertigen. Doch sie brachte das Wort nicht über ihre Lippen. Dieser Name gehörte einem anderen. Für immer. „Danke, Herr Thibault“, sagte sie fester, „das ist sehr lieb von Ihnen. Ich melde mich Anfang nächster Woche. Haben Sie morgen eine gute Fahrt und ein schönes Wochenende. Tschüs.“
„Tschüs, Henrike, danke, und Ihnen alles Gute.“
Henrike runzelte verdutzt die Stirn, der langgezogene Ton einer freien Leitung tönte aus ihrem Handy. Er hatte das Gespräch unerwartet schnell beendet. Okay. Egal, das ersparte ihr unnötigen Smalltalk, verhinderte nebenbei, dass sie noch mehr Unfug schwafelte.
„Magst du doch noch essen gehen, Joris?“ Sie wendete sich ihm mit einem angestrengten Lächeln zu. „Ich habe jetzt überraschend den Abend frei und alle Zeit für dich.“
Laut stieß er Luft aus seinen Lungen und legte den Kopf in den Nacken. Feiner Nieselregen sprühte, kühlte sein glühendes Gesicht. Was wollte er? Eigentlich nichts. Womöglich wollte er nie wieder irgendetwas. Der Himmel war finster und doch reflektierten die Wolken die Lichter der Stadt, ein schmutziges Leuchten. Er schloss kurz die Augen, leider hatte das null Effekt auf sein rotierendes Hirn. Sein Dad lag da in diesem hässlichen Backsteinbau von Krankenhaus und starb. Absurd, total bizarr. Unmöglich. Vor ein paar Stunden war doch noch alles in fast bester Ordnung gewesen.
Langsam holte er Luft und schaute sie an, hob entschuldigend die Schultern. „Ich will jetzt nach Hause, Henrike“, brummelte er verschämt,
„auf deinem Sofa die Mutanten kraulen und meinen Kopf in deinen Schoß legen, wenn ich darf. Ich bin sowas von durch mit allem.“
Zustimmend verzog sie den Mund, wischte ein paar Regentropfen aus ihrem Gesicht. „Das klingt nach einem guten Plan, Joris, dann fahren wir jetzt heim und ich schaue mal, was mein Gefrierfach anzubieten hat. Essen müssen wir etwas.“
Abwehrend verdrehte er die Augen. „Ich kotze gleich und auch wenn die Buttercreme echt lecker war, so habe ich sie fast nicht runtergebracht. Hoffen wir, dass sie auch weiterhin in mir bleibt.“
Unsicher trat Henrike näher an ihn heran, nahm ihn in die Arme und wiegte ihn. Er legte seine Stirn auf ihre Schulter, ein unterdrückter Schluchzer ließ ihn erbeben.
„Essen ist wichtig, Joris“, flüsterte sie zart, „glaub mir, ich spreche da aus eigener Erfahrung. Man braucht so viel Kraft.“
„Was soll ich nur tun?“ Seine Stimme kippte. „Wie soll ich ohne meinen Dad leben? Wie soll ich das packen? Er stirbt, Henrike. Weg, tot. Ich muss auch meine Mutter gleich anrufen und ich weiß jetzt schon, dass sie garantiert keine Notwendigkeit sieht nach Hause zu kommen. Ich muss das alles allein stemmen.“
Mal davon abgesehen, dass Joris nicht schnoddrig von seiner Mum sprach, sondernmeine Muttersagte, fand sie seine Worte ernsthaft schrecklich. Emma Wolfhagen würde nicht nach Hause kommen? Obwohl ihr Mann womöglich bereits im Sterben lag? Kaum glaubhaft.
Sie zog ihn enger an sich. „Nein, du stemmst das nicht allein. Ich weiß nicht, ob dir das hilft, aber ich stehe bestimmt an deiner Seite und nehme dir ab, was ich abnehmen kann, eventuell sogar noch ein bisschen mehr.“ Sie schenkte ihm ein schiefes Grinsen, das er freudlos erwiderte. „Und ich kann dir aus ebenfalls eigener Erfahrung sagen, dass es nur eines gibt, was du tun solltest: für jede Minute mit deinem Vater dankbar sein. Sag ihm alles, was du ihm schon immer sagen wolltest, erzähl ihm alles, frag ihn alles. Weißt du“, sie schnaufte tief durch, denn erstaunlicherweise drängten Tränen in ihren Augen, „ich saß damals mit meiner kleinen Schwester mittags bei den Hausaufgaben. Sie bat mich, ihr bei Mathe zu helfen. Um ehrlich zu sein, ich hatte keinen blassen Schimmer, wie die Lösung der Aufgabe aussehen sollte, also habe ich sie total überheblich abgekanzelt. Drei Stunden später fand ich sie mit aufgeschnittenen Pulsadern und sie starb, bevor ich ihr sagen konnte, wie sehr ich sie liebe und ihr bei der Aufgabe natürlich helfen würde. Auch Mauritz konnte ich nie sagen, wie wichtig er mir war und wie tief meine Gefühle für ihn. Das ist unwiederbringlich vorbei, Joris, ich kann es ihnen nicht mehr sagen. Nie wieder. Also sag deinem Vater alles, solange es noch geht. Nimm Abschied. Es ist ein Geschenk, wenn man dafür Zeit bekommt. Bitte, Joris, gönn euch diese Zeit, es ist so wichtig. Ich habe das verpasst. Man lernt ohne sie zu leben, mach dich nur darauf gefasst, dass die Lücke nie wieder gefüllt wird und immer schmerzt. Deine Mutter wird sicher kommen, sie lässt euch nicht allein.“
Joris schluchzte auf, wischte sich grob die Tränen vom Gesicht.
„Danke, Henrike, ich bin unsagbar froh, dass du bei mir bist. Du findest immer die richtigen Worte, du gibst mir Kraft. Ich will nicht Abschied nehmen, Dad hatte noch so viele Träume, wir wollten so viel gemeinsam machen. Es tut mir leid für dich und deine Schwester, es ist alles einfach furchtbar. Mir schwirrt der Kopf, aber ganz sicher wird meine Mutter keinen Grund sehen, warum sie vor der Zeit nach Hause kommen sollte. Sie und Dad haben Sex miteinander und sind ein gutes Team in der Firma, aber ich glaube, sehr viel mehr ist da nicht. Auch okay. Lass uns fahren. Ich kann nicht mehr.“
Mauritz
Mit dem Handy in der Hand stand Mauritz nur wenige Minuten von seinem Haus entfernt auf der Straße. Nieselregen hing wie feiner Nebel in der Luft. Rosenberg hockte halb auf seinen Hinterpfoten neben ihm, in sich zusammengesunken mit hängendem Kopf suggerierte er jedem, dass da ein todbringender Hurrikan über ihn hinweg toste. Der Hund war wasserscheuer als ein Esel.
Henrike hatte abgesagt. Rational gesehen war das nahe an perfekt und ersparte ihm diverse Tonnen an schlechtem Gewissen. Morgen früh würde er nach Paris fahren und Sandrine wiedergewinnen, also gab es wenig Spielraum für anderweitige Gefühle. Genau genommen gab es sogar gar keinen.
Rational war leider nicht das, was Mauritz just in diesem Moment haben wollte. Mit Henrike skypen wäre sein Highlight des Tages, sie sehen, mit ihr reden, ihr zuhören. Wegen ihr war er noch nicht auf dem Weg nach Paris. Auf sie freute er sich mit jedem Quadratzentimeter seiner kaputten Seele. Ab Morgen würde das auf allen Ebenen noch schwieriger, noch sehr viel falscher werden, sofern er ihre Therapie nicht endlich beendete. Leider kannte er sich gut genug um zu wissen, dass er diesen Schritt nicht machen konnte. Nein, sicher nicht. Vielleicht bekam er durch Henrike eine Ahnung, wie es einem Süchtigen erging. Viele schafften den Absprung nie. Gut möglich, dass er dazu gehörte, selbst wenn Henrike ihn absägte.
Tonlos fluchend zupfte er an Rosenbergs Leine, der Hund setzte sich mit Leidensmiene, sehr klemmig und überhastig in Bewegung.
„Ich konnte nicht ahnen, dass es nass wird“, grummelte Mauritz an seinen Hund gewendet, „echt, es ist nur ein bisschen Nieselregen, jetzt tu nicht so mädchenhaft rum, wir sind gleich daheim.“
Tja, da war noch etwas, was Henrike gesagt hatte und sein Hirn nicht verarbeiten wollte. Das Wort Krankenhaus war gefallen, nun ja, das wusste er bereits, der Rest ihrer Botschaft rammte schmerzhaft gegen seine inneren Burgmauern, sie bröckelten rasend schnell, da war keine Chance auf neue Befestigungen, so sehr er sich auch bemühte. Keuchend blieb er erneut stehen, krümmte sich.Leberkrebszwängte sich als erstes durch eine breite Bresche, dasEndstadiumfolgte ihm umgehend.
Sein Vater würde bald sterben. Und Joris brauchte Henrike heute mehr, als sie ihre Therapie. Nicht wahr. Unmöglich. Hauke Wolfhagen war ein Baum von einem Mann. Friesisches Urgestein, trotz seiner einstmals dunklen Haare, wo Friesen doch heller als hellblond waren. Die schwarzen Haare erklärte er immer mit irgendeinem spanischen Freibeuter, der in grauer Vorzeit das Dorf seiner Ahnen heimgesucht hatte und sich die schöne blonde Friesin nahm, um ihr ein dunkelhaariges Kind zu zeugen. Eine klassische Wolfhagen Story. Diese Form von Männlichkeit lebte sein Vater sicher noch immer. Frauen waren Beute. War der kleine Bastard genauso drauf? Falscher Gedanke.
Und noch einmal: Sein Vater würde sterben. Ratlos horchte er in sich hinein. Was machte dieser Satz mit ihm? Ein schwarzes Nichts, aber warum tat das so weh? Langsam ging Mauritz weiter, bog in ihre Straße ein. Bewusst achtete er auf seinen Atem, fühlte seinen Puls hämmern, aber er konnte das Gefühl nicht orten. Irgendwo tat es weh, brutal weh, aber wo? Und warum? Weil sein Vater von einer tödlichen Krankheit ereilt wurde? Oder war es die allgemeine Vorstellung von Krebs? Er wusste es nicht, es war verwirrend und fühlte sich nicht gut an. Gar nicht gut.
Nur um diesem Gefühl zu entgehen, fummelte er sein Handy aus der Jackentasche und tippte auf die Nachrichten, suchte nach der, die er am frühen Nachmittag an seine Schwiegermutter geschickt hatte, nachdem er auch heute den Mut nicht für ein persönliches Telefonat aufbrachte und die Zeit massiv drängte. Er schämte sich dafür, aber, ehrlich, an sich war er selten um die passenden Worte verlegen, er war Therapeut, doch die Furcht in diesem Fall zu versagen überwand er nicht. Nach wie vor gab es nur eine Chance.
Der Wirt vomParcivalhatte grünes Licht für seine Anfrage gegeben, er freute sich auf sie. Immerhin. Mamans Nachricht trug zwei blaue Haken, aber geantwortet hatte sie nicht. Noch einmal las er seinen Text. War er okay? Deutlich? Freundlich genug? Machte er klar, wie wichtig Sandrine ihm war? Wie leid es ihm tat? Ungelogen, eine Ausgeburt an textlicher Empathie hatte er nicht verzapft.Maman, bitte sorg dafür, dass Sandrine am Donnerstag um 19 Uhr im Parcival ist. Bitte! Ich warte dort auf sie. Ich werde alles tun, um sie wieder zu bekommen und sie glücklich zu machen. Habe uns ein Hotel gebucht. Bitte, Maman. Ich liebe Sandrine.
Letztendlich galt auch hier, hopp oder top. Entweder traf er Sandrine in der Kneipe oder eben nicht. Dann blieb ihm immer noch die Alternative, sie daheim aufzusuchen, auch auf die Gefahr hin von seinem Schwiegervater vor die Tür gesetzt zu werden, sofern Antoine ihn überhaupt hereinließ. Schlimmstenfalls erreichte Mauritz nichts als ein Wochenende in Paris.
Schwerfällig schritt er, den gepeinigten Rosenberg dicht an seinem Knie klemmend auf sein Haus zu, kramte die Hausschlüssel aus der anderen Jackentasche, schloss auf und trat mit dem Hund in den Hausgang. Mit einem halben Auge registrierte er die nassen Pfoten auf dem blanken Marmorboden, egal, morgen früh war er erst einmal weg. Es war still im Haus, kein Laut drang aus den Wohnungen, was ihm ein diffuses Gefühl von Einsamkeit gab. Sein Vater würde sterben. Verwirrend.
Tief in Gedanken versunken schloss er die Wohnungstür auf, bemerkte nicht den plötzlich aufmerksamen Blick seines Hundes, wunderte sich nur unterschwellig, warum im Flur Licht brannte. Das hatte er wohl morgens vergessen auszumachen. Keinen Herzschlag später befürchtete er, dass es sein letzter Herzschlag werden würde und seine Knie gaben vor Schreck nach. Impulsiv presste er seine Hände auf sein Herz.
Ein Mensch trat aus dem Wohnzimmer auf den Flur. Perplex gaffte er diesen Menschen an. Die Frau im traditionellen Gewand der Kabylen kannte er. Sie trug ihr rabenschwarzes Haar zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über die zarte Schulter hing wo das Kleid herabgerutscht war. Dieser Anblick war immer Dope für seine Sinne gewesen, so erotisch und weiblich, verführerisch. Ihre Augen orientalisch geschminkt, übergroß in ihrem feinen Gesicht, ihre Lippen voll und rot. Sandrine?
„Zut alors!“, keuchte Mauritz schwankend zwischen Schreck und Freude. „Sandrine! Willst du mich umbringen? Wo kommst du jetzt her?“
Sie verzog den Mund zu einem süffisanten Grinsen. „Salut, Maurice, comment ça va? Hast du nicht erst vorhin meiner Mutter geschrieben, dass du mich liebst? Das klingt jetzt irgendwie nicht danach.“ Sie lachte glockenhell und kam mit schwingenden Hüften näher. Ihre bloßen Füße patschten niedlich auf den Fliesen. Seltsam atemlos lehnte er sich an die Wohnungstür, starrte ihr entgegen. Seine Frau. Sie war zurückgekommen?
Der Schreck ebbte ab, hinterließ ein verwirrtes Vakuum, durch das er den Geruch von gegrilltem Fleisch wahrnahm, genau wie Sandrines blumiges Parfüm. Ungewöhnlich für sie, wo sie doch sonst ausschließlich elegant edle Düfte bevorzugte. Darunter mischte sich leider auch zunehmend der Mief von feuchtem Hund, was die üblichen Beschwichtigungsroutinen bei ihm in Gang setzen wollte. Keinesfalls durfte er riskieren, dass sich Sandrine gerade jetzt wegen Rosenberg aufregte. Sie war zurückgekommen.
Diese Tatsache sickerte nur millimeterweise durch sein Bewusstsein, aber sein Herz flatterte mit der ersten Ahnung dessen, was gerade passierte. „Je suis bien, ich liebe dich, Sandrine“, ächzte er unter dem Druck der unvermittelt heranwogenden Gefühle. „Ich liebe dich so sehr. Du hast mir furchtbar gefehlt. Deswegen habe ich dir auch unser Hochzeitsfoto geschickt. Morgen früh wollte ich nach Paris fahren und dich imParcivalum Verzeihung bitten. Es tut mir alles so leid. Ich habe das nicht gewollt. Ehrlich nicht.“
Er sah sie angestrengt blinzeln, ihre Augen bekamen einen feuchten Schimmer. Scheu legte sie ihre Hände auf seine Brust, sein Herz klopfte rasend unter ihren Fingern. Sie hielten sich mit ihren Blicken. Mauritz atmete gepresst, biss sich auf die Lippen, nur um sich daran zu hindern sie zu küssen. So weit waren sie noch nicht, obwohl ihre Berührung ihn endgültig realisieren ließ, dass sie da war. Kein Trugbild, kein Traum. Sandrine stand vor ihm. Wieso auch immer. Argwöhnische Freude glühte in ihm auf.
„Ach, Maurice“, flüchtig senkte Sandrine die Lider, brach diesen eigenartigen Bann, „es ist nicht an dir, dich zu entschuldigen.“ Sie seufzte schwer, hob dann tapfer den Blick zu ihm hoch. Er war so groß, ein unglaublich schöner Mann, aufrecht, charismatisch. Maurice war besonders. Erschüttert erkannte sie die Erschöpfung in seinem Gesicht, in seinen Augen dieser verlorene Ausdruck, wie damals als sie sich kennenlernten. In den letzten neun Tagen war er extrem dünn geworden, schien gebeugt. Die Last dieser Trennung hatte einzig sie ihm aufgebürdet. Sie seufzte noch einmal. Unschlüssig bewegte er die Schultern, wagte es, seine Hände auf die ihren an seiner Brust zu legen. Diese Hände waren faszinierend zierlich und feingliedrig. Sie lächelte unsicher, erneut glitzerten Tränen in ihren großen Augen.
„Es ist an mir, dich um Verzeihung zu bitten, Maurice. An diesem schrecklichen Dienstagabend habe ich deine berechtigten Fragen nicht hören wollen, habe dir deswegen eine richtig schlechte Szene gemacht. Absolute Super-Zicke.“ Sie rang mit einem freudlosen Grinsen um Luft, als bräuchte sie eine zusätzliche Portion Sauerstoff, straffte sich,
„Maman wollte, dass ich in Paris zum Arzt gehe um sicher zu sein, dass in meinem Bauch nach dem Abgang alles in Ordnung ist. - Maurice, … ich war nicht schwanger. Du hattest Recht. Diese Blutungen waren nur eine normale, etwas verspätete Menstruation. Ich schäme mich, weil ich dich für ein Unglück verantwortlich gemacht habe, dir die Schuld für etwas gab, was gar nicht passiert ist. Schlimmer noch, ich habe dir in dieser Nacht zugetraut, dass du dich mit Absicht so scheiße verhalten könntest. Dabei kenne ich dich so gut. Niemand ist weniger dazu fähig als du. Es tut mir leid, Maurice, sehr, sehr leid. Du hast mir auch gefehlt. Ohne dich ist Paris einfach nur doof. Als mir klar wurde, was ich angerichtet habe, musste ich zurückkommen, aber ich kann verstehen, wenn du mich nicht mehr haben willst. Dann gehe ich natürlich sofort.“
Ein ersticktes Lachen, vielleicht war es auch ein Schluchzer quälte sich aus Mauritz Kehle. Liebevoll schüttelte Mauritz den Kopf und zog Sandrine an sich, wühlte eine Hand in ihr Haar. Die wenigen Tage in Paris verstärkten ihren zauberhaften Akzent. Der machte ihn echt wehrlos. Ihre Lippen suchten die seinen.
„Natürlich will ich dich noch, Chérie, ich brauche dich. Du bist meine Frau, was soll ich denn ohne dich machen?“
Ihr Kuss war sehnsüchtig, drängend. Sie öffnete sich für seine Zunge, presste sich dabei eng an ihn, zerrte an seinem Hemd um ihre Hand darunter zu schieben.
„Ich habe Abendessen für uns vorbereitet“, stammelte sie überwältigt, als sie seine warme Haut spürte, seine Härte an ihrem Bauch. Sacht strich seine Rechte über ihren Po, genau eine Handvoll und rund, über ihre Hüfte hinauf, löste die Schnürung des Kleides. „Du bist so dünn geworden, Maurice“, flüsterte sie, „es gibt gegrillte Lammspieße mit gefüllten Quarkbrötchen. Danach will ich dich, Maurice, nur dich.“
Er lachte rau, denn ihre Finger zupften zart an seinen Brustwarzen unter dem Hemd, er spürte es bis tief in seinen Unterleib. Hemmungslose Lust brodelte in ihm hoch.
„Erst danach? Ich habe Hunger, Sandrine, Hunger auf dich. Wir genießen dein Essen, wenn wir diesen Hunger gestillt haben.“
Der Sex in seiner Stimme kickte sie, so unverhohlene Anzüglichkeiten gab er sonst nicht von sich. Mit sanfter Gewalt zerrte er ihren Kopf in den Nacken, küsste ihren Hals. Sein Bart rieb, es erregte sie. Mit der anderen Hand umfasste er grob ihre rechte Brust. Mauritz keuchte. Sandrines Brüste waren klein und fest, ihre Nippel drückten sich steil aufgerichtet und hart durch den dünnen Stoff des Kleides. Ungestüm griff sie ihm zwischen die Beine.
„Nimm mich!“, fiepte sie. „Jetzt, Maurice, fick mich, bitte.“
Mauritz Blickfeld verengte sich, Verlangen wallte ungezügelt in ihm auf. Er zerrte fahrig an seinem Gürtel, schob sich die Jeans von den Hüften, trat sich die Schuhe von den Füßen. Seine Kleider landeten achtlos auf dem Boden, trafen den Hund, der sich umgehend ins Wohnzimmer verdrückte. Sandrine ließ das Kleid aufreizend langsam von ihren Schultern gleiten, stand nackt vor ihm.
Auch sie hatte abgenommen wie Mauritz bemerkte, ihre Taille war so schmal, das er meinte sie mit beiden Händen umfassen zu können, ihr Bauch flach und darunter der weiche Venushügel. Mit einer beherrschten Bewegung legte er seine Hand flach zwischen ihre Beine, rieb sie langsam. Sie war heiß, feucht. Ihre Blicke trafen sich, lustverschleiert, während Sandrine an den Knöpfen seines Hemdes herumfummelte.
Sein Hemd war ihm grad scheißegal. Er packte sie um die Hüften und hob sie hoch, drückte sie in einer Wendung mit dem Rücken gegen die Wohnungstür, sie schlang ihre schlanken Beine um ihn. Hart drang er in sie ein. So hatte er das sicher noch nie gemacht, es war brutal gut. Ihre Fingernägel krallten sich in seine Schultern, in sein dichtes Haar, als er zustieß und seinen Kopf senkte um an ihren Brüsten zu saugen.
„Mach´s mir hart, Maurice! Ich habe dir so wehgetan, bestraf mich.“
Das tat er, hart stieß er zu, registrierte unbewusst, wie Sandrine bei jedem seiner vollkommen irren Stöße gegen die Tür rumste. Das ganze Haus würde es hören. Egal. Ja, sie hatte ihm wehgetan und er war unglaublich wütend auf sie. Jetzt würde er sie sich zurückholen. Sandrine hing wie eine Puppe in seinen Armen. Er roch ihren Intimduft, ihre Nässe an seinem Schaft. Sein Stöhnen dröhnte ihm in den Ohren.
„Mach´s mir, schneller! Noch härter!“
Umgehend erhöhte er seine Schlagzahl, presste sie wie im Rausch an sich, schleppte sie in ihr Kuschelzimmer hinüber, ohne nur eine Sekunde inne zu halten. Er nagelte sie wie noch nie. Ein letzter halbwegs nüchterner Rest in ihm fragte sich, was zur Hölle er da gerade veranstaltete? Animalischer und derart brutaler Sex war nicht ihre Spielart. Er konnte in diesem Moment nicht damit aufhören, er wollte auch unter gar keinen Umständen aufhören. Sie gehörte ihm.
Mit dem Ellenbogen knallte er die Tür auf, sie krachte laut gegen die Wand, schnellte zurück. Wie seine Beute ließ er Sandrine in die Kissen fallen. Sie griff sofort nach ihm, ihre Augen fiebrig vor Lust. Ohne die übliche Behutsamkeit wegen seines Gewichts warf er sich über sie, rammte sein Glied wieder in sie hinein. Keuchend feuerte sie ihn weiter an. Schneller, härter, tiefer! Mit beiden Händen drückte er sie in die Kissen, rammelte sie trotzdem keine Minute später über den weichen Teppich des Zimmers, stieß sie, saugte an ihren Lippen, ihren Brüsten.
Wie von Sinnen wand sie sich unter ihm, zerkratzte ihm den Rücken, er spürte die Bisse in seiner Schulter. Laut schrie sie ihren Orgasmus aus sich heraus. Mauritz kam fast zeitgleich. Lichter zerplatzten in seinem Kopf, explodierten in tausend Funken vor seinen Augen. Schweiß tropfte ihm von er Stirn. Erschöpft ließ er sich auf sie sinken. Blut rauschte in seinen Ohren und sein Herz wummerte. Zärtlich legte sie ihre Arme um ihn.
„Délire, Maurice!“, flüsterte Sandrine unter ihm. Er öffnete die Augen einen Spalt weit. „Der absolute Wahnsinn, danke. Der beste Orgasmus meines Lebens.“
Ausweichend bewegte Mauritz den Kopf. Das war sicher als Kompliment gemeint, stellte für ihn leider auch gleichzeitig ihren bisherigen Sex massiv in Frage. Normalerweise nagelte er nicht wie ein Ochse mit dem Schwanz bis zum Anschlag in der Frau. Diese Rammelei war nicht ihr Ding. Dachte er wenigstens. Was gerade passiert war, entsprach eigentlich nicht ihrer bisher gepflegten Gangart. Eigentlich. Mal wieder eine Einschränkung, denn genau das hatte er eben mit beachtlicher Vehemenz getan.
„Merde alors, oui“, erwiderte er etwas zu lahm, „das war verdammt abgefahren. – Habe ich dir wehgetan? War ich zu grob?“
Sie lachte, blinzelte träge. „Mais non, Maurice, Unsinn, das müssen wir unbedingt und schnellstmöglich wiederholen. Du warst fantastisch.“
Zärtlich wischte sie ihm Schweiß von der Stirn. „Du sahst wunderschön aus, Chérie, so wild und ungezähmt. Schwarzer Teufel. Das macht mich geil.“
„Tatsächlich?“ Mauritz setzte ein Lächeln in seine Mundwinkel, es fand keinen Widerhall in seinen Augen. Was sollte er dazu sagen? Genau genommen wusste er nicht, was eben in ihn gefahren war, vielleicht wirklich ein schwarzer Teufel. War das besser als der Taugenichts? Mit beiden Anteilen war er nicht so richtig glücklich. „Jetzt möchte ich deine Spieße genießen, Chérie.“
Henrike
„Ähnlichkeiten mit früheren Situationen sind nur fiese Geschmacklosigkeiten des Lebens, sonst nichts“, murmelte Henrike mit dem Puderquast in der Hand. „Sie haben rein gar nichts mit der aktuellen Situation zu tun.“
Ihr Statement kam wenig überzeugend rüber, obwohl sie es seit Freitag mantramäßig vor sich hinplapperte. In letzter Konsequenz kam es einfach nicht an. Joris fand das witzig. Ihre Sätze zu Lührsen, der Vernissage und dem hässlichen Rest nahm er unerwartet gelassen und sehr verständnisvoll auf. Leider änderte das nichts, weswegen sie auch die Frage vermied, wie das alles schon wieder passieren konnte?
Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie kritisch ihr zart gepudertes Gesicht, wendete es im Spiegel, suchte nach Ungleichmäßigkeiten und groben Flecken. Sie war manchmal echt blind bei so etwas. Sah gut aus, glaubte sie wenigstens und griff nach Rouge und Pinsel. Konzentriert modellierte sie sich ihre Wangen, die zwar durchaus voller geworden waren, ihr Gesicht aber noch immer zu hager erscheinen ließen. Ursprünglich stand dieser Abendtermin von Hauke Wolfhagen auf der Absagenliste. Fuck.
Joris wollte keine einzige Minute sinnentleert bei lächerlichen Kulturveranstaltungen vertun. Minuten, die so kostbar waren, dass er sie nur mit seinem Vater verbringen wollte, zumal seine Mutter unglaublicher Weise tatsächlich keine Notwendigkeit zur Heimkehr erkennen wollte. Vielleicht kam sie über die Weihnachtsfeiertage kurz nach Bremen, vorher garantiert nicht. Sie cruisten gerade vor der Küste von Florida herum. Mehr Argument brauchte es für sie nicht. Klar doch. Joris versuchte es zu vertuschen, doch Henrike bemerkte genau, wie verletzt er war.
Irgendeine, in diesem Fall dämlich fehlgeleitete Synapse erinnerte Hauke Wolfhagen leider an diesen Termin am Sonntagabend, bevor Henrike ihn absagen konnte. Dabei hatte der Mann prinzipiell ganz andere Probleme, als seine Verpflichtungen als Kunstmäzen. Es handelte sich bei dem Termin um ein Klavierkonzert mit einem jungen, angeblich außerordentlich talentierten Pianisten, der seine erste Komposition mit großem Erfolg und herausragenden Kritiken bei den letztjährigenPromsin London uraufgeführt hatte. Ein Schotte.
Henrike rollte vor dem Spiegel die Augen. Kein Klavier, sondern ein Flügel, wie großkotzig. Womöglich hockte er im Schottenrock an dem Ding. Nein, nein, sie wollte nicht wissen, was er darunter trug. Noch dazu imDie Glocke, dem ehrwürdigsten Konzerthaus von Bremen, laut Herrn von Karajan mit sensationeller Akustik ausgestattet. Also ein Fall für Abendgarderobe und High Society. Joris gab ein kategorisches Nein von sich, der Mäzen-Scheiß war jetzt total unwichtig. Henrike verstand ihn nur zu gut. Sie hätte sich das auch nicht gegeben, obwohl sie klassische Musik durchaus mochte.
Es reichten zwei rasiermesserscharfe Sätze des todkranken Mäzens, die ihn zugleich feuerrot anlaufen ließen und seinen Puls derart pushten, dass der Alarm losging und Joris kapitulierte. Die hereinstürmende Schwester warf ihm einen einäschernden Blick zu, während sie hektisch am Tropf von Hauke Wolfhagen herumfummelte und am Bildschirm tippte. Der Alarm verstummte. Henrike seufzte leise, Hauke Wolfhagen wirkte zufrieden.
„Du machst das, Joris, Pflichtprogramm!“, stellte er klar ohne auf die Schwester zu achten, richtete dann seinen unnachgiebigen Blick auf Henrike, die umgehend steif wurde. „Und zwar mit der passenden weiblichen Begleitung. Der Pianist hat nämlich seine Muse dabei. Da deine Mutter sich anderweitig herumtreibt, nimmst du die schöne Walküre mit. Die ist perfekt dafür.“
Henrike kam nicht einmal dazu Luft für ein nein einzuatmen und ihr nein wäre typischerweise auch unbeachtet geblieben. So wechselte sie nur einen empörten, leider nutzlosen Blick mit Joris. Gleichzeitig zischte die Schwester etwas, vonnicht aufregenundganz schlechtund stürmte aus dem Zimmer zum nächsten Notruf. Ende aller Diskussionen.
Wenigstens verstand Joris ihre Befürchtungen, wenn sie gemeinsam dort auftauchten, denn mit absoluter Sicherheit tummelten sich bei diesem Konzert genau die Gestalten der Bremer High Society, die auch an jenem grässlichen Abend in Bremerhaven anwesend gewesen waren. Und die, die es nicht live erlebt hatten, waren garantiert längst bei der nächsten Party über die skandalösen Vorgänge informiert worden und wussten haargenau, wer Henrike von Leuenstein war, wer Joris Wolfhagen. Sie würden sofort erkannt werden. Eine grandiose Vorstellung.
Eben hing der vollbusigen Schlampe noch der ehemalige Senator für das Innere zwischen den Beinen, jetzt hatte sie den schnuckeligen Sohn des bekanntesten Kultur-Mäzens der Stadt am Haken, der sehr reich, sehr begehrt und unübersehbar deutlich jünger war als sie. Eine rasante sexuelle Karriere.
Unübersehbar kämpfte Joris mit einem Lach-Flash als sie das so formulierte, kaute auf seinen Wangen um sie irgendwie zu entspannen. Keinesfalls wollte er ihr das Gefühl geben sie nicht ernst zu nehmen.