Die Geschichten der Liou Pai - Pierre Könnicke - E-Book

Die Geschichten der Liou Pai E-Book

Pierre Könnicke

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Beschreibung

Erik, zukünftiger Thronerbe des Hauses Tanneburg, hatte nach langanhaltenden Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Fortbestandes des Reiches und des Umganges mit dem geflohenen Volk der Hassaren, im Streit mit seinem Vater Viktor, fluchtartig die Stadt, sein Erbe und den zukünftigen Herrschaftssitz verlassen. Die Pläne des Königs, wiederholt gegen die Eindringlinge in die Schlacht zu ziehen, teilte der junge Prinz nicht und befand sich nun, in Begleitung seines besten Freundes Jannek, verfolgt von den Schergen Viktors, auf der Flucht. Auf der Suche nach Rat beginnt für beide nun ein Abenteuer, welches sie quer durch die Lande treibt. Dabei treffen sie alte Freunde, neue Wegbegleiter und stoßen auf eine größere Bedrohung als den sich anbahnenden Krieg, nach dem es den König verlangt. Es beginnt eine Reise voller Gefahren, Hass, Liebe, Leid und Völker, die sich im Kampf gegen einen Tyrannen in einer noch aussichtsloseren Situation wiederfinden sollten. Aber vor allem geht es um Freundschaft und den Mut, sich dem Bösen geschlossen entgegenzustellen.

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Texte: © 2023 Copyright by Pierre Könnicke

Umschlag:© 2023 Copyright by Pierre Könnicke

Verantwortlich

für den Inhalt:Pierre Könnicke

Am Markt

06268 Querfurt

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Auszug aus Meister Herolds Fundus

Etwa 261 Jahre vor dem Beben.

Aufzeichnung von Königin Leonie

Wenn die Völker der Welt dazu bestimmt sind, den Zwist der Götter auszutragen, 

wird es die Schwäche der Menschen sein, 

die das Land an den Rand des Abgrunds führen wird.

Naiv und kühn glauben sie, der alleinige Inhalt der Geschichte zu sein, doch vor den verborgenen Kräften dieser Welt, von denen ich sie vergebens zu warnen versuchte, verschließen sie ihre Augen.

Für diesen Fehler werden sie noch einen hohen Preis zahlen.

Inhalt

Prolog: Nakub

Erstes Kapitel: Die Wege des Königs

Akt 01: Das Fenster im Berg

Akt 02: Altum Viktor

Akt 03: Die Taverne zum Eisfalltal

Akt 04: Das Dach der Welt

Akt 05: Die Karawane

Zweites Kapitel: Die Flucht

Akt 06: Die Stille von Treden

Akt 07: Seltene Gäste

Akt 08: Mattheos Wissen über die Menschen

Akt 09: Zu Tisch mit Viktor

Akt 10: Die müden Felder

Akt 11: Deens Flucht

Akt 12: Das Erwachen in Narcos

Drittes Kapitel: Nebel des Krieges

Akt 13: Porto Ling

Akt 14: Mit den Augen einer Katze

Akt 15: Mattheo über die Pai

Akt 16: Urmas’ Gefangener

Akt 17: Der Fremde in den Bergen

Akt 18: Am Fuße des Pai-Gebirges

Akt 19: Der Weg durch den Berg

Akt 20: Schlacht im Odetal

Akt 21: Das Treffen in Leekon

Akt 22: Der Kampf des Königs

Viertes Kapitel: Das Leid des Bruders

Akt 23: Die Ebene von Sakada

Akt 24: Minnos’ Axt

Akt 25: Sehni Barka

Akt 26: Die Hallen von Kaskadur

Akt 27: Der letzte Shaguth

Akt 28: Altum Nakub

Nachwort

Glossar

Zeittafel und Karte

Die Geschichten der Liou Pai

Prolog: Nakub

Die Welt Nakub

Minnos, Gott der Schöpfung, Herr des Lichtes und sein jüngerer Bruder Thul, Wächter der Erde und Herr des Gesteins, wurden von den großen Titanen auf Nakub gesandt, um die Geschicke der Welt zu lenken sowie Wiesen, Wälder und Berge zu schaffen. Sie formten die Landschaften, Hügel, Täler und mit dem Zug der Astara im Norden, das größte aller Gebirge Nakubs und auf diesem den Gipfel der Pai.

Ein immergrünes, von schneebedeckten Bergen umschlossenes Tal, welches die Brüder nun ihre Heimat nannten, galt als das Dach der Welt. Dort pflanzten sie den Baum des Lebens. Dessen Früchte und Samen sollten über Nakub verteilt das Land im farbenfrohen Glanz erstrahlen lassen.

Nachdem die Vegetation ihren Lauf und die ersten großen und kleinen Lebewesen über Jahre hinweg mit Wind und Wetter ihren Weg im Einklang der Natur fanden, nutzten die beiden ihre gebündelten Kräfte, um mit der Hilfe des in voller Blüte stehenden Baumes einen dritten Gott zu erschaffen.

Einen Gott, der Nakub mit der Kraft des Wassers bereichernd, einzigartig, vielfältiger und wahrlich vollkommen machen sollte. Doch etwas störte ihr Vorhaben und so entstand eine Göttin. Kirya, Mutter des Wassers.

Mit ihrer Hilfe entstanden Meere, Flüsse und Seen, die das große Festland teilten und so zahlreiche Inseln und Kontinente entstehen ließen, wie das zentral gelegene Vesteras mit dem Heimatberg der Pai, Al Basha im Süden, Andanes hoch im Norden sowie das ferne Kosaria im Osten und Dimitrien im Westen, um nur einige zu nennen.

Über Jahrtausende erstrahlte ganz Nakub im Licht. Es entstanden Kulturen, Religionen und eine bezaubernde Vielfalt an Geschöpfen, die in Harmonie und Einklang mit der farbenfroh fruchtbaren Natur friedlich diese Welt bewohnten.

Doch im Laufe der Zeit verliebten sich die Brüder in Kirya und rangen verzweifelt um ihr Herz. Minnos sollte es sein, dessen Liebe sie erwiderte. Thul, zornig und erbost über ihre Entscheidung, Nakub nicht verlassen wollend, zog sich mit einem Setzling vom Baum des Lebens in den Süden zurück. Er kehrte den beiden niedergeschlagen den Rücken und überzog in all seiner Verzweiflung Al Basha mit Feuer und Sand.

Nichtsahnend und blind vor Liebe lebten Minnos und Kirya glücklich auf dem Gipfel des Pai-Gebirges. Die Leidenschaft, die beiden innewohnte, war überall im blühenden Norden Nakubs wiederzufinden. Kirya gebar Minnos im Laufe der Jahre 11 Kinder. 11 Pai.

Sämtliche Nachkommen waren weiblich und jedes einzelne von ihnen besaß einen Teil der Kraft, Begabung und die Weisheit ihrer göttlichen Ahnen. Für jedes von ihnen trug der Baum des Lebens eine blaue Blüte, deren Farbe sich in den Augen der Kinder wiederfand.

Viele Jahre später verlangte Thul nach einem Zusammentreffen mit seinem Bruder Minnos und der Göttin Kirya, die Zwillinge in sich trug. Sie folgten seiner Einladung und begaben sich nach Al Basha. Dort angekommen, bat sie Thul um die Erschaffung eines Gottes nach seinen Vorstellungen und Idealen. Mit seinem Setzling vom Baum des Lebens gepflanzt in seinem rot schimmernden Sand, der nun den kompletten südlichen Kontinent bedeckte und sich selbst in Thuls Augen widerspiegelte.

Minnos und Kirya, entsetzt über das Chaos, welches statt der einst blühenden Pracht im Süden herrschte, und das Leid, das seine Geschöpfe über den Norden brachten, verneinten seine Bitte. Thul hatte sich in den Jahren der Einsamkeit stark verändert, er war kaum wiederzuerkennen.

Unter den Blicken der Schergen, die er schuf, den Tau Pao, sollte ihr letztes Treffen nun im Streit, gefolgt von Blitz und Donner, ein jähes Ende finden.

Ein für Nakub unbekanntes Maß aus Hass brodelte aus Thul auf die beiden ein. Im Wahn verfluchte er sie und warf Kirya eine Handvoll blutrotem Sand entgegen, der unschwer zu erkennen schon die ganze Zeit aus seiner geballten Faust und teils aus den groben Poren seiner rissig vernarbten Haut rieselte.

Er traf sie im Gesicht und erzürnte seinen Bruder so stark, dass er ihn und seine Kreaturen für immer auf Al Basha verbannte und so sollten sich die Wege der einst im Licht herrschenden Diener der Titanen für immer trennen.

Wieder in ihrer Heimat, dem Gipfel des Pai-Gebirges angekommen, erkrankte Kirya und wurde unweigerlich schwächer. Sie berührte den Baum des Lebens, um mit dessen Kraft zu genesen, doch das Gegenteil geschah. Ihre Hand hinterließ einen roten Abdruck auf diesem.

Die Blätter des Baumes des Lebens wurden welk und das Rot auf ihm breitete sich so rasch aus wie das Leiden in Kirya, die nun auch um das Leben, welches in ihr heranwuchs, bangen musste.

Das gleiche Schimmern, das gleiche Rot wie der Sand in Thuls Faust war zu sehen. Die strahlend blauen Blüten des Baumes zogen sich zusammen und suchten Schutz in verschlossenen Knospen.

In den darauffolgenden Tagen verschlimmerte sich Kiryas Zustand. Ihre blauen Augen verloren jegliche Farbe und verwandelten sich in kaltes, mattes Grau. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und gebar Yanka. Die 12. Pai. Wie alle ihre Schwestern besaß sie die einst blauen Augen ihrer Mutter. Kirya wurde schwächer und schwächer und starb unter einem markerschütternden, schrill kreischenden Pfeifen bei der Geburt ihres letzten Kindes. Der letzte Nachkomme der beiden erblickte das Licht der Welt: Yamas. Der 13. Pai und der einzige männliche Spross der Götter.

Als Minnos seinen Sohn in den Arm nahm und der Junge zum ersten Mal seine Augen öffnete, sah er dessen rot schimmernde Pupillen. Er wusste, dass die Flüche seines Bruders dieses Unheil über sie gebracht hatte. In Verzweiflung, zornig, wütend und nicht im Stande dem Knaben in die Augen zu schauen, verstieß er Yamas vom Gipfel der Pai. Tobend nahm Minnos seine Axt und schlug diese unter einem lauten Grollen, welches das Gebirge heimsuchte, in den Baum des Lebens.

Ein großes Beben erschütterte ganz Nakub und noch während des Einschlags, von einem gewaltigen Blitz getroffen, versteinerte Minnos auf der Stelle. Zweigeteilt verlor der Baum des Lebens all seine Blätter und der sich auf ihm ausbreitende rote Schatten hielt mit seinem Tod inne.

Minnos’ Tränen flossen weiter aus seinem versteinerten Abbild. Diese sind nun Ursprung und Quelle des Innok, dem größten Fluss durch Vesteras, der das Land teilt und dessen Strömung nun so stark in das Meer mündet, dass nichts in der Lage wäre, vom südlichen Kontinent in Richtung Norden zu gelangen.

Auf dem tosenden Fluss treibend und durch die Strömung bis an die Ufer nach Al Basha getrieben, wurde Yamas, der 13. Pai nun in die Obhut von Thul und seinen Schergen genommen.

Anders als auf Vesteras gab es hier kein Grün mehr. Kein klares Wasser. Keine Liebe, kein Licht. Nur Schatten und Dunkelheit.

Karger Fels, durch dessen Schluchten grauenhafte Schreie toben. Heiße Stürme treiben rote Dünen über die trockenen Lande. Thuls Setzling vom Baum des Lebens, hier von ihm gepflanzt, überzog alles als trostlose schwarze Dornenhecke. Diese war neben trockenem Gestrüpp das Einzige, was in dieser Einöde zu wachsen schien.

Auch das Leben, das im Süden entsprang, war weitab von dem, das früher Hand in Hand mit seinem Bruder geschaffen wurde.

Yamas, der mit Hilfe und unter dem Zorn Thuls seine göttlichen Kräfte und Stärken entdeckte, schwor Rache an seinem Vater.

Mit der Zerstörung des versteinerten Abbild Minnos’ würde die Quelle des Innok versiegen und die Passage zwischen den Kontinenten wäre wieder passierbar. Yamas und Thul könnten mit Hilfe ihrer Schöpfungen alles Leben, welches den strahlenden Norden besiedelt, jagen und großes Leid über dieses bringen.

Die sich nun anbahnende Bedrohung könnte Folgen für die ganze Welt Nakubs haben. Wenn sich der blutrote Sand Thuls und der Schatten Al Bashas über das Licht im Norden legten, gäbe es keine Zukunft mehr für das Leben, das einst aus Liebe entsprang.

Erstes Kapitel: Die Wege des Königs

Akt 01: Das Fenster im Berg

151 Jahre nach dem großen Beben, welches Minnos’ Axtschlag in den Baum des Lebens verursachte und eine neue Zeitrechnung der Völker Nakubs einleitete. (151 n.B.)

»Elijas, verdammt…! Schließe das Fenster oder lösche das Licht. Am besten beides! Die Dämmerung naht.«

»Aber, ...«

»Nein, nicht aber, Licht aus! Und Opa Mattheos Linsen kommen auch wieder an ihren Ort, hörst du?«

»Ja, Mutter.«

Akt 02:Altum Viktor

Klopf, Klopf…

»Altum Viktor, mein Prinz.«

»Für den König«, erwiderte Erik murrend durch die massive Eichentür, die sein Zimmer vom Flur trennte. Marcels freundliche Bitte nach ein bisschen mehr Begeisterung, nahm niemand in dem Raum wirklich ernst.

Weiteres Klopfen…

»Euer Vater schickt mich«, hallte es wiederholt mit dünner Stimme durch die alten Gemäuer der Burg La Nistras, dem Thronsitz der Familie Tanneburg.

Unruhe brach aus.

Erik, der ältere der beiden Söhne König Viktors von Tanneburg, hatte vor vier Tagen sein zwanzigstes Lebensjahr erreicht. Sein jüngerer Bruder Deen befand sich wie seine Schwester Jasmin im achtzehnten Jahr seines Lebens. Die beiden Jungen sahen sich zum Verwechseln ähnlich, Deen war das jüngere Ebenbild Eriks. Wissbegierig, belesen und loyal, die Eigenschaften eines Königs. Ganz wie der Vater schwärmte Viktor auf Hofe, nie müde werdend, dieses immer und immer wieder zu betonen. Vor allem Erik war sein ganzer Stolz.

Kurzes, dunkelbraunes Haar, braune Augen, groß gewachsen, athletisch und robust. In Turnieren war er stets einer der Besten, egal, um welche Disziplin es sich dabei handelte.

Die Erben Viktors genossen reichlich Ansehen in ihrem Herrschaftsgebiet. Sie sind stets aufmerksam und freundlich, aber in den Augen ihres Vaters zu hilfsbereit und zu interessiert an den Belangen des Pöbels.

Wiederholtes Klopfen…

Erik zog sich schnell seine gesteppte Jacke über, deren goldene Manschettenknöpfe und Schnüre das königliche Dunkelblau zierten - die Farbe, die schon seit vielen Generationen neben der Kleidung auch die Banner des Königshauses schmückte.

Vor der linken Brust funkelte das Wappen, auf dem sich die Silhouette der stolzen Burg befand. Mit den hervorgehobenen Zinnen und dem alles überragenden Hauptturm, für den die Hauptstadt La Nistras, die seit jeher Heimat der Könige Vesteras war, weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden war.

Den Turm schmückte eine goldene Spitze und seine Mauern aus Kalkstein ließen ihn sowie die anderen vier etwas kleineren, aber dennoch imposanten Bauwerke, die der Verteidigung der Festung dienten, in der Morgensonne golden erstrahlen.

Die Burg der Stadt La Nistras und deren edler Glanz war in den Landen der Menschen Inhalt vieler Gedichte und Lieder. Das Heiligtum und der Stolz der Bewohner, die in ihr und in deren Umland lebten.

Das Herrschaftsgebiet der Familie erstreckt sich über die fruchtigen Lande Vesteras. Von den sandigen Stränden Lauries im Süden bis hoch zu dem Schnee behangenen, schier unbezwingbaren Gebirgszügen im Norden. Selbst die meisten der eisigen Skak-Inseln, Heimat der Stämme im Nordosten, zählten einst zu dem Einflussgebiet.

Der in die Jahre gekommene König, dessen große Taten und Tugenden verblassten wie die Farbe in seinem Haar, herrschte schon über vierzig Jahre und das in der dritten Generation über das Reich der Mitte, wie es von vielen genannt wurde.

Trotz seiner krummen Haltung war er noch immer ein großer, einschüchternder und muskulös breit gebauter Mann. Ein stolzer Heerführer, der sich gewissenhaft und am liebsten selbst um die Belange und Diplomatien seines Reiches kümmerte.

Dennoch spürten die Menschen, die ihm nahestanden, dass seine Gedankengänge und Befehle in den letzten Tagen leicht behäbig und teilweise fragwürdig geworden sind, gleichwohl er mit seinen über sechzig Jahren anderen Gleichaltrigen gegenüber noch sehr agil wirkte und bei kleineren Turnieren noch immer überzeugen konnte.

Jedenfalls war es Erik, dem stets Zweifel aufkamen, da die ständigen Meinungsverschiedenheiten mit seinem Vater spürbar die Beziehung zu ihm belasteten.

Und wieder die Tür, Klopf, Klopf…

»Euer Vater verlangt nach euch, mein Prinz.«

Marcel wurde spürbar ungeduldig. Seine Stimme hatte nun auch merklich mehr Nachdruck. Der Läufer und Diener Viktors war ein Mann, der sich keinen Schnitzer erlauben konnte. Froh im Hause des Königs dienen zu dürfen, aber stets in Begleitung der Angst, seinen Herren zu erzürnen oder seinen Bitten nicht Genüge zu tun. Eine allgegenwärtige Furcht, die neben ihm auch allen anderen Bediensteten innewohnte.

Im Zimmer des Prinzen falteten nun Erik, sein jüngerer Bruder Deen und Jannek aus dem Hause Vareks, die sich ebenfalls zum Zeitpunkt in dem Gemach befanden, rasch Stoffreste, Stöcke und Hölzer zusammen und verschlossen diese in einer schweren Kiste, die sie mit ihren Füßen unter das große Bett, welches in der Mitte des Raumes stand, schoben.

Marcel spürte die aufkommende Hektik und Unruhe, die jedes Mal zu spüren war, wenn man alle oder einen der jungen Männer im Namen des Königs zu diesem zitierte.

Mit gespitzten Ohren versuchte der Bedienstete die Geräusche hinter der Tür einzuordnen, doch er vermochte nichts zu hören, was in seinem Kopf einen Sinn hätte ergeben können, da Johann, Janneks Hund, so laut bellte, dass es die über den Boden kratzende Truhe übertönte.

»Als ob Vater es jedes Mal wissen würde«, sagte Deen zu Erik.

Jannek zuckte nur mit seinen Achseln und beruhigte seinen Hund, den er liebevoll nur Jo nannte. Ein mittelgroßer Jagdhund mit langem, sandfarbenem Fell.

Seit er denken kann, ist er sein treuer Begleiter und Geschenk seines Vaters Varek, dem Fürsten der Inseln im Norden. Seit vielen Jahren kennen sich die Jungen und pflegen ihre Freundschaft. Sie besuchten einander schon im Kindesalter und haben zusammen viel erlebt und eine Menge Unfug getrieben. Wie es sich halt für Knaben, denen das Leben auf dem Hofe zu öde war, gehörte.

Es war vor allem König Viktor, der sich stets bemühte, dass die jungen Erben, Deen und Jasmin inbegriffen, den Kontakt hielten und sich, so oft es geht, treffen konnten, obwohl die Überfahrt in den Norden nicht ganz ungefährlich war.

Die Nord- oder auch Nebel-Passage genannte Durchfahrt war durch herumtreibendes Packeis und dichten Nebel nur schwer zu befahren und selbst für die besten Schiffe und Matrosen immer ein Wagnis.

Jannek mit seinen langen blonden Haaren, blaugrünen Augen und Kleidung, die offensichtlich nicht von einem Schneider des Festlandes Vesteras stammte, war so etwas wie ein großer Bruder für Erik geworden und beide wussten, dass sie sich zweifelsfrei immer aufeinander verlassen konnten.

»Wir sehen uns später«, flüstert Erik, Deen und Jannek zu und lief langsam zur Tür, vor welcher Marcel nervös wartete.

Janneks Wunsch, das Wetter zu nutzen, um sich die Kaskaden von Treden und deren Sturzbäche anzusehen, wird wohl noch warten müssen, stellte er betrübt fest.

Dennoch verloren sie den Plan nicht aus den Augen und Jannek wollte Deen überreden, die Zeit zu nutzen, um die Pferde zu satteln und etwas Proviant zu organisieren.

»Ich will ja nicht drängeln, mein Herr, aber Euer Vater.«

Ein letztes Klopf, kl…

Der letzte Schlag ging ins Leere. Erik öffnete die Tür und tat dies so geschickt, dass Marcel keine Chance hatte, einen Blick in das Zimmer werfen zu können.

Er wollte nicht, dass sein Vater erfährt, dass Deen wieder den ganzen Morgen bei ihm war. Jannek konnte er durch Jos Gebell nicht verbergen, aber wozu auch, er war immerhin sein Gast.

Erik quetschte sich nun durch den kleinen Spalt der wuchtigen Tür und grinste Marcel aufgesetzt freundlich ins Gesicht.

Dieser begrüßte den Prinzen nun mit einem kleinen Knicks und einem »Altum, Viktor« Den königlichen Gruß, der im Hause Viktors lange Tradition hat, erwiderte man stets mit einem "Für den König", doch der Diener bekam vom Prinzen am heutigen Morgen nur ein kurzes »Ja, ja.« zu hören.

Neugierig zappelnd versuchte Marcel an des Prinzens Schultern vorbeizuschauen, um irgendetwas im Zimmer zu erhaschen, aber vergebens.

Was der Diener Viktors zu sehen versuchte, ihm aber verborgen blieb, war der Bau eines Steigers. Die drei jungen Männer arbeiteten heimlich an einer solchen Apparatur.

Es war aber eher ein Modell eines echten Steigers, welches aus einem leichten Holzgestell und einem Stoffbezug bestand. Die für einen Menschen angepassten drachenartigen Gleiter sind um einiges größer und robuster als dieser Nachbau und hätten wahrscheinlich aufgrund der Breite nicht einmal in Eriks Zimmer gepasst.

Das Wissen und die Handhabung dieser Drachen brachten vor einiger Zeit die Hassaren aus dem staubigen Süden mit in den Norden, wusste Jannek zu berichten.

Schon immer hatten die jungen Männer munteres Interesse an den königlichen Steigern. Mit Hilfe dieser Gestelle sprangen die mutigsten Männer aus Viktors Garde mit Anlauf von Bergen oder Türmen. So glitten sie über große Strecken durch die Lüfte und die Geübten unter ihnen konnten, wenn der Wind gutstand, sogar an Höhe gewinnen.

Viktor hielt nicht viel davon, dass seine Söhne versuchten, das Steigen zu lernen. Es gibt Soldaten, die dafür ihren Kopf riskieren sollen. Zu gefährlich und nichts für die zukünftigen Herrscher des Landes, gab der König immer wieder zu verstehen.

Ein Zwischenfall bekräftigte seine Ängste, bei dem Deen in jungen Jahren durch das tollkühne Verhalten Eriks sein Augenlicht verloren hatte und seitdem in der Öffentlichkeit meist mit einem grauen Tuch, welches seine Augen bedeckt, zu sehen war. Bis auf wenige Umrisse nimmt er seit dem Unfall nichts mehr wahr. Trotz alledem verlor er nie den Willen am Leben. Nie machte er Erik Vorwürfe, im Gegenteil. Es ermutigte Deen weiter zu kämpfen und all seine Ziele zu erreichen. Er wollte seinen Vater nie enttäuschen und versuchte all seinen Aufgaben immer gerecht zu werden und Viktors Ansprüche mit all seiner Kraft und Hingabe zu erfüllen. Deen strebte an, nie im Schatten seines Bruders zu stehen, und in Eriks Auffassung tat er das auch nicht. Sie teilten die gleichen Stärken und Schwächen.

»Wo genau beliebt es dem König, seinen Erstgeborenen in Empfang zu nehmen?«, wollte Erik mit teilnahmslosem Blick wissen.

»Im kleinen Saal, Herr Prinz, im Jagdzimmer«, antwortete Marcel.

Der schmächtige Diener Viktors war durch Erik durchaus eingeschüchtert, denn er hatte den gleichen durchbohrenden Blick wie sein Vater, vor allem, wenn ihm etwas missfiel.

Dennoch wusste Marcel, dass er später unter seiner Führung nicht so leiden müsse wie unter der Viktors, aber bis dahin würden noch einige Jahre vergehen. Er hatte zweifelsohne Sympathie für die Jungen, dennoch musste er sich weiter unter Viktor beweisen und sorgfältig seinen Aufgaben und Pflichten nachgehen.

»Kommt«, sagte dieser nun zu Erik, der aber in dem Augenblick schon eilig an Marcel vorbeizog.

Den ganzen Weg durch das Gewölbe des Westflügels der Burg lief Erik mit erhobenem Haupt und einem strammen Schritt vor Marcel. Beide wussten, weshalb Viktor nach seinem Sohn verlangt hatte. Sie wechselten kein Wort. Nur das fortan klackende Geräusch ihrer Sohlen, welches über den kalten Flur, der kein Ende zu nehmen schien, war zu hören.

Der breite Gang führte sie nun in den großen Saal der Könige, mit dem in Eriks Augen viel zu pompösen Thron, der auf einer kleinen fünfstufigen Empore stand und den aufwendig verzierten Säulen, die das Hallendach stützten und große Taten und wichtige Ereignisse der Menschen in Form von Gemälden trugen.

Auf dem breit ausgelegten roten Teppich, der auf dem Boden lag und ihren Weg kreuzte, verstummten kurz ihre Schritte, deren Hall mit Betreten des steinigen Bodens wieder einsetzte.

Sie betraten nun den nächsten langen Flur, der sie vorbei an dem blauen Salon führte. Das große Esszimmer der Burg, welches auch gerne für Feierlichkeiten oder Tagungen genutzt wurde, ließen sie hinter sich.

Genau darüber lagen Deens und Jasmins Zimmer. Teilweise hörten sie nachts die Gelage ihres Vaters und werteten diese dann zusammen mit Erik am nächsten Morgen aus. Wohlwissend, dass sich Spitzeln nicht schickt und schon gar nicht für die Gesellschaft vom Hofe, aber sie waren gewiss nicht die einzigen in der Burg, die keine Mühe hatten, schon vor der Bekanntgabe neuer Gesetze und Kundgebungen von ihnen zu erfahren und das lange, bevor sie es überhaupt an das schwarze Brett am Marktplatz geschafft hatten.

Der Weg führte die beiden nun an dem nach frischem Brot dufteten Raum vorbei, weiter den Flur entlang.

Durch die großen Fenster, die nun die Morgensonne in die kalten Gemäuer ließen, konnte man den strahlend blauen Himmel und Teile der unteren Viertel der Stadt sehen. Am Horizont über den noch nebligen Tälern sah man die immer gelb blühenden Felder von Narcos, die für ihre grellen Farben bekannt waren und die es selbst auf große Gemälde in den Thronsaal geschafft hatten. Ihre immer der Sonne zugewandten Blüten sind seit jeher ein mit Vorsicht zu genießendes Schauspiel, deren Gefahren aber erst im späteren Verlauf dieser Geschichte eine Rolle spielen werden.

Der Tag versprach, sonnig und warm zu werden, dennoch schien sich Eriks Laune zu verschlechtern, da sein Plan für den heutigen Tag etwas anderes vorgesehen hatte.

Er wollte mit seinem Bruder Deen und Jannek nach dem Frühstück raus aus der tristen Burg, hinein ins Grüne. Doch jetzt läuft er wieder den kargen Weg in der nach altem Leder riechenden Festung zu seinem Vater.

Wieder durch einen langen Flur, die Wände nun aber mit riesigen Teppichen behangen, bis hin zu einer großen Doppeltür. Dahinter befand sich das alte Jagdzimmer Viktors und das Ziel ihres morgendlichen Spaziergangs durch die Burg.

»Altum Viktor«, begrüßten Erik die Wachen, die Stolz mit einer langen Pike, dessen Spitze im gleichen Silber glänzte wie ihr Brustpanzer, links und rechts neben der Tür standen.

Ohne den Gruß zu erwidern, öffnete Erik kopfschüttelnd die Tür. Marcel, der sich den großen Schritten kaum anschließen konnte, war noch ein Stück entfernt, als seine Bewegung langsam ins Rennen überging.

»Du verlangst nach mir«, begrüßte der Prinz seinen Vater.

»Schließ die Tür«, erwidert Viktor.

Mit einem lauten Knall warf Erik diese vor Marcels Nase ins Schloss, der sich nun gedemütigt neben der Leibgarde platzierte.

Die rote Farbe in seinem Gesicht ließ seinen Unmut schlecht verbergen und er vernahm, ohne Zweifel ein leises Feixen der Wachen, welches er aber versuchte auszublenden.

Dennoch brodelte es in ihm, aber in der Hierarchie stand er nicht über der Leibgarde des Königs, ganz im Gegenteil. Marcel war alles andere als gut angesehen und hatte oft mit Spott und Hohn der anderen zu kämpfen.

Im Jagdzimmer der Burg kam es nun zu dem Gespräch zwischen Viktor und Erik, welches der König an diesem frühen Morgen verlangte und weshalb er nach seinem Sohn schicken ließ. Es war nicht das Erste dieser Art, aber das Ende sollte am heutigen Morgen ein anderes sein. Erik und sein Vater hatten wahrlich schon bessere Tage.

In letzter Zeit stritten sie beinahe ständig. Egal, wie klein oder unbedeutend die Konflikte waren, sie konnten beide sehr stur sein und das merkte man. Vor allem Viktors Verhalten seinen Getreuen gegenüber hat sich verändert. Er war schon immer harsch, aber in letzter Zeit war er leicht reizbar und man wagte es kaum, ein Wort von ihm in Frage zu stellen.

Selbst das Küchenpersonal wechselte er kurzerhand aus, wenn ihm etwas missfiel. Marotten, die er noch nicht allzu lange pflegte, aber diesen nun akribisch nachging. Auch einer der Gründe, weshalb Erik Viktor auswich.

Wenn der König seinen Sohn nicht gleich am Morgen zu ihm zitierte, war er den ganzen Tag unterwegs und kam bewusst erst dann wieder in die Burg, wenn er wusste, dass im Zimmer seines Vaters kein Licht mehr brannte. Das bedeutete nicht zwangsläufig, dass sich Viktor dann im Bett befinden musste, aber meist waren dann die Gänge und Treppenhäuser nicht mehr beleuchtet und man konnte mehr oder weniger unbemerkt durch die Burg gehen.

An diesem Morgen schaffte es Erik nicht, seinem Vater zuvorzukommen und fand sich nun im Jagdzimmer der Burg wieder.

Viktor, mit langer blauer Robe bekleidet, stand am offenen Fenster des Raumes und drehte sich langsam in Richtung der Tür.

Er warf seinen Blick auf Erik und musterte ihn nachdenklich. Seinen Zorn, dass ihn sein Sohn so lange hat warten lassen, ließ er ihn heute nicht spüren, und erinnerte sich an die letzten Gespräche, die allesamt im Streit auseinander gingen. Die Liebe zu Erik wohnte ihm trotz aller Meinungsverschiedenheiten inne, dennoch, die Beziehung der beiden entwickelte sich zu einer Art Hassliebe.

Der König war zuversichtlich, dass das Gespräch heute, warum auch immer, besser verlaufen könnte, als die Dutzend anderen zuvor und versuchte sich im Freundlichsein.

»Nicht so zornig, mein Sohn, die Tür hat niemandem etwas getan.«, sagte der König lächelnd.

Es war ein wahrlich schöner Morgen und selbst Viktor war nicht nach Streit. Er genoss die Sonne, die durch das Fenster auf sein Gesicht schien. Dadurch wirkte seine blasse Haut gesünder als sonst und sie verbarg sogar seine Altersflecken, die die Züge des Königs schon lange zeichneten.

Die Aussage, dass schönes Wetter sei und Erik wenig Zeit für seine Geschichten hätte, erwiderte der König nur mit einem skeptischen Blick. Er solle sich die Zeit nehmen, wenn sein Vater nach ihm verlangt, immerhin sei es wichtig, betonte er.

Die Stimmung des Prinzen jedoch war mit dem Klopfen Marcels schon gekippt oder vielleicht auch schon davor in seinem Zimmer, als er daran dachte, dass ihn sein Vater lange nicht mehr zu sich geordert hatte. Und mit lange meinte er eine Zeitspanne von zwei Tagen.

»Ist es nicht immer wichtig?«, entgegnete Erik und sah sich um. Nicht dass er das Zimmer nicht kennen würde, aber am heutigen Morgen hatte es einen gewissen Charme. Nicht das übliche Kaminfeuer, sondern die Sonnenstrahlen, die den nackten Stein rot schimmern ließen.

»Und, konnte ich dich zufriedenstellen mit dem Fest zum Anlass deines Ehrentages?«, fragte Viktor.

Erik machte vier Schritte in den Raum, sodass er auf dem großen Teppich stand, der den Boden schmückte. Er war mit Bildern einer großen Treibjagd bestickt. Man erkannte auf ihm die alten Könige und Familien des gesamten Herrschaftsgeschlechts.

»Du verlangst doch nicht ernsthaft nach mir, um die Feierlichkeiten auszuwerten? Das taten wir schon einen Tag nach dem Fest und wie ich bereits erwähnte, wäre dieser Aufwand nicht nötig gewesen, Vater, aber Danke«, erwiderte Erik.

»Nicht dafür«, antwortete der König und lief schmunzelnd in die Mitte des Raumes zu einem einsamen Sessel.

Das restliche Mobiliar, welches sonst hier stand, befand sich noch immer im Festsaal, dadurch wirkte der Raum größer als er eigentlich war, aber auch trost- und lebloser: Nur dieser Sessel, der rot angestrahlte Stein, der in Eriks Augen geschmacklose Teppich und sein Vater.

Die Euphorie des Prinzen, den Vormittag hier zu verschenken, machte sich förmlich an Blick, Haltung und seinem Ton bemerkbar.

Viktor stützte sich nun behäbig auf die Rückenlehne des großen, mit Leder und Fell bezogenen Möbelstücks mit Armlehnen, die in Form von geschnitzten Bärentatzen verziert waren.

»Habt ihr viel getrunken? Du und deine Gäste? Hattet ihr Spaß?«

Auf die Frage, was er wirklich von ihm wolle, rückte der König mit einer Anmerkung heraus, mit der Erik schon fest gerechnet hatte: »Ich habe gesehen, dass Jannek zwischen dir und deinem Bruder Deen gesessen hat«, erklärte Viktor und drehte bedacht einen seiner goldenen Ringe um den linken Zeigefinger.

»Wo sollte er sonst sitzen? Er ist unser Gast«, entgegnete Erik.

»Er ist aber auch Jasmins Gast«, bemerkte Viktor arrogant.

Erik zog die linke Braue nach oben und verdrehte die Augen. Auf die Frage, ob Jannek und Jasmin sich abends nähergekommen sind, verwies Erik auf das Alter seiner Schwester, welches jedoch in Viktors Augen keine Rolle spielte.

»Ich glaube nicht, Vater, aber ist das denn so wichtig? Hast du das Fest nur veranlasst, um deine Hand Richtung Norden auszustrecken, um deine Tochter zu verheiraten oder mir zu Ehren? Ist das dein Plan? Und wenn ja, seit wann? Schon all die ganzen Jahre oder ist dir die Idee erst jetzt gekommen?«, stellte Erik Viktor zur Rede.

»Ich bin König und habe natürlich Interesse an meinen Kindern. Somit auch an Jasmin«, bekam er als Antwort von seinem Vater zu hören.

»Deine Mühe scheint umsonst, Vater, soweit ich weiß, ist Jannek an ein anderes Fürstenhaus gebunden, dennoch wird Jannek mir und somit uns immer treu zur Seite stehen. Die Menschen im Norden sind uns wohlgesonnen und falls du glaubst, mit einer Vermählung ihr Gebiet für dich beanspruchen zu können, muss ich dich leider enttäuschen. Der Norden bleibt in Vareks Hand und später in der von Jannek. Niemand dort wird sich unter das Hause Viktors stellen.«, erklärte Erik, lief zum Fenster und warf einen Blick auf die Höfe vor der Stadt.

Vögel jagten dort über die Dächer und man erkannte auch die ersten Wagen der Händler, die die äußeren Stadttore passierten. Es war Markttag und vom Umland kamen heute viele Gewerke nach La Nistra, um ihre Waren unter die Menschen zu bringen.

Der König ergriff das Wort: »Er ist versprochen? Am besten noch an eine der blassen Weiber vom Volk der Hassaren?!«, spottete Viktor, dessen Lachen in einem trockenen Husten mündete und ihn auf dem Sessel verkrampfen ließ.

»Es würde reichen, wenn sie sich fürs Erste auf unsere Seite stellen! Du kennst die Geschichten der alten Welt, Sohn«, keuchte es aus dem König.

Erik, angewidert vom Auswurf seines Vaters, drehte sich leicht ab.

»Die Grenzen unseres Landes lagen einst weit hinter dem Innok. Lange bevor die meisten unserer Brücken dem Beben und dem reißenden Fluss zum Opfer fielen«, sagte Viktor, während er in seine Faust räusperte.

Erik ahnte, um was es in der Unterhaltung gleich gehen wird. Der streng riechende Raum erinnerte ihn immer an seinen Onkel Nikolai von Tanneburg, den jüngeren Bruder Viktors und Regent der Provinz Lingard im Nordosten Vesteras, dem er aber dasselbe abwertende Misstrauen schenkte wie seinem Vater.

Sie standen sich in nichts nach, machtbesessene alte Männer, dachte Erik, während er seine Blicke wieder durch den Saal schweifen ließ und auf dem Teppich sogar das Abbild seines Onkels und seiner beiden Söhnen Alduin und Gilbert entdeckte, die auf dem geknüpften Bodenbelag noch als junge Knaben abgebildet waren.

Geweihe, Gemälde, Bögen und Schwerter zierten die hohen Wände des großen Raumes, die ihm dennoch keine Wärme einhauchen konnten.

»Vater, bitte. Ich habe Gäste, um die es sich zu kümmern gilt.« Erik, der sich die Geschichten schon unzählige Male anhören musste, sah wieder zur Tür und wünschte sich, gehen zu können.

»Du bleibst!« Der Tonfall des Königs änderte sich nun merklich.

»Du kennst die Wege unserer Ahnen? Den Kampf, den sie gegen die Hassaren führten.«

»Vater, bitte!«, unterbrach ihn Erik.

Viktor wurde lauter und schlug erzürnt mit der Faust auf die Lehne des Sessels, auf den er sich noch immer stützte.

»Hör mich an! Wem soll ich es erzählen, wenn nicht dir? Vesteras gehört uns! Alles! Jede auch noch so kleine Insel. Egal, in welchem Meer sie liegt. Die Geflohenen im Osten sind es nicht wert, dass wir unsere Böden mit ihnen teilen. Es war Königin Leonie, die einen kleinen Teil von ihnen erlaubte, sich in Porto Ling niederzulassen. Niemand weiß, was sie dazu trieb, aber nach dem Beben wurden es täglich mehr und jetzt besiedeln sie Flächen und Ländereien, die unsere Früchte tragen sollten. Mittlerweile erstrecken sich ihre Farmen über die gesamte Küstenregion. Unter den Dächern von Porto Ling blühen sie auf und treiben regen Handel. Ihre Schiffe sollen selbst den Gezeiten und Stürmen des Nordens trotzen. Nebel Farmer, wie sie sich selber nennen.«

Erik unterbrach den König wiederholt mit einer Bemerkung, die Viktor missfiel und die Gemüter weiter erhitzen ließ.

»Die Hassaren beanspruchen Land, welches für unsere Zwecke nicht mehr von Nutzen war, und wie du selber erwähnt hast, waren es unsere Ahnen, die ihnen Zuflucht gewährten. Und außerdem waren sie einst wie wir. Sie bleiben seit Jahren auf der anderen Seite des Flusses und haben...«

»Schluss!«, unterbrach ihn Viktor.

»Sie waren einst wie wir? Wer erzählt dir so etwas?«, stieß Viktor garstig aus.

»Mit ihnen kam der brennende Sand zu uns, der unsere Ernten vertrocknen ließ. Nachdem sie jegliche Farbe verloren, verstecken sie sich unter langen Mänteln und Kapuzen. Und vergiss nicht, sie sind schuld am Tod Leonies«, bekam Erik zu hören.

Die alte Königin der Menschen, die über 100 Jahre die Geschicke Vesteras und des Reiches Krohlingen im Osten lenkte, vereinte alle bekannten Reiche unter einem Banner und zerschlug die ersten Bedrohungen, die aus dem Süden vor gut 350 Jahren zum ersten Mal in den Norden übersetzten.

»Ihr Verschwinden ist bis zum heutigen Tag unge...«, wollte Erik antworten.

»Still jetzt!«, fiel Viktor ihm in das Wort.

Der König ließ keine Unterbrechungen mehr zu.

Seine Stimme wurde lauter und lauter.

»Sie standen alle unter ihrem Banner, doch die Hassaren wollten ihren Tod, um die Menschen wieder zu spalten. Uns gegeneinander aufzuhetzen, Unruhe zu stiften, um so die Landesgrenzen zu ihren Gunsten zu verschieben. Es wird nicht lange dauern, dann stehen sie auf unserer Seite des Innok.«

Der König atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.

»Was ist mit Varek? Steht uns der Norden bei?«, fragte Viktor nun um einiges bedachter.

Er ließ eine Pause und erhoffte sich ein kurzes "Ja" als Antwort.

»Wobei? Seit über 500 Jahren jagen wir die Hassaren und keiner kennt den Grund. Willst du Krieg? Verstehe ich das richtig?«, stellte Erik fragend fest, doch im Inneren kannte er die Antwort bereits.

Er kannte all die Geschichten, die er schon als Kind studieren musste.

Leonie, die alte Königin der Menschen, deren Büsten und Statuen beinahe auf allen öffentlichen Plätzen oder Gedenkstätten im Lande zu finden waren, hatte die fremde Bedrohung aus dem Süden abgewehrt und den entscheidenden Sieg errungen.

Das alles lag jedoch weit zurück, weit vor dem Beben. Alles, was die Menschen in Vesteras davon wussten, war das, was sie wissen durften.

Dennoch ist der Kult um ihre alte Königin nie erloschen. Ihre Werte und edlen Taten werden von allen angestrebt und sind moralische Leitfäden, an denen es sich zu orientieren gilt.

Die Inschrift „Zu Ehren Leonies, die aus dem Nebel kommende Heiligkeit", die auf dem steinernen Sockel der Statue im Burghof zu finden ist, war im Gegensatz zu den weit über das Land verstreuten und teils verwitterten Schreinen in einem makellosen Zustand und in Vestarin, der Sprache der Menschen geschrieben. In entfernteren Regionen wie dem Kloster bei Villon findet man die Gravur auf Safin und im Osten weit verbreitet sogar auf Tschaaki, der alten Sprache der Hassaren.

Erik wusste, was jetzt kommt und konnte jedes Wort mitsprechen.

Viktor lief um den ledernen Sessel und nahm auf ihm Platz und winkte seinen Sohn zu sich heran.

Erik ging langsam Schritt für Schritt weiter in dem nach kaltem Rauch riechenden Raum auf seinen Vater zu.

»Sohn, hör mir zu. Die Bedrohung, die unserem Volk fast den Untergang brachte, mussten wir ohne die Hilfe der Hassaren bekämpfen. Sie standen uns nicht bei und sind somit gegen uns.«, begann der König wieder das Gespräch.

»Wieso hätten sie uns helfen sollen, wenn wir sie in der Sonne haben verbrennen lassen?«

Mit einem erschrocken zornigen Blick streckte sich der König nach Erik und griff nach seinem Arm.

»Woher weißt du das? Wer hat dir davon erzählt?«

Die Geschichte am Innok wird im Lande der Menschen seit Jahren nicht wiedergegeben. Keine Zeilen darüber geschrieben. Nicht gelehrt, keiner sollte davon wissen und niemand wagte es auch nur, daran zu denken.

»Jannek?«, stieß Viktor erzürnt aus und hielt Erik fest im Griff.

»Erzählt er dir solche Geschichten? Er sollte wissen, auf welcher Seite er zu stehen hat.« Viktors Pupillen vergrößerten sich.

»Auf wessen Seite stehst du, Erik? Du bist mein Erstgeborener und wirst dieses Reich erben. Urmas und sein Volk der Hassaren haben es nicht verdient, hier mit uns auf diesem Stückchen Erde zu leben.«

Erik drehte sich ruckartig weg und löste sich so aus dem Griff seines Vaters.

»Das klingt ja beinahe so, als wäre nicht genug Platz für uns alle«, spottete er seinem Vater entgegen.

»Sie wurden ihrer alten Heimat beraubt und suchen Schutz. Sie sind Menschen, so wie wir!«, warf er Viktor lautstark entgegen.

»Und wenn die Hassaren vertrieben sind? Welches Volk ist das nächste? Vareks im Norden oder setzen wir die Segel und ziehen gen Westen? Wie wäre es mit den Nomadenstämmen in Mestia?«

Erik legte seine Hand nachdenklich an sein Kinn und sah an die mit Stuck verzierte Decke.

»Ach, stimmt, die konnten sich ja ihre Freiheit erkaufen. Der Preis für ihr Leben hätte mich ja mal interessiert.«

»Schweig!«, unterbrach ihn Viktor erbost und führte die linke Hand über seine Manteltasche, als würde er ihren Inhalt kontrollieren wollen.

»Das Land gehört uns! Vor dem Beben hat es uns gehört und so soll es auch wieder sein. Ob du es willst oder nicht. Die Hassaren werden fallen oder werden wieder auf die südlichen Inseln fliehen müssen. Der Osten und somit auch Porto Ling gehören zu Vesteras. Sie sind nicht wie wir. Nebelfarmer, Nachtläufer!«, verhöhnt der König sie weiter.

»Ich werde dir das Reich so vererben, wie ich es hätte erben sollen. Ich werde es vereinen und du wirst unsere Banner in Zukunft mit Stolz tragen können.«, sagte Viktor.

»Unser Volk ist soweit. Das Feuer ist entfacht und unsere Hände werden es weiter schüren, Sohn.«

Unter den bohrenden Blicken Viktors entfernte sich Erik langsam, schrittweise, von seinem im Sessel sitzenden Vater. Er wusste, dass das Gespräch für keinen der beiden ein zufriedenstellendes Ende mehr finden würde.

»Was ist mit Deen?«, wollte Erik wissen.

»Ich teile das Reich nicht auf und du wirst es akzeptieren müssen!«, gab ihm Viktor zu verstehen.

»Aber ihm steht das Gleiche zu wie mir.«

»Nein, es wird nicht geteilt. Nicht mit den Hassaren, den Völkern im Norden oder sonst irgendeinem wilden Stamm in und um Vesteras, und schon gar nicht unter euch. Es ist meine Entscheidung und ich appelliere an deine Vernunft!«

»Er ist dein Sohn, so wie ich, Vater.«

»Er ist blind!« Viktors Stimme wurde widerlich laut. »Was für ein König soll er sein? Das Volk spottet schon jetzt über ihn! Hörst du sie nicht? Wie sie hinter seinem Rücken reden, ihn verhöhnen und verspotten?«

Viktor stand auf und lief im Raum hin und her, während er Erik Vorwürfe machte.

»Du bist nicht ganz unschuldig daran, dass er ein Krüppel ist. Jetzt nimm die Gedanken zusammen und fang an wie ein König zu denken.«

Erik erinnerte sich ungern an den Vorfall im Kloster von Villon. Sie verbrachten dort früher viel Zeit in der Obhut Meister Herolds, der die Erben des Königs im Schreiben, Lesen, Rechnen sowie der Naturkunde lehrte und die Künste der Alchemie unterrichtete. Er war ein kluger Mann, dessen Lebensaufgabe darin besteht, alte Aufzeichnungen und Schriften in einer Art Fundus zu sammeln und deren Einblick nur ausgewählten Novizen gewährt wurde, zum Zorn jener, die vergebens um Einsicht baten.

Als junger Prinz stieg Erik dort mit einem Steiger einen hohen Felsvorsprung hinauf. Er wollte das Gleiten ausprobieren und den Blicken, die zweifelsohne auf ihn gerichtet waren, imponieren. Deen, der seinem großen Bruder auf Schritt und Tritt folgte, stürzte bei dem Versuch, ihm auf den Felsen zu folgen, so stark auf seinen Kopf, dass er einige Zeit nicht mehr ansprechbar war. Selbst das Laufen musste er neu erlernen, doch sein Augenlicht hat er bis heute verloren. Ein Schicksalstag, der beide bis heute prägt, aber das Band der Bruderschaft auf ewig stärken sollte.

Erik versuchte nun trotz seiner Wut seinem Vater gegenüber dem Gespräch zu folgen, obwohl er ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Er atmete tief durch und pustete die Luft schwer durch seine Lippen.

»Deen ist kein Krüppel! Und sei vernünftig, sagst du? Vernünftig wäre es, die Karawanen im Süden zu bekämpfen, um die sich schon unser Großvater hätte kümmern sollen. Wenn es dir darum geht, dich in deinen letzten Tagen an Siege zu klammern, so sende Truppen nach Lauries und beschütze unsere Grenzen. Es gehen Gerüchte umher, von Menschenhändlern mit großen Büffeln, die k …«

Mit einem lauten Husten wurde Erik unterbrochen.

»Das sind doch die Hassaren, Junge. Mir scheint, als würde dir Jannek zu viele Geschichten erzählen. Was sagt er denn noch so? Dieser Narr soll um die Hand meiner Tochter anhalten und was macht er? Manipuliert dich, meinen einzigen Thronerben«, polterte es lautstark aus dem König heraus.

»Ich werde das Land wieder vereinen und den Osten säubern. Du wirst sehen, dass die Karawanen mit den Hassaren verschwinden werden und in unseren Landen wieder Ruhe einkehren wird. Du bekommst Vesteras als großes Ganzes hinterlassen! Das ist meine Bestimmung. Wenn du älter, reifer und endlich erwachsen geworden bist, wirst du mich verstehen. Vor dem Namen Viktor werden unsere Gegner noch in tausend Jahren erzittern!«, betonte der König mit einem grauenhaften Grinsen.

»Jannek wird morgen unser Land wieder verlassen. Ich werde nicht zulassen, dass er dich weiter auf falsche Wege bringt und deinen Geist vergiftet.«

»Dann werde ich das Land mit ihm verlassen! Du bist blind durch Vorurteile. Es sind nicht die Hassaren, die ihre Karawanen durch unseren Süden treiben, im Gegenteil, sie selbst sind Opfer der Karawanen. Anstatt deine Sinne zu schärfen, schärfst du lieber die Messer.«

»Schweig, Sohn!«, murrte Viktor zähneknirschend.

Doch Erik war es nun, der sich nicht mehr unterbrechen ließ.

»Und gestattet mir noch eine Frage, Vater, großer König von Vesteras. Wer soll am Ende vor euch zittern? Wenn Ihr in euren Augen alle Feinde besiegt habt? Am Ende zittert nur euer eigenes Volk vor euch. Wie in jedem Land, welches unter der Herrschaft eines Tyrannen leben muss!«

Erik wandte sich ab und machte schnelle Schritte, um den Saal zu verlassen. Ein lautes »Du wagst es…« hallte hinter ihm her, bevor er die Tür mit Schwung von außen ins Schloss warf.

Marcel und die Gardisten Viktors, die zweifelsohne das komplette Gespräch mithören konnten, standen wie angewachsen neben der Tür.

»Herr Prinz?«, rief Marcel Erik nach und folgte ihm wenige Schritte. Erik fing an, zügig zu laufen, da er annahm, dass ihm sein Vater folgen werde. Er hörte noch, wie Viktor wütend nach Marcel verlangte. Dieser machte auf der Stelle kehrt, als sein Name durch die kompletten Westflügel der Burg zu hören war.

»Marcel!« Und wieder ein laut forderndes »Marcel!«

Anstatt durch die Halle hinauf zu seinem Zimmer, lief Erik nun die Treppen hinunter in Richtung Innenhof der Burg. Er hoffte, dass er Jannek und Deen in den Ställen vorfinden würde, da die beiden sich um die Pferde kümmern wollten. Immer wieder drehte er sich um, um sicherzugehen, dass ihm keiner folgt. Weder sein Vater noch einer seiner Schergen oder dieser zugeknöpfte, nervige Marcel, sollten sehen, wohin er ging.

Jedes Mal das Gleiche, dachte er und lief immer schneller. Als er das Gemäuer der Burg verließ und sich in Höhe des Brunnens auf dem Vorplatz befand, warf er einen Blick nach oben zu seinem Zimmer. Er sah, wie Marcel in diesem stand, um dort nach ihm zu suchen. Erik ballte seine Fäuste vor Zorn und rannte nun die letzten Meter zu den Ställen. Dort traf er Jannek, der mit einer Mistgabel hinter einem der Gatter stand. Er kümmerte sich jeden Vormittag um Taro, Eriks schwarzen Rappen und Oni, einen hellbraunen Hengst mit schwarzem Schweif und Mähne. Es waren die schönsten und schnellsten Pferde im Land und eigens von Erik und Jannek aus einer Herde Wildpferde in den Toten Tälern bei Brisen gefangen.

Jannek war so vertieft, dass er seinen Freund erst bemerkte, als Jo heiter bellend vor dem Prinzen auf und ab sprang.

»Das sieht nicht gut aus.«, sagte Jannek, der nun im Gesicht seines Freundes den Ausgang des Gespräches erahnen konnte.

»Wie jedes Mal. Wenn es sein Vorhaben mit Jasmin nicht gäbe, würden wir uns wahrscheinlich gar nicht kennen.«, sagte er zu Jannek und fragte nach dem Verbleib seines Bruders.

»Deen wollte zu Jasmin, aber den Grund dafür hat er mir nicht genannt. Von welchem Vorhaben Viktors redest du?«, fragte Jannek grinsend.

»Stell dich nicht dumm, mir ist gerade wahrlich nicht nach scherzen«, sagte Erik, drehte sich kurz zur Seite und wischte sich heimlich eine Träne von der Wange. Jannek merkte den Kummer Eriks und versuchte ihn zu ermutigen.

»Kopf hoch, alter Freund, das wird schon wieder«.

Als Jannek Erik darum bat, ihm das Geschirr für Oni zu geben, unterbrach sie ein lautes »Dort drüben!«

Beide blickten erschrocken in Richtung Tor, das beidseitig offenstand, und erkannten sofort Marcel, der auf sie zeigte. Neben ihm kamen nun auch Soldaten der Garde Viktors und ein Mann mit weißer Robe zum Vorschein. Es war einer der Richter des Königs, stellte Erik zweifelsfrei fest. Eine bis in den Tod des Königs hörige Elite. Die Männer näherten sich nun zügig den Ställen.

»Was nun?«, fragte Erik, der Jannek mit weit aufgerissenen Augen ansah.

»Das fragst du mich?«, antwortete Jannek stutzig und sah sich nach einem Ausgang um.

Der Prinz hätte nie damit gerechnet, dass sein Vater sogar einen Richter nach ihnen schicken würde. Auf den großen Prunkschilden der Garde spiegelte sich das königliche Wappen in der Sonne und das Licht fiel so von außen durch das Tor in die dunkle Stallung, dass es die Pferde aufschrecken ließ. Jannek beruhigte das schon am Morgen gesattelte Pferd Taro und sprang auf dieses.

»Los, komm«, rief er Erik zu und zog ihn hinter sich auf das Pferd.

Mit einem großen Satz machten sie einen Sprung über das hüfthohe Gatter und ritten Marcel entgegen, der mit einem beherzten Sprung zur Seite den Fluchtweg für sie frei machte.

Unter einem lauten »Haltet sie!« ritten die beiden nun im Galopp vorbei an der alten Statue Königin Leonies, die den Burghof zierte, über die Zugbrücke, die den breiten Burggraben zur inneren Burg passierbar machte. Die gepflasterte Straße entlang führte ihr Weg sie nun durch das Bürgerviertel, in dem die ersten Händler ihre Ware in ihre Stände sortierten.

In Eile ritten sie vorbei an tratschenden Weibern, ihrer Arbeit nachgehenden Gewerken, engen Gassen, in denen sich Kinder zu fangen versuchten, nun ein ganzes Stück durch das untere Viertel. Hauptsache auf schnellstem Weg durch das Stadttor La Nistras in Richtung Nord-Osten zum Lohholz, wo sie fürs Erste in Sicherheit sein sollten.

Jannek, der den Ernst der Lage erst viel später begreifen sollte, lachte den halben Weg aus der Burg.

Auf der Straße vor La Nistras Toren, die sie durch eine breite Allee zum Mühlbach führte, steckte Jannek zwei Finger in seinen Mund und pfiff so laut, dass Erik das grelle Pfeifen noch eine ganze Weile in seinem Ohr hatte.

»Hey, was soll das?«, fragte er mit zusammen gekniffenen Augen. Kaum ausgesprochen, kam Johann aus dem Osttor der Stadt gerannt.

Erik warf hin und wieder einen Blick hinter sich, aber niemand außer Jo schien ihnen zu folgen. Außerhalb der Sichtweite der großen Wachtürme fanden sie nun erleichtert Schutz im Schatten des kleinen Waldstücks abseits der Straßen.

Marcel, der einige Zeit später dem König die Nachricht der Flucht seines Sohnes mitteilen musste, begab sich zurück in die Burg. Er schaute in das Jagdzimmer, das bis auf den einsamen Sessel verlassen war.

Panisch und mit kaltem Schweiß auf der Stirn überlegte er, wie es gelingen könnte, Viktor die Situation begreiflich zu machen, ohne die alleinige Schuld an dem Entkommen der beiden zu haben. Gegen seinen Willen begab er sich nun langsam auf die Suche nach dem König.

Er versuchte Zeit zu schinden und sah teilweise mehrmals in den gleichen Zimmern, wohlwissend, dass ihm damit nicht geholfen sei. Einen Flur weiter hörte er des Königs Stimme nun klar und deutlich. Dieser echauffierte sich wieder einmal lautstark über den Zustand des angerichteten Buffets. Der schlecht geschnittene Schinken und ein zerpflückter Obstteller fielen dem König sofort ins Auge, der penibel Wert auf Ordnung und Sauberkeit legte.

Durch die offene Tür zum blauen Salon sah Marcel nun den alten Mann in seinem schweren Morgenmantel vor der gedeckten Tafel stehen. Marcel hielt kurz inne und beobachtete Viktor, der nun anfing, eifrig Weintrauben vom Buffet zu essen. Er atmete mehrmals tief durch und betrat mit einem nicht sehr überzeugenden »Altum Viktor« den Raum. Er sah sich kurz um und hoffte, dem König nicht allein gegenübertreten zu müssen, doch dieses Glück wurde ihm heute nicht zuteil.

Marcel schloss die Tür und vernahm zwischen Essgeräuschen und dem Knacken des Kaminfeuers, welches zögerlich in der Ecke zu brennen versuchte, nur ein leises »Und?«

»Sie sind beide auf einem Pferd aus der Burg geritten, mein Herr«, stotterte Marcel, der nun übertrieben anfing zu schnaufen, als wäre er dem Prinzen zu Fuß hinterhergehetzt.

»Sie kommen bestimmt bald wieder. Wo sollen sie auch hin?«, versuchte Marcel Viktor zu besänftigen, der mit dem Rücken zu ihm nur mit einem fragenden »Beide?« antwortete.

Der König drehte sich nun langsam zu Marcel um, während er sich weiter Traube für Traube in den Mund steckte.

»Dieser Jannek ist schuld, mein Herr. Er vergiftet euren Sohn mit seiner Unwissenheit. Er ist das alleinige Übel. Was können wir nur dagegen tun?«, sagte der Diener in der Hoffnung, von der Schuld seines Versagens abzulenken.

Marcel spürte die angespannte Stimmung des Königs. Er hoffte auf eine milde Strafe und versuchte Viktor mit den Worten weiter zu beschwichtigen, die der König seiner Meinung nach hören wollte und die er am frühen Morgen vor der Tür des kleinen Saales aufschnappen konnte. Marcels Stirn war schweißnass und sein Herz schien bereit, aus seiner Brust zu springen. Kaum in der Lage, seine Hände ruhig zu halten, versteckte er diese hinter seinem Rücken.

Der König lief langsam und nachdenklich am gedeckten Buffet auf und ab.

»Es ist allein Janneks Schuld, mein Herr.«

Auf das Öffnen einer Seitentür, durch die die Diener weitere Speisen in den Saal bringen wollten, rief Viktor ein lautes »RAUS!« entgegen..

Marcel riss erschrocken die Augen auf und zuckte zusammen.

»Wir lassen nach ihm suchen«, sagte Viktor nun wieder verdächtig gefasst.

Auf die Frage nach wem, erwiderte der König nur zähneknirschend: »Nach Jannek, Sie Narr.« Marcel war so zittrig, dass er das Denken vergaß.

»Lasst Steckbriefe aufhängen. Gesucht wird ein junger Mann in Begleitung eines stinkenden Hundes. Langes, blondes Haar und kantiges Gesicht. Nordischer Abstammung, gefährlich.«

Mit dem Kopf nickend stand Marcel wie angewurzelt in der Mitte des Raumes.

»Was soll der Grund der Suche sein?«, fragte er vorsichtig.

Der König hielt kurz inne, zog ein reich verziertes, goldfarbenes Messer aus der Scheide, die sich am Gürtel unter seinem Umhang befand, und schnitt sich ein Stück Schinken ab, das er sich in den Mund steckte.

»Mord.«

Gespenstische Stille.

Der König stand regungslos schmatzend in der Mitte des Raumes.

»Aber, mein König? Auf Mord steht die Todesstrafe! Er wäre dann vogelfrei. Ihr könnt ihn doch nicht auf der Straße von Bürgern meucheln lassen! Er hat doch niemanden ermordet und wie wollt ihr dies Varek erklären?«

Der König drehte sich mit einem abwertenden Blick zu Marcel und lief langsam auf ihn zu, noch immer auf dem Schinken kauend.

»Doch, hat er, Marcel. Er hat das Feuer, das in den Herzen der Familie Viktor brennt, erloschen und meinen Sohn Erik somit ermordet! Er ist schuld. Er muss sterben! Und er wird sterben! Er ist ein Mörder.«, und während Viktor das letzte Wort hasserfüllt wiederholte, rammte er Marcel sein Messer, mit dem er gerade noch Schinken schnitt, zwischen die Rippen.

»Und jetzt haben wir sogar ein richtiges Opfer«, flüsterte Viktor dem langsam in sich zusammen rutschenden Marcel ins Ohr.

Viktor ließ das Messer aus seiner Hand gleiten und lief zum offenen Fenster, aus dem man einen der schönsten Ausblicke in den Vorhof der Burg hatte. Von den Ereignissen, die sich gerade hier im blauen Salon abgespielt haben, hatte niemand etwas mitbekommen. Außer dem idyllischen Zwitschern der Vögel war nichts zu hören.

Der König betrachtete noch einmal kurz seinen Bediensteten Marcel, der blutüberströmt und nun zweifelsfrei tot auf dem Boden vor der großen Tafel lag. Da Viktor als ein sehr sorgfältiger, detailverliebter Mann galt, war ihm seine Zeit nicht zu schade, sein Messer gegen eines vom gedeckten Tisch zu tauschen, um unerwünschte Spekulationen aus dem Weg räumen zu können, falls es sich überhaupt jemand anmaßen würde, jemand anderen als Jannek des Mordes zu verdächtigen.

Viktor brach nun die Stille. Er holte tief Luft und rief laut nach seinen »Wachen!!!«

Akt 03: Die Taverne zum Eisfalltal

Erik, Jannek und Jo erreichten das Lohholz, welches im frischen Grün der jungen Buchen und Eschen erstrahlte. Es hatte nach der hitzigen Flucht aus der Burg eine beruhigende Wirkung auf die Männer, die nun von Taro stiegen, um ihm Ruhe zu gönnen und ihren Weg vorläufig zu Fuß fortzusetzen.

Für zwei ausgewachsene Männer war das Pferd wahrlich nicht geeignet. Zweifelsfrei war Taro schnell und kräftig, im Grunde der Traum eines jeden, der in der Lage war, ein solch edles Tier überhaupt reiten zu können, aber der abrupte Sprint aus der Stadt war für den schwarzen Rappen eine sehr kräftezehrende Anstrengung.

Auf dem Pfad durch das kleine Waldstück, das beiden nicht unbekannt war, folgten sie dem Plätschern eines kleinen Bachlaufs, der sich wirr um die Bäume schlängelte. Dieser führte sie nun durch kniehohen Farn, welcher hier im Schatten der Bäume gut gedieh, und durch den blaue Orchideen, ihre Köpfe streckten. Dort, erinnerte sich Erik, stand eine alte Holzbank, die sie aufsuchen und für eine Rast nutzen wollten.

Der Prinz, dem unzählige Gedanken durch den Kopf gingen, hatte den Drang, sich neu zu sammeln und das Geschehen auf der Burg zu ordnen. Sie folgten weiter dem Weg, der sie vorbei an dem brummenden Bienenwagen des alten Haus- und Hof-Imkers der Tanneburgs, Helmold, führte, der gemeinsam mit seinen Enkeln wie Pilger um das hiesige Umland der Hauptstadt zog und zusammen mit den fleißigen, durch die Lüfte wirbelnden Helfern seinem alten Tagewerk nachging.

Später angekommen an der hölzernen Sitzgelegenheit, die sich in einer kleinen Aue befand, stürzte sich Jo sofort in das Wasser des kalten Baches, der sich vor ihnen zu einem kleinen Teich angestaut hatte. Auch Erik nutzte das kalte Nass und schöpfte es sich mit den Händen in sein Gesicht. Die Sonnenstrahlen brachen durch das Dach des Mischwaldes und so entstand auf der Wasseroberfläche ein Farbspiel aus Licht und Schatten. Im hellblauen Bachlauf legte sich das giftgrüne Seegras sanft in die Strömung und selbst die Vögel schienen sich der Gäste zu erfreuen und sangen ihre schönsten Lieder.

Jannek fing nun an, am Ufer kleine Steine zu suchen, um sie über das Wasser zu fitscheln. Eine Eigenart, die ihn schon im Kindesalter plagte. Auf jedem Gewässer, ob See oder Bach, konnte er es einfach nicht unterlassen, grundlos flache Steine aus ihrem Schlaf zu reißen und wahllos über die Wasseroberfläche zu werfen. Es gab bei weitem schlimmere Gewohnheiten von Menschen, aber diese raubte gerade die Nerven des Prinzen. Erik, der Jannek darum bat, es den Wasserpflanzen gleich zu tun und etwas Ruhe auszustrahlen, hatte auf der Bank Platz genommen. Jannek tat seinem alten Freund den Gefallen und verschonte die restlichen Steine, die in seinen Augen noch jede Menge Potential gehabt hätten und lief zu Taro, zog einen roten Apfel aus der linken Seitentasche des Pferdes, hockte sich auf einen großen Findling am Wasser und biss genüsslich ein großes Stück aus diesem.

»Und nun«, sagte Jannek schmatzend.