Die Gotteskinder - Bruno Meier - E-Book

Die Gotteskinder E-Book

Bruno Meier

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Beschreibung

"Zwischen Himmel und Hölle herrscht Krieg und die Erde ist das Schlachtfeld" Die Gotteskinder erzählt die Geschichte zweier Liebenden - eine Geschichte, die das Schicksal der Menschheit bestimmen wird.

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Inhaltsverzeichnis

Der Sklave

Der Zwischenfall

Die Strafe

Die Arena

Die Freiheit

Das Training

Der Überfall

Die Stadt

Das Verlies

Die Flucht

Die Befreiung

Der Aufbruch

Die Reise

Der Messias

Der Neid

Germanien

Das Lager

Der Alltag

Der Hass

Die Vorbereitung

Die Schlacht

Die schwarze Legion

Das Mädchen

Zu zweit

Der Untergang

Der Neuanfang

Wieder Ärger

Der Auftrag

Los gehts

Das neue Leben

Neuer Alltag

Der Auftrag

Das Wunder

Alte Bekannte

Die Söldner

Der Vater

Der Abschied

Der Verrat

Der Sklave

Diese Geschichte beginnt mit der Geburt eines Jungen namens Ashron. Doch es ist kein gewöhnlicher Junge, der im reichen und herrlichen Rom geboren wird, und zwar 340 nach Christus. Seine Eltern sind Christen und Sklaven zugleich, aber sie haben Glück, denn ihr Herr ist ein reicher Geschäftsmann in Rom und selbst auch Christ. Im Palast, in dem er wohnt, arbeiten fast nur Sklaven. Tänzer, Köche, Hausmädchen, er hat einfach alles. Den Sklaven fehlt es an nichts. Sie haben bequeme Betten, anständige Kleidung und genug gutes Essen. Dort leben ungefähr zehn Kinder, die alle von den Sklaven gezeugt wurden und auch als Sklaven leben. Unter ihnen ist auch Ashron, von dem diese Geschichte handelt.

Die Herrin, die man Octavia ruft, hat selbst keine Kinder, aber sie kümmert sich wie eine zweite Mutter um den Nachwuchs der Sklaven. Sie füttert die Babys und unterrichtet die älteren Kinder. Sie bringt ihnen Lesen und Schreiben bei, auch Mathematik ist eines der unterrichteten Fächer. Octavia übernimmt diese Arbeit aus einfachen Gründen: Sie will, dass die Sklaven selbstständig sind, damit sie selber einkaufen gehen können und weil Octavia sonst kaum etwas zu tun hat, es macht ihr außerdem Freude, anderen was beizubringen, da sie auch zu den Gelehrten gehört. Die Sklaven machen ihre Arbeit im Haushalt und im Garten gerne, weil sie keine Peitschenschläge fürchten, und weil sie in diesem Haus anständig behandelt werden. Sie arbeiten ungefähr zwölf Stunden am Tag, was auch hart ist. Auch die Kinder helfen mit, denn es gibt viel zu tun. Sie servieren den Hausherren das Essen, wie auch den Gästen, und beziehen die Betten neu.«

So wächst der Bursche, von dem diese Geschichte handelt, auf. Als er sechs Jahre alt ist, kommt er in den schönen Unterricht von Octavia. »Und wer kann mir sagen, wie man Kaiser schreibt?«, fragt sie liebevoll. Ein paar Kinder strecken den Arm in die Höhe, weil sie die Antwort zu wissen glauben. Nur drei von ihnen halten den Arm unten. Er ist einer davon. Mütterlich schaut sie ihn an und fragt ihn: »Hast du wirklich keine Ahnung? Wir sind hier, um Fehler zu machen.«

Beschämt schaut er zu Boden, denn er gehört zu den schüchternen Kindern. Er traut sich kaum, etwas zu den Herren zu sagen. Es gibt Tage, an denen er überhaupt nichts sagt. Seine leibliche Mutter macht sich Sorgen um ihn, weil er so scheu ist, aber die Hausherrin macht ihr immer wieder Hoffnung: »Ach, das ist nur eine Phase. Man muss ihm Zeit lassen. Ich habe das Gefühl, dass er nicht ganz so zufrieden ist wie die anderen. Die Frage ist nur, warum?«, sagt sie zu seiner Mutter. Diese heißt Magna. Immer noch besorgt, sagt sie: »Aber das ist doch nicht normal, dass ein Junge so scheu ist. Das ist auch keine Unzufriedenheit. Ich glaube, dass er vor irgendetwas Angst hat.«

Mit vor Schreck weit geöffneten Augen schaut Octavia Magna an und fragt sie: »Meinst du, er hat Angst vor mir? Wenn das der Fall sein sollte, dann sollten wir uns schnell etwas einfallen lassen.«

Magna sieht Octavia aus den Augenwinkeln an und sagt: »Ich glaube nicht, aber lass uns zu ihm gehen und mit ihm reden.«

Die beiden gehen durch das sehr große Haus, das aus Marmor, Stein und Holz besteht, und rufen seinen Namen. Nach 15 Minuten finden sie ihn schließlich. Er sitzt auf einem Stuhl, sodass die Füße nicht bis zum Boden reichen, in einem leeren, kleinen Raum und schaut die Wand an. Magna geht auf ihn zu und sagt verärgert: »Wieso hast du nicht geantwortet? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« Sie legt zärtlich ihre Hand auf seine Schulter. Er aber antwortet nicht.

Jetzt betritt die Herrin den Raum und fragt ihn mit liebevoller Stimme: »Wovor hast du Angst? Du kannst uns alles sagen, aber das weißt du ja.« Wieder antwortet er nicht. Langsam, sodass es die Mutter und die Herrin sehen können, nimmt er ein Jesuskreuz unter seinem Mantel hervor. Er hält es mit beiden Händen fest, schaut zur Decke hoch und sagt: »Er ist meine Mutter und mein Vater. Er hat mir das Leben geschenkt. Er sorgt dafür, dass alle ihre gerechte Strafe bekommen. Er ist zeitlos und überall, denn er ist allmächtig und bestimmt über unser aller Schicksal.«

Magna und Octavia wissen nicht so recht, was sie mit diesen Worten anfangen sollen. Sie ziehen sich zurück und lassen ihn wieder alleine im Raum. Immer noch hält er das Kreuz in den Händen und schaut zur Decke.

»Was sollen wir tun? Ich mache mir immer mehr Sorgen um ihn«, sagt Magna verzweifelt. Es scheint, als breche sie gleich in Tränen aus.

»Keine Sorge, wir finden schon eine Lösung, aber lass ihn mal fertig beten. Ich rede heute Nacht mit meinem Mann über das Problem, und wir werden schauen, was wir dagegen unternehmen können.« Die Herrin nimmt die Mutter zärtlich in den Arm und sagt noch leise: »Wir finden schon eine Lösung. Nur keine Angst.«

Der Knabe sitzt den ganzen Nachmittag dort und betet. Als er fertig ist, verlässt er den Raum. Mit langsamen Schritten bewegt er sich barfuß fort. Weil eines der Kinder den Auftrag erhalten hat, ihn zu beobachten, steht es an der Türe. Ganz erstaunt schaut es ihn an, weil seine schwarzen Haare nass sind, und auch über das Gesicht tropft der Schweiß. Er schaut das Kind an der Tür nur kalt aus den Augenwinkeln an, geht in sein Bett und schläft sofort ein. Das Kind folgt ihm und geht nachher zu Magna, um ihr zu erzählen, was es gesehen hat.

»O mein Gott, was ist bloß mit meinem Ashron los?«, fragt sie sich laut und schlägt verzweifelt die Hände vor ihr Gesicht, als sie den Bericht gehört hat.

Langsam wird es Abend, draußen fängt es an, einzudunkeln. Der Junge schläft immer noch, obwohl Octavia und Magna mehrmals versucht haben, ihn zu wecken. Als es dann Nacht wird, kommt, mit zwei Stunden Verspätung, der Hausherr nach Hause. Ihn ruft man Plancus. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht kommt er zur Türe herein und ruft laut: »Hallo, da bin ich wieder einmal!«

Seine Frau Octavia, kommt sofort und umarmt ihn. Sie küsst ihn mehrmals auf die Wangen. Er weiß nicht so richtig, wieso sie das macht. Mit viel Kraft stößt er sie weg, weil er wissen will, was los ist, denn sonst wird er nur selten so begrüßt.

»Gar nichts, du bist nur zwei Stunden zu spät, und ich habe mir einfach Sorgen um dich gemacht. Zu dieser Zeit sind viele Diebe und Räuber in der Stadt unterwegs«, sagt sie hastig.

Plancus glaubt ihr nicht so ganz: »Ich bin doch schon mehrmals so spät nach Hause gekommen, aber da lagst du schon im Bett und hast fest geschlafen. Was ist hier los? Was ist passiert, als ich weg war?«

Octavia schaut jetzt beschämt zu Boden. Die Hände hat sie gefaltet und traut sich gar nichts mehr zu sagen.

Plancus packt sie an den Schultern und fragt sie noch einmal, diesmal ein wenig aggressiver: »Was ist passiert? Was ist hier los? Sag es mir!«

Sie hebt den Blick wieder und antwortet leise: »Es ist etwas mit dem Sklavenjungen Ashron. Irgendetwas ist nicht in Ordnung mit ihm. Wir wissen aber nicht, was es ist. Ich habe mir gedacht, vielleicht kannst du ja mit ihm reden.«

Fröhlich lacht er sie an. »Sag das doch gleich. Ich habe gedacht, jemand sei ermordet worden. Ich gehe und rede mit ihm.« Er lässt sie los und geht weiter in die Villa.

Sie heftet sich wieder an seinen Arm und will ihn damit bremsen, was ihr auch schnell gelingt: »Nein, du kannst jetzt nicht zu ihm. Er schläft, und er lässt nicht mehr mit sich reden.«

Gelassen dreht Plancus sich wieder zu Octavia und fragt seelenruhig: »Und wie hast du dir das vorgestellt? Ich meine, wie soll ich mit ihm reden, wenn er nicht mehr mit sich reden lässt?«

Sie schaut an ihm vorbei und sagt: »Ich weiß es nicht. Aber ich habe mir gedacht, vielleicht hört er aus irgendeinem Grund auf dich.«

Er denkt kurz über ihren letzten Satz nach. Anschließend fragt er sie: »Was hat er denn überhaupt? Ist er krank, hat er Fieber? Oder was ist mit ihm los?«

Jetzt schaut sie ihm wieder in die grünen Augen und sagt mit fester Stimme: »Das wird dir seine Mutter selber sagen. Sie wird dir auch sagen, was sie von dir erhofft. Ich bitte dich, höre sie an. Es wird ihr guttun.«

Er hat wieder ein Lächeln im Gesicht und sagt: »Du solltest dich reden hören. Du bist selber ein nervliches Wrack. Ich glaube, du leidest mehr als die Mutter. Wie alt ist der Junge überhaupt?«

Sie sagt im gleichen Ton wie zuvor: »Er ist sechs Jahre alt.«

Plancus runzelt die Stirn: »Ja, dann kann es nicht so schlimm sein. Ich meine, was für schlimme Probleme haben schon Sechsjährige?«

»Das ist es ja gerade. Er ist sich seines Problems gar nicht bewusst. Wir müssen ihm helfen, und zwar schon morgen«, fleht sie ihn an.

Er sagt weiter: »Ich verstehe aber euer Problem nicht. Ich meine, da ist ein Sechsjähriger, der irgendeine Macke hat, so wie jeder in seinem Alter. Und ihr flippt deswegen gleich aus?«

Sie geht vor ihm auf die Knie. Die Hände hält sie ihm auf den Bauch: »Ich habe schon so viele Kinder betreut und großgezogen, und du weißt, dass ich nicht gleich zu dir kommen würde, wenn es nicht etwas Schlimmes wäre. Ich habe dich nie um einen Gefallen gebeten, wenn es um die Kindererziehung ging, aber jetzt flehe ich dich an: Rede mit dem Jungen.« Nun fließen ihr erste Tränen über die Wangen.

Ihr Mann atmet einmal tief durch, willigt dann ein und sagt noch: »Gut, ich mach’s, aber wo ist denn seine Mutter jetzt, die mich auch wegen dieses angeblich so großen Problems sprechen will?«

Octavia führt ihren Mann zu Magna. Diese sitzt verzweifelt da. Ihr Gesicht hat sie in die Hände gelegt und sie weint. Vor ihr steht ein Marmortisch, darauf liegt eine Schale mit frischem Obst. Plancus setzt sich ihr gegenüber hin. Er wartet drei Sekunden und nimmt dann einen Apfel aus der Schale. Genüsslich beißt er hinein. Er wartet, bis die Mutter etwas sagt, aber sie scheint seine Gegenwart gar nicht bemerkt zu haben. Octavia beobachtet das Geschehen von der Türe aus. Plancus isst den ganzen Apfel auf und will wieder aufstehen, weil Magna nichts sagt. Aber Octavia stellt sich in die Türe, sodass ihr Mann nicht mehr herauskann. Sie sagt: »Lass sie doch mal reden.«

Mit einem kalten Blick schaut er zurück zu Magna. »Ich habe ihr die Chance gegeben, und sie hat nichts gesagt, wieso sollte ich mich länger mit diesem Problem befassen? Ich bin müde, und meine Zeit ist zu kostbar, um hier stundenlang herumzusitzen. Es sind doch nur Sklaven, welche Probleme können die haben«, sagt er zu seiner Geliebten.

Erst jetzt hebt die Mutter den Kopf, so schnell, als hätte sie gerade etwas erschreckt. Mit tränennassen Augen blickt sie verwirrt in den Raum. Sie schaut nach links, sie schaut nach rechts und entdeckt Plancus, der zu ihr hinübersieht. Auf den Knien kriecht sie zu ihm hin. Als sie ihn erreicht hat, umarmt sie seine Beine und bricht erneut zusammen. Weinend versucht sie, ein paar Wörter aus ihrem Mund zu pressen: »Mein Herr, mein Herr, ich flehe dich an, hilf mir. Hilf meinem Sohn. Er ist besessen. Er redet wirres Zeug vor sich hin und regt sich seit Stunden nicht mehr. Hilf mir, dieses Unheil aus ihm herauszutreiben, hilf mir!« Plancus muss sich das Lachen verkneifen und sagt: »Ja, ist schon gut. Ich werde mir deinen Sohn morgen früh mal anschauen. Aber ich denke, dass es eine vorübergehende Phase ist, nichts weiter. Geh ins Bett und versuche ein bisschen zu schlafen, und mach dir keine Sorgen. Es wird alles wieder so, wie es sein muss.«

Octavia beugt sich zu Magna herunter und löst ihre Arme von Plancus’ Beinen. Es gelingt ihr nur mit Mühe, es scheint so, als wolle Magna ihn gar nicht mehr loslassen. Sie schafft kaum eine Bewegung selber, denn sie weint so stark, dass ihr ganzes Hirn ausgeschaltet ist. Octavia hilft ihr auf. Plancus aber interessiert gar nicht, wie seine Frau die arme Mutter ins Bett bringt. Er steigt langsam die Treppe hoch und geht, ohne etwas zu sagen, ins Bett, dort schläft er bald ein. Er hört nur noch, wie seine Frau mühevoll Magna die Treppe hinaufbringt. Er hört auch, wie Octavia zu fluchen beginnt und sogar Magna anbrüllt, sie solle sich nicht so anstellen.

Noch eine halbe Stunde dauert es, bis Octavia die Mutter die lange und breite Treppe hinaufgeschleift hat. Ihr nächstes Problem ist, dass sie zwei weitere Treppen mit Magna schaffen muss. Total außer Atem schaut sie das Treppenhaus hoch und denkt: »O mein Gott, wieso haben wir nicht einfach das Haus auf einer Ebene bauen können? Das schaff ich ja nie!« Nach fünf Minuten Verschnaufpause kommt ihr der rettende Gedanke. Sie haben auf diesem Stockwerk noch ein Gästezimmer. Angestrengt schleift sie Magna, die immer noch weint, den Gang entlang. Achtlos schubst sie Magna aufs Bett, denn sie hat jetzt auch den Verdacht, dass die Mutter übertreibt. Beim Hinausgehen schließt sie vorsichtig die Türe hinter sich. Total erledigt kommt sie ins Zimmer, in dem ihr Mann schon schläft. Im Dunkeln zieht sie sich aus und legt sich neben ihn. Als sie sich gerade auf die Seite dreht, wacht Plancus auf und fragt sie: »Hast du schon gebeichtet?«

Entnervt antwortet sie ihm: »Nein, das mache ich morgen.«

Er dreht sich jetzt auf den Rücken. »Nein, das machst du jetzt, denn morgen hast du es wieder vergessen. Ich kenne dich doch.« Erschöpft und entnervt dreht sie sich auch auf den Rücken, faltet ihre Hände und sagt: »Mein Herr im Himmel, vergib mir, denn ich habe gesündigt. Ich habe geflucht und deinen Namen missbraucht. Ich hoffe inständig, dass du mir vergibst und mir in deiner Weisheit meine Fehler verzeihst. Amen.«

Zufrieden schaut er zu ihr und sagt: »Siehst du, das war doch gar nicht so schlimm. Und noch was: Ist das Problem mit dem Knaben wirklich so besorgniserregend?«

Müde schaut sie ihn jetzt auch an und sagt: »Nein, aber wir müssen schon etwas dagegen unternehmen.«

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht fragt er: »Und, war es schwer, die Frau die Treppe hochzuschleppen?«

Mit großen Augen antwortet sie: »Was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich sie vielleicht liegen lassen sollen, oder was?«

Mit einem noch breiteren Grinsen sagt er: »Nein, aber ich hätte vier Sklaven geweckt, und die hätten sie rauftragen können.«

Mit den Nerven ganz am Ende dreht sie sich von ihm weg. Er bleibt auf dem Rücken liegen und schläft mit einem Grinsen ein. Sie aber bleibt noch lange wach und macht sich Sorgen um die Mutter und deren Sohn.

Der Zwischenfall

Trotz aller Aufregung in der Nacht ist es Morgen geworden. Wie es so üblich ist, wird das Frühstück bei Sonnenaufgang serviert. Die Hausherren stehen auf. Als Plancus sich anzieht, fragt er seine Frau: »Und, trotz allem noch gut geschlafen?«

Sie schaut ihn müde vom Bett aus an und sagt: »Ich habe die ganze Nacht daran denken müssen, wie sich die Mutter und erst recht der Knabe wohlfühlen.«

Als er fertig angezogen ist, sagt er zu ihr: »Ach was, die Mutter übertreibt doch, und ich glaube nicht, dass es ihm so schlecht geht, wie ihr tut. Vielleicht hat er sich für diesen Weg entschieden. Und steh endlich mal auf, das Essen ist sicher schon angerichtet.«

»Ja, ich komme gleich«, sagt sie, als sie sich mit Mühe aufzusetzen versucht.

Plancus geht gut gelaunt und pfeifend das breite Treppenhaus hinunter. Glücklich, weil er heute nicht zur Arbeit muss, geht er in den Esssaal. Dort steht, wie jeden Morgen, in der Mitte das große Buffet, reich mit Esswaren bedeckt. Es enthält neben zwei Dutzend verschiedener Sorten an frischen Früchten auch Wein, Wasser, Hühnchen und Fisch. Als er den Speisesaal betritt, wünscht er allen Sklaven, die noch bei der Arbeit sind, einen guten Tag. Mit einem Lachen erwidern sie diesen Gruß. Nach einer für Plancus gefühlten Ewigkeit kommt auch seine Frau zu dem Mahl. Weil er kein geduldiger Mensch ist, hat er mit dem Essen schon begonnen. Sie setzt sich erschöpft hin und hat gerade den Arm nach einem Apfel ausgestreckt, als er sie fragt: »Wo warst du so lange?«

Sie nimmt den Apfel und sagt, während sie die Frucht genau in Augenschein nimmt: »Ich habe geschaut, wie es der Mutter und ihrem Sohn geht.«

Während er sich eine Traube in den Rachen steckt, fragt er nur trocken: »Und, wie geht es ihnen?«

Sie schluckt den ersten Bissen des Apfels hinunter und sagt: »Eigentlich gut soweit. Sie ist an ihrer Arbeit und kann sich nicht mehr daran erinnern, was gestern passiert ist. Sie hat sich auch gewundert, wieso sie im Gästezimmer geschlafen hat. Ashron ist in der Nacht irgendwann, ohne dass es jemand bemerkt hat, aufgestanden. Er hat sich angezogen und ist in seinen dunklen Raum gegangen. Dort kniet er noch immer und betet.«

Mit einer Traube in der Hand fragt Plancus: »Ich weiß nicht, was am Beten so schlimm sein soll?«

Schon fast satt, sagt sie: »Eigentlich nichts, aber das Beunruhigende ist, wie er betet, was er betet und wie lange er betet.«

Mit weiteren zwei Trauben meint er wieder: »Aha, und darum denkt ihr Frauen, dass er besessen sei. Ich selber denke, dass er die Liebe zu Gott gefunden hat. Aber damit ihr zufrieden seid, werde ich mit ihm reden. Ich werde sogar den ganzen Morgen mit ihm verbringen.«

Seine Frau gibt sich geschlagen und isst auch noch fünf Trauben, bevor sie geht, ohne etwas zu sagen.

Er bleibt sitzen und muss wieder grinsen, weil er die ganze Aufregung, die sie machen, eigentlich lustig findet. Er isst noch weiter, bis er auch satt ist. Dann sagt er zu seinen Hausmädchen, dass sie jetzt das Frühstück abräumen können. Darüber nachdenkend, was er mit dem Jungen reden soll, läuft Plancus jetzt zum Raum, in dem der Kleine sonst sitzt. Nach einem kurzen Spaziergang kommt er dort an, aber der Raum ist leer. Erschrocken schaut Plancus nach links und dann nach rechts, aber Ashron ist nirgends zu sehen. Mit einem rascheren Schritt geht er ins Klassenzimmer, in dem seine Frau unterrichtet. Er kommt so schnell durch die Türe, dass die Kinder und auch Octavia erschrecken. Hastig schaut er sich um.

Seine Frau fragt ihn: »Was ist los?«, aber er antwortet nicht. Zweimal schaut er in die Runde der Kinder, aber er kann den Jungen nicht entdecken.

Wieder fragt seine Frau ihn: »Was ist los? Suchst du jemanden?«

Entgeistert schaut er sie an und sagt: »Nein, nein, es ist alles in bester Ordnung. Ich habe nur gedacht … Ach, egal, es hat sich schon erledigt.« Er will seiner Frau nicht die Wahrheit sagen, weil sie sich dann noch größere Sorgen machen würde, wenn nicht sogar in Panik geriet. Verzweifelt läuft er im ganzen Haus herum, das groß ist. Hin und wieder fragt er Sklaven, die an der Arbeit sind, ob sie wissen, wo der kleine Ashron ist, aber keiner von ihnen kann es ihm sagen.

Sein Schritt wird immer schneller, bis er in einen leichten Laufschritt fällt. Er durchsucht das ganze Haus von oben bis unten und findet ihn nicht. Er geht sogar in die Hausschreinerei. Dort arbeiten gerade zwei Schreiner an einem neuen Tisch. Der eine wachst die Tischplatte ein, damit das Holz kein Wasser mehr aufsaugt. Der andere beendet gerade die Schnitzereien an einem Tischbein. Es ist eindeutig ein Mann mit einem Bart zu erkennen.

Nervös kommt Plancus herein, und die Schreiner grüßen ihn sofort, aber er grüßt nicht zurück, wie er es sonst tut. Die Arbeiter schauen ihn verwundert an, aber er ignoriert ihren Blick. Er saust schnell durch die ganze Schreinerei. Nachdem er den Raum durchsucht hat, murmelt er etwas vor sich hin und verlässt die Werkstatt wieder. Sobald er draußen ist, schauen sich die zwei Schreiner an. Der an der Tischplatte muss sich das Lachen verkneifen. Der andere, am Tischbein, zuckt nur kurz mit den Schultern.

Zehn Sekunden, nachdem Plancus den Raum verlassen hat, kommt der Junge durch die andere Türe, die direkt nach draußen führt, herein. Unter dem Arm hält er einen langen Holzbalken.

»Und, hast du etwas gefunden?«, fragt der Schreiner an der Tischplatte.

Stolz klopft Ashron auf den Balken und sagt: »Ja, sicher.« Der Knabe legt das Holzstück auf eine Werkbank und holt eine Säge von der Wand. Er misst mit Augenmaß eine Länge ab und beginnt dort zu sägen. Als er die Hälfte geschafft hat, kommt erneut Plancus herein. Er ist sehr erleichtert, ihn zu sehen. Geduldig fragt er ihn: »Wo warst du die ganze Zeit?«

Während Ashron weitersägt, sagt er: »Ich war hier und habe gearbeitet.«

»Und was machst du da?«, fragt Plancus neugierig.

Der Junge hat gerade den Balken durchgesägt, als er antwortet: »Ich mache mir ein großes Jesuskreuz.«

Plancus schüttelt den Kopf. »Und wo genau willst du das große Kreuz hinstellen?«

»Ich stelle es in den Raum, in dem ich immer bete.«

Plancus verliert langsam die Geduld, weil man dem Knaben jedes Wort aus der Nase ziehen muss: »Und wer hat dir gesagt, dass du das machen darfst?«

Ashron misst die Mitte des abgesägten Stücks ab und sagt: »Niemand, ich mache es einfach so. Der Raum wird sowieso nicht gebraucht.«

Weil der Hausherr nicht weiter mit ihm darüber reden will, sagt er: »Ist jetzt gut, aber das nächste Mal fragst du mich. Muss dieses Jesuskreuz sofort fertig werden, oder kann es noch ein paar Minuten warten?«

»Warum?«

»Weil, ähm, weil ich gerne mit dir beten will, und darum möchte ich dich bitten, mit mir mitzukommen.«

Ashron willigt ein und räumt schön säuberlich die zwei Balkenstücke und die Säge weg, Plancus schaut ungeduldig zu, will aber nicht mithelfen. Beide verlassen die Werkstatt. Die Schreiner, die das Gespräch mitbekommen haben, schauen sich wieder an, aber jetzt schütteln sie den Kopf. Während der Junge und Plancus zu dem kleinen, dunklen Raum gehen, fragt Plancus: »Wie stehst du eigentlich zu Gott?«

Er zögert nicht lange und sagt: »Der Herr ist der Schöpfer über alles. Er hat alles erschaffen und bestimmt alles. Er ist der Herr über das Leben. Er ist Herr über Leben und Tod.«

Diese Antwort genügt Plancus. Er schüttelt nur den Kopf und denkt sich, man kann es ja auch übertreiben, denn der Hausherr hat schon viel in seinem Leben gesehen.

Sie kommen schnell bei dem Raum an. Der Junge betet vor und Plancus macht es nach. Sie knien hin, die Arme sind angewinkelt und die Hände gefaltet. So sitzen sie 15 Minuten lang, und Plancus weiß nicht mehr, was er beten soll. Darum schielt er zu Ashron hinüber, aber der betet immer noch mit geschlossenen Augen. Plancus denkt sich, dass es das Klügste sei, in der Stellung zu warten, bis er etwas sagt, obwohl langsam seine Knie zu schmerzen anfangen. Nach 30 Minuten fragt der Junge mit geschlossenen Augen: »Wie kann ich zu Gott reden? Was muss ich dafür tun, dass Gott mir antwortet?«

Plancus muss eine Weile überlegen, ehe er schließlich antwortet: »Nun ja, Gott ist überall, auch in deinem Herzen, und darum musst du einfach auf dein Herz hören. Es wird dir das Richtige zeigen und auch sagen.« Kaum hat er dies gesagt, steht Ashron auf und dreht sich zu ihm, der immer noch kniet, um. Er verbeugt sich vor Plancus und geht nach draußen.

Plancus versteht nicht, warum er dies gemacht hat, aber er denkt sich, dass das Gespräch gut verlaufen sei. Er geht nach der kurzen Begegnung wieder seinen Geschäften nach. An diesem Tag sieht er den Jungen nicht mehr. Er muss aber immer an ihn denken und fragt sich, was er wohl mit »zu Gott reden« meinte. Es lässt ihm keine Ruhe und er kann sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Es ist kein glücklicher Tag für sein Geschäft und für ihn. Er hat fünf Geschäfte mit wichtigen Kunden vermasselt, die ihn jetzt viel Geld kosten.

Am späteren Abend, als Plancus nach Hause kommt, wird ihm berichtet, dass Ashron auf einmal alle beobachtet, minutenlang stehe er dort und schaue schweigend zu. Müde und erschöpft will der Hausherr eigentlich gar nichts davon wissen. Er legt sich in sein Bett und schläft sofort ein, er schafft es nicht einmal mehr, sich auszuziehen oder sich zu waschen. Octavia ist aber sehr stolz auf ihren Mann, weil sich das Verhalten des Burschen nach dem Gespräch wieder ein bisschen normalisiert.

Plancus und er wollen nicht verraten, worüber sie an diesem Morgen miteinander geredet haben. Obwohl der Kleine am Anfang gar nicht viel redet, sondern nur beobachtet, wird es von Tag zu Tag besser. Er beginnt wieder mit Menschen zu sprechen, seine Nächstenliebe ist schon fast übertrieben, so sehr, dass es fast unangenehm ist, mit ihm zusammen zu sein. Er fängt auch wieder an mit den anderen Kindern zu spielen, und er geht zur Schule und macht dort enorme Fortschritte. Er beginnt den Eltern zu helfen, er serviert hin und wieder das Essen.

Magna und Octavia sind glücklich. Die Mutter bedankt sich bei Plancus persönlich. Er kommt wie gewohnt am Abend spät nach Hause, macht die Türe auf und will gerade Hallo rufen, als sich Magna ihm schon vor die Füße wirft und beginnt, diese zu küssen. Plancus weiß gar nicht, wieso sie das macht, aber dann fängt sie an zu reden: »Danke, mein Herr, ich danke dir. Du hast meinen Sohn gerettet. Du hast meinen Sohn zu einem normalen Kind gemacht. Wie kann ich es dir je vergelten?«

Nach diesen Worten kommt Plancus die Idee, dass Ashron vielleicht Gott gefunden hat und jetzt tut, was sein Herz sagt. Kaum hat er den Gedanken zu Ende gedacht, steht Magna auf. Sie stellt sich zwei Meter von ihm entfernt hin und sagt: »Ich weiß, wie ich es dir zurückzahlen kann«, und lässt ihre Kleider fallen. Nackt steht sie jetzt vor ihm. Er betrachtet ihren schönen, schlanken Körper. Er wüsste nicht einmal, wieso er es nicht machen sollte, denn im Prinzip gehört dieser Körper, den er für viel Geld gekauft hat, ja ihm.

»Nehmt mich«, spricht sie weiter, »nehmt mich oder tötet mich. Macht mit mir, was ihr wollt.«

Plancus gefällt dieses Angebot, aber zu ihrer Enttäuschung sagt er: »Nein, du gehörst sowieso mir, und ich kann mit dir machen, was ich will.« Während er dies sagt, nähert er sich ihr und stößt sie zur Seite. Er läuft schnell in Richtung Treppenhaus. Aber vorher nimmt er noch fünf Trauben mit. Sie liegt am Boden und schaut ihm nach. Er geht in sein Bett, in dem seine schöne Frau schon schlafend auf ihn wartet. Liebevoll, mit ein paar Küssen an den Hals, weckt er sie. Sie wacht auf und zieht, als erste Reaktion, die Decke weiter hoch. Er aber lässt nicht locker und zieht die Decke sanft wieder hinunter. Er macht weiter und wandert mit seinen Händen langsam über ihren Rücken in Richtung Bauch. Sie wacht wieder auf, aber diesmal scheint sie seine Küsse zu genießen. Sie dreht sich um und fragt ihn: »Was ist denn mit dir heute Abend los?«

Er hört auf, sie zu küssen, und sagt: »Ach, nichts, ich hatte gerade nur so Lust auf dich.«

Ganz verblüfft schaut sie ihn an, aber sie gibt sich trotzdem zufrieden mit dieser Antwort. Langsam beginnt das Liebesspiel, das sie der Mutter des Jungen zu verdanken haben.

Dies ist nicht das einzige wundersame Ereignis in dieser Nacht im Haus. Ashron kann nicht einschlafen. Ihm wird bewusst, dass ihn das, was sein Herz sagt, auch nicht befriedigt. Er entschließt sich dazu, sein Leben weiterzuführen und Gott weiter zu lieben, wie er es vorher getan hat. Er beschließt auch, das Kreuz fertigzumachen, und morgen wird er damit anfangen.

Und tatsächlich, während Plancus und Octavia, erschöpft von der letzten Nacht, ausschlafen, ist er schon in der Schreinerei und arbeitet an seinem Kreuz, denn er will schnell damit fertig werden, er will vor ihm beten und es preisen. Es ist ihm auch gut gelungen, zu gut dafür, dass er nie vorher so was gemacht hat. Er hat sich aber in den Kopf gesetzt, dass Christus noch auf das Kreuz muss. Darum sucht er verzweifelt ein Stück Holz, das groß genug ist, um Christus daraus zu schnitzen. Nach seiner ergebnislosen Suche raten ihm die Schreiner, dass er eine hölzerne Verbindung für Arme und Beine machen solle. Sie bieten ihm sogar ihre Hilfe. Dankend nimmt er das Angebot an.

Die Motivation des Knaben ist sehr groß. Er arbeitet teilweise bis spät in die Nacht hinein, denn er hat große Ansprüche an sich selber und will, dass Christus perfekt wird. Er will, dass der Körper genau so wird, wie er in echt war. Er will jedes Detail hineinschnitzen, ob Nasenlöcher, Bauchnabel oder Ohren.

Zwei Jahre lang arbeitet er an Christus. Während der Zeit wird er immer geschickter. Es bildet sich eine dicke Schicht Hornhaut an seinen Fingern, und er bekommt unendlich viele Holzsplitter ab, aber trotz seines Herzbluts und des vielen Schweißes läuft nicht immer alles perfekt. Er hat zum Beispiel die Nase Jesu abgeschnitten, und die Schreiner mussten sie wieder anleimen. Einmal, als er den Nabel machen wollte, ist eine riesige Narbe im Bauch entstanden.

Nach zwei Jahren ist er endlich mit der Jesusfigur fertig. Er stellt sie an die Wand, dem Vorbild zum Verwechseln ähnlich. Plancus und Octavia kommen extra vorbei, um zu sehen, wie die Figur geworden ist. Obwohl sie mit ihm zufrieden sind und die Holzfigur wie echt aussieht, ist der Junge mit sich selbst nicht zufrieden. Er sieht immer noch zu viele Details, die er falsch gemacht hat. Der eine Fußnagel ist zum Beispiel zu kurz. Solche kleinen Sachen regen ihn tödlich auf.

»Deine Figur ist schön geworden«, sagt Plancus zu ihm.

»Nein, ich bin nicht zufrieden. Es sind lauter kleine Details, die mich stören.«

Plancus will ihn aufmuntern: »Ach, solche Kleinigkeiten, die stören doch gar nicht. Ich finde, dass deine Figur super geworden ist.«

Aber die Worte können ihn nicht aufheitern. »Nein, eine Menge Details werden zu einem riesig großen. Ich werde die Figur morgen ins Feuer werfen. Sie ist Gottes nicht würdig«, sagt Ashron in ernstem Ton.

Octavia reagiert sofort und sagt: »Sicher nicht. Überlege es dir noch mal, du hast zwei Jahre lang daran gearbeitet und willst sie jetzt wegwerfen? Nur weil sie nicht perfekt ist, heißt das noch lange nicht, dass sie Gottes nicht würdig ist. Denn Gott weiß, was du in diese Figur investiert hast, und er weiß es sicher zu schätzen. Also, ich würde sie behalten.« Ihren Mann hat sie mit ihren Worten überzeugt, aber den Jungen immer noch nicht.

Er sagt immer noch ernst: »Wenn dir die Figur so gut gefällt, dann soll sie dir gehören, aber ich will sie nicht. Sie ist hässlich. Ich könnte mich nie auf mein Gebet konzentrieren, wenn sie vor mir ist.«

Plancus und seine Gattin geben sich geschlagen, aber Octavia will trotzdem noch einen Kompromiss finden: »Gut, wenn das dein letztes Wort ist, dann soll es so geschehen. Ich bitte dich nur noch um eines: Lass die Figur hier stehen und verbrenne sie nicht. Vielleicht bist du eines Tages froh, dass du sie hast. Und sei es nur als Vorbild für die nächste Figur.«

Der Junge ist mit ihrem Vorschlag einverstanden und zeigt dies mit einem Nicken. Octavia ist erleichtert, dass er wenigstens darauf eingegangen ist. Sie lässt ihren Kopf auf die Schulter ihres Mannes fallen und schluchzt einmal. Die zwei betrachten die Figur noch, während der Junge nach draußen geht. Arm in Arm steht das Paar dort, und Plancus sagt zu ihr: »Es ist schon eine schöne Figur. Ich weiß gar nicht, was er hat. Was meinst du, wird er sie für seine Zwecke verwenden oder nicht?«

»Ja, ich denke schon. Wenn er eine neue anfängt, dann schaut er zu dieser rüber, und jedes Mal wird es verlockender, sie aufzuhängen. Du wirst sehen, so viel Selbstdisziplin hat er nicht.«

Plancus muss grinsen. »Gut, wetten wir. Ich sage, dass er eine zweite machen wird. Er hatte schon den Eifer und die Geduld, diese hier zu machen, also kann er auch eine neue schnitzen.«

Octavia geht auf seine Wette ein. »Einverstanden, und was musst du machen, wenn du die Wette verlierst?«

Plancus lacht. »Wenn ich verliere, dann werde ich dich eine Woche lang bekochen, und wenn du verlierst, dann wirst du einen Tag lang mein Pferd sein.«

Sie ist einverstanden, denn sie ist überzeugt, dass sie nicht verlieren kann. Zur Sicherheit halten sie die Wettbedingungen schriftlich fest, die er an seinem Tisch niederschreibt, so kann keiner von beiden verleugnen, was sie abgemacht haben.

Der Tag vergeht, aber der Junge hat nicht mit einer neuen Figur angefangen. Er spielt stattdessen ganz unbekümmert mit den anderen Kindern. Octavia freut es, dies zu sehen, weil sie sicher ist, dass sie die Wette gewinnen wird, aber auch für den Jungen, der geheilt zu sein scheint. Zwei lange Tage vergehen, ohne dass der Junge nur ein Wort oder einen Gedanken an die Holzfigur verschwendet. So denken zumindest die anderen. Er selber denkt viel darüber nach, aber er zeigt es nicht. Er überlegt, wie man die Figur perfektionieren könnte, und wendet sich mit diesen Fragen an Gott. In jedem seiner Gebete, die er still in seinem Bett in der Nacht spricht, fragt er, wie er sein Werk perfektionieren kann, aber Gott antwortet ihm nicht.

Am Ende des dritten Tages, als die Hausherren wieder nebeneinander im Bett liegen, unterhalten sich Octavia und Plancus.

»So, ich glaube, du hast die Wette verloren«, sagt sie stolz zu ihm. »Er hat nicht mit einer neuen Figur begonnen. Er denkt nicht mal daran.«

Er meint aber nur trocken: »Nein, ich habe nicht verloren. Keiner von uns hat verloren. Wir sind davon ausgegangen, dass er eine neue anfängt, aber wie es aussieht, lässt er es ganz bleiben.«

Sie erwidert auf dieses Argument: »Du bist doch nur ein schlechter Verlierer. Ich habe gewonnen, und das weißt du auch. Ich habe gesagt, dass er die alte Figur an das Kreuz hängt.«

Wieder meint er trocken: »Eben, das ist ja der springende Punkt. Keine Figur hängt bis jetzt am Kreuz. Unsere Wette ist erst beendet, wenn eine Figur dort hängt, nicht vorher.«

Sie muss zu ihrem Bedauern zugeben, dass ihr Gemahl recht hat, aber trotzdem ist sie zuversichtlich: »Je länger er wartet, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er die alte Figur nimmt.«

Mit Freude sagt Plancus: »O nein, meine Liebe, das glaube ich nicht. Ich denke, dass er nur ein bisschen Kraft tanken muss und dann mit der neuen Figur anfängt. Ich habe ihn nämlich beobachtet und gesehen, wie er mit gesenktem Kopf Selbstgespräche geführt hat. Ich habe zwar nichts verstanden, weil es so leise war, aber ich glaube, ich habe das Wort Kreuz gehört.«

Mit Bedauern hört sie die Worte ihres Ehemannes. »Gut, dann sind unsere Chancen ja gleich groß. Das macht es ein bisschen spannender für mich. Ich freue mich schon darauf, wie du mich bekochst.«

Plancus sagt nichts mehr zu dem Thema. Beide schlafen kurz darauf ein. Mitten in der Nacht hören sie merkwürdige Geräusche von draußen. Octavia weckt ihren Mann und sagt leise: »Ich glaube, da ist jemand im Haus.«

Plancus ist noch im Halbschlaf. »Ich weiß, dass jemand im Haus ist, und zwar wir.«

Noch aufgeregter sagt sie: »Nein, ich meine, da ist ein Einbrecher im Haus.«

Plancus dreht sich zu ihr um: »Nein, sicher nicht. Wir wohnen mitten im Villenviertel. Was will ein Einbrecher bei uns? Die anderen haben auch das, was wir haben.«

Mit einem Puls von 120 redet sie weiter: »Nein, wir wissen doch nicht, was die anderen haben und was nicht. Geh doch einfach mal nachschauen, tu es für mich.«

Plancus zieht sich die Decke über den Kopf und sagt: »Wenn nicht mal wir wissen, was die anderen haben, woher soll es dann der Einbrecher wissen?«

Sie fängt an, ihn zu schütteln. »Vielleicht ist er einfach durch das Viertel gegangen und hat zufällig unser Haus gewählt. Komm, geh bitte zur Sicherheit! Es dauert bestimmt nicht lange.«

Plancus bringt wieder Argumente: »Und wenn der Einbrecher bewaffnet ist, dann könnte er mich einfach umbringen. Wenn ich aber liegen bleibe, haben wir schlimmstenfalls eine oder zwei Vasen weniger.«

Ihr fällt nichts ein, was sie darauf erwidern könnte, und so sagt sie nur: »Wahrscheinlich hast du recht.« Sie legt sich wieder hin und schläft weiter.

15 Minuten später fängt es draußen an zu stürmen. Es fällt literweise Regen auf die Straßen. Einige Keller und tief gelegene Wohnungen werden überschwemmt. Aber da das Villenviertel auf einem Hügel liegt, passiert den Häusern nicht viel. Plancus und Octavia wachen auf, aber nicht etwa wegen des Sturms, sondern weil es ein Stockwerk unter ihnen laut geknallt hat. Sie sitzen erschrocken im Bett und schauen einander an, horchen in die Nacht hinein und versuchen, außer dem Sturm etwas zu hören. Wieder erschallt lautes Kratzen und ein Stöhnen im Stockwerk unter ihnen. Plancus zögert nicht lange, steht auf und zieht sich an. Er nimmt einen bronzenen Kerzenständer vom Tisch und zündet die Kerzen an. Sie erfüllen den Raum nur mit wenig Licht, aber das Wichtigste kann er erkennen.

Seine Frau sitzt ängstlich im Bett und sagt zu ihm: »Bitte sei vorsichtig!«

Er nickt zuversichtlich. »Mach dir keine Sorgen.« Langsam und leise öffnet er die Türe. Mit vorsichtigen Schritten geht er den Gang entlang. Noch vorsichtiger geht er das Treppenhaus hinunter. Er hört jeden seiner Schritte. Schweiß tropft ihm von der Stirn. Als er im Zwischenboden ankommt, blitzt es, und für einen Augenblick ist alles erleuchtet. Er glaubt, unten eine Gestalt gesehen zu haben. Ein buckliger Mensch, der, wie Plancus meint, kurz zu ihm herübergeschaut hat. Jetzt hat er Todesangst, obwohl er einmal in der Legion war. Aber das Training fehlt ihm einfach. Er ist alt und langsam geworden. Er bläst die Kerzen aus, weil der Einbrecher ihn dann nicht so leicht finden kann. Langsam setzt er sich hin und fängt an zu beten. Seine Hoffnung besteht darin, dass der Eindringling ihn nicht entdeckt hat und einfach mit den gestohlenen Sachen geht. In seinem Kopf malt sich Plancus die größten Horrorszenarien aus. Was, wenn es ein Mörder ist?, fragt er sich, dann wird er mich finden und umbringen!

Er weiß nicht, wie lange er dort schon sitzt, denn sein Zeitgefühl ist total ausgeschaltet. Er meint, er sei sogar kurz eingenickt, was ihm aber höchst merkwürdig vorkommt. Er fasst wieder Mut und geht in der Dunkelheit nach unten. Als er eine Wand passiert, merkt er, dass der Boden nass ist. Verwundert blickt er sich um und erkennt, dass ein Fenster offen ist. Er denkt sich, dass es vielleicht reingeregnet hat und der Boden darum nass ist. Plancus schließt den Flügel und geht mit leisem Schritt wieder nach oben. Das Wasser kann man auch noch morgen aufwischen. Er geht in sein Zimmer, wo seine Frau wieder eingeschlafen ist, und zieht vor dem Bett die Sandalen aus. Angezogen legt er sich hin und bleibt noch lange wach.

Am Morgen verlässt seine Frau bei Sonnenaufgang das Bett. Plancus bleibt wegen der nervenaufreibenden Nacht noch ein bisschen liegen. Zwei Stunden später steht er auch auf. Als er die Sandalen wieder anziehen will, sieht er, dass eine Reihe von roten Schuhabdrücken zu seinem Bett führen. Er schaut die Sohlen der Sandalen an und sieht, dass sie auch rot sind. Hastig zieht er die Schuhe an und rennt aus dem Zimmer, der Spur nach. Als er im Flur steht, endet sie plötzlich. Er beginnt zu überlegen und kommt zu dem Schluss, dass der Einbrecher tatsächlich jemanden umgebracht hat. Ihm wird auch klar, dass er noch im Haus war, als er wieder schlafen ging.

Schnell läuft er zu seiner Frau, die gerade frühstückt, und fragt sie: »Fehlt etwas? Fehlt jemand?«

Sie sieht ihn ganz schräg an und sagt: »Nein, soweit ich weiß, nicht. Wieso bist du so aufgeregt?«

Er bewegt den Kopf nervös hin und her und versucht, die Hausmädchen, die im Raum sind, zu zählen, aber er hat immer wieder das Gefühl, sich verzählt zu haben. Mit flinker Zunge antwortet er: »Ich glaube, in unserem Haus ist ein Mord passiert. Ich vermute, dass der Einbrecher jemanden umgebracht hat. Ich weiß nur noch nicht, wen.«

Lachend winkt seine Frau ab und sagt: »Ach was, mir hat noch niemand gesagt, jemand würde fehlen. Es fehlt auch kein Gegenstand. Vermutlich war es nur der Sturm, der uns geweckt hat.«

Plancus setzt sich, schnell atmend, neben seine liegende Frau und fragt: »Hast du die Blutspur in unserem Zimmer nicht gesehen? Und hat jemand das Wasser vor dem Fenster schon aufgewischt?«

Seine Frau schaut ihn merkwürdig an. »Was? Nein, ich habe nichts gesehen. Und am Boden war heute früh alles trocken. Sag mal, bist du krank? Oder hast du einfach nur geträumt?«

Plancus senkt den Kopf, und auch sein Atem beruhigt sich. Leise sagt er: »Dann bin ich wohl der Einzige, der das gesehen hat. Aber Moment, die Blutspur muss noch da sein.« Er schrickt wieder auf, nimmt seine Frau am Arm und zieht sie mit sich fort.

Sie jammert: »Autsch, lass mich los! Das tut weh!«

Alles Flehen und Jammern hilft nicht. Er schleift sie eilig durch das Treppenhaus, durch den Flur und ins Zimmer. Verblüfft steht er da, denn auch diese Blutspuren sind verschwunden.

»Na, was habe ich dir gesagt? Da ist nichts, du hast geträumt«, sagt sie rechthaberisch.

Er hört nicht zu, sondern wird ganz bleich im Gesicht und setzt sich hin. Leise sagt er zu sich selbst: »Entweder ist der Mörder noch im Haus, sodass er die letzten Spuren verschwinden lassen konnte, oder ich fange endgültig an durchzudrehen.« Er schaut zu seiner Frau hoch, die seinen Blick erwidert. Wieder fragt er sie: »Bist du sicher, dass niemand fehlt? Auch keiner von den Sklaven?«

Ein bisschen genervt, weil sie langsam an seinem Verstand zu zweifeln beginnt, sagt sie: »Nein, alle sind bei der Arbeit. Sogar der Junge ist am Beten. Ach ja, ich habe übrigens die Wette gewonnen. Er hat heute früh die Figur genommen und sie ans Kreuz gehängt. Viel Glück beim Kochen.«

Er schaut sie an, als wäre sie ein Geist, und sagt: »Das will ich sehen.«

Sie führt ihn zu dem Raum. Er ist noch dunkler als zuvor. Von Weitem sieht man nur den Knaben, kniend, in seinem weißen Gewand. Plancus tritt ein und lässt seine Frau stehen. Er traut sich kaum, näher zu treten. Langsam erkennt er den Umriss des Kreuzes und dass etwas daran hängt. Auch die anderen Umrisse werden immer klarer. Aber es kommt ihm vor, als wäre die Figur nicht diejenige, die der Junge geschnitzt hat. Plancus geht zurück und schickt einen Sklaven, um ihm einen Kerzenständer zu holen.

Seine Frau spricht ihn von hinten an: »Was hast du vor? Wofür brauchst du einen Kerzenständer?«

»Ich will mir das genauer ansehen«, sagt er nur und wartet auf die Rückkehr des Sklaven. Der bringt ihm, so schnell er kann, das Gewünschte, aber die Kerzen brennen noch nicht. Plancus schaut den Ständer an und dann den Sklaven. Entnervt fragt er ihn: »Was soll ich damit, wenn die Kerzen nicht brennen? Hol Feuer, aber schnell!«

Der Sklave rennt erneut los. Es vergehen zwei Minuten, bis er wieder zurück ist. In der Zwischenzeit haben sich weder Plancus noch der Knabe bewegt. Der Sklave zündet die Kerzen an. Vor lauter Aufregung kann er die Hand kaum ruhig halten. Als sie brennen, geht Plancus langsam zurück in den Raum, die Lichtquelle vor sich haltend. Octavia und der Sklave stehen immer noch da und schauen Plancus nach.

Der nähert sich dem Kreuz, und dann erkennt er es.

Mit einem lauten Schrei fällt er auf die Knie und fängt an zu weinen. Weil er die Hände vor sein Gesicht hält, fällt der Kerzenständer zu Boden. Die Kerzen brennen weiter, machen aber dem Marmorboden nichts.

Die beiden Wartenden stürzen zu ihm. Der Sklave löscht sofort die brennenden Kerzen, und Octavia beugt sich zu Plancus. Sie legt liebevoll ihren Arm um ihn und fragt ihn leise: »Was ist denn los?«

Ganz langsam streckt er den Arm aus und zeigt auf das Kreuz. Der Sklave und Octavia schauen hoch. Der Sklave bekreuzigt sich und rennt weg, als er begreift, was er sieht. Sie hingegen steht auf und kann kein Wort mehr sagen. Am Kreuz hängt die Mutter des Jungen. Sie wurde wie Jesus an den Handgelenken festgebunden und dann ans Kreuz genagelt. Auch ihre Füße sind von einem Nagel durchbohrt. Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten. An ihrem ganzen Leib sind Kampfspuren zu erkennen. Er ist übersät von Messerschnitten und Peitschenschlägen. Es sieht furchtbar aus. Der Junge kniet wie in Trance davor und betet.

Die Strafe

Alle Anwesenden müssen sich schnell wieder fassen, denn die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Als Plancus den ersten Schock überwunden hat, fragt er sich, wieso der Junge diese schreckliche Tat begangen hat. Er findet beim besten Willen keine Antwort. Aber er kann nicht ungestört seinen Gedanken nachgehen, denn die Sklaven wollen den Tod des Burschen. Sie wollen ihm dasselbe Schicksal bescheren, das er seiner Mutter beschert hat. Sie glauben, dass er besessen wäre von dem Bösen.

Der Junge betet immer noch in seinem Raum, völlig unbeeindruckt von dem sich anbahnenden Tumult. Plancus und Octavia stehen vor der Türe und müssen den Haufen rebellierender Sklaven beruhigen. Es fällt ihnen schwer, denn sie haben Beile und Messer dabei, die sie sich in Küche und Werkstatt besorgt haben, um den Jungen umzubringen. Dann durchdringt Plancus lauter Schrei das Haus. Er hat sich einen Stuhl geholt und sich aufgestellt. Alle schauen ihn jetzt mit großen Augen an, sogar seine Frau. Er sieht um sich und beginnt mit kräftiger Stimme zu reden: »Ich weiß, dass ihr empört seid über die Tat, die der Junge begangen hat. Ich weiß, dass er eine Strafe verdient hat. Ihr aber habt nicht das Recht, über ihn zu richten. Dieses Recht haben nur wir zwei, die Herrin und ich. Wir werden aber professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Denn wenn wir ihn so töten, sind wir nicht besser als er. Wir müssen zuerst herausfinden, wieso er das gemacht hat. Er wird aber bestraft werden, das kann ich euch versprechen.«

Nachdem er gesprochen hat, fangen die Sklaven an zu tuscheln. Man hört heraus, dass sie ihrem Herren recht geben. Dieser spricht weiter: »Gut, ich weiß, dass dies ein riesiger Schock für uns alle ist. Halten wir zuerst eine Gedenkminute für die arme Frau und trauern diesen ganzen Tag um sie.« Alle senken den Kopf und sind ruhig. Eine volle Minute spricht und regt sich keiner.

Danach sagt Plancus zu seiner Frau: »Ich gehe den Tribun holen, und du versuchst, die Sklaven aufzuhalten.« Er will gerade loslaufen, als ihn seine Frau am Arm zurückhält und sagt: »Welchen Tribun, und wie stellst du dir das vor? Wie soll ich sie aufhalten?«

»Den Tribun Maxelius, du weißt doch, der Militärarsch von nebenan. Versuche, sie einfach zu beruhigen, bis ich wieder zurück bin. Es dauert sicher nicht lange.«

Aber seine Frau hat immer noch Einwände: »Was willst du mit dem Jungen machen?« Plancus scheint in Eile zu sein; sie merkt, dass ihn diese Fragerei aufregt: »Ihn festnehmen und in ein Gefängnis bringen lassen.«

Octavia lässt ihn los, und er verschwindet sofort. Sie steht langsam auf und schaut zu den Sklaven, die immer noch dastehen. Sie bekommt Angst, weil sie weiß, dass sie sie überrennen könnten.

Die Sklaven bemerken ihre Verunsicherung und wollen sie beschwichtigen. Einer sagt zu ihr: »Du musst keine Angst haben. Wir tun dir nichts. Du warst immer so gut zu uns.«

Das beruhigt Octavia enorm, ihre Knie zittern nicht mehr so sehr. Es vergehen zehn Minuten, bis Plancus wieder eintrifft. Außer Atem bleibt er vor seiner Frau stehen. Als er seine Arme auf den Knien abstützt, schaut er erst die Sklaven und dann seine Frau an. »Und, hast du sie im Griff? Der Tribun ist nur noch schnell ein paar Männer holen gegangen, er sollte innerhalb der nächsten 30 Minuten hier eintreffen. Wir hatten großes Glück, dass er gerade nach Hause kam.«

Octavia antwortet: »Ja, es verlief eigentlich ganz gut. Ich glaube nicht, dass wir Soldaten brauchen, die Sklaven haben sich beruhigt.«

Wieder aufrechtstehend sagt Plancus: »Nicht für die Sklaven. Wir brauchen die Soldaten für den Jungen. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass er immer noch dasitzt, als wäre nichts geschehen?«

Octavia blickt zu dem Raum hinüber. Tatsächlich, der Junge ist immer noch da und betet auf Knien.

Es ist eine lange halbe Stunde, denn die Sklaven beginnen unangenehme Fragen zu stellen. »Was werden sie jetzt mit dem Jungen machen?«, fragt der eine. Ein anderer, aus einer der hinteren Reihen, ruft: »Ich weiß nicht, was die Hausherren machen werden. Aber die Römer werden ihn den Löwen vorwerfen. Denn wenn ein Sklave einen Mord begeht, dann wird er mit dem Tode bestraft.«

Plancus mischt sich ein: »Nein, das werde ich nicht zulassen. Ich erlaube nicht, dass man ihn unmenschlich bestraft, und ich lasse nicht zu, dass man ihn foltert wie Christus.«

Die Sklaven schweigen und denken über seine Worte nach. Sie spüren die Kraft und den Willen des Hausherren.

Ein lauter Knall an der Haustüre stört die Ruhe. Ein Prätorianer kommt herein. Hinter ihm ein zweiter. Die Sklaven stehen mit offenem Munde da, denn sie haben so etwas noch nie gesehen. Die in mühevoller Arbeit verzierten Helme und die Kämme darauf mit dem großen ovalen Schild und dem Speer, der gut zwei Meter misst. Auch die Rüstung, die sie tragen, ist mit schönen Mustern geschmückt. Die beiden Soldaten nehmen links und rechts des Raumes Position ein. Weitere Prätorianer kommen durch die Tür. Sie bilden eine Linie zwischen den Sklaven und den Hausherren. Die Schilde und die Speere halten sie dicht vor sich am Leib. So bilden die nunmehr 30 Soldaten eine Wand aus Körpern und Rüstungen, durch die man kaum durchschauen kann. Keiner der Sklaven traut sich, irgendetwas zu sagen, aus Angst vor den Schwertern und Speeren weichen sie geduckt zurück.

Ein Mann, dessen Helm und Rüstung noch prächtiger als die der anderen sind, kommt herein. Alles, was er trägt, ist mit Gold geschmückt. Hinter ihm stehen noch mehr Prätorianer. Er geht zu Plancus und fragt ihn: »Und, wo ist der Verbrecher?« Die feste Stimme macht Plancus fast schon Angst. Eingeschüchtert zeigt er auf den Jungen. Der Anführer der Soldaten schaut zu ihm rüber und zeigt auch auf den Burschen. Die zwei Soldaten hinter ihm gehen in den Raum und nehmen ihn fest. Der Junge zeigt keinerlei Widerstand. Die Soldaten heben ihn hoch und gehen mit ihm nach draußen.

Als sich der Anführer umdrehen will, fragt Octavia: »Wo bringt ihr ihn hin?«

»Wir bringen ihn zum Kolosseum, dort wird ein Gerichtsverfahren stattfinden und ein Urteil über ihn gesprochen werden.« Er geht nach draußen, die Soldaten folgen ihm. Schließlich verschwinden auch die, die an der Tür stehen. Sie knallen die Flügel hinter sich zu. Die Sklaven, die zuerst den Tod des Jungen forderten, fangen an zu weinen, denn sie glauben, dass er ihnen den Weg zu Gott zeigen kann. Auch Octavia weint nun. Plancus nimmt sie in den Arm und schaut zur Tür.

Zwei Tage später wird das Gerichtsverfahren gegen den Jungen eingeleitet. Es ist ein großer Saal. Der Richter, der zugleich auch Senator ist, wartet vorne auf den Jungen. Er hat weder einen Tisch noch einen Stuhl. Außer ihm, den Hausherren und zwei Wachen befindet sich niemand im Raum. Am anderen Ende des Saales ist eine große Tür. Herein kommen zwei Legionäre, die den Jungen gefesselt, einen Stock zwischen Rücken und Ellenbogen eingeklemmt und die Hände am Bauch zusammengebunden, hereintragen. Sie heben den Stock hoch, sodass er den Boden nicht berührt. Es sieht schmerzhaft aus, aber der Junge verzieht keine Miene. Er hat nur etwas weiches Leder um den Bauch geschnürt bekommen, sodass man seinen Intimbereich nicht sieht, aber sonst ist er nackt. Sein Rücken ist übersät mit roten Streifen. Es sieht aus, als wäre er gefoltert worden.

Octavia hält beide Hände flach auf den Mund und schaut erschrocken. Der Junge rührt sich nicht und lässt alles hängen. Wahrscheinlich hat er in diesen zwei Tagen die Hölle auf Erden erlebt. Die Legionäre tragen ihn bis vor den Richter und lassen ihn dann einfach los. Er fällt auf die Knie und bleibt so liegen, den Kopf gesenkt. Die Legionäre verlassen den Saal wieder.

Der Richter geht vor dem Jungen hin und her. Er will ihn ganz genau betrachten. Dann bleibt er vor ihm stehen und sagt: »Weißt du, du bist der Erste, der so jung ist. Du bist auch der Erste, der ein Sklave ist. Du scheinst deinen Herren sehr zu gefallen, dass sie deinetwegen so einen Aufwand betreiben. Ich hätte dich direkt an die Löwen verfüttert.«

Der Junge bleibt ruhig. Die Hausherren schauen gespannt zu.

Der Richter schaut ihn von hinten an und fragt: »Du bist wohl kein Freund von vielen Worten, wie? Aber ich gebe dir einen Tipp: Wenn du hier nicht redest, bist du dem Tode geweiht.«

Erst jetzt reagiert der Knabe: »Sind wir das nicht alle?«

Mit diesem Satz hat er den Richter wütend gemacht. Der kniet sich neben ihm nieder und sagt leiser: »Du bist wohl ein ganz Neunmalkluger! Aber deine dummen Sprüche werden dir schon vergehen, du wirst sehen!« Er steht wieder auf und läuft weiter vor dem Jungen hin und her. Dabei sagt er in seiner weißen, sauberen Toga: »Du weißt schon, dass du wegen Mordes angeklagt bist? Was sagst du dazu?«

Der Junge hebt leicht den Kopf und antwortet: »Ich habe meine Mutter umgebracht, aber sie ist jetzt im Paradies und wartet dort auf mich. Gott hat mir vergeben.«

Den Richter scheinen die Worte nicht zu beeindrucken. »Jaja, Gott hat dir also vergeben. Mal schauen, ob ich dir auch verzeihe. Warum hast du deine Mutter umgebracht?«

Und der Junge sagt: »Gott hat es mir befohlen. Mein Kreuz war gleichbedeutend mit dem von Christus. Maria konnte über Jesus auch besser zu Gott sprechen, und ich konnte es auch.«

Das Gerede über Gott geht dem Richter auf die Nerven. »Ja klar, die Anklage wird für dich noch schlimmer. Sie lautet jetzt auch noch Gotteslästerung. Was sagst du dazu, du stinkender Sklave?«

Der Junge hebt seinen Kopf noch höher und antwortet: »Wie kannst du mir Gotteslästerung vorwerfen? Du, der du nicht mal an ihn glaubst! Du betest immer noch die falschen Götter an.«

Der Richter ohrfeigt den Jungen, und die Hausherren stehen auf vor Schreck. Plancus zieht Octavia wieder runter. Voller Entsetzen verfolgen sie das weitere Geschehen.

»Du weißt wohl nicht, mit wem du da redest! Und wer hat dir gesagt, dass ich die Götter anbete? Ich werde dich so lange foltern lassen, bis du tot bist«, sagt der Richter herrisch.

Der Junge steht jetzt mühsam auf. Obwohl er viel kleiner als der Richter ist, sagt er: »Gott hat mir meine Tat verziehen. Für dich wird er keine Vergebung finden. Ich werde im Paradies leben, wenn du in der Hölle schmorst.«

Der Richter schlägt ihm die Faust ins Gesicht. Der Bursche fällt hin, die Nase fängt an zu bluten, und der Richter schreit ihn von oben herab an: »Ich werde dich persönlich totschlagen, dich und deine große Klappe! Das Urteil ist gefallen und wird sofort vollstreckt!«

Plancus rennt nach vorne und hält den Richter vom nächsten Schlag ab. Als er seinen Arm ergreift, sagt er: »Nein, lass ihn nicht so umkommen. Finde eine andere Strafe für ihn. Ich bitte dich, als Freund.«

Der Richter scheint die Fassung zurückzugewinnen. Er lässt den Arm wieder locker. »Gut, er wird mit einem Schwert bewaffnet und mit dem, was er jetzt trägt, in die Arena des Kolosseums gehen und gegen einen der besten Gladiatoren kämpfen. Dort werden wir sehen, wo sein Gott ist.« Nach diesen Worten spuckt er den Jungen an und verlässt den Saal.

Die beiden Legionäre kommen wieder herein und nehmen den Jungen so hoch, wie sie ihn gebracht haben. Während sie ihn raustragen, sagt dieser nur: »Macht euch keine Sorgen, Gottes Wille geschehe.«

Die beiden Hausherren schauen ihm noch nach, als er schon lange draußen ist. Sie gehen zu Fuß nach Hause und denken ununterbrochen an ihn, auch in der Nacht finden sie keinen Schlaf.

Am nächsten Morgen besucht Plancus eine Gladiatorenschule. Als er den Trainingsplatz betritt, sieht er viele Männer, die mit Holzschwertern trainieren. Einige von ihnen sind groß und stark. Plancus nähert sich einem der Gladiatoren und fragt ihn: »Wo ist dein Trainer?«

Der Angesprochene nimmt den Helm vom Kopf und zeigt auf einen Mann am anderen Ende des Platzes, ohne etwas zu sagen. Plancus geht hin und klopft dem Mann auf die Schulter.

Der Trainer, den man Publius nennt, steht mit freiem Oberkörper und dem von Narben der Peitschen übersäten Rücken da, dreht sich um und fragt: »Was wollen Sie von mir?«

Plancus ist Geschäftsmann und weiß, wie man mit solchen Leuten redet: »Ich habe gehört, dass du der Beste bist.«

»Ach ja? Kommt darauf an, wer das sagt.«

»Ach, das habe ich aus verschiedenen Quellen erfahren. Ich hätte einen gut bezahlten Job für dich.«

Publius denkt einen Augenblick nach und fragt dann: »Was ist das für ein Job?«

Plancus reicht ihm einen Sack voller Gold und sagt: »Du müsstest jemanden trainieren, sodass er einen Kampf gewinnt. Der findet in zwei Tagen statt.«

Publius schätzt ungefähr das Gewicht des Goldes ab und sagt: »Gut, einverstanden, wo ist denn dieser Mann? Ich will ihn aber hier trainieren.«

Plancus klatscht in die Hände und sagt mit einem Lachen: »Ja, das ist das große Problem. Ich kann dir das Trainingsobjekt nicht bringen. Er sitzt im Gefängnis.«

Publius schaut ihn erschrocken an. »Das ist aber nicht der achtjährige Junge, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt?«

Plancus nickt. »Genau der ist es. Aber wieso weißt du davon?«

Publius versucht, Plancus umzustimmen: »Hör zu, ich bin Trainer einer der größten Gladiatorenschulen in der Stadt. Ich kenne das Programm der Kämpfe der nächsten zwei Wochen schon. Der Junge kann nicht gewinnen, auch wenn ich ihn trainieren würde. Vor ihm sind noch fünf Kämpfe, dann muss er gegen Lanzilus kämpfen, und der hats in sich. Er hat schon 36 Siege hinter sich und ist ein Monster von einem Mann. Gegen ihn hat der Junge keine Chance.«

Plancus denkt nach und meint dann: »Wenn du den Jungen trainierst und er gewinnt, bekommst du noch einmal so viel Gold.«

Publius schaut den Geldsack an und fragt: »Wieso ist er dir so viel wert?«

Plancus antwortet ehrlich und sagt: »Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, dass noch etwas Bedeutendes aus ihm wird. Dass eines Tages Tausende Menschen von ihm reden werden.«

Publius sieht ihn skeptisch an, sagt dann aber: »Ich mach es. Ich trainiere ihn, aber diesen Beutel behalte ich so wieso, das ist meine Bedingung.«

»Gut, einverstanden.«

Publius übergibt die Aufsicht einem seiner Hilfstrainer. Die beiden reichen sich die Hand und gehen sofort zum Kolosseum, das in der Nähe liegt. Dort werden sie zu dem Knaben gebracht. Dieser sitzt in einem dunklen Keller, der nur von zwei Fackeln im Gang erleuchtet wird. Es gibt kein Fenster. Unablässig tropft es von der Decke. Dicke Gitterstäbe trennen den Jungen von der Freiheit. In der Zelle befinden sich ein Stuhl, ein Strohbett und ein Eimer. Auf dem Boden liegt noch ein kleines Stück Brot, an dem sich gerade die Mäuse erfreuen. Der Junge sitzt auf dem Stuhl und sieht den Nagern zu. Er hat ein Lachen im Gesicht, weil er weiß, dass er anderen helfen kann.