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Verloren im Nebel zwischen der Welt der Menschen und dem Reich der Gestirne lebt das Mädchen Lina mit ihrer Familie ein ruhiges und friedliches Leben. Doch dieser Frieden wird gestört als eines Tages die Wölfe in den Wäldern gesichtet werden. Lina fühlt sich wie magisch angezogen von den Tieren, die bald auch ihre Träume heimsuchen - Träume, die dem Mädchen das Schicksal einer vertrauten Seele offenbaren. Lunamár ist eine Tochter der Dämmerung, die in eine Heirat mit dem Schrecken der Nacht einwilligt, um endlich Frieden zu schaffen. Doch kann ein Bund mit dem Herrn der nächtlichen Schatten eine uralte Fehde beenden? Lina spürt eine tiefe Verbundenheit zu Lunamár, die sich im Reich des Schreckens zu behaupten versucht. Bald schon muss sich Lina entscheiden zwischen ihrem sicheren Leben im Nebel und einer gefährlichen, unbekannten Zukunft. Wird Lina dem Ruf der Wölfe widerstehen? Wird sie es schaffen den Nebel hinter sich zu lassen? Die gläserne Feder ist ein Fantasy-Kurzroman voller Magie, bevölkert von Gestaltwandlern, Tierwesen und märchenhaften Kreaturen. Im Mittelpunkt steht der uralte Kampf zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkelheit. Und ein Mädchen namens Lina, auf die ein großes Schicksal erwartet.
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Seitenzahl: 123
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Saskia Rögner
Die gläserne Feder
Für André, für Adrian, für Ciara und Feenja
Kapitel - 1
Kapitel - 2
Kapitel - 3
Kapitel - 4
Kapitel - 5
Als Lina erwachte, war es bereits Tag. Nebel hing in ihrem Haar, tanzte auf ihrer Haut und hinterließ Tau, wie zarte Küsse. Sie erinnerte sich nur an eines – Sie war niemals Kind gewesen und sie würde niemals alt werden!
Das Mädchen blinzelte einige Male und vertrieb so den traumlosen Schlaf aus ihrem Blick. Im Schatten einer alten Kiefer hatte sie geschlafen und nun starrte ein schwarzer Vogel von den verwachsenen Ästen aus, auf sie herab. Seine kleinen Augen waren so dunkel wie sein Gefieder und glänzten schwach, wie das Licht des Mondes in der Dämmerung. Lina brachte es nicht fertig den Blick von dem schwarzen Vogel abzuwenden und auch die Krähe ließ das Mädchen nicht aus den Augen. Doch schließlich krächzte der Vogel heißer, öffnete die Flügel und flog davon. Lina sah ihm nach, wie er zwischen den Bäumen in den letzten Nebelfetzen verschwand. Dann richtete sie sich langsam auf. Ihr Blick blieb am klaren Himmel hängen, der hinter dem Wald zu sehen war. Sie roch das Moos auf dem sie geschlafen hatte und hörte das Rauschen des nahen Flusses. Nebel stieg aus den Feldern und Wiesen auf.
Erst jetzt begann Lina zu begreifen, wo sie war und langsam kehrten die Erinnerungen zurück, die ihr die Nacht gestohlen hatte.
Nevall, das Land hinter dem Nebel. Hier erwachten all jene, die sich im dichten Dunst der Nebelschwaden verirrt und sich darin verloren hatten. Nevall war eine eigene Welt zwischen Tag und Nacht, zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Gestirne. Es war der Nebel, der sich am Morgen aus den Wiesen erhob, der feine Dunst, der sich in kalten Tagen fing und durch die Wälder kroch, wenn die Nacht erwachte. Kein Suchender konnte Nevall finden und niemand konnte es je wieder verlassen. Jeder, der es versucht hatte, war unverrichteter Dinge zurückgekehrt und hatte sich schließlich mit dem Leben abgefunden, das er in Nevall führen konnte. Es war das einzige Leben, das die Menschen hier kannten, denn die Erinnerungen an die andere Seite des Nebels, an ein früheres Leben oder eine andere Welt hatten sie mit dem Weg, der sie nach Hause hätte führen können, für immer verloren.
Die meisten Menschen Nevalls waren als Kinder in den Nebel gekommen. Sie waren hier aufgewachsen und diese Welt war ihre Heimat geworden. Lina war eine der wenigen Ausnahmen. Als sie in den Nebeln erwacht war, schien es als sei die junge Frau gerade dem Mädchen entwachsen, das sie vielleicht einmal gewesen war. Alles was sie bei sich gehabt hatte, waren die Kleider die sie getragen und eine schwarze Feder aus zerbrechlich dünnem Glas, die sie mit beiden Händen fest umklammert hatte. Und da war noch etwas gewesen, ein Gedanke, eine Erinnerung, eine Gewissheit, die seither jeden Morgen das erste war, das ihr durch den Kopf ging, ehe sie die Augen für den Tag öffnete. Niemals Kind. Niemals Alt.
An jenem ersten Tag vor so langer Zeit war sie von Dorbas und Ingár gefunden und aufgenommen worden. Diese beiden wunderbaren Menschen hatten sich um sie gekümmert, wie um ihr eigen Fleisch und Blut. Sie hatten das Mädchen zu ihrer Tochter gemacht und ihr den Namen Lina gegeben.
Seither waren viele Jahre vergangen. Dorbas und Ingár waren alt geworden und gezeichnet von den Jahren eines langen Lebens. Doch wie es schien waren die Erinnerungen an ein Alter, das Lina niemals erlangen würde mehr als ein launenhafter Traum. Es war Verheißung, Schicksal, schlicht die Wahrheit! Kein Tag hatte an ihr seine Spuren hinterlassen, kein Monat und nicht eines der vielen Jahre. Lina war noch immer jung und schön, als hätte die Zeit sie einfach vergessen. Aber das Mädchen hatte vor langer Zeit aufgehört sich zu fragen, warum das so war. In den dicht verwobenen Nebeln dieser Welt würde sie sowieso keine Antwort finden.
Das Haus in dem Dorbas und Ingár lebten, lag nahe am Waldrand. Es war sehr einfach aus Holz, Lehm und unförmigen, grauen Steinen gebaut. Zwei Etagen mit kleinen Fenstern und einem spitzen Dach aus dichtem Stroh. Es war umgeben von Obstbäumen und Holunderbüschen. Den großen Gemüsegarten hinter dem Haus hatte Ingár schon angelegt, lange bevor Lina zu ihnen gekommen war und vor dem Haus stand eine Bank aus fein beschnitztem Holz. Dort saß Ingár an diesem Morgen, als Lina aus dem Wald nach Hause kam. Sie hatte eine große Schüssel auf dem Schoß, einen hölzernen Eimer neben sich auf dem Boden und schälte Erbsen. Wie feiner Dunst kräuselte sich der Nebel zu ihren Füßen, der tagsüber lichter wurde, aber niemals ganz verschwand.
Ingár schaute auf. Das lange kastanienbraune Haar war glatt und von zartem Silber durchwirkt. Ihre Augen waren hellgrün mit einer Spur dunklem Honig und in ihrem Blick lag ein lebendiges, warmes Leuchten, das ihr Alter nicht verriet. Feine Falten zeichneten sich um ihre Augen und an der Wange, dort wo sie ihr Lächeln trug. Ihre Nase war schlank, gerade und beinahe spitz und sie hatte blassrote Lippen, die schmal, aber niemals streng wirkten. Lina liebte dieses Gesicht, sie hatte den Wandel gesehen, der mit den Jahren gekommen war. Kaum merklich hatte es sich verändert. Die Zeit hatte ihre Augen verblassen, ihre Haut weicher und ihren Körper voller werden lassen, aber es war immer noch Ingár. Geliebte Ingár, Freundin und Mutter.
Lina ließ sich neben ihr auf der Bank nieder, griff in die Schüssel, die Ingár auf dem Schoß hielt und nahm ein paar Schoten heraus, um sie zu schälen. Sie spürte, dass Ingár sie beobachtete, während sie die duftenden Erbsen aus ihrer grünen Hülle befreite.
„Warst du die ganze Nacht im Wald?“ Die Art wie Ingár das fragte, verriet, dass sie die Antwort bereits kannte. Natürlich war Lina im Wald gewesen, hatte sich vom Zauber der alten Bäume gefangen nehmen und zu Träumereien verleiten lassen und hatte sich schließlich viel zu spät und halbherzig dazu auf den Heimweg gemacht. Als sie den Waldrand erreicht hatte, war der Nebel dicht und undurchdringlich gewesen und das weiche Moos unter der Kiefer zu verlockend. Vielleicht hätte sie den Weg durch den dichten Nebel gefunden, vielleicht sogar mit geschlossenen Augen und ohne ein einziges Mal fehl zu treten. Aber die Nacht war warm gewesen, die Luft voller Gerüche nach Moos, Wald und dem zarten Duft des klaren Flusses. Lina hatte den nächtlichen Himmel betrachtet, der so schwarz war, dass sich der blasse Nebel darin verlor und ehe sie einen weiteren Gedanken an Heimkehr verschwenden konnte, hatte sie es sich auf dem weichen Moos unter der alten Kiefer gemütlich gemacht. Dort, wo sie immer öfter die Nächte verbrachte, anstatt nach Hause zu gehen, zu den Menschen, die sie liebte und dort in einem Bett zu schlafen, wo es sicher war, warm und gemütlich.
Lina warf Ingár einen kurzen Seitenblick zu und öffnete mit geschickten Fingern eine Erbsenschote. Dann nickte sie einmal zur Antwort und schubste die Erbsen mit der Fingerspitze aus ihrer Hülle. Dann warf sie die leere Schote in den Eimer.
„Vor zwei Tagen haben die Kinder aus dem Dorf die Wölfe gesehen!“, sagte Ingár und wartete, bis Lina sie ansah. „Es ist nicht mehr sicher dort draußen, nicht solang diese Kreaturen zwischen den Bäumen umherschleichen!“
Zu gerne hätte Lina diesen Vortrag mit einem Wink abgetan, denn obwohl sie das Geschwätz der Leute kannte, die in dem Dorf hinter den Feldern lebten, so hatte sie selbst doch bisher keines dieser Tiere zu Gesicht bekommen. Wölfe. Seit Lina in den Nebeln erwacht war und das war viele Jahre her, hatte es keine Wölfe in Nevall gegeben. Sie gehörten nicht hier her. Andererseits gehörte vermutlich niemand an diesen Ort, weder die Menschen, noch die Wölfe und am wenigsten sie selbst. Vielleicht nicht einmal die Krähen, die in den Bäumen hausten, wenn der Morgen kam.
Lina bemerkte plötzlich, dass sie Ingár noch immer schweigend betrachtete. Doch die hatte sich wieder ihren Erbsen zugewandt.
„Halte dich fern von den Wäldern, solange die Wölfe hier sind!“, sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Ihre Worte, so streng sie auch waren, klangen doch eher wie ein Flehen und Lina bemerkte das leichte Zittern ihrer alten Hände. Es war mehr als die Angst, dass Lina diesen Geschöpfen begegnen könnte, mehr als die Sorge, dass ihr etwas zustoßen könnte. Lina schaute zu den Bäumen, die einladend und geheimnisvoll ihre Kronen wiegten. Der warme Wind sang in ihren Zweigen und flüsterte in ihrem Laub. Lina lächelte sanft. Wölfe!
Ihre Neugier war geweckt.
Am Nachmittag als Dorbas von den Feldern kam, wo er die neuen Vogelscheuchen aufgestellt hatte, um die Krähen von der Ente fern zu halten, waren die Kinder aus dem Dorf zu Besuch bei Lina und Ingár. Es gab duftenden Obstkuchen und Ingár erzählte die Geschichte von der Geburt der Dämmerung. Sechzehn gespannte Kinder saßen auf dem Boden und lauschten. Das Jüngste von ihnen mochte gerade vier oder fünf Jahre alt sein und war auch erst vor wenigen Wochen in Nevall erwacht, während das Älteste der Kinder mindestens vierzehn Sommer zählte. Nur vier von ihnen waren tatsächlich in Nevall zur Welt gekommen. Dorbas öffnete die Tür, blieb aber im Rahmen stehen, als er die Meute auf dem Fußboden kauern sah. Lina sah ihn an, lächelte und suchte sich dann einen Weg zwischen den Kindern hindurch auf ihn zu. Dorbas legte einen Arm um ihre Schultern und Lina sog den Geruch von Erde, Holz und Regen ein, der von ihm ausging. Dann schlich er mit ihr in die Küche, wo ihnen der Duft von frischem Brot in die Nase stieg.
„Haben sie noch immer nicht genug von dieser Geschichte?“, fragte Dorbas und seine Stimme klang tief und warm. Lina schüttelte den Kopf. Die Kinder würden niemals genug von dieser Geschichte bekommen. Selbst Lina, die die Geschichte auswendig kannte, war noch immer fasziniert und lauschte jedem Wort, das über Ingárs Lippen kam gebannt und voller Neugier, als hörte sie die Geschichte zum ersten Mal. Dorbas lachte auf, als er ihr verträumtes Gesicht sah.
„Vielleicht solltest du zu den Kindern zurückgehen und deinen Platz in ihren Reihen einnehmen, um das Ende nicht zu versäumen!“ Er schüttelte lachend den Kopf und seine braunen Augen funkelten. Nach all den Jahren, die er nun schon in Nevall lebte, war Dorbas noch immer ein beeindruckender Mann. Seine Haut war gebräunt, seine Hände voller Schwielen von der harten Arbeit auf dem Feld und seine einst so schwarzen Locken waren an einigen Stellen silbern und grau geworden. Sein Gesicht war markant und einige Falten, wie die auf seiner Stirn oder um seinen Mund, hatten sich vom Lachen und Stirnrunzeln so tief eingegraben, dass er sie nicht mehr loswurde. Auf seinen Wangen und seinem Kinn wuchsen Bartstoppeln von denen einige schwarz und viele andere schneeweiß waren.
„Ich weiß, wie die Geschichte ausgeht!“, sagte Lina schließlich und stellte einen Becher mit frischem Wasser vor Dorbas auf den Tisch. Er trank.
„Ich gehe lieber mit dir zum Fluss!“, fügte Lina vergnügt hinzu und spazierte nach draußen, um die Angelruten und einen Eimer zu holen.
Ingár indes schaute in die gespannten Gesichter ihrer jungen Besucher und begann mit ruhiger warmer Stimme zu erzählen:
„Einst herrschte Krieg zwischen Tag und Nacht. Denn wo sie sich trafen, da prallte das Licht auf die Dunkelheit und weil sie einander nicht ertrugen, weil die Nacht den Tag vertrieb und umgekehrt auch der Tag die Nacht nicht duldete, gab es nichts, was sie hätte beschwichtigen können. Nun geschah es, dass die Tochter des Lichts, welche die Herrscherin des Tages war, die Gestalt eines Menschen annahm und auf die Erde kam. Sie war müde vom Krieg und war gekommen, um von den Menschen zu erfahren, ob der Kampf sich lohne oder ob sie sich geschlagen geben und verschwinden solle, um den Frieden herzustellen, den sie sich so sehr wünschte. Die Menschen aber waren erschrocken und fielen vor ihr auf die Knie. Nein, hohe Herrin! flehten sie. Wie sollen wir leben ohne den Tag, der Licht und Wärme bringt? Die Saat würde nicht keimen, nichts würde blühen und wachsen, und Mensch und Tier würden sterben, ohne Eure Gnade. Bleibt bei uns, doch lasst uns auch die Nacht!
Die Herrscherin des Tages war beruhigt, als sie diese Worte hörte. Warum aber brauchten die Menschen auch die Nacht? Sie beschloss einige Zeit auf der Erde zu bleiben und zu erfahren, was so besonders war an der Nacht und der Dunkelheit, die sie mit sich brachte.
Schon in der folgenden Nacht begab es sich, dass auch der Sohn der Dunkelheit, der Herrscher der Nacht auf die Erde kam und die Menschen fragte, ob der Kampf sich lohne oder ob er sich geschlagen geben und verschwinden solle, um den Frieden herzustellen, den er sich so sehr wünschte. Doch auch bei seinen Worten erschraken die Menschen und fielen vor ihm auf die Knie. Nein, hoher Herr! flehten sie wiederum. Wie sollen wir leben ohne die Nacht, die Dunkelheit und Stille bringt? Kein Wesen dieser Welt würde mehr ruhen können, niemand würde Schlaf und Erholung finden, und Mensch und Tier würden sterben, ohne Eure Gnade. Bleibt bei uns, doch lasst uns auch den Tag!
Der Herrscher der Nacht war beruhigt, als er diese Worte hörte. Warum aber brauchten die Menschen auch den Tag? Und wie die Herrscherin des Tages vor ihm, beschloss auch er einige Zeit auf der Erde zu bleiben und herauszufinden, was so besonders war am Tag und dem Licht, das er mit sich brachte.
Nun hatte die Herrscherin des Tages das alles mit angehört und wunderte sich sehr darüber, dass die Nacht denselben Wunsch nach Frieden verspürte, wie sie selbst. Das machte sie neugierig und sie wartete im Verborgenen, um einen Blick auf den Herrscher der Nacht werfen zu können. Doch als sie ihn endlich sah, wagte sie nicht sich zu zeigen oder ihn anzusprechen, so sehr berührte sie sein Anblick. Schweren Herzens wand sie sich ab, um ungesehen wieder in den Himmel aufzusteigen, als sich ihr jemand in den Weg stellte. Es war der Herrscher der Nacht, der vor ihr stand und als sie ihn ansah, erkannte sie in seinen Augen die gleiche Neugier und das gleiche Erstaunen, das sie selbst zuvor überkommen hatte. Und von diesem Moment an, liebten sie einander.
Doch weil der Tag niemals sein kann, wo die Nacht ist, war diese Liebe im Reich der Gestirne unmöglich. Also beschlossen sie ihre menschliche Gestalt zu behalten und nicht mehr ins Reich ihrer Vorfahren zurückzukehren.“ Ingár sah in die jungen Gesichter ihrer Zuhörer, die ihr voller Erwartung und mit geöffneten Mündern und faszinierten Augen lauschten. Also fuhr sie fort zu erzählen.