Die goldenen Spinnen - Rex Stout - E-Book

Die goldenen Spinnen E-Book

Rex Stout

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  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eigentlich gehören Morde ja zu Nero Wolfes Alltag, aber diesmal sieht die Sache anders aus. Denn dass er die Geschichte von der Frau mit den goldenen Spinnenohrringen, die ihm ein zwölfjähriger Junge aufgetischt hat, nicht ernst genommen hat, lässt Nero Wolfe nicht los – schließlich ist der Junge kurz darauf tot. Unfall ausgeschlossen. Zwei tote Klienten in einer Woche sind schlecht für's Geschäft und weil es diesmal um sein Renommee geht, akzeptiert Nero Wolfe das niedrigste Honorar seiner ganzen Karriere. Nachdem er die Geschichte eines zwölfjährigen Jungen, der Zeuge einer Entführung gewesen sein will, zuerst ignoriert, entscheidet sich Nero Wolfe doch, die Ermittlungen aufzunehmen. Denn am nächsten Tag ist der Junge tot, überfahren von demselben Auto, das er beschrieben hatte. So begibt sich Nero Wolfe auf die Suche nach einer mysteriösen Frau, einem Paar Ohrringe in Form goldener Spinnen und einem grauen Cadillac, denn ihm ist klar: In diesem Fall steht seine Ehre auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 289

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Rex Stout

Die goldenen Spinnen

Ein Fall für Nero Wolfe

Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence

KLETT-COTTA

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1953 unter dem Titel »The Golden Spiders« bei Viking Press, New York, und liegt hier vollständig neu übersetzt vor.

© 1953, 1954, 1955, 1964, 1995, 2008, 2010 Rex Stout

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGERUNDRASPKommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Illustration von Dirk Schmidt, München

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96390-8

E-Book: ISBN 978-3-608-11605-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Kapitel Eins

Klingelt es an der Tür des alten Brownstones in der West 35th Street, während Nero Wolfe und ich zu Abend essen, geht für gewöhnlich Fritz und macht auf. An jenem Abend jedoch ging ich selbst, da ich wusste, dass Fritz nicht in der Stimmung war, sich mit einem Besucher zu befassen, ganz gleich, wer es war.

Fritz’ Gemütslage sollte erklärt werden. Jedes Jahr etwa Mitte Mai, so ist es vereinbart, schießt ein Farmer, der oben bei Brewster lebt, achtzehn, zwanzig Stare, steckt sie in eine Tasche, steigt in sein Auto und kommt damit nach New York gefahren. Dabei gilt, dass er sie innerhalb von zwei Stunden, nachdem er sie geschossen hat, bei uns abliefert. Fritz rupft sie, nimmt sie aus, besprenkelt sie mit Salz, bestreicht sie im richtigen Moment mit geschmolzener Butter, wickelt sie in Salbeiblätter und grillt und arrangiert sie auf einer Platte mit heißer Polenta, einem dicken Brei aus fein gemahlenem gelben Maisgries mit Butter, geriebenem Käse, Salz und Pfeffer.

Es ist ein teures Essen, und ein glückliches, Wolfe freut sich immer darauf, aber diesmal machte er Theater. Als die Platte hereingetragen und dampfend vor ihn hingestellt wurde, schnüffelte er, senkte den Kopf, schnüffelte noch einmal, richtete sich auf und sah Fritz an.

»Der Salbei?«

»Nein, Sir.«

»Wie meinen Sie das, nein, Sir?«

»Ich dachte, Sie würden sie einmal auf eine von mir vorgeschlagene Art mögen, mit Safran und Estragon. Viel frischem Estragon und einem Hauch Safran, wie sie –«

»Weg damit!«

Fritz versteifte sich und presste die Lippen aufeinander.

»Sie haben mich dazu nicht konsultiert«, sagte Wolfe mit kalter Stimme. »Ohne Vorwarnung feststellen zu müssen, dass eines meiner Lieblingsgerichte radikal verändert wurde, ist ein unangenehmer Schock. Das mag ja essbar sein, aber ich bin nicht in der Stimmung, es zu riskieren. Bitte, schaffen Sie das weg, und bringen Sie mir vier Coddled Eggs und eine Scheibe Toast.«

Fritz, der Wolfe so gut wie ich kannte und sich bewusst war, dass das eine Disziplinarmaßnahme war, die Wolfe mehr schmerzte als ihn, und dass es keinen Sinn hatte, in eine Debatte einzusteigen, griff nach der Platte, aber ich warf ein: »Ich nehme etwas davon, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Wenn der Geruch Ihnen nicht den Appetit auf Ihre Eier verdirbt?«

Wolfe starrte mich an.

So kam Fritz zu seiner Laune, die es mir ratsam erscheinen ließ, selbst an die Tür zu gehen. Wolfe hatte seine Eier gegessen, als die Klingel ertönte, trank Kaffee und bot einen wirklich bemitleidenswerten Anblick, während ich meinen Nachschlag Star auf Polenta, der tatsächlich essbar war, fast beendet hatte. Ich machte mir nicht die Mühe, in Flur und Diele das Licht einzuschalten, sah ich doch im abendlichen Zwielicht genug, um durch die nur von innen durchsichtige Scheibe der Tür zu erkennen, dass der Bursche auf dem Treppenabsatz nicht der große Gewinnbringer war.

Ich machte auf und sagte freundlich: »Falsch verbunden.«

Ich blieb grundsätzlich freundlich, um den Kindern in der Nachbarschaft den Gedanken des Weltfriedens näherzubringen. Das machte das Leben in der Straße, in der es reichlich Ballgewerfe und anderes Theater gab, um einiges ruhiger.

»Falsch geraten«, sagte er mit einer tiefen, nervösen Altstimme. »Sie sind Archie Goodwin. Ich muss Nero Wolfe sprechen.«

»Wie heißt du?«

»Pete.«

»Und weiter?«

»Drossos. Pete Drossos.«

»Aus welchem Grund willst du Mr. Wolfe sprechen?«

»Ich habe einen Fall. Ich werde es ihm erklären.«

Er war ein drahtiger kleiner Kerl mit unordentlichem schwarzen Haar, das geschnitten werden musste, und stechenden schwarzen Augen, der mir bis an den Krawattenknoten reichte. Ich hatte ihn schon mal in der Nachbarschaft gesehen, ohne dass ich etwas für oder gegen ihn hätte sagen können. Die Sache war, ihn wieder loszuwerden, ohne mich mit ihm zu bekriegen, und normalerweise hätte ich das auch getan, doch nach Wolfes kindischem Verhalten Fritz gegenüber dachte ich, ihm würde ein weiteres Kind zum Spielen guttun. Klar, er würde knurren und beißen, aber wenn Pete was abbekam, konnte ich ihn hinterher verbinden. Und so bat ich ihn herein und führte ihn ins Esszimmer.

Wolfe füllte seinen Kaffee auf. Er warf einen Blick auf Pete, der sich, wie ich zugebe, nicht in Schale geworfen hatte, stellte die Kanne ab, sah mich an und sagte:

»Archie. Ich lasse beim Essen keine Unterbrechungen zu.«

Ich nickte verständnisvoll. »Ich weiß, aber das war kein Essen. Sind Eier ein Essen? Das hier ist Mr. Pete Drossos. Er will Sie zu einem Fall konsultieren. Ich wollte ihm sagen, dass Sie beschäftigt sind, musste dann aber an Ihren Ärger darüber denken, dass Fritz Sie nicht konsultiert hat, und ich wollte nicht, dass Sie auch auf Pete sauer sind. Er ist ein Nachbar, und Sie wissen doch, liebe deine Nachbarn wie dich selbst.«

Wolfe aufzuziehen, ist immer riskant. Es mag zu einer unmittelbaren Explosion kommen; wenn nicht, wenn er sich eine Sekunde zum Nachdenken nimmt, kriegt man es oft doppelt zurück. Diesmal nahm er sich mehrere Sekunden, nippte an seinem Kaffee und wandte sich dann höflich an unseren Besucher. »Setzen Sie sich, Mr. Drossos.«

»Ich bin kein Mister. Ich bin Pete.«

»Sehr gut, Pete, setzen Sie sich. Drehen Sie sich mehr zu mir hin, bitte. Danke. Sie wollten mich konsultieren?«

»Jepp, ich habe einen Fall.«

»Ich begrüße jeden neuen Fall, nur ist es zeitlich im Moment ein wenig unglücklich, weil Mr. Goodwin heute Abend zu einem Billard-Spiel wollte, und jetzt wird er selbstverständlich bleiben müssen, um alles, was Sie sagen und was ich sage, aufzuschreiben. Archie, holen Sie Ihr Notizbuch, bitte?«

Wie ich sagte, es ist immer riskant. Er hatte mich am Wickel. Ich ging ins Büro hinüber, um ein Notizbuch und einen Stift zu holen, und als ich zurückkam, stand Fritz mit Kaffee für mich da und mit Keksen und einer Flasche Coca-Cola für Pete. Ich sagte nichts. Mein Stift und mein Notizbuch würden das Gesagte so gut wie automatisch aufnehmen, sie benötigten nicht mehr als ein Fünftel meines Gehirns; mit dem Rest würde ich Pläne entwickeln, um wieder Oberwasser zu bekommen.

Pete redete. »Ich nehm an, es ist okay, dass er mitschreibt, aber ich muss vorsichtig sein. Das Ganze ist streng unter der Hand.«

»Wenn Sie meinen, dass es vertraulich ist, gewiss.«

»Dann rück ich damit raus. Ich weiß, es gibt ein paar Privatdetektive, zu denen man nicht offen sein kann, aber Sie sind anders. Wir wissen hier alles über Sie. Ich weiß, was sie von den miesen Cops halten, genau wie ich. Also erzähl ich Ihnen alles.«

»Bitte doch.«

»Okay. Wie viel Uhr ist es?«

Ich sah auf meine Armbanduhr. »Zehn vor acht.«

»Dann war es vor einer Stunde. Ich weiß, manchmal hängt alles an der genauen Zeit, und gleich, nachdem es passiert ist, bin ich los und hab auf die Uhr im Drugstore an der Ecke gesehen, da war es Viertel vor sieben. Ich hab gearbeitet, die Scheiben-Masche an der Ecke 35th und Ninth, und ein Caddy hielt –«

»Bitte, was ist die Scheiben-Masche?«

»Ach, Sie wissen schon, ein Auto hält, und du springst mit ’nem Lappen hin und fängst an, die Scheibe zu putzen, und wenn es ein Mann ist, und er lässt dich, hast du ihn, und er zahlt wenigstens einen Dime. Wenn es eine Frau ist, und sie lässt dich, hast du sie vielleicht, vielleicht auch nicht. Das Risiko gehst du ein. Also, dieser Caddy hält –«

»Was ist ein Caddy?«

Dem Blick aus den stechenden schwarzen Augen nach zu urteilen, keimte in Pete der Verdacht auf, dass er sich den falschen Detektiv ausgesucht hatte. Ich ging dazwischen, um ihm zu zeigen, dass jedenfalls einer von uns kein Schwachkopf war, und sagte zu Wolfe: »Ein Cadillac.«

»Verstehe. Er hielt an?«

»Jepp, wegen der Ampel. Ich bin gleich zur Scheibe auf der Fahrerseite. Es war eine Frau. Sie drehte den Kopf, sah mir voll ins Gesicht und sagte was. Ich glaube nicht, dass sie ein Geräusch dabei gemacht hat, auf jeden Fall hab ich durch das Fenster nichts gehört, das war fast bis ganz oben hochgekurbelt, aber sie bewegte ihre Lippen, und deshalb hab ich sie verstanden. Sie sagte: ›Hilfe. Hol einen Cop.‹ Genau so, sehen Sie.«

Er formte die Worte mit den Lippen, übertrieb es etwas, ließ aber keinen Ton hören. Wolfe nickte anerkennend. Er wandte sich mir zu. »Archie. Machen Sie eine Skizze von Petes Mund, wie er das macht.«

»Später«, sagte ich verbindlich. »Wenn Sie zu Bett gegangen sind.«

»Es war so klar, wie’s nur sein konnte«, fuhr Pete fort. »›Hilfe, hol einen Cop.‹ Es erwischte mich, und wie. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, weil ich wusste, das durfte ich nicht, aber ich denke, ich hab’s versaut, weil mich der Mann so angeguckt hat und –«

»Wo war der Mann?«

»Da, auf dem Sitz neben ihr. Es waren nur die beiden im Auto. Ich nehm an, er hat mir meinen Schrecken angesehen, weil er die Pistole nur noch fester in sie reinstieß, und sie riss den Kopf herum –«

»Haben Sie die Waffe gesehen?«

»Nein, aber ich bin kein Trottel, oder? Was sonst kann der Grund sein, dass sie einen Cop wollte und den Kopf so rumgerissen hat? Was denken Sie, was das war, ein Bleistift?«

»Ich ziehe die Waffe vor. Und dann?«

»Ich bin ein bisschen was zurückgewichen. Alles, was ich hatte, war mein Putzlumpen, und der mit seinem Sechsschüssigen. Was jetzt kommt – verstehen Sie mich nicht falsch, ich hab mit den Cops nichts am Hut. Ich sehe das genauso wie Sie. Aber es ging alles so schnell, dass mir gar nicht bewusst wurde, was ich da eigentlich machte, und ich geb zu, ich hab mich nach einem umgesehen. Da war keiner, also bin ich zurück auf den Bürgersteig und hab um die Ecke geguckt, und als ich mich wieder umdrehte, war die Ampel umgesprungen, und der Wagen fuhr los. Ich hab versucht, einen anderen Wagen dazu zu kriegen, dass er ihm folgte, aber es wollte keiner anhalten. Ich dachte, vielleicht erwische ich ihn noch an der Eighth Avenue, und bin die 35th runtergerannt, so schnell ich konnte, doch er hatte Grün an der Eighth und fuhr drüber, als ich erst halb da war. Aber ich hab sein Kennzeichen.«

Er griff in die Hosentasche, zog einen kleinen Zettel heraus und las vor: »Connecticut, Y, Y, Neun, Vier, Drei, Zwei.«

»Ausgezeichnet.« Wolfe stellte seine leere Tasse ab. »Haben Sie das Kennzeichen der Polizei gegeben?«

»Ich?«, sagte Pete verächtlich. »Den Cops? Bin ich irre? Ich geh auf die Wache und erzähl das so einem Plattfisch, oder sagen wir, es ist ein Sergeant, dem ich es erzähle, und dann? Erst mal glaubt er mir nicht, und dann ist er hinter mir her und hat mich auf seiner Liste. Ihnen tut es nichts, wenn Sie auf der Liste stehen, weil Sie ein Privater sind mit einer Lizenz und Sie was gegen ’ne Menge Inspectors in der Hand haben.«

»Habe ich das? Was?«

»Fragen Sie mich nicht. Aber alle wissen, dass Sie einen Haufen schmutziger Geheimnisse von ein paar großen Fischen kennen, sonst wären Sie doch schon lange weg vom Fenster. Aber einer wie ich kann es nicht riskieren, auf die Liste zu kommen, selbst wenn er in Ordnung ist. Ich hasse die Cops, wobei man kein Lump sein muss, um sie zu hassen. Ich sag meiner Mutter die ganze Zeit, ich bin in Ordnung, und das bin ich, aber ich sag Ihnen, dafür brauchen Sie ganz schön Mumm. Was halten Sie von meinem Fall?«

Wolfe überlegte. »Er kommt mir etwas – hmm – nebulös vor.«

»Yeah, deshalb bin ich hier. Ich hab mich an einen Ort verzogen, wo ich immer hingeh, wenn ich nachdenken will, und ich hab’s komplett durchdacht. Es wär ein bombiger Fall, wenn ich alles richtig machen würde. Der Wagen, das war ein Caddy. Der Mann sah fies aus, aber auch so, als hätte er Geld, so, als hätte er gleich drei Caddies. Die Frau auch. Sie war nicht so alt wie meine Mutter, aber ich nehm an, danach kann ich nicht gehen, weil meine Mutter immer hart gearbeitet hat, und ich wette, die nie. Sie hatte ’n Kratzer im Gesicht, auf der linken Backe, und ihr Gesicht war ganz verzerrt, als sie gesagt hat: ›Hilfe, hol einen Cop.‹ Aber als ich drüber nachgedacht habe, war klar, dass sie gut aussah. Sie hatte so große goldene Spinnen als Ohrringe, Spinnen mit ausgestreckten Beinen. Reines Gold.«

Wolfe grunzte.

»Okay«, gab Pete zu, »sie sahen aus wie aus Gold. Aus Messing waren sie nicht. Egal, das alles stank nach Geld, und was ich dachte, war: Ich hab ’n Fall mit Leuten, die Geld haben, was soll ich machen, dass ich welches davon abkriege? Da könnten bis zu fünfzig Dollar drin sein, wenn ich’s richtig mache. Wenn der sie umbringt, kann ich ihn identifizieren und krieg die Belohnung. Ich kann bezeugen, was sie gesagt hat und wie er ihr die Pistole reingedrückt hat –«

»Sie haben keine Pistole gesehen.«

»Das ist ein Detail. Und wenn er sie nicht umgebracht hat, wenn er sie nur zu was gezwungen hat, oder sie ihm was gesagt oder gegeben hat, kann ich hingehen und es ihm sagen, und entweder kommt er mit fünfzig Scheinen raus, vielleicht auch hundert, oder ich häng’s ihm an.«

»Das wäre Erpressung.«

»Okay.« Pete wischte Kekskrümel von seinen Fingern aufs Tablett. »Deshalb hab ich beschlossen, zu Ihnen zu kommen, als ich nachgedacht hatte. Ich hab gesehen, dass ich das nicht allein schaffe und Sie mit reinholen muss, aber klar, dass es mein Fall ist. Vielleicht denken Sie, dass ich blöde bin, weil ich Ihnen das Nummernschild gegeben habe, bevor wir uns einig geworden sind, aber das bin ich nicht. Wenn Sie ihn kriegen und in die Ecke treiben, mich rausdrängen und alles für sich wollen, muss ich ihn immer noch identifizieren, also hängt es an mir. Wenn Erpressung nicht geht, können Sie dafür sorgen, dass es nicht danach aussieht. Was sagen Sie, machen wir fifty-fifty?«

»Ich sage Ihnen, Pete«, Wolfe schob seinen Stuhl zurück und verlagerte seine Masse in eine bequeme neue Position. »Falls wir in Ihrem Fall zusammenkommen, denke ich, sollte ich Ihnen ein paar Dinge über die Wissenschaft und Kunst der Aufklärung erläutern. Mr. Goodwin wird selbstverständlich alles notieren, und wenn er es in die Maschine schreibt, wird er auch eine Kopie für Sie machen. Aber zuerst telefoniert er. Archie, Sie haben die Autonummer. Rufen Sie in Mr. Cramers Büro an und geben Sie sie durch. Sagen Sie, Sie haben Informationen, dass der Wagen, beziehungsweise sein Besitzer oder Fahrer, während der letzten zwei Stunden in eine Gesetzesverletzung hier in der Stadt verwickelt gewesen sein könnte, und schlagen Sie eine Routineüberprüfung vor. Werden Sie nicht genauer. Sagen Sie, unsere Information ist nicht verifiziert und die Überprüfung sollte diskret vorgenommen werden.«

»Hey«, wollte Pete wissen, »wer ist Mr. Cramer? Ein Cop?«

»Ein Inspector«, erklärte ihm Wolfe. »Sie haben selbst die Möglichkeit eines Mordes angedeutet. Falls es dazu gekommen ist, gibt es eine Leiche, und wenn es eine Leiche gibt, sollte sie gefunden werden. Wo ist bis dahin sonst Ihr Fall? Wir haben keine Ahnung, wo wir danach suchen sollen, also bringen wir die Polizei dazu, es für uns zu tun. Ich benutze sie oft in der Weise. Archie. Selbstverständlich nennen Sie Petes Namen nicht, da er nicht auf die Liste will.«

Ich ging hinüber ins Büro an meinen Schreibtisch, wählte die Nummer der Manhattaner Mordkommission West und überlegte, dass es angesichts der tausend Techniken Wolfes, sich als unausstehlich zu erweisen, immer dann am schlimmsten wurde, wenn er sich für witzig hielt. Nachdem ich mit Sergeant Purley Stebbins gesprochen und wieder aufgelegt hatte, war ich versucht, einfach zu gehen und zuzusehen, wie Mosconi und Watrous mit ihren Queues hantierten, doch das ging natürlich nicht, weil ich damit zugegeben hätte, dass er mich vorgeführt hatte, und er Pete verabschiedet und sich mit einem Buch und einem befriedigten Grinsen zurückgezogen hätte.

Also marschierte ich zurück ins Esszimmer, setzte mich, nahm meinen Stift und sagte gut gelaunt: »Erledigt, sie sind alarmiert. Schießen Sie los mit Ihrem Vortrag über die Aufklärung, und lassen Sie nichts aus.«

Wolfe lehnte sich zurück, legte die Ellbogen auf die Armlehnen und führte die Fingerspitzen seiner beiden Hände zusammen. »Sie verstehen, Pete, dass ich mich auf die Probleme und Methoden des Privatdetektivs beschränke, der seinen Beruf zum Broterwerb ausübt.«

»Yeah.« Pete trank eine zweite Flasche Cola. »Darum geht’s mir, wie man das Geld reinholt.«

»Diese Tendenz ist mir bei Ihnen schon aufgefallen. Nur dürfen Sie nicht erlauben, dass andere Überlegungen dadurch ins Hintertreffen geraten. Es ist wünschenswert, sein Honorar zu bekommen, dabei jedoch von grundsätzlicher Bedeutung, das Gefühl zu haben, dass man es tatsächlich verdient hat, und das hängt zum Teil von Ihrem Ego ab. Wenn Ihr Ego gesund und gefestigt ist, so wie meines, werden Sie kaum Schwierigkeiten haben –«

»Was ist mein Ego?«

»Da gibt es unterschiedliche Definitionen, philosophische, metaphysische, psychologische und jetzt auch psychoanalytische, aber so, wie ich den Begriff gebrauche, steht er für die Fähigkeit, alles hochzuspielen, was Ihre persönliche Meinung von sich selbst verbessert, und herunterzuspielen, was nicht gut dafür ist. Ist das klar?«

»Ich nehm’s an.« Pete zog angestrengt die Brauen zusammen. »Sie meinen, ob man sich mag oder nicht.«

»Nicht genau, aber das trifft es gut genug. Mit einem robusten Ego fühlen Sie –«

»Was ist robust?«

Wolfe verzog das Gesicht. »Ich bemühe mich, Wörter zu benutzen, denen Sie bereits begegnet sind, aber wenn es mir nicht gelingt, wenn Ihnen eines fremd ist, unterbrechen Sie mich freundlicherweise nicht. Wenn Sie klug genug sind, ein guter Detektiv zu sein, können Sie die Bedeutung eines neuen Wortes aus dem Kontext ergründen – das sind die anderen Worte, die ich damit zusammen benutze. Zudem gibt es für gewöhnlich einen Anhaltspunkt. Ich habe gerade von einem gesunden und gefestigten Ego gesprochen, und dann im selben Zusammenhang, nach ihrer Unterbrechung, von einem ›robusten‹ Ego. ›Robust‹ bedeutet also offenbar ›gesund und gefestigt‹, und wenn Sie das Zeug zu einem guten Detektiv haben, hätten Sie das Erkennen sollen. Wie alt sind Sie?«

»Zwölf.«

»Dann sollte ich Zugeständnisse machen und tue es. Um fortzufahren: Mit einem robusten Ego können Sie Ihr Gefühl, was das Verdienen Ihres Honorars betrifft, problemlos Ihrer Intelligenz und Ihrem gesunden Menschenverstand überlassen. Fordern oder akzeptieren Sie niemals ein Honorar, von dem Sie nicht das Gefühl haben, es verdient zu haben; wenn Sie dies tun, verlieren Sie Ihre Integrität, und Ihr Ego wird wurmstichig. Nehmen Sie, mit diesem einen Vorbehalt, was Sie bekommen können. Denn so, wie Sie nicht nehmen sollten, was Sie Ihrem Gefühl nach nicht verdient haben, müssen Sie andererseits einfordern, was Ihnen Ihrem Gefühl nach zusteht. Besprechen Sie mit einem möglichen Klienten gar nicht erst seinen Fall, bevor Sie nicht sicher sind, dass er Sie bezahlen kann. So viel –«

»Warum dann –«, platzte es aus Pete heraus.

»Warum, was?«

»Nichts. Nur, dass Sie mit mir sprechen, wo ich doch noch ein Kind bin.«

»Dies ist ein besonderer Fall. Mr. Goodwin hat sie zu mir gebracht, mein vertrauter und mir so teurer Assistent, und er wäre enttäuscht, wenn ich Ihre Geschichte nicht gründlich erkundete und von ihm aufschreiben und abtippen ließe.« Wolfe gönnte mir einen scheinheiligen Blick und wandte sich erneut Pete zu. »So viel zu Ihrem Ego und Ihrem Honorar. Was die Methoden betrifft, so müssen sie selbstverständlich Ihrem Bereich entsprechen. Ich übergehe solche Bereiche wie Industriespionage, Scheidungsstreitigkeiten und ähnlich abstoßende Schnüffeleien, da das Ego aller Männer, die sich damit befassen, bereits von Würmern befallen ist, und so betreffen die Sie nicht. Aber nehmen wir einen Raub. Sagen wir zum Beispiel, die Schmuckschatulle einer Frau ist geplündert worden und sie will nicht zur Polizei gehen, weil sie befürchtet –«

»Nehmen wir einen Mord. Ich würde lieber mit einem Mord anfangen.«

»Wie Sie wollen.« Wolfe war huldvoll. »Sie kommen da doch mit, oder, Archie?«

»Darauf können Sie wetten. Mit heraushängender Zunge.«

»Gut. Aber ob Raub oder Mord, ganz gleich, was: Allgemein gesagt, muss Ihnen absolut klar sein, dass Sie vor allem eine Kunst praktizieren, keine Wissenschaft. Die Rolle der Wissenschaft in der Verbrechensaufklärung ist wertvoll, ehrbar und effizient, aber kaum Teil der Aktivitäten eines Privatdetektivs, der zu Berühmtheit gelangen will. Jeder mäßig Begabte kann sich mit dem Gebrauch einer Schieblehre vertraut machen, einer Kamera, eines Mikroskops, eines Spektrografen oder einer Zentrifuge, doch das sind nicht mehr als Gehilfen einer Aufklärung. Die Wissenschaft kann hervorragende, ja sogar brillante Ergebnisse liefern, niemals jedoch den erbarmungslosen Marsch eines feinen Geistes durch den Dschungel aus Lügen und Ängsten auf die Lichtung der Wahrheit ersetzen, oder den Erkenntnisblitz, der einen feinfühligen Nerv angesichts einer bestimmten Tonlage einer Stimme oder des Zuckens eines Augenlids durchfährt.«

»Entschuldigen Sie«, warf ich ein, »meinen Sie die Tonlage einer bestimmten Stimme?«

»Ganz im Gegenteil«, log Wolfe, »es geht um die Tonlage irgendeiner Stimme.« Er wandte sich wieder Pete zu. »Die Kunst der Aufklärung kennt viele Ebenen und Gesichter. Nehmen Sie eine heraus: Einen Mann durch New York zu verfolgen, ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Wenn die Polizei es ernsthaft versucht, stellt sie drei Leute dafür ab und zieht trotzdem oft den Kürzeren. Es gibt da jemanden, der oft für mich arbeitet, Saul Panzer; er ist ein Genie im Beschatten und arbeitet allein. Ich habe eingehend mit ihm darüber gesprochen und bin zu dem Schluss gekommen, dass er selbst das Geheimnis seines überragenden Talents nicht kennt. Es ist keine bewusste, kontrollierte Operation seines Gehirns, obwohl er ein gutes besitzt; es ist etwas in seinem Nervensystem Verstecktes – möglicherweise, selbstverständlich, in seinem Kopf. Er sagt, er scheint es irgendwie zu wissen, gerade rechtzeitig, was der Mann, den er verfolgt, gleich tun wird – nicht, was er getan hat oder gerade tut, sondern, was er vorhat. Deshalb könnte Ihnen Mr. Panzer alles beibringen, was er weiß, ohne dass Sie je so gut werden würden wie er. Aber das heißt nicht, dass Sie nicht lernen sollten, was Sie können. Lernen schadet nie. Nur der Mann, der zu wenig weiß, weiß zu viel. Erst, wenn Sie anzuwenden versuchen, was Sie gelernt haben, finden Sie heraus, ob Sie Ihr Wissen in Handlung umzusetzen verstehen.«

Wolfe zeigte mit dem Daumen auf mich. »Nehmen Sie Mr. Goodwin. Es würde mir schwerfallen, ohne ihn effizient zu arbeiten. Er ist unersetzlich. Dennoch ist, was er tut, weitgehend impulsiv und willkürlich, was ihn für jede wichtige Aufgabe disqualifizieren würde, hätte er nicht irgendwo in sich versteckt – möglicherweise in seinem Hirn, obwohl ich das bezweifle – einen mächtigen und feinsinnigen Regulator. Zum Beispiel löst der Anblick eines hübschen Mädchens eine überwältigende Hingabe und Wertschätzung in ihm aus, begleitet von besitzergreifenden Instinkten, trotzdem hat er nie geheiratet. Warum nicht? Weil er weiß, wenn er eine Frau hätte, würde seine Reaktion auf hübsche Mädchen, im Moment noch rein und frank und frei, nicht nur unerträglich verunreinigt, sondern stünde auch unter Beobachtung und würde Gegenstand von Restriktionen einer höheren Autorität. Deshalb stoppt ihn sein Regulator immer kurz vor der Katastrophe, mitunter zweifellos im allerletzten Moment. So geht es mit dem Großteil seiner Impulse und Launen, aber hier und da verpasst der Regulator es, rechtzeitig einzugreifen, sodass Mr. Goodwin ein Missgeschick widerfährt, wie zum Beispiel heute Abend, als es ihn reizte, mir mit einer sich bietenden Gelegenheit zuzusetzen. Gekostet hat ihn das bereits – wie viel Uhr ist es, Archie?«

Ich sah nach. »Achtzehn Minuten vor neun.«

»Hey!« Pete sprang von seinem Stuhl auf. »Ich muss los! Meine Mutter – ich muss um Viertel vor zu Hause sein! Bis morgen!«

Er rannte los. Bis ich aufgestanden und im Flur war, hatte er bereits die Haustür erreicht, zog sie auf und war weg. Ich trat zurück in die Tür zum Esszimmer und sagte zu Wolfe: »Verdammt, ich hatte gehofft, er würde bis Mitternacht bleiben, damit Sie Ihren Vortrag beenden könnten. Dagegen wird ein Billardspiel jetzt eine ziemlich öde Veranstaltung werden, aber ich werde wohl dennoch gehen.«

Und ich ging.

Kapitel Zwei

Am nächsten Tag, einem Mittwoch, war einiges zu tun. Ein Werkzeugmacher aus Youngstown, Ohio, war nach New York gekommen, um seinen Sohn zu suchen, der alle Verbindungen zu ihm gekappt hatte. Er hatte Wolfe per Telegramm gebeten, ihm zu helfen, und wir hatten Saul Panzer, Fred Durkin und Orrie Cather losgeschickt, damit sie sich umhörten. Das fesselte mich an meinen Schreibtisch. Ich bekam Berichte und gab Instruktionen weiter.

Kurz nach vier Uhr nachmittags tauchte Pete Drossos auf und wollte zu Wolfe. Seine Haltung deutete darauf hin, dass er sich zwar durchaus bewusst war, dass auch ich eine Lizenz als Privatdetektiv hatte, und er offenbar nicht ernsthaft etwas gegen mich hatte, es aber dennoch vorzog, mit dem Boss zu verhandeln. Ich erklärte ihm, dass Nero Wolfe jeden Tag vier Stunden – von neun bis elf Uhr morgens und von vier bis sechs Uhr nachmittags – oben in seinen Pflanzenräumen auf dem Dach verbringe, mit seinen zehntausend Orchideen, wo er statt mir Theodore Horstmann herumkommandierte, und dass er während dieser Zeiten nicht verfügbar sei. Pete ließ mich wissen, dass das eine irrsinnige Art für einen Privatdetektiv war, seine Zeit zu verbringen, und da wollte ich ihm nicht widersprechen. Als ich ihn endlich wieder draußen auf dem Treppenabsatz und die Tür geschlossen hatte, war ich so weit, zuzugeben, dass mein Regulator mal geölt werden musste. Pete würde sich zu einer verdammten Nervensäge entwickeln, kein Zweifel. Ich hätte meinen Impuls herunterschlucken sollen, ihn als Spielkameraden für Wolfe hereinzulassen. Wann immer ich mich dabei erwische, wie ich mir einrede, etwas verbockt zu haben, hilft es, etwas zu trinken, und so ging ich in die Küche und holte mir ein Glas Milch. Als ich zurück ins Büro kam, klingelte das Telefon – Orrie Cather mit einem Bericht.

Bei Tisch an diesem Abend ließen sich weder Wolfe noch Fritz anmerken, dass es irgendein Problem mit Staren gegeben hatte. Als Wolfe bei der Hauptspeise, Dänischem Pfannkuchen mit Schweinefleisch, noch einmal nachfasste, sagte er gut vernehmlich: »Äußerst befriedigend.« Da das für seine Verhältnisse geradezu überschwänglich war, nahm Fritz es so an, nickte würdevoll und murmelte: »Gewiss, Sir.« Es flogen also keine Funken, als wir unseren Kaffee beendeten, und Wolfe war so umgänglich gestimmt, dass er sagte, er würde sich von mir gern Mosconis spektakulären Break Shot demonstrieren lassen, von dem ich ihm erzählt hatte, wenn ich denn mit ihm ins Souterrain hinunterkäme.

Aber ich kam nicht dazu, ihn zu demonstrieren. Es klingelte an der Haustür, als wir das Esszimmer verließen, und ich nahm an, es sei Pete, aber nein. Die durch die Scheibe sichtbare Gestalt hatte sicher die doppelten Ausmaße des Jungen und war weit vertrauter – Sergeant Purley Stebbins von der Manhattaner Mordkommission West. Wolfe ging ins Büro und ich nach vorn, um die Tür zu öffnen.

»Sie sind da entlang«, sagte ich und streckte die Hand aus.

»Quatsch. Ich will Wolfe sehen. Und Sie.«

»Hier bin ich. Schießen Sie los.«

»Und Wolfe.«

»Er verdaut sein Schweinefleisch. Moment.« Ich stellte den Sperrbügel auf fünf Zentimeter, ging ins Büro, sagte Wolfe, dass Stebbins eine Audienz wolle, stand geduldig da, während er das Gesicht verzog, wurde instruiert, den Besucher hereinzuholen, ging zur Haustür und tat es.

Seit Jahren hatte Stebbins bei uns im Büro seinen Stammplatz. Kam er mit Inspector Cramer, nahm der natürlich den großen, roten Ledersessel vor Wolfes Schreibtisch, und Stebbins zog sich einen der kleineren gelben heran. Kam er allein, versuchte ich, ihn in den großen, roten Sessel zu bugsieren, schaffte es aber nie. Er machte jedes Mal einen Ausfallschritt und nahm sich einen der gelben. Es ist nicht so, dass er das Gefühl hat, ein Sergeant sollte nicht sitzen, wo er einen Inspector hat sitzen sehen, nicht Purley. Vielleicht sitzt er einfach nicht gerne vorm Fenster, vielleicht mag er auch keine roten Sessel. Eines Tages werde ich ihn fragen.

An diesem Tag platzierte er seine Masse, die nicht unerheblich ist, wie gewöhnlich auf einem der gelben Sessel, sah Wolfe einen Moment lang an und wandte sich an mich: »Sie haben mich gestern wegen eines Autos angerufen – eines dunkelgrauen 52er Cadillacs, Connecticuter Nummernschild, YY Neun-Vier-Drei-Zwei. Warum?«

Ich hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Wir hatten eine Information, nicht überprüft, dass das Auto, sein Besitzer oder Fahrer in etwas verwickelt war oder sein könnte. Deshalb habe ich eine Routineüberprüfung vorgeschlagen.«

»Ich weiß. Was genau war Ihre Information, und wo hatten Sie sie her?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das haben Sie mich gestern schon gefragt, und ich habe es ignoriert. Das tue ich immer noch. Unser Informant will nicht belästigt werden.«

»Nun, das wird er jetzt. Wer ist es, und was hat er Ihnen gesagt?«

»Nichts da.« Ich drehte eine Hand in seine Richtung. »Sie wissen verdammt gut, dass das eine schlechte Angewohnheit von Ihnen ist. Wenn etwas passiert ist, das Sie denken lässt, ich muss Ihnen über das Wer oder Was Auskunft geben, erklären Sie mir, was es ist, und dann sehen wir, ob ich Ihnen zustimme. Sie wissen, wie verständig ich bin.«

»Ja, sicher, ich weiß.« Purley spannte kurz die Kinnmuskeln an und entspannte sie wieder. »Um zwanzig vor sieben heute Abend, vor zwei Stunden, hielt ein Auto an der roten Ampel an der Kreuzung 35th Street und Ninth Avenue. Ein Junge mit einem Wischlappen lief hin und fing an, die Scheibe zu säubern. Als er mit der einen Seite fertig war, wollte er auf die andere, und als er vorne um das Auto herumlief, schoss es plötzlich vor, überfuhr ihn und raste davon, über die Avenue die 35th hinunter. Der Junge verstarb, kurz nachdem er mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht worden war. Der Fahrer war ein Mann, er saß allein im Auto. Bei so einer Aufregung sehen die Leute nie viel, aber zwei Personen, eine Frau und ein Junge, geben übereinstimmend an, das Nummernschild war Connecticut YY Neun-Vier-Drei-Zwei, und der Junge sagt, es war eine dunkelgraue Cadillac-Limousine. Nun?«

»Wie hieß der Junge? Der, der getötet wurde?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Ich weiß nicht. Ich frage nur.«

»Er hieß Drossos. Peter Drossos.«

Ich schluckte. »Na großartig. Dieser Dreckskerl.«

»Wer, der Junge?«

»Nein.« Ich wandte mich an Wolfe. »Erklären Sie es ihm oder ich?«

Wolfe hatte die Augen geschlossen. Er öffnete sie, um »Sie« zu sagen, und schloss sie wieder.

Ich hielt es für unnötig, Stebbins von der häuslichen Krise zu erzählen, aus der heraus ich Pete zu Wolfe vorgelassen hatte, aber ansonsten gab ich ihm alle relevanten Informationen, auch dass Pete nachmittags noch ein zweites Mal gekommen war. Obwohl er einmal im Leben die Befriedigung verspürte, in diesem Büro etwas geklärt zu haben, stellte er noch eine Menge Fragen und hielt es am Ende sogar für angebracht, den unfreundlichen Schluss zu ziehen, dass man von ehrbaren Bürgern wie Nero Wolfe und Archie Goodwin womöglich hätte erwarten können, mehr Interesse zu zeigen, wenn eine Frau mit einer Pistole zwischen den Rippen nach einem Cop verlangte.

Ich war nicht gerade bester Laune, und diese letzte Bemerkung holte mich aus der Reserve. »Exemplare wie Sie«, sagte ich zu ihm, »sind es nicht, die dieses Land groß gemacht haben. Der Junge hätte das gut alles erfunden haben können. Er hat sogar zugegeben, keine Waffe gesehen zu haben. Oder vielleicht hatte ihn die Frau zum Besten gehalten. Hätte ich Ihnen gestern gesagt, von wem wir die Information haben, hätten Sie gedacht, ich wäre übergeschnappt, wegen so was einen Dime für ein Telefongespräch auszugeben. Aber die Autonummer. Haben Sie die überprüft?«

»Ja. Sie war falsch. Sie stammte von einem Plymouth, der vor zwei Monaten in Hartford gestohlen wurde.«

»Keine Spur?«

»Bis jetzt nicht. Wir bitten Connecticut, nachzuforschen. Ich weiß nicht, wie viele geklaute Nummernschilder in diesem Moment in New York unterwegs sind, aber es sind viele.«

»Wie gut ist die Beschreibung des Fahrers, die Sie haben?«

»Wir haben vier und keine zwei, die sich gleichen. Drei sind einen Scheiß wert, die andere könnte was taugen – ein Mann, der aus einem Drugstore kam und zufällig sah, wie der Junge mit seinem Lappen zu dem Wagen lief. Er sagt, der Fahrer war um die vierzig, dunkelbrauner Anzug, helle Haut, ebenmäßiges Gesicht, Filzhut bis runter zu den Ohren. Er sagt, er glaubt, er könne ihn identifizieren.« Purley stand auf. »Ich gehe. Ich gebe zu, dass ich enttäuscht bin. Ich hatte damit gerechnet, einen Hinweis von Ihnen zu bekommen oder die Aussage, dass Sie einen Klienten schützen.«

Wolfe öffnete die Augen. »Ich wünsche Ihnen Glück, Mr. Stebbins. Der Junge hat gestern an meinem Tisch gegessen.«

»Ja«, knurrte Purley, »das macht es übel. Was bilden sich die Leute ein, Jungs zu überfahren, die an Ihrem Tisch gegessen haben.«

Mit dieser umgänglichen Bemerkung marschierte er hinaus, und ich begleitete ihn in die Diele. Ich legte meine Hand auf den Türknauf, als ich draußen eine Gestalt die Stufen zum Treppenabsatz heraufkommen sah, und als ich die Tür öffnete, stand sie da – eine magere kleine Frau in einem ordentlichen blauen Kleid, ohne Jacke oder Hut, mit geschwollenen roten Augen und so fest zusammengepressten Lippen, dass man sie kaum mehr erkennen konnte.

Stebbins war direkt hinter mir, als ich sie ansprach. »Kann ich Ihnen helfen, Madam?«

Sie presste die Worte heraus. »Wohnt hier Mr. Nero Wolfe?«

Ich sagte, ja, das tue er.

»Meinen Sie, ich könnte ihn sprechen? Es wird nicht lange dauern. Ich bin Mrs. Anthea Drossos.«

Sie hatte geweint und sah aus, als könnte sie jeden Moment wieder anfangen, und weinende Frauen gehören zu den Dingen, mit denen Wolfe nicht mal umzugehen versucht. Also sagte ich ihr, dass er beschäftigt sei und ich sein Assistent, und ich hätte sein Vertrauen, und wolle sie nicht bitte mit mir vorliebnehmen.

Sie hob den Kopf und sah mir in die Augen. »Mein Junge, Pete, hat mir gesagt, ich soll zu Mr. Nero Wolfe«, sagte sie, »und ich warte einfach hier, bis ich ihn sprechen kann.« Damit lehnte sie sich gegen das Treppengeländer.