Die glühende Gasse - Paul Rosenhayn - E-Book

Die glühende Gasse E-Book

Paul Rosenhayn

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Beschreibung

Auch wenn Gustav Raymund tagsüber seine Arbeit im Büro tadellos erledigt – abends ist er immer unterwegs und kann von seinen kurzlebigen Liebschaften nicht lassen. Eines Tages, als er mal wieder mit seinen Freunden auf Tour ist, fällt ihm die junge Ninon auf der Straße auf. Galant stellt sich der selbstsichere Draufgänger zwischen sie und den zwielichtigen Mann, der sie zu verfolgen scheint. Bei den etwas heruntergekommenen Gestalten handelt es sich um ein Geschwisterpaar, wie der große Mann behauptet. Seine Schwester müsse mitkommen – sie sei einer der Hauptattraktionen des Zirkus Salandra. "Die glühende Gasse" heißt die Nummer und frech lädt Jean Coupot die Freunde ein, doch zu kommen. Als sich die drei die Vorstellung anschauen, ist es um Raymund längst geschehen. Fasziniert von Ninons Gang durchs Feuer lässt er sich auf eine neue Liebschaft ein. Eines Tages wartet nach einer Nacht mit Ninon die Polizei auf Raymund: Der Geldschrank in seiner Fabrik wurde aufgebrochen und ein Wächter ermordet. Das heißt: Aufgebrochen wurde nichts, sondern der Safe wurde mit Raymunds Schlüssel geöffnet. Raymund hat keine Ahnung, wann er seine Schlüssel verloren hat. Seine Unschuld kann er jedenfalls nicht beweisen. Aus Angst vor der Verhaftung schließt er sich dem Artistenpaar an, das auf dem Weg nach London ist. Mehr und mehr gerät der biedere Mann auf der Flucht in diffuse Abenteuer. Ausgerechnet als er auch noch zum Hochstapler wird und sich als Prinz Rohan ausgibt, begegnet ihm die Frau, die sein Leben retten wird.Ein Biedermann gerät in die Halbwelt – Schonungslos erzählt der Zirkusroman von der harten Existenz hinter den schillernden Kulissen des Artistenlebens, das schnell den schmalen Grad der Legalität überschreitet!-

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Paul Rosenhayn

Die glühende Gasse

Roman

Saga

Die glühende Gasse

© 1924 Paul Rosenhayn

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592731

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

Gustav Raymund öffnete den Pelzmantel, was die herzliche Heiterkeit der beiden anderen erregte.

Cornelsen stiess mit dem Ellenbogen den neben ihm gehenden Westermann in die Seite und deutete mit den Augen auf den Schnee, der fusshoch in frostiger Pracht den Rand des Trottoirs säumte.

Die drei passierten eben den Stadtbahnbogen, über den donnernd ein D-Zug nach dem Osten raste. Das Gewühl der Friedrichstrasse schlug gegen die schwärzlichen Träger wie zischendes Wasser gegen die dunkle und ruhige Mole; es brandete in unruhigen Spritzern zurück in den wirbelnden Dunst, über dem klar und erbarmungslos die bläuliche Kette der Bogenlampen stand. Rechts und links rotierten Drehtüren, lockten farbig glühende Lämpchen, und auf der Brücke raschelte die Halbseide der beginnenden Vorstadt.

Westermann wies hinüber nach dem Kabarett. Raymund schüttelte den Kopf.

Drei junge Damen, die Röcke im Geschmack dieser Gegend schulmädchenartig gerafft, fassten sich unter und schwänzelten den dreien mit beziehungsvoller Ahnungslosigkeit entgegen.

Prompt öffnete sich die Kette der Herren und liess die drei passieren — eine respektvolle Geste, die den Rücksichtsvollen ein paar enttäuschte Zurufe eintrug.

Die Strasse verbreiterte sich, aber Duft und Farbe hatten sich verändert; nun war sie eine völlig andere geworden. Was hier im harten Lichte vorüberstrich, kam aus den Mietskasernen des Nordens, in Kleidung, Sprache und Art kleinbürgerlicher, robuster, nuancenloser.

Westermann blieb an einem Auto stehen.

„Altes Ballhaus!“

Die beiden andern protestierten: „Wir wollen zu Fuss gehen. Das kleine Stück!“ Mit einer verzweifelten Gebärde zuckte Westermann die Achseln und versenkte die Hände in den Raglan.

Sie bogen schräg über die Strasse. Die Gegend der Kellerwirtschaften tat sich auf; kratzend gingen grelle Geigen. Dann wurde es dunkler, eine Strasse von unabsehbarer Länge öffnete sich, das elektrische Licht wich dem Gas, und rarer wurden Paletot und Stehkragen.

Aus einem der Toreingänge, die wie schwere Schlagschatten gegen das harte Glühlicht standen, kam hastiges Laufen. Schimpfworte gellten auf, hallend flogen Füsse über den Zement. Im Lichtkegel der Lampe erschien ein Mädchen. Sie sah sich einen Moment verzweifelt um, dann rannte sie die Strasse hinunter, den dreien entgegen. Ihr folgte, fast auf den Fersen, ein breitschultriger Bursche. Er war schneller als sie, und seine Verwünschungen grölten drohend vor ihm her. Sie, mit einem letzten Zusammennehmen aller Kräfte, beschleunigte ihren Lauf, und atemlos stand sie vor den dreien, die Hand auf das Herz gepresst.

Da hatte der Verfolger sie schon eingeholt. Aber er mochte, obwohl er die drei nicht zu sehen schien, das Unvorteilhafte der Situation schlau erfasst haben; denn er begnügte sich damit, die Keuchende am Arm zu packen.

„Was ist denn?“ fragte Raymund, der zum erstenmal den Mund auftat. „Was gibt es, was wollen Sie von diesem Mädchen?“

„Das ist meine Sache“, sagte der Bursche knurrend, dennoch mit einem Unterton des Respekts. „Sie ist meine Schwester und will mir nicht gehorchen.“ Damit zog er die Widerstrebende an sich.

Raymund drängte sich zwischen die beiden. „Was ist das, Fräulein? Ist dies Ihr Bruder?“

Das Mädchen nickte.

„Da hören Sie es selbst“ — die Stimme des jungen Menschen wurde lauter — „und nun stören Sie uns gefälligst nicht, wir müssen in den Zirkus.“

Plötzlich begann das Mädchen zu schluchzen. „Ich soll mein Leben aufs Spiel setzen. Bloss damit er Geld verdient!“

„Also hören Sie mal“, Westermann, Mitglied des Athletenklubs „Knockout“, hatte das Gefühl, dass er hier etwas tun müsse. Er befreite den Arm der Geängstigten aus der Umklammerung. „Ich werde es nicht zulassen, dass Sie Ihre Schwester hier so einfach mit Gewalt zu etwas zwingen, was gegen ihren Willen geht. Und überhaupt, wenn Lebensgefahr dabei ist ...“

„Mein Herr,“ sagte der Gescholtene, indem er sich zu edler Pose aufrichtete, „was meine Schwester sagt, ist dummes Zeug.“

„Er lügt“, schluchzte sie.

„... ist dummes Zeug. Überzeugen Sie sich selbst davon, meine Herren. Nämlich die Sache ist die, wir treten zusammen auf im Zirkus ‚Salandra‘.“

„Salandra?“ wiederholte Raymund kopfschüttelnd. „Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wo ist denn das?“

„Der Zirkus Salandra ist der schönste Zirkus Deutschlands, und er befindet sich auf dem Rummelplatz in der Ackerstrasse. Ich denke, das genügt.“

„Durchaus“, sagte Raymund.

„In zehn Minuten fängt die neue Vorstellung an. Und zu dieser sind die Herren ergebenst von mir und meiner Schwester eingeladen. Sie müssen nämlich wissen, meine Herren, ich bin die Hauptattraktion des Zirkus ‚Salandra‘, und wenn ich jemand einlade, so hat der Direktor gar nichts dagegen zu haben. Sollte er aber trotz alledem vielleicht — Sie verstehen— er sitzt selbst an der Kasse, es ist so ein kleiner Dicker, dann hauchen Sie ihn, bitte, gehörig an. Oder geben Sie einfach dem Billetteur einen Schubs und gehen durch. Ach so, das geht vielleicht nicht, ich verstehe, ich habe mit Schentelmännern zu tun; also wenn Sie ihm keinen Schubs geben wollen, gehen Sie doch bitte um das Zelt herum; am Hintereingang des Zirkus, dort, wo das kleine Fenster eingelassen ist, dort brauchen Sie bloss anzuklopfen, dann lasse ich Sie durch den Garderobenkorridor.“

„Schon gut,“ sagte Cornelsen beunruhigt, „wir werden schon hineinkommen in den Zirkus. Aber was ist denn das mit Ihrer Schwester — Sie sehen doch, sie zittert am ganzen Körper.“

„Ich darf es Ihnen eigentlich nicht verraten, mein Herr, denn ich nehme Ihnen die Spannung weg. Aber so viel auf alle Fälle: unsere Nummer heisst ‚Die glühende Gasse‘, und sie ist fabelhaft interessant. Und von wegen Gefahr, das sieht bloss so aus, und meine Schwester ist nur wütend, weil ich gestern abend in gerechtem Zorn den Vorschuss versoffen habe.“

„Soso!“

„Keinen Pfennig haben wir im Hause,“ flüsterte die junge Artistin, „alles bringt er durch; und das ist noch nicht das schlimmste. Ich darf nicht nach Hause gehen, wenn die Vorstellung zu Ende ist, immer hat er irgendwelche Bekanntschaften parat ...“

„Also die Vorstellung beginnt, und ich muss eine Million Konventionalstrafe bezahlen, wenn wir nicht ...“

Überwältig von der geschäftlichen Logik dieser Worte liessen die drei es geschehen, dass der junge Mann seine Schwester mit sich fortzog. Er wandte sich noch einmal zurück und sagte, indem er mit der charakteristischen Eleganz des Akrobaten eine fabelhafte Verbeugung hinlegte:

„Ich heisse Jean Coupot — und dies ist meine Schwester Ninon Coupot. Und im übrigen können Sie ganz beruhigt sein, Ninon wird so wenig etwas geschehen wie Ihnen in Ihrer Loge. Also vergessen Sie nicht: er ist ein kleiner Dicker und sitzt an der Kasse, oder Sie schubsen den Billetteur, oder Sie klopfen hinten an mein kleines Fenster. Auf baldiges Wiedersehen! Danke sehr!“

Er blickte verstohlen in die hohle Hand und sagte mit einem tiefen Ton der Hochachtung: „Nochmals ergebensten Dank!“

Damit segelten die beiden um die Ecke.

„Wofür bedankt er sich eigentlich?“ sagte Cornelsen.

Raymund lachte: „Ich habe ihm hundert Mark in die Hand gedrückt.“

*

Die drei hatten weder um die Gunst des kleinen Dicken an der Kasse gebuhlt, noch hatten sie den Billetteur geschubst, noch hatten sie an Herrn Jean Coupots kleines Fenster geklopft. Vielmehr hatten sie drei Logenplätze gekauft, die der Herr Direktor an der Kasse — der im übrigen noch kleiner und noch dicker war, als sie erwartet hatten — erst unter besonderen Zeremonien zu Logenplätzen umgewandelt hatte; als die drei den Zuschauerraum betraten, sahen sie mit Erstaunen den kleinen Dicken unter Assistenz desselben Billetteurs, dem Herr Coupot hinterhältigerweise einen Schubs zugedacht hatte, eine Loge herrichten. Dies geschah unter Anwendung einer drohenden Schnur aus Stacheldraht, die rostig und feucht war und auf einen längeren unbewachten Aufenthalt draussen auf dem Rummelplatz schliessen liess.

„Wir könnten jetzt warm und weich im ‚Alten Ballhaus‘ sitzen“, sagte Kurt Cornelsen kopfschüttelnd. „Statt dessen paradieren wir mit unseren Pelzmänteln mang die Bowkes.“

„Das ist doch gerade amüsant“, widersprach ihm Westermann mit einem mutigen Blick auf seine Muskeln, die schwellend in den Ulsterärmeln prangten. „Ausserdem findest du hier viel mehr wahre Ethik als in den parfümgeschwängerten Salons des Westens.“

„Stimmt!“ bestätigte Raymund mit einem Blick auf eine knospende Schönheit, die die drei mit der Ungeniertheit der wahren Unschuld anstaunte, wobei sie sinnend in der Nase bohrte.

Zuerst trat ein Mann auf, der ein kleines Schwein im Arm hielt. Es war als Baby angezogen, und sein Herr steckte ihm eine Milchflasche mit einem Schnuller ins Mäulchen, an dem das kleine Schwein begierig lutschte.

„Bravo!“ sagten ein paar Leute in den hintersten Reihen.

„Pst!“ mahnte jemand, gerade so, als ob man Gefahr liefe, einen Ohrenschmaus zu versäumen.

Dann zog der Produzierende seinem Schweinchen eins der Kleidchen nach dem anderen aus, Windeln kamen zum Vorschein, was bei den Damen, die dies unendlich pikant fanden, Husten und Kichern hervorrief. Endlich kam ein nackter kleiner Schweinekörper zum Vorschein, und als Clou setzte der Artist das Schweinchen auf ein kleines Töpfchen.

Ein Beifallssturm raste durch das Haus; unter vielen Verbeugungen, an denen sich auch das Schwein beteiligte, verschwand die erste Nummer, und eine Bierpause trat ein.

Dann erschienen ein paar Männer, die das Publikum aufforderten, sich mit ihnen im Boxkampf zu messen. Sie sahen mit ernsten Gesichtern um sich, den Körper schlaksig wiegend, muskulöse Treuherzigkeit im Gesicht. Ihr Auftreten wirkte entschieden vertrauenerweckend, man hatte das Gefühl: wenn man mit einem dieser Männer des Nachts durch die Ackerstrasse ging, konnte einem nichts passieren (es sei denn von ihm selbst, aber dagegen sprach eben jene muskulöse Treuherzigkeit). Sie verhiessen dem, der sie werfen würde, die unerhörtesten Goldpreise, und als sie mit ihren Angeboten auf fünfzehn Mark angelangt waren, stieg ein Tiroler entschlossen, noch treuherziger im Gesicht als jene, über das Tau, das die Manege säumte. Er hatte klimpernde Orden auf der Brust, die um so mehr imponierten, als niemand sich erklären konnte, wofür sie eigentlich verliehen waren.

„Dieser Mann, Herr ... Herr ...“

„Alois Huber.“

„... Herr Alois Huber aus ...“

„Aus Ober-Nieder-Tupfingen.“

„... aus Oberbayern ...“

„... aus Ober-Nieder-Tupfingen!“

„... aus Ober-Nieder-Tupfingen will den Versuch machen, den von der Direktion gestifteten Goldmarkpreis in Höhe von fünfzehn Mark zu gewinnen. Meine Herrschaften, es wird im Zirkus Salandra nach allen Regeln des Sports geboxt, das Publikum selbst wird gebeten, die einzelnen Gänge zu beobachten und eventuell verbotene Griffe auf der Stelle zu rügen.“

„Gemacht!!!“

Der Sprechende schien den Ausruf als ein Kompliment zu nehmen, denn er verbeugte sich geschmeichelt.

„Und nun, Herr Tupfer aus Ober-Nieder-Bayern ...“

„Huber aus Ober-Nieder-Tupfingen!“

„Pardon, Herr Huber ...“

„Mensch, tu nich so,“ schrie einer, der am Büfett stand, „du kennst ihn doch, er ist doch hier angestellt und ringt jeden Abend mit euch!“

„Ach, Herr Billetteur, befördern Sie diesen jungen Mann doch einmal an die Luft!“

„Gibt’s nich, Fritze bleibt hier!“

„Dann soll er ruhig sein!“

„Wenn da aber doch ...“

Der Rekommandeur streifte die Ärmel auf; man wusste nicht recht, ob er mit dem Boxkampf anfangen oder ob er Fritze eine Drohung zukommen lassen wollte. Da nichts erfolgte, nickte er befriedigt und sagte mit ruhiger, siegesgewisser Stimme: „Nu geht es los.“

„Wann kommt denn eigentlich die ‚Glühende Gasse‘?“ fragte Cornelsen.

„Wird schon kommen.“ Westermann sah ein wenig ungeduldig zu den Boxern hinüber; Raymund stand auf, und auch Cornelsen erhob sich.

„Was wollt ihr?“

„Was kann er wollen,“ sagte Cornelsen achselzuckend, „durch das kleine Fenster will er glupen.“

„Wie kann man bloss, wo es jetzt interessant wird!“

„Warum boxt du eigentlich nicht mit?“ fragte Cornelsen, indem er geschickt über den Drahtverhau kletterte.

„Kommt noch.“

„Also Hals- und Beinbruch!“

„Ihr werdet euch erkälten.“

„Und wenn du mit Engelzungen redetest,“ lachte Raymund, „wir gehen doch!“

Der Direktor sah die beiden erstaunt und sichtlich beleidigt an; aber als sie ihm erklärten, sie würden zur Hauptnummer wiederkommen, gab er ihnen Kontermarken.

„Schieber!“ scholl es hinter ihnen her. Überrascht sahen sie sich um.

„Er meint die Boxer“, belehrte sie der Direktor.

Da waren sie beruhigt.

Kalte Winternacht schlug ihnen entgegen. Der Schein der Gaslaternen flimmerte über die Spanten des Vielecks, die die Konturen des grossen Zeltes bildeten. Durch das verwitterte Segeltuch drang gedämpft das Träträ der Blechmusik. Schutt und Gerümpel säumten den dunklen Platz, der ausgespart war zwischen Brandmauern und Hinterfronten hoher Mietkasernen; die düsteren Reihen der Fenster wurden hie und da unterbrochen von starrem Lichtschein, der die Finsternis teilte, ohne sie zu erhellen.

Selbst diese elende Baracke schien nicht des seltsamen Reizes zu entbehren, den die Mischung von geheimnisvoller Erwartung, verhaltener Erotik und Menschengeruch hervorbringt. Habitués des Rummelplatzes, die Hände in den Hosentaschen, die Mütze schief auf dem vorgekämmten Haar, strichen schattenhaft zwischen den Mauern, das unruhige Auge spähend, verschlagen und keck. Kichernd flüsterten frühreife Vierzehnjährige in den Schlagschatten der Ecken und Winkel, mit Röcken von betonter Kürze. Ihre Blicke, in denen längst erwachtes Zielbewusstsein flimmerte, trafen sich mit denen der Vorübergleitenden. Der Geruch von Schmalzgebackenem mischte sich mit der erregten Atmosphäre zum charakteristischen Duft der Vorstadt.

Von innen hörte man Händeklatschen, die Musik setzte aus, Zurufe, gedämpft und unverständlich, schwirrten. Ein Tusch stieg, wieder setzte Applaus ein.

„Es klingt, als wenn Erbsen niederprasseln“, sagte Cornelsen.

Eine niedrige Tür an der Hinterfront des Zeltgebäudes tat sich auf, Lichtschein fiel einen Augenblick auf das schmutzige Brachland. Es war Jean Coupot, der Artist; es schien, als hätte er die beiden erwartet, vielleicht beobachtet.

„Gleich ist es so weit, meine Herren“, sagte er verheissungsvoll. „Meine Schwester ist schon fertig für die Vorstellung. Wollen Sie sie einmal sehen?“ Und dann, auf das zögernde Achselzucken der beiden, setzte er ermutigend hinzu: „Es ist nichts dabei, und ob Sie sie nun auf der Bühne so zu sehen kriegen oder privatim, das ist schliesslich egal.“

Er ging voraus; die beiden folgten. Sie zwängten sich, immer hinter jenem, durch einen unglaublich schmalen Gang; es roch nach Latten, nach Gas und Brennschere.

Eine winzige Treppe von drei Stufen führte zu einer kleinen Tür. Ohne zu klopfen, öffnete sie der junge Mensch.

Von innen kam ein kleiner Aufschrei. Die beiden blickten in einen winzigen niedrigen Raum, in dessen Mitte ein junges Mädchen stand, das völlig nackt war. Was indessen im Schein des Glühlichts rosig schimmerte, war nicht der warme Ton des Fleisches; ein Gipsfirnis, eben zu einer schützenden Haut erstarrend, bedeckte den ganzen Körper, der übrigens von bewundernswürdigem Ebenmass war. Sie griff mit einer scheuen und erschreckten Bewegung nach dem Mantel; aber ihr Bruder nahm ihn ihr mit sachlicher Selbstverständlichkeit aus der Hand.

„Verzeihung, mein Fräulein“, sagte Raymund; „wir hatten nicht die Absicht, Sie zu überrumpeln; wir wussten überhaupt nicht, dass Sie ... dass Sie ... Wir werden sofort wieder gehen. — Warum lassen Sie übrigens Ihrer Schwester nicht den Mantel?“

„Weil sie noch nicht trocken ist“, sagte Coupot.

„Wir bitten um Entschuldigung.“ Damit drängte Raymund den Freund hinaus; auf der Stelle kam Coupot ihnen nach, die Tür heftig hinter sich schliessend.

„Wie konnten Sie nur ...“

Der Bursche machte ein Gesicht, als wolle er sagen: Blödian! Aber laut sagte er: „Was ist denn dabei — nachher in der Manege kriegen Sie sie doch genau so serviert.“

„Ihre leibliche Schwester!“

„Meine Herren,“ sagte Coupot, indem er ein halb beleidigtes, halb feierliches Gesicht machte, „Sie verkennen diese ganze Sache vollkommen. Ich habe geglaubt, ich hätte es mit Herren aus den Kreisen zu tun, in denen man für die Kunst etwas übrighat.“

„Für die Künstler, wollten Sie sagen.“

Coupot schnippte mit Daumen und Mittelfinger auf die Leinwand des Zeltes, was einen krachenden Trommelschlag verursachte. „Ich sehe, wir verstehen uns wieder falsch.“ Fast traurig zuckte er die Achseln und ging langsam, die zwei führend, dem Haupteingang der Bude zu. „Es gibt auch noch anständige Artisten, mein Herr; und weil ich einer von dieser anständigen Sorte bin, hatte ich geglaubt, dass es andererseits auch anständige ... na ja ... anständige Kavaliere gibt. Aber man sieht es immer wieder: was ich denk und tu, trau ich andern zu.“

Cornelsen stiess Raymund an, und dieser sagte: „Wir wollten Sie natürlich nicht kränken.“

„Na ja, is schon gut. Also ich wünsche viel Vergnügen.“

Der Raum war schon in feierliches Dunkel getaucht, als die beiden in ihre Loge kletterten. Die Musik schwieg erwartungsvoll; man hörte nichts, als den Viertakt des Motors, der gleich nebenan die Lichtmaschine trieb. Dann setzte, verschleiert unter der Sordine, eine Suite ein, und in der Manege flammte rotes Licht auf. Zwei Flammengarben schossen aus unsichtbaren Tiefen hervor; im roten Mantel, das Kruzifix in den Händen, trat Coupot, der Henker, feierlichen Schrittes in die Arena. Er inspizierte mit symbolischen Gesten eine abgezirkelte Strecke und winkte; Messnerknaben erschienen, dampfende Becken in den Händen, aus denen sie glühende Kohlen auf den Weg streuten. Dann schichteten sie am Ende der Gasse Reisig zu einem grossen Scheiterhaufen zusammen, den sie entzündeten. Knisternd prasselten Flammen auf, leckten am trockenen Holz hinauf.

Die Beleuchtung war so unbestimmt und verwirrend, dass niemand recht erkennen konnte, ob diese Dinge, diese Flammen, diese Kohlen, dieses Holz echt waren. Alles konnte ebensogut eine Täuschung sein, eine Illusion der Beleuchtungseffekte, der Stimmung, der Autosuggestion; die drei mussten an indische Fakire denken und an ihre Produktionen, die, wie jene hier, ständig zwischen Trug und Wahrheit balancierten.

Dann kam Ninon, die Sünderin.

Coupot hatte recht gehabt: ihre Nacktheit wirkte, selbst unter den zielbewussten Blicken dieser illusionslosen Menge, nicht wie Selbstzweck. Sie ergab sich aus der Situation; das sprach für die Überzeugungskraft der „Nummer“.

Irgendein Schalthebel mochte gerückt sein — das Licht veränderte sich, ohne dass man die Veränderung so recht erklären konnte. Die Stimmung wurde düsterer, drohender — die Musik ging über in ein erwartungsvolles diminuendo. Der Henker gab ein Zeichen — und die Sünderin schreckte, halb rollengemäss, halb sichtlich voll Angst, zurück. Die Musik brach ab.

Man hörte das Atmen der Menge, als nunmehr Ninon wie in bebender Todesfurcht langsam einen Fuss vor den andern setzte. Es schien, als ob die Kohlen drohender glühten, und ein zischender Dampf stieg auf, wo Ninon den Fuss hinsetzte. Sie schritt langsam die glühende Gasse hinunter, und die flammenden Kohlen wurden dichter und lohender, je näher sie ihrem Ziel kam. Ganz leise setzte das Cello ein; die nervöse Melodie unterstrich die Beklommenheit, die über dem Raum lastete.