Die Nacht ohne Morgen - Paul Rosenhayn - E-Book

Die Nacht ohne Morgen E-Book

Paul Rosenhayn

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Beschreibung

Während der berühmte Detektiv Joe Jenkins im Zuge eines Zwischenaufenthalts in Berlin gerade gemütlich in der Badewanne liegt, erreicht ihn ein Anruf, den sein Kammerdiener für ihn entgegennimmt. „Kommen Sie sofort nach Tigergasse 16", ruft eine weibliche Stimme in den Hörer. „Ein Mord!" Dann ein Knacken in der Leitung, ein paar Takte Walzermusik … und dann nichts mehr. Doch der sofort herbeigerufene Chauffeur erscheint nicht. Eine Dame habe ihn abgeholt, angeblich in Jenkins Auftrag, erfährt Jenkins von dessen verdutzter Frau. Als Jenkins nach mancherlei merkwürdigen Verzögerungen endlich das Haus in der Tigergasse erreicht, steht es völlig leer. Dennoch scheinen seltsame Dinge dort vor sich zu gehen. Und schließlich gibt es auch eine Leiche … Noch heute gilt das Urteil der damaligen zeitgenössischen Presse über Rosenhayn und seinen Detektiv: „Was er seinen nach Deutschland verschlagenen Amerikaner Joe Jenkins alles ermitteln, aufklären und ans Licht des Tages bringen läßt, und wie er es versteht, die verwickelsten Geheimnisse eines Verbrechens folgerichtig zu entwirren, das fesselt von der ersten bis zur letzten Zeile und gewährt auch dem verwöhnteren Leser einen eigenartigen Genuß."

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Paul Rosenhayn

Die Nacht ohne Morgen

Detektivroman

Saga

Die Nacht ohne Morgen

© 1919 Paul Rosenhayn

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592557

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel

Als an jenem strahlend hellen Septembernachmittag das Telephon wie irrsinnig läutete, sass Joe Jenkins behaglich in der Badewanne.

Der Kammerdiener, den der Amerikaner mit der möblierten Wohnung übernommen hatte, die er für seinen vorübergehenden Berliner Aufenthalt bewohnte, und die in einem der Vororte des Westens lag, dieser Diener, der sozusagen ein Stück des Hausinventars darstellte, kannte die Gewohnheiten seines neuen Herrn noch nicht. Ein Telephonanruf vermochte ihn immer noch in fliegende Eile zu versetzen. Besonders wenn der Anrufende von einem dringenden Fall oder gar von Lebensgefahr sprach, dann war Peter, der Diener, ganz wie aus dem Häuschen. Er hatte noch nicht begriffen — und konnte noch nicht begriffen haben — dass auch die eiligsten und gefährlichsten Dinge der Welt, wenn sie sich häufen und sich wiederholen, für den Betreffenden zu einer Art von Alltagserscheinung werden, und dass selbst für Verbrechen und Todesgefahr und überhaupt alle jene Dinge, die sozusagen den Superlativ des Erlebens darstellen, in letzter Linie die gleiche altbewährte Maxime gilt: dass nur die Ruhe es machen kann.

Peter, der Diener, lief atemlos zwischen dem Arbeitszimmer und dem Badezimmer hin und her:

„Mr. Jenkins!“

„Was gibt’s?“

„Das Telephon ...“

„Was ist mit dem Telephon?“

„Es klingelt!“

Ein glucksender Ton kam durch die Tür.

„Das höre ich. Haben Sie gefragt, wer da ist?“

„Nein.“

„Dann tun Sie es, Peter.“

Peter rannte ins Arbeitszimmer zurück:

„Hier ist der Kammerdiener des Mr. Joe Jenkins.“

Er lauschte einen Moment, und seine Finger krampften sich um das schwarze Holz; dann liess er den Hörer — man konnte nicht sagen, ob vor Schreck oder aus Eilfertigkeit — fallen und hastete wieder über den Korridor, hinüber zum Badezimmer.

„Mr. Jenkins — bitte, Mr. Jenkins — Sie müssen selbst kommen.“

„Wer ist es, der mich sprechen will?“

„Eine Dame.“

„Hat sie ihren Namen genannt?“

„Nein.“

Der Diener riss ungeduldig die Perlmutterknöpfe seiner Leinenjacke auf und fuhr nervös mit der Hand nach dem Kragen, wie um sich Luft zu machen.

„Ein Verbrechen, Mr. Jenkins!“

„Nun, was hat sie denn gesagt? Jene unbekannte Dame?“

Der Diener blickte mit einer scheuen Gebärde zurück. Dort drüben, wo das Licht durch die hohen Fenster flutete, lag der abgenommene Hörer schweigend und gefühllos auf dem grünen Tuch. Ein Sonnenstrahl tanzte spielerisch auf dem mattglänzenden Holz, und das fröhliche Lachen der Kinder drang durch den sonnigen Spätsommertag gedämpft und lebensfreudig herauf. Wie ein feiner Nerv lief der Telephondraht durchs Zimmer — wie ein Nerv, dessen ruhiger und exakter Linie niemand ansah, dass in ihm Todesangst vibrierte.

Der Diener wandte sich schaudernd zur Tür, und wie mit einem Ruck sich aufrichtend sagte er:

„Eine weibliche Stimme hat gerufen: Kommen Sie sofort nach Tigergasse 16.“

„Und das ist alles?“ fragte der Detektiv verwundert zurück.

Der Diener schüttelte den Kopf und schluckte:

„Nein!“

„Na also — sprechen Sie endlich, Peter. Was hat sie denn gesagt?“

Der Diener sagte langsam: „Einen Moment lang war alles ruhig. Dann, auf einmal rief die Dame mit einer merkwürdig veränderten Stimme, die fast kreischte:

Ein Mord!

Darauf gab es einen seltsamen Ruck; das Telephon knackte — so, als ob man auf eine Blechschachtel drückt, wissen Sie, Mr. Jenkins — dann hörte ich merkwürdigerweise plötzlich Musik — ich konnte es ganz deutlich hören, es war ein Walzer, den ich kannte — und dann mit einem Schlage war alles still.“

Aus dem Badezimmer kam ein plantschendes Geräusch. Ein knarrender Ruck, in den sich das Glucksen und Schwappen des Wasser mischte — dann flog die Tür auf. In einen unendlich langen Bademantel gehüllt, stürzte eine Gestalt über den Korridor ins Arbeitszimmer.

„Halloh!“ Der Detektiv schlug auf die Gabel des Hörers. „Halloh — hier Joe Jenkins persönlich.“

Keine Antwort.

Der Detektiv strich sich mit der Rechten das wirre, feuchte Haar aus der Stirn und trocknete mit einem Zipfel des Handtuchs sein Gesicht. Inzwischen setzte er seine Bemühungen, das Amt zu erreichen, fort.

„Halloh! Halloh!“

Endlich, es mochten fast fünf Minuten vergangen sein, meldete sich eine Stimme: „Hier Amt.“

„Fräulein, ich muss wissen, mit wem ich eben gesprochen habe.“

Die Stimme murmelte ein paar Worte, die er nicht verstand; dann setzte ein Summen ein, so, als ob sich der Stromkreis um Tausende von Gesprächen erweitere. Die Stimmen wogten auf und ab, zerrissene Gesprächsfragmente schwirrten; hier und da ein verständliches Wort, dann erstarb das Summen und Murmeln, und eine kühle, sachliche Stimme sagte:

„Ich kann nicht mehr feststellen, mit wem Sie gesprochen haben, mein Herr.“

Das Stimmengewirr schwieg nun völlig, und der Apparat, den der Detektiv in der Hand hielt, war wie ein totes und schweigendes Stück Holz.

Er warf den Hörer auf die Gabel: „Peter, gehen Sie hinunter und sagen Sie dem Chauffeur, dass er in zehn Minuten vor der Tür sein soll.“

Der Diener ging eilig davon und kam nach zwei Minuten zurück.

„Erledigt?“

„Jawohl.“

„Gut. Helfen Sie mir beim Anziehen.“

Peter glitt geräuschlos durchs Schlafzimmer, und selbst die Türen knarrten leiser unter seinen zarten wie biegsamen Händen. Während Joe Jenkins die Krawatte knüpfte und Weste und Jackett anlegte, holte Peter den Tee herein und goss diskret eine Tasse halb voll. Geräuschlos zerteilte er ein Brötchen, stülpte den irdenen Kühler um und bestrich beide Hälften sorgsam mit goldgelber Butter.

Der Detektiv zog die Uhr: „Dreizehn Minuten — er ist noch immer nicht da!“

„Soll ich hinuntergehen?“

„Nein.“ Joe Jenkins schob den letzten Bissen in den Mund und stellte die Tasse klirrend nieder.

„Also Tigergasse 16, sagte die Dame?“

„Ganz recht, Mr. Jenkins.“

Vom Lärm der Strasse löste sich ein taktmässiges Knattern, das schnell näher kam.

„Er ist es“, nickte Peter und ging ans Fenster. Aber mit einem bestürzten Gesicht wandte er sich herum.

„Was bedeutet das, Mr. Jenkins? Er fährt weiter!“

Der Detektiv war mit drei Schritten neben seinem Diener und sah auf die Strasse. Das langgestreckte Auto, dessen Karosserie in einer einzigen geraden Linie lief, sauste eben am Hause vorüber.

„Weiss Gott, er fährt weiter“, sagte Jenkins.

Der Diener folgte mit den Augen dem dahinrasenden Wagen. Dann fiel sein Blick plötzlich auf den Insassen.

„Sehen Sie nur! Eine Dame, Mr. Jenkins — — eine fremde Dame ...!“

Der Amerikaner nickte: „Ich sehe schon, Peter. In unserem Auto sitzt eine fremde Dame, und der Chauffeur fährt vorüber — obwohl Sie ihm vor einer Viertelstunde gesagt haben, dass er mich abholen soll ...“

„Was bedeutet das?“ drängte der Diener, und seine Stimme zitterte.

Der Detektiv zuckte die Achseln.

„Auf jeden Fall nichts Gutes. Meinen Hut!“

Eine Sekunde später fiel die Tür hinter dem Amerikaner ins Schloss.

Als Joe Jenkins die Strasse betrat, war der Wagen längst verschwunden. Nur irgendwo aus der Ferne, aus dem Gewirr, das aus Strassen und Gassen, aus Häusern und Plätzen zusammenklang, kam noch der schwache Ton der wohlbekannten Hupe.

Die Strasse war jetzt fast leer. Nur eine einsame Autodroschke stand, offenbar auf einen Fahrgast wartend, drüben am Halteplatz.

Der Detektiv ging um den Häuserblock herum. In dem Torweg, der zur Garage führte, spielten ein paar Kinder. Hinten auf dem Hof standen Pfützen, und eine breite Wagenspur glänzte feucht auf dem zementierten Weg, der auf die Strasse hinausführte.

Der Detektiv nickte. Die Tür war verschlossen.

Er zog den Schlüssel. Das Schloss glitt klirrend zur Seite, und er stiess die Tür auf.

Der leere Raum grinste ihm im Halbdunkel entgegen.

„Halloh!“

Aus dem Hinterhause kam die Frau des Chauffeurs mit einer Markttasche in der Hand.

„Was ist das, Frau Lanz? Warum ist Ihr Mann nicht hier?“

Die Angerufene kam eilig näher, stellte die Markttasche behutsam auf den Boden und wischte sich die Hände eifrig an der Schürze ab.

„Aber Mr. Jenkins! Er ist doch fortgefahren.“

„Fortgefahren?“ wiederholte der Detektiv mit erheucheltem Erstaunen. „Wohin denn?“

„Nun, mit der Dame!“

„Mit was für einer Dame?“

„Mein Gott! Mit der Dame, die Sie hergeschickt haben, Mr. Jenkins!“

„Ich habe keine Dame hergeschickt.“

„Aber die Dame sagte doch ausdrücklich, sie käme von Ihnen! Erst glaubte mein Mann ja, sie sei nur sozusagen als erste eingestiegen, und er wollte also zu Ihnen vor die Tür fahren, um Sie abzuholen.“

„Und das erlaubte die Dame nicht?“

Die Frau schüttelte eifrig den Kopf.

„Herrgott! Jetzt wird es mir klar! Dass ich das auch nicht gleich gemerkt habe! Sie wurde ganz aufgeregt, fast böse. Oder vielmehr, wenn ich es mir jetzt so überlege, möchte ich fast meinen: sie wurde ängstlich.“

„Was sagte sie denn?“

„Nein, nein, sagte sie, Mr. Jenkins hat ausdrücklich befohlen, dass Sie sich nicht aufhalten. Sie sollen mich so schnell wie möglich hinfahren. Er selbst ist schon mit Herrn Rüdiger vorausgefahren.“

„Mit wem?“ wiederholte der Detektiv verwundert.

„Mit Herrn Rüdiger.“

„Den Namen habe ich noch nie in meinem Leben gehört.“

„Das verstehe ich nicht“, staunte die Frau und fasste sich nachdenklich an den Kopf. „Das ist mir wirklich rätselhaft.“

„Wie konnte denn Ihr Mann so einfach auf die Weisung einer fremden Frau eingehen?“

„Ja, Mr. Jenkins, das frage ich mich jetzt auch. Aber die Dame trat wahrhaftig so bestimmt auf, dass uns keinen Augenblick irgendein Zweifel gekommen ist. Meinem Mann nicht und mir auch nicht. Und dann kam noch eins hinzu ...“ fuhr sie zögernd fort.

„Noch eins? Was denn?“

„Das Ziel, das die Dame nannte, war dasselbe, das Peter meinem Mann angegeben hatte. Da sagte sich mein Mann natürlich — das stimmt! Dieselbe Adresse hat dir Mr. Jenkins auch sagen lassen. Da ist die Sache einfach so: Mr. Jenkins ist eben mit diesem Herrn Rüdiger vorausgefahren, und da sollst du diese Dame hinterherbringen. Ja, so hat er gedacht — und ich muss sagen, ich habe genau dasselbe gedacht. Und ich hätte genau so gehandelt.“

Der Detektiv blickte zu Boden: „Sie sagen, die Dame hätte dieselbe Adresse genannt, die Peter Ihrem Manne gesagt hat?“

„Jawohl“, nickte die junge Frau eifrig.

„Können Sie sich erinnern, wie diese Adresse lautete?“

„Watten Sie mal. Ja, so war es: Tigergasse 16. Und da muss ich doch sagen, wenn ich — — —“

Frau Lanz vollendete diesen Satz nicht mehr. Ihr Mund war in sprachlosem Erstaunen offen stehen geblieben, und sie starrte mit runden Augen auf den Torbogen, durch den eben Joe Jenkins in vollen Sätzen davonstürmte.

Die Autodroschke stand noch immer gemütlich wartend auf ihrem Platz. Der Detektiv kam in hastigen Schritten um die Ecke und winkte.

Der Chauffeur sah ihn nicht. Er sprach eben mit einer Dame, und jetzt, in dem Augenblick, da der Detektiv näher kam, sah er, wie die Dame im Wagen Platz nahm, wie der Chauffeur mit kräftiger Hand den Motor in Schwung setzte, sich dann auf den Sitz schwang und die Hand an das Steuerrad legte.

„Halt!“

Der Chauffeur blickte erstaunt auf, mit jenem spöttischen Flimmern in den Augen, das den Chauffeuren der ganzen Welt zur Verfügung steht in jenem Moment, da sie einem Fahrgast klarzumachen wünschen, dass sie bereits einen andern Fahrgast haben.

„Ich bin besetzt!“

Damit zog er kurzerhand den Bremshebel.

„Warten Sie!“

In dem Klang der Stimme des Amerikaners war etwas, was den Chauffeur unschlüssig werden liess.

Der Detektiv wandte sich an die Dame:

„Es handelt sich um ein Verbrechen, gnädige Frau. Wahrscheinlich um einen Mord. Würden Sie sich entschliessen können, mir dieses Auto abzutreten?“

Die Angeredete sah ihm mit einem schnellen Blick ins Gesicht.

„Wohin wünschen Sie zu fahren, mein Herr?“

„Nach der Tigergasse.“

„In welcher Gegend ist die?“

„In der Nähe des Dönhoffplatzes — zwischen Dönhoffplatz und Moritzplatz.“

„Das trifft sich gut, mein Herr,“ sagte die Dame lächelnd, „ich will in die Stadt fahren, nach dem Schlesischen Bahnhof. Wenn Sie wollen, so nehme ich Sie nach der Tigergasse mit!“

Der Detektiv lüftete dankend den Hut und stieg ein. Er nahm das Sprachrohr:

„Fahren Sie also zuerst nach der Tigergasse 16.“

Der Chauffeur nickte, und einen Augenblick meinte Joe Jenkins, während jener ein schnelleres Tempo einschaltete, auf seinem halbgewandten Gesicht ein leises Lächeln zu sehen.

Alleen flogen vorüber. Eine breite Landstrasse tat sich auf. Bäume, deren Laub schon goldig schimmerte, wuchteten auf das Fahrzeug zu, verschwanden. Der Chauffeur rückte abermals den Hebel, und mit der letzten Geschwindigkeit raste das Auto vorwärts.

„Er macht seine Sache gut“, sagte die Dame.

Der Detektiv nickte. Er warf einen verstohlenen Seitenblick auf seine Begleiterin. Sie war mit einfacher Vornehmheit gekleidet. Ihr Alter war schwer bestimmbar, zumal in diesem Wagen, über dessen Decke unaufhörlich huschende Lichtreflexe glitten, die das Auge blendeten. Sie mochte im Anfang der Dreissiger stehen, konnte aber auch älter sein. Sie hatte weder eine Reisetasche noch sonstiges Gepäck bei sich. Es war anzunehmen, dass sie nicht abzureisen beabsichtigte, sondern dass sie etwa jemanden am Bahnhof erwarten wollte.

Der Wagen holte in einer neuen Kurve aus und glitt dann südlich durch den gemauerten Torbogen eines Eisenbahnviadukts hindurch.

Die Strasse, die ihn aufnahm, war bedeutend schmaler. Rechts und links sausten Schrebergärten vorüber. Die Gegend wurde ärmlicher; die roten Mauern einer Fabrik leuchteten in der Ferne auf, kamen näher, sausten mit einem fast fühlbaren Ruck an dem Wagen vorüber und verschwanden hinter ihm. Es war, als ob sich das Fahrzeug in diese weite Landschaft gierig hineinfrässe, sie verschlänge, um in rasendem Lauf immer neues Land in sich aufzunehmen.

Joe Jenkins blickte unruhig zum Fenster hinaus und wollte auf den Ball drücken. In diesem Augenblick fragte die Dame:

„Sie sagten, es handle sich um einen Mord. Ist es indiskret, wenn ich Sie bitte, mir Näheres über diese Angelegenheit mitzuteilen?“

„Ich weiss leider selbst nichts Näheres“, sagte er mit zerstreutem Blick auf die Fragerin. „Ich bin sozusagen auf einer Rekognoszierungsfahrt. Aber ich glaube zu sehen, dass dieser Chauffeur uns einen Weg fährt, der weder nach der Tigergasse noch nach dem Schlesischen Bahnhof führt.“

„Ich möchte Sie fast bitten, mich nach der Tigergasse mitzunehmen“, gab die Dame zur Antwort.

Der Wagen sauste durch eine von breiten Linden umsäumte Allee. Dann kam eine lange Pappelstrasse, das Gleis der Strassenbahn tauchte auf, klappernd kreuzte das Auto die Schienen, und wieder erblickte man eine endlose, weissschimmernde Landstrasse.

„Zum Teufel!“

Der Detektiv sprang auf und drückte auf den Gummiball, und indem er das Mundstück des Sprachrohrs in die Hand nahm, schrie er:

„Wohin fahren Sie mich denn?“

Der Chauffeur sah sich um, fasste nach dem Griff seiner Maschine, das Tempo des Wagens verringerte sich, und während das Fahrzeug in ein leises Gleiten überging, sprang der Amerikaner heraus.

„Zum Teufel! Wie kommen Sie dazu, mich nach dem Tempelhofer Feld zu fahren?“

Der Wagen hielt. Der Chauffeur sah den Amerikaner an.

„Das ist schon richtig, mein Herr“, sagte er lächelnd.

„Was ist richtig!“

„Das mit dem Tempelhofer Feld.“

„Sie sollten mich doch nach der Tigergasse fahren.“

Der Chauffeur schüttelte den Kopf.

„Die Dame hat mir doch dreihundert Mark dafür gegeben.“

„Wofür?“

„Nun, dafür, dass ich Sie nach dem Tempelhofer Feld bringen sollte.“

Der Detektiv warf einen halben Blick auf die Dame zurück, die den linken Wagenschlag geöffnet hatte und neugierig dem Gespräch zu lauschen schien.

„Was reden Sie da? Die Dame hätte Ihnen ... die Dame hat doch während der ganzen Fahrt kein Wort mit Ihnen gesprochen.“

„Das nicht. Aber vorher. Vorher hat sie es mir gesagt.“

„Was hat sie gesagt?“

„Sie hat mir gesagt, dass Sie kommen würden. Und dass ich Sie nach dem Tempelhofer Feld fahren sollte.“

„Unsinn, die Dame konnte doch gar nicht wissen, dass ich kommen würde.“

„O doch, sie wusste es. Sie hat mir sogar Ihren Namen gesagt.“

Der Detektiv lächelte.

„Da bin ich doch neugierig. Wie heisse ich denn?“

Der Wagenführer sah ihn verschmitzt an, dann sagte er ruhig:

„Sie sind Mr. Joe Jenkins.“

Von der entgegengesetzten Seite kam in diesem Augenblick ein ratterndes Geräusch, das sich surrend verstärkte und nun in mässigem Tempo an dem Wagen vorüberkam: ein zweites Auto.

Eben wollte sich Joe Jenkins der Dame zuwenden, als diese, fast mit einem einzigen Satz, in das andere Auto, das von der entgegengesetzten Richtung gekommen war, hineinsprang. In dem Augenblick, als der Schlag hinter ihr zufiel, kam ein knirschender Laut, und fast wie mit einem Sprung flog der andere Wagen vorüber. Vorwärts, der Stadt zu.

Joe Jenkins blickte ihm resigniert nach. Der Chauffeur war abgesprungen und stand mit weit aufgerissenen Augen neben ihm.

„Nummer 129478“, sagte er. „Wenn Sie sich die Nummer notieren wollen, vielleicht dass Sie auf diesem Wege einen Anhalt ...“

„Das ist nicht nötig“, replizierte der Amerikaner trocken. „Den Wagen kenne ich schon so. Es ist nämlich mein eigener.“

„Ihr eigener“, wiederholte der Chauffeur verblüfft. „Ihr Auto, Herr?“

Der Detektiv nickte.

„Was bedeutet das?“

„Das mag der Teufel wissen!“

„Da wird uns nichts anderes übrig bleiben, als so schnell wie möglich hinterherzufahren.“

„Das wird nicht so einfach sein“, sagte Joe Jenkins verdriesslich.

„Warum nicht?“

Der Amerikaner wies auf das linke Hinterrad.

„Sie hat uns einen kleinen Streich gespielt.“