Die Grenzbereiche des Lebens - Lyall Watson - E-Book

Die Grenzbereiche des Lebens E-Book

Lyall Watson

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Beschreibung

Hat sich Lyall Watson in seinem vorhergehenden Buch »Geheimes Wissen. Das Natürliche des Übernatürlichen« mit den Rätseln des Lebens auseinandergesetzt und mit überraschenden Vorschlägen zu ihrer Lösung aufgewartet, so widmet er sich hier den Rätseln des Todes und einem möglichen Weiterleben nach dem Tod. Er vertritt und begründet die Auffassung, es sei biologisch gesehen nicht länger sinnvoll, zwischen Leben und Tod auf irgendeiner Ebene zu unterscheiden. Wo das Leben seine Grenzen, auch unter dem Einfluß technischen Fortschritts, ständig weiter ausdehne, verwischten sich die Übergänge zwischen beiden Zuständen bis zur Unkenntlichkeit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 426

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Lyall Watson

Die Grenzbereiche des Lebens

Aus dem Englischen von Joachim A. Frank

FISCHER Digital

Inhalt

Sie sagten, Julia sei [...]EinleitungTeil I Der Körper1. Kapitel Leben und der Ursprung des Todes2. Kapitel Der Tod als Krankheit3. Kapitel Das Sterben als Teil des TodeszyklusTeil II Der Geist4. Kapitel Persönlichkeit und Körper5. Kapitel Erleuchtung als biologischer Prozeß6. Kapitel Die Trennung von Körper und GeistTeil III Die Seele7. Kapitel Weiterleben ohne Körper8. Kapitel Besessenheit9. Kapitel Wunder und andere WirklichkeitenSchlußfolgerungLiteraturverzeichnisNamen- und Sachregister

Sie sagten, Julia sei tot.

 

Wärterin: »Ach, sie ist tot! verblichen! tot! o Wehe!«

Gräfin Capulet: »O Wehe! Wehe! sie ist tot, tot, tot!«

Capulet: »Ihr Blut steht still, die Glieder sind ihr starr; Von diesen Lippen schied das Leben längst.«

 

Romeo glaubte ihnen und nahm sich das Leben …

doch er irrte sich. Oder irren wir uns?

Einleitung

Als ich zehn Jahre alt war, ging ich eines Tages allein zu einer bewaldeten Schlucht in der Nähe unseres Hauses. Dort konnte man am Rande eines Felsens stehen und einer gekrümmten Granitwand jenseits des Flusses ein wunderbares Echo entlocken. Ich hatte diesen kleinen Ausflug wochenlang geplant und brachte endlich genug Mut auf, ihn tatsächlich zu unternehmen. So stand ich nun ganz allein hoch über den Bäumen und rief, so laut ich konnte, das unflätigste Wort, das ich kannte. Heute, ein Vierteljahrhundert später, weiß ich nicht einmal mehr, was für ein Wort das war, aber ich werde nie vergessen, wie ich mich damals fühlte. Das gleiche Gefühl habe ich nun wieder bei der Niederschrift dieses Buches über den Tod.

Der Tod ist ungeachtet unserer neuerworbenen Freiheiten noch immer ein heikles Diskussionsthema. Tagtäglich liefern wir neue Beweise für das Unbehagen, das er uns bereitet, und für unsere Unsicherheit hinsichtlich der Beziehung zwischen Leben und Tod. Einerseits wollen wir die Toten »zur Ruhe betten«; wir trösten und besänftigen sie und versuchen, ihren Zorn abzuwenden; andererseits bemühen wir uns, Leben vorzutäuschen und schminken ihre Gesichter in dem vergeblichen Versuch, noch einmal einen letzten Lebensfunken aufleuchten zu lassen.

Unsere ambivalente Einstellung zeigt sich auf beinahe allen Gebieten. Wir sagen, daß uns die Wissenschaft und insbesondere die Medizin Gewalt über den Tod gibt, aber in Wirklichkeit glauben wir noch immer, daß nichts, was wir tun, das Datum jener Verabredung in Samara ändern kann. Es ist für unser Empfinden etwas Richtiges und Unvermeidliches an der Geschichte von dem Seher Kalchas, der sich totlachte bei dem Gedanken, daß er die vorausgesagte Stunde seines Todes überlebt habe. Unsere neue Technologie macht das Dilemma nur noch unerträglicher. Im September 1973 wurde Samuel Moore in Oakland, Kalifornien, mit einer Kugel im Gehirn für tot erklärt. Man schnitt ihm das noch schlagende Herz heraus und brachte es in einem Hubschrauber nach Stanford, wo es in eine andere Brust eingepflanzt wurde. Als einen Monat später Andrew Lyons des Mordes an Moore angeklagt wurde, erklärte sein Anwalt, die Anklage müsse in »Überfall mit einer tödlichen Waffe« abgeändert werden, denn Moore könne nicht tot sein, solange sein Herz noch schlage. Dieser Teil der Angelegenheit hat sich mittlerweile von selbst erledigt, denn das betreffende Herz hat endgültig zu schlagen aufgehört, aber es bestehen noch einige Zweifel hinsichtlich der Frage, wer nun eigentlich den Mord verübt hat – der Pistolenschütze oder der Chirurg.

Als Biologe finde ich diese Unklarheit peinlich. Ich bin vielleicht altmodisch, aber ich meine, daß jemand, der sich mit dem Leben beschäftigt, wissen sollte, wo es beginnt, und daß er eine ungefähre Vorstellung davon haben sollte, wie es endet. Daher dieses Buch. Es beginnt mit den einfachsten Grundlagen und entwickelt sich weiter in Form einer Debatte, die ebensosehr meiner eigenen Seelenruhe wie der Erbauung anderer dienen soll.

Ich vermute, daß in meinem Argument auf allen Ebenen logische und biologische Fehler stecken, aber für den Augenblick bin ich bereit, sie auf sich beruhen zu lassen, weil dies eben überhaupt ein Argument ist und ich hoffe, daß es zu weiteren Diskussionen anregen wird.

Vor genau zwei Jahren sammelte ich einen ganzen Lumpensack voll unzusammenhängender Daten und stückelte daraus etwas zusammen, was einer objektiven Naturgeschichte des Übernatürlichen nahekam. Ich wollte das Gebiet, das sie behandelte, nicht künstlich einengen, aber im Rückblick sehe ich, wo ich im Geiste meine Grenzen zog. Wenn Geheimes Wissen mein Buch vom Leben war, so ist dies sein Begleitband über den Tod und das Leben nach dem Tode, Ich beginne mit dem, was mir auf diesem Gebiet das ärgste Dilemma zu sein scheint, nämlich mit unserer Unfähigkeit, zwischen Leben und Tod zu unterscheiden, und muß sehr bald feststellen, daß diese Frage, sobald sie geklärt ist, nur eine ganze Anzahl weiterer Problemkreise eröffnet, von denen sich jeder als etwas entpuppt, was ich bis dahin nicht hatte sehen und berücksichtigen wollen.

Dies ist kein Buch der Antworten. Es ist genau genommen nicht einmal ein Buch der Fragen, sondern vielmehr ein Versuch, eine Art fester wissenschaftlicher Grundlage zu schaffen, die uns helfen wird, die richtigen Fragen zu stellen. Wenn ich mit Freunden, die sich für okkulte Dinge interessieren, oder mit manchen jungen Menschen unter fünfundzwanzig über Seelenwanderung oder Astralkörper spreche, nicken sie nur verständnisvoll. Und wenn ich in sie dringe und wissen möchte, warum sie mit solcher Sicherheit annehmen, daß dergleichen Phänomene existieren, bekomme ich zur Antwort, das sei eben so. Ich vermute, daß sie recht haben, und ich beneide sie darum, daß sie so vieles auf Treu und Glauben akzeptieren können, aber ich selbst bin dazu nicht imstande. Ich bin mit dem schweren Handikap von zehn Jahren naturwissenschaftlicher Schulung behaftet und fühle den Zwang zu versuchen, auf irgendeine Weise die wissenschaftliche Untersuchung mit der mystischen Offenbarung zu vereinen. Ich beginne zu begreifen, daß der wissenschaftlichen Methode Grenzen gesetzt sind und daß es Dinge gibt, die man nicht beobachten kann, ohne sie dabei wesentlich zu verändern. Beobachten heißt ändern, und beschreiben und begreifen heißt radikal ändern. Die Atomphysik hat heute erkannt, daß die Frage, ob etwas existiert oder nicht, sinnlos ist, wenn dieses Etwas nicht gemessen werden kann. Das kann ich gelten lassen, und wo immer es sich als nötig erweist, bin ich auch bereit, die traditionelle wissenschaftliche Methode aufzugeben. Meistens stelle ich dann fest, daß mich meine Forschungen zuletzt genau dorthin führen, wo sich meine mystisch veranlagten Freunde schon immer befunden haben, aber im Gegensatz zu vielen von ihnen weiß ich genau, wo ich stehe, weil ich auf meinen Weg zurückblicken und sagen kann, wie ich dorthin gekommen bin.

Allen, denen es schwerfällt, sich mit anderen Wirklichkeiten auseinanderzusetzen, biete ich diese unvollkommene Straßenkarte, die in der Irre beginnt und an einer neuen, ehrfurchtgebietenden Grenze endet. Ich hoffe, Sie werden wie ich feststellen, daß der Tod in eine neue Lebensader verwandelt werden kann.

Lyall Watson Bali, Indonesien, 1974

Teil I Der Körper

Der Romeo-Irrtum ist weder selten noch verwirrten südländischen Liebhabern vorbehalten. Er wurde sogar von dem berühmtesten aller Anatomen begangen: Auf dem Höhepunkt seiner Karriere sezierte Andreas Vesalius um die Mitte des 16. Jahrhunderts einen spanischen Edelmann, als die »Leiche« plötzlich wieder lebendig wurde [1].[1] Der verletzte Don erholte sich wieder vollständig, aber Vesalius wurde der Inquisition angezeigt und für diesen Irrtum zum Tode verurteilt. Nicht lange danach soll der Großinquisitor selbst auf dem Seziertisch eines anderen Anatomen das Bewußtsein wiedererlangt haben.

Andere hatten mehr Glück. Der Reverend Schwartz, einer der ersten Missionare im Orient, wurde in Delhi durch die Klänge seiner Lieblingshymne vom Scheintod erweckt. Die zum Sterbegottesdienst versammelte Gemeinde bemerkte ihren Irrtum, als seine Stimme im Sarg in den Chor einfiel [2]. Eine nicht minder große Bestürzung richtete Nikephorus Glykas, der griechisch-orthodoxe Bischof von Lesbos, unter seinen frommen Anhängern an. Nachdem er zwei Tage in vollem Ornat in der Kirche von Methymni aufgebahrt gewesen war, setzte er sich plötzlich kerzengerade auf, blitzte die Reihe der vorbeidefilierenden Trauernden zornig an und wollte wissen, was sie da zu glotzen hätten [3].

Ähnliche Berichte finden sich in Platons Dialogen, in den Lebensbeschreibungen Plutarchs und in der Naturgeschichte Plinius’ des Älteren, aber es wäre irrig anzunehmen, dergleichen Irrtümer seien nur in ferner Vergangenheit vorgekommen. Im Jahre 1964 wurde in einer New Yorker Leichenhalle eine Autopsie beim ersten Schnitt abgebrochen, denn der »Patient« sprang auf und packte den Chirurgen an der Kehle. Der Arzt bezahlte seinen Irrtum mit dem Leben: der Schock tötete ihn.

»Autopsie« bedeutet wörtlich »selbst sehen«, aber die exakte Feststellung des Todes bereitet in manchen Fällen solche Schwierigkeiten, daß die meisten Länder Gesetze haben, die eine zu rasche Beerdigung verbieten. Der italienische Dichter Francesco Petrarca lag in Ferrara zwanzig Stunden lang scheinbar tot da, und er wäre nach weiteren vier Stunden, das heißt nach Ablauf der in seiner Heimatstadt gesetzlich festgelegten Wartefrist, begraben worden, wenn ihn nicht ein plötzlicher Temperaturwechsel veranlaßt hätte, in seinem Bett aufzusitzen. Er beklagte sich über die Zugluft, schalt seine Diener und lebte weitere dreißig Jahre, in denen er noch einige seiner schönsten Sonette schrieb [4]. In manchen Ländern gibt oder gab es sogar Wartezimmer in den Leichenhallen. So steht in München ein großes gotisches Gebäude, in dem einst die Toten in langen Reihen lagen und durch Schnüre mit Glöckchen im Zimmer des Aufsehers verbunden waren. Anscheinend wurde der Mann so oft aus dem Schlaf gerissen, daß sich diese Anordnung lohnte.

Selbstverständlich kann man eine Leiche nicht beliebig lange liegen lassen, und daher wurden verschiedene Proben erdacht, um Irrtümer zu vermeiden. Eine der ältesten besteht darin, den Körper an verschiedenen Stellen mit einer Kerzenflamme zu berühren – in der richtigen Annahme, daß sich auf der Haut keine Blasen mehr bilden, sobald der Blutkreislauf zum Stillstand gekommen ist. Diese Technik bewährte sich bei Luigi Vittori, einem Karabinier im Dienste Papst Pius’ IX., der in einem römischen Krankenhaus laut Feststellung eines Arztes an Asthma gestorben war und für tot gehalten wurde, bis ihm ein anderer, skeptischer Arzt eine Flamme an sein Gesicht hielt. Luigi zuckte und sein Bewußtsein kehrte zurück. Er nahm seinen Dienst im Vatikan wieder auf, aber Zeit seines Lebens trug er ein Memento mori in Form von Verbrennungen dritten Grades an der Nase mit sich herum (198).

Dr. Icard in Marseille führte eine moderne Variante dieser Probe ein. Er injizierte eine Fluoreszein-Lösung, die bei Lebenden eine vorübergehende Grünfärbung der Hornhaut des Auges hervorruft, nach Eintritt des Todes aber keine Wirkung mehr hat [5]. In den Vereinigten Staaten wurde Atropin, das normalerweise die Pupillen erweitert, für ähnliche kritische Tests verwendet, wenn der Arzt im Zweifel war. In Großbritannien experimentieren die Leichenbeschauer mit einem einfachen tragbaren Kardiographen, der auch noch eine sehr schwache elektrische Aktivität im Herzen registriert. Als das neue Instrument am 26. Februar 1970 in der Leichenhalle von Sheffield zum erstenmal verwendet wurde, entdeckte man Lebenszeichen in einer Dreiundzwanzigjährigen, von der man angenommen hatte, sie sei an einer Überdosis Rauschgift gestorben [6].

Es gibt einige Tests, die gut funktionieren, aber alle haben den Nachteil, daß ein negatives Ergebnis nichts Endgültiges besagt. Und allein in Großbritannien sterben jährlich mehr als 600000 Menschen ohne irgendeinen Test. Es besteht genug Grund zu der Annahme, daß auch in Ländern, in denen, wie in Großbritannien, der Tod amtlich bescheinigt und registriert werden muß, sehr viele Menschen beerdigt werden, bevor ihre Zeit wirklich abgelaufen ist. Einer Schätzung zufolge sind es in England und Wales nicht weniger als 2700 jährlich, aber dazu muß vermerkt werden, daß diese Schätzung gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen wurde, als die allgemeine Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden ihren Höhepunkt erreicht hatte [7].

Der englische Romancier Wilkie Collins legte jeden Abend einen Zettel auf seinen Nachttisch, auf dem bestimmte Vorsichtsmaßnahmen standen, die zu ergreifen waren, bevor man annahm, daß er tot sei, und Hans Christian Andersen ging nie aus dem Haus, ohne einen ähnlichen Zettel zu sich zu stecken. Oberst Edward Vollum vom Sanitätskorps der Armee der Vereinigten Staaten legte einen Plan vor, wonach jeder, der ohne Einbalsamierung begraben wurde, eine Flasche Chloroform in unmittelbarer Reichweite haben sollte [8]. Graf Karnicé-Karnicki, Kämmerer des Zaren Alexander III., erfand eine humanere Vorrichtung: Vom Sarg aus führte ein Rohr zu einem Kasten über der Erde, der von außen nicht geöffnet werden konnte, aber beim ersten Lebenszeichen von innen aufsprang, so daß Luft eindringen konnte, worauf ein kleiner Mast mit einem Wimpel ausgefahren wurde und zugleich eine Glocke zu läuten und ein Licht zu blinken begann, um Hilfe herbeizurufen. Der Graf hatte die Absicht, diese Mechanismen an die Friedhöfe zu verkaufen, die sie für eine Sicherheitsfrist von vierzehn Tagen an die frisch Bestatteten ausleihen sollten (101).

Diese allgemein verbreitete Besorgnis scheint zum Teil auf das Treiben professioneller Leichenräuber zurückgegangen zu sein, die in England unter dem Namen Resurrection Men (Wiederauferstehungsmänner«) bekannt waren. Sie gruben frisch bestattete Leichen aus und verkauften sie an die Barber Surgeon Company, einen Chirurgenverband, dem amtlicherseits nur vier Leichen jährlich zugeteilt wurden und der Spitzenpreise für weitere Versuchsobjekte zahlte und keine peinlichen Fragen stellte. Von diesem Handel erfuhr die Öffentlichkeit 1824, als John MacIntyre, dessen Tod amtlich bescheinigt und der auf dem Friedhof seiner Heimatstadt ordnungsgemäß bestattet worden war, auf dem Seziertisch einer Londoner medizinischen Schule erwachte, als das Messer des Prosektors seine Brust durchbohrte (77). Nach einer Untersuchung dieses Falles wurden auf den Friedhöfen Wachen aufgestellt, die dafür sorgten, daß die Bestatteten in ihren Gräbern blieben, und bald darauf wurden mehrere neue Fälle bekannt, in denen man Lebende begraben hatte.

Im Jahre 1856 wurde das Grab eines Mannes geöffnet, nachdem man Klopfzeichen gehört hatte, aber die Genehmigungen seitens des Priesters und der Polizei hatten so lange auf sich warten lassen, daß der Mann tatsächlich tot war, als die Retter den Sarg erreichten. Daß er lebendig begraben worden war, erkannte man an den Bißwunden, die er sich an Schultern und Armen zugefügt hatte [9]. Und im Jahre 1893 wurde eine hochschwangere Frau, die für tot erklärt und begraben worden war, exhumiert, nachdem man Geräusche aus dem Grab vernommen hatte. Die Vertreter der Behörde stellten fest, daß sie blutig und zerschunden war nach einem verzweifelten Befreiungskampf, der zur Geburt des Kindes geführt und mit dem Ersticken von Mutter und Kind geendet hatte.

In Kriegs- und Pestzeiten, wenn Tausende von Leichen so rasch wie möglich beseitigt werden mußten, wurden viele Menschen lebendig begraben. Als die ärztliche Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte, müssen solche Fehler oft begangen worden sein. Heute dagegen, wo der Tod ärztlich bescheinigt und die Leiche professionellen Bestattungsunternehmern übergeben wird, scheinen Irrtümer unmöglich geworden zu sein. Doch am 11. Dezember 1963 brach die 35jährige Elsie Waring in ihrer Wohnung in London zusammen und wurde ins Willesden General Hospital gebracht, wo bei ihrem Eintreffen drei Ärzte ihren Tod feststellten. Zehn Stunden später stöhnte sie auf und begann wieder zu atmen, als man sie in der öffentlichen Leichenhalle von Kilbum in ihren Sarg legte [10].

Der Romeo-Irrtum wird immer noch begangen, und er wird weiter begangen werden, denn die Grenzen zwischen Leben und Tod sind verschwommen, weil wir nicht imstande sind, den einen oder den anderen Zustand eindeutig zu definieren.

In diesem ersten Abschnitt will ich unsere Vorstellungen von Leben und Tod untersuchen und den Versuch unternehmen, sie in eine Art von biologischer Perspektive zu bringen.

1. Kapitel Leben und der Ursprung des Todes

Wenn ein Kind zum erstenmal die Augen öffnet, sieht es nichts. Der Schoß ist dunkel, denn die geringe Lichtmenge, die durch die gespannte Bauchdecke der Mutter dringt, wird durch das Fruchtwasser zerstreut. Während der letzten vier Schwangerschaftsmonate blinzelt das runzelige Gesicht des Kindes in diese flüssige Finsternis. Das Kind sieht nichts und es hört nur sehr wenig, aber es beginnt die Welt mit den Händen zu ertasten. Die Finger sind bereits vollständig ausgebildet, jeder mit seinem winzigen Nagel; sie beugen und strecken sich und greifen nach einander und nach den Wänden des Schoßes. Zu den ersten Dingen, die sie fassen, gehören Haare, lange, weiche, seidige Haare, die auf den Armen und Beinen des Kindes wachsen. In dieser Lanugo schwelgen sie und wühlen und üben den Griff, mit dem sich einst das Kind an der haarigen Brust der Mutter festhielt, wenn diese vor Schrecknissen, die wir nur erahnen können, durch die Baumwipfel floh. Gegen Ende der Schwangerschaft verschwindet die Lanugo spurlos, und an ihre Stelle tritt der kurze, zarte, goldene Flaum, mit dem jedes Menschenkind geboren wird.

Unsere Zeit im Uterus ist jedoch nicht ausschließlich dem Wachstum gewidmet. Auch der Tod ist bereits gegenwärtig. Die Zellen des Embryos teilen sich und wachsen und gruppieren sich zu sinnvollen Anordnungen, aber einige davon sind vorübergehender Natur – organische Gespenster, die auf der Suche nach dem richtigen Schema die evolutionären Erinnerungen durcheilen. Kiemen, Schwanz und eine dichte Körperbehaarung dienen keinem praktischen Zweck mehr und müssen daher wieder aufgelöst werden. Teile von uns beginnen, lange bevor wir geboren werden, schon wieder zu sterben. Zellen und Gewebe ersetzen einander in einem ständigen dynamischen Prozeß, und Leben und Tod hängen so sehr voneinander ab, daß sie beinahe nicht zu unterscheiden sind. Der Tod ist ein wesentlicher Bestandteil auch des jüngsten Lebens, und dennoch ist er etwas so Unaussprechliches geworden, daß er in den Registern der Elementarlehrbücher der Biologie nicht einmal erwähnt wird.

Man bitte die Biologen um eine Definition des Todes, und man wird von den meisten zu hören bekommen, er sei eine »Abwesenheit des Lebens«. Man bitte um eine Definition des Lebens, und man wird beinahe ebensoviele Antworten bekommen, wie es Biologen gibt, aber ungeachtet der Tatsache, daß das Leben aus unbelebter Materie entstand, werden nur wenige der Beschreibungen in die negativen Ausdrücke gekleidet sein, die man für den Tod anwendet. Das ist an sich seltsam, denn im Kosmos ist der Tod der Gleichgewichtszustand, der natürliche Zustand, zu dem alles Leben hinstrebt, wenn von außen nichts zugefügt wird, um es zu erhalten. Das Leben ist ganz treffend als die »adhäsive Eigenschaft« beschrieben worden, und logisch betrachtet ist es der Zustand, der es verdient, negativ als »eine Abwesenheit des Todes« definiert zu werden.

Wir haben eine Neigung, einen Hang zum Leben. Im evolutionären Sinne ist dieses Vorurteil gut und nützlich, denn es hat einen Überlebenswert, aber es hilft uns nicht, die komplizierte Beziehung zu verstehen, die zwischen Leben und Tod besteht. Es erschwert die objektive Betrachtung des Todes. Ein Psychologe schreibt, seine Studien des Todesphänomens hätten allzu oft mit der Einsicht geendet, daß er »lediglich einen Geist beobachtete, der im Dunkeln umherhuschte« (141).

Die beste Methode, dem Tod wissenschaftlich beizukommen, besteht vielleicht darin, mit Hilfe der Biologie – d.h. der Wissenschaft vom Leben, was wir nicht vergessen wollen – das Leben in seiner einfachsten Form zu studieren, es dort zu betrachten, wo seine Existenz noch zweifelhaft ist, wo es noch wenig gibt, was das Belebte vom Unbelebten unterscheidet.

Den Molekularbiologen stehen heute immer raffiniertere Sehhilfen zur Verfügung, und mit der immer stärkeren Vergrößerung wird nach und nach klar, daß es keine scharfe Grenze zwischen belebter und unbelebter Materie gibt. Wir erkennen den Aufbau und das Verhalten der Moleküle, und es hat den Anschein, als könnte man lebende Organismen am besten beschreiben, indem man sagt, sie seien unbelebte Materie, die auf eine besondere, andere Weise organisiert wurde. Auf diese Andersartigkeit beginnen sich die Untersuchungen zu konzentrieren, und sie zeigen, daß es sich weitgehend um einen graduellen Unterschied handelt. Alle theoretisch möglichen Organisationsstadien zwischen dem, was wir als »tot« betrachten, und dem, was wir als »lebendig« definieren, sind in der Natur tatsächlich vorhanden, und es ist unmöglich, irgendwo in diesem Spektrum eine Linie zu ziehen und zu sagen: Hier beginnt das Leben.

Das Material, in dem das Leben Gestalt annimmt, ist die organische Materie. Sie besteht aus Kohlenstoffverbindungen. Unter all den rund hundert Elementen, die wir heute kennen, nimmt der Kohlenstoff insofern eine Sonderstellung ein, als er mit sich selbst Verbindungen eingehen und sehr große Konglomerate von Tausenden von Atomen, sogenannte Makromoleküle, bilden kann. Die häufigsten sind die Proteine, die ungefähr die Hälfte der Trockensubstanz jedes lebenden Organismus ausmachen. Der Mensch vereint in seinem Körper über 100000 verschiedene Proteine, aber er ist in dieser Hinsicht nichts Besonderes. Die Proteine bilden den Grundstoff allen Lebens. In Organismen, die so verschieden sind wie »Kohlköpfe und Könige«, vereinigen sich beinahe gleiche Proteine, um die Geschwindigkeit der chemischen Reaktionen und alle Wachstumsprozesse zu regeln, und alle diese Proteine werden gleichsam unter den wachsamen Blicken einer kleinen Gruppe von miteinander verwandten Makromolekülen gebildet, die den Organisationsplan von einer Generation zur nächsten weitergeben. Alle lebenden Dinge, so unterschiedlich sie auch aussehen und sich verhalten mögen, sind auf einer elementaren Ebene gleich. Sie entstanden auf die gleiche Weise, und ihre selbständige Existenz und ihre Reproduktion hängen von den gleichen chemischen Vorgängen ab.

Für alles Lebendige gilt außerdem ein begrenzender Faktor. Die genannten elementaren Vorgänge erfordern eine große Anzahl von Riesenmolekülen, und sie alle müssen in demselben Behälter untergebracht werden. Es ist daher ein gewisser Mindestraum erforderlich, und diese untere Grenze der physischen Größe aller selbständigen lebenden Organismen wurde mit etwa 5000 Ångström-Einheiten errechnet [11]. Das bedeutet, daß 20000 solcher Gebilde nebeneinander auf der Breite eines Fingernagels Platz fänden. Diese Begrenzung bedeutet nun, daß wir den Tod zunächst einmal als etwas definieren können, was kleiner als 5000 Ångström-Einheiten ist, aber in den unteren Regionen des Tod-Leben-Kontinuums schwebt im Ungewissen eine ganze Reihe von Wesenheiten, die nur die Hälfte oder gar nur ein Fünftel dieser kritischen Größe erreichen und dennoch viele der Charakteristika des Lebens aufweisen. Diese lästigen Nonkonformisten sind die Viren, und in ihnen finden wir einige wichtige Anhaltspunkte für eine realistische Einschätzung des Todes.

Viren reproduzieren sich selbst, aber um dazu imstande zu sein, müssen sie ihr chemisches Defizit ausgleichen, indem sie in die Zellen konventioneller Organismen eindringen. Dort übernehmen sie die Aufsicht über die biologischen Montagebänder und lassen diese nicht die üblichen Substanzen der Wirtszelle produzieren, sondern neue Viren. Man hat argumentiert, diese Abhängigkeit von anderem Leben bedeute, daß kein Virus als selbständiger lebender Organismus betrachtet werden könne, aber mit Ausnahme der grünen Pflanzen gibt es nur wenige Lebewesen, die sich nicht direkt von anderen Lebensformen ernähren. Mit dieser Begründung können die Viren also nicht disqualifiziert werden.

In bezug auf die Fähigkeit, sich überhaupt und unter allen Umständen zu vermehren, sind die Viren sogar lebensähnlicher als unsere roten Blutkörperchen. In einem Tropfen Blut, wie er nach einem Nadelstich hervorquillt, wimmeln fünf Millionen Zellen, die Hämoglobin enthalten und Sauerstoff aus den Lungen in den übrigen Körper befördern, aber sie haben im Laufe ihrer Entwicklung ihre Kerne verloren und sind daher völlig außerstande, sich zu vermehren. Das bedeutet nicht, daß sie tot sind. Maultiere und unfruchtbare Menschen sind nicht zum Tode verurteilt, weil sie sich nicht fortpflanzen können. Es gibt offensichtlich verschiedene Grade des Totseins, und die roten Blutkörperchen sind unserer Ansicht nach mehr lebendig als tot wegen ihrer komplexen inneren Integration. Sie sind auf jene bewußte »besondere und andere Weise« organisiert.

Im Jahre 1953 entdeckte Wendell Stanley im Rockefeller Institut in New York, daß es möglich ist, den Saft infizierter Tabakpflanzen zu konzentrieren und das Tabakmosaikvirus, das heißt den Erreger der Mosaikkrankheit des Tabaks, in kristalliner Form zu isolieren [12]. Die Kristalle dieses Virus sind lang und dünn, und sie lassen sich von den Kristallen rein chemischer Verbindungen nicht unterscheiden. Man kann sie pulverisieren und in einem Glasröhrchen aufbewahren wie jede andere inaktive organische Substanz, also etwa wie Staubzucker. Sowohl die Viren als auch die Zuckerkristalle kann man danach wieder wachsen lassen. Wird dieses Viruspulver Tabakpflanzen eingeimpft, so löst es sich augenblicklich und beginnt die Zellen der Blätter anzugreifen und neue Viren zu produzieren. Das Zuckerpulver erfordert dagegen eine andere Behandlung. Eine konzentrierte Zuckerlösung muß hergestellt und auf eine bestimmte Temperatur gebracht werden. Dann muß die Lösung entweder mit einem Zuckerkristall »besät« oder so lange sich selbst überlassen werden, bis sich Moleküle zu einer Struktur mit der richtigen Form zusammenschließen. Diese Struktur wächst und spaltet sich, so daß zwei gleiche Kristalle entstehen. In beiden Fällen hat eine Reproduktion stattgefunden, aber hinsichtlich ihres Zustandekommens besteht ein wesentlicher Unterschied.

Die meisten organischen Stoffe bilden nicht leicht Kristalle, aber sie sind dazu in einer reinen, konzentrierten Lösung imstande. Ein Kristall kann in der Regel nur aus gleichen Molekülen gebildet werden (daher die Notwendigkeit der Reinheit), die einander anziehen und sich so zusammenschließen, daß ein regelmäßiges, auf Wiederholung beruhendes Muster entsteht. So wurden zunächst einmal sowohl die Viren als auch die Zuckerkristalle gebildet. Wenn die Kristalle aber pulverisiert und somit zerstört wurden, kann der Zucker nur in den kristallinen Zustand zurückgeführt werden, indem man ihn auflöst und dann durch Anwendung von Wärme zur kritischen Konzentration bringt. Nach Beendigung des Prozesses ist nicht mehr vorhanden als die ursprüngliche Zuckermenge. Wenn sich aber das Viruspulver in einer Wirtszelle auflöst, löst es eine biochemische Reaktion aus, die nicht nur Wärme abgibt, sondern auch zu einer enormen Vervielfachung des Virenmaterials führt.

Der Zucker ist an einer geschlossenen, thermostatischen chemischen Reaktion beteiligt. Das Virus leitet einen offenen thermodynamischen Prozeß ein, in dessen Verlauf es zu einem Austausch von Materie mit der Umgebung kommt. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen lebenden Organismen und unbelebter organischer Materie. Beide gehorchen den gleichen fundamentalen physikalisch-chemischen Gesetzen, aber in der Art und Weise der Anwendung dieser Gesetze unterscheiden sie sich beträchtlich. Lebendige Materie ist so organisiert, daß sie Energie aus ihrer Umgebung zieht, um ihre Ordnung aufrechtzuerhalten. Unbelebte Materie verliert dagegen einfach ihre Organisation.

Wenn Sie meinen, das Thema Kristalle habe doch mit der Biologie und unserer Frage nach Leben und Tod nichts zu tun, so betrachten Sie Ihren Handrücken. Die Hautzellen an der Oberfläche sind lauter durchsichtige Kristalle, die durch dünne Ölschichten miteinander verbunden sind. Diese Zellen sind hart und mit Keratin gefüllt und den meisten Definitionen zufolge tot. Sehr bald werden sie abgestreift werden und verschwinden wie die übrigen 500 Milliarden Zellen, die wir täglich verlieren, aber solange sie dauern, liegen sie über der Oberfläche unseres Körpers wie eine Plastikrüstung, die dazu dient, die tieferliegenden zarten Gewebe zu schützen. Wirklich lebende Zellen überstehen die Berührung mit der Luft nicht, aber die schützenden kristallischen Zellen werden nicht dadurch getötet, daß sie von den nachwachsenden Ersatzzellen nach außen gedrängt werden. Sie begehen vielmehr Selbstmord. Schon lange bevor sie nach außen und an die Luft geraten, beginnen sie fibröses Keratin zu bilden, bis die ganze Zelle von dieser hornigen Substanz ausgefüllt ist. Technisch gesehen, sind diese Zellen tot. Sie können sich ganz gewiß nicht mehr vermehren, aber ebenso gewiß ist, daß sie aus Materie bestehen, die hochorganisiert ist und sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort vereinigt hat.

Sind diese Hautzellen tot? Wenn ja, sind unsere Körper buchstäblich mit dem Tod bedeckt. Nicht eine lebende Zelle ist zu sehen, und dennoch bestehen unsere Freunde, die nichts als Tod sehen, darauf, uns für lebendig zu halten. Lassen wir ihnen die Wohltat des Zweifels, denn es wird nun klar, daß der Tod in verschiedenen Graden auftritt. Es hat den Anschein, als müßte die Definition der lebenden. Materie, die der Wirklichkeit am nächsten kommt, eine sein, die sich auf eine Kombination von Leben und Tod stützt. Was jedenfalls das Verhalten der Viren über jeden Zweifel hinaus zeigt, ist, daß die alten polaren Definitionen völlig unzulänglich sind.

Das Leben hängt vom Tode ab. Wir verdanken unser Leben nicht nur den Zellen, die eine Barriere zwischen uns und der Außenwelt errichten, sondern auch den Armeen anderer Zellen, die ständig in inneren Kämpfen ihr Leben zum größeren Ruhme des ganzen Organismus verlieren.

Auf je tausend rote Zellen in unserem Blut kommt eine etwas größere und durchsichtigere mit einem Kern. Diese weiße Zelle kann sich bewegen wie ein Amöbe und kriecht mit anderen ihrer Art an den Wänden der Blutgefäße entlang, anstatt sich mitten in der Plasmaströmung treiben zu lassen, welche die roten Zellen an ihre vorbestimmten Orte bringt. Die weißen Zellen benutzen den Blutstrom nur als Transportmittel und dringen durch die Wände der Kapillargefäße zu jedem beliebigen Punkt in dem umgebenden Gewebe vor, wo sie gebraucht werden. Sie sind jederzeit einsatzbereit. Sie versammeln sich rasch, wo eine Entzündung oder Verletzung entstanden ist, stürzen sich auf eindringende Bakterien und nehmen sie gefangen, indem sie sie vollständig einschließen. Bis zu zwanzig Bakterien können von einer einzigen Zelle umschlossen und verdaut werden, aber der Kampf ist keineswegs einseitig. Die weißen Blutkörperchen erliegen oft der Wirkung der von den Bakterien ausgeschiedenen Giftstoffe, und der Eiter, der auf dem Schauplatz des Konflikts in Erscheinung tritt, ist nichts anderes als eine Ansammlung toter weißer Blutkörperchen. Unser Körper braucht diese allesfressenden Krieger, die nicht nur die ständige Bakteriendrohung abwehren, sondern auch Schmutzpartikeln in den Lungen absorbieren, Splitter auflösen und überhaupt alles dem Organismus Fremde angreifen. Eine zu geringe Anzahl weißer Blutkörperchen hat katastrophale Folgen, aber die Demokratie des Organismus kann ebenso auch bedroht sein, wenn diese Armee zu groß wird. Eine Überproduktion weißer Zellen führt zur Leukämie.

Unter normalen Umständen herrscht Gleichgewicht. Der Körper vermeidet eine »Bevölkerungsexplosion«, die ihm schaden könnte, indem er neue Zellen mit derselben Geschwindigkeit produziert, mit der die alten sterben. Er braucht allerdings nicht zu warten, bis sie sterben, denn ihr Tod ist weitgehend vorausbestimmt. Jeden Tag sterben einige von uns, damit die anderen leben können. Die Todesfälle, die tatsächlich eintreten, gehen eindeutig nicht auf den Zufall oder irgendeinen wahllosen wettbewerbsmäßigen Prozeß zurück, bei dem es einfach um das Überleben des Tüchtigsten geht. Sie sind auf ein bestimmtes Ziel gerichtet. Der Tod ist in das Leben einprogrammiert, und lebende Organismen können nur am Leben bleiben, wenn gewisse Teile von ihnen planmäßig sterben.

Zwei Embryologen in den Vereinigten Staaten demonstrierten diese Tatsache sehr überzeugend durch ein unlängst durchgeführtes Experiment mit Küken [13]. Sie wiesen nach, daß die Flügel der Hühner nie ihre Funktionsfähigkeit erlangen können, wenn nicht bestimmte mesodermale Zellen am Flügelansatz des Embryos zum richtigen Zeitpunkt absterben und es damit anderen ermöglichen, sich zu einer Flugmuskulatur zu entwickeln. Der Tod dieser Zellen ist ein wesentlicher Bestandteil des Wachstumsprogramms aller flugfähigen Vögel. Eine ähnliche planmäßige Tötung findet bei der Entwicklung des Frosches statt. Die Kaulquappen leben im Wasser und ernähren sich zunächst von Wasserpflanzen. Sie bewegen sich durch das Schlängeln eines langen, muskulösen Schwanzes. Im Laufe ihrer weiteren Entwicklung nehmen sie Schnecken und Würmer in ihre Ernährung auf, und allmählich nähern sie sich mehr und mehr dem Ufer, wo ihnen als Nahrung eine größere Anzahl von Insekten zur Verfügung steht. Beine erscheinen, und wenn sie ungefähr vierzehn Wochen alt geworden sind, gehen sie auf das trockene Land, wo ihnen der Schwanz nur noch hinderlich sein würde. In diesem Entwicklungsstadium verschwindet der Schwanz allmählich: er wird von innen her verdaut durch besondere bewegliche Zellen, die sich nicht anders verhalten als die Bakterien angreifenden weißen Blutkörperchen. Der einzige Unterschied besteht darin, daß sie Kannibalen sind. Das Leben schreitet also fort, indem es sich selbst tötet.

Diese Beispiele zeigen, wie der Tod innerhalb eines einzelnen Organismus das Leben fördert. Ein viel bekannterer Vorgang ist die Aufrechterhaltung eines nötigen Gleichgewichts durch den Tod, der ein schrankenloses Bevölkerungswachstum verhindert. Gäbe es den Tod nicht, würden diejenigen, die sich am schnellsten vermehren, die Welt beherrschen. Eine einzige unsichtbare kleine Bakterie könnte in wenigen Stunden eine Masse produzieren, die dem Körpergewicht eines Mannes entspräche – und jede Unze Erdboden enthält hundert Millionen solcher potentieller Patriarchen. In weniger als zwei Tagen würde die ganze Erdoberfläche mit großen übelriechenden Dünen hübsch bunter Bakterien bedeckt sein. Ebenso unbehindert, könnte ein Protozoon dasselbe Ziel in vierzig Tagen erreichen; eine Stubenfliege würde vier Jahre brauchen, eine Ratte acht Jahre, eine Kleepflanze elf Jahre, und ungefähr ein Jahrhundert würde es dauern, bis uns die Elefanten überwältigten [14].

Zum Glück reguliert sich das Bevölkerungswachstum selbst. In dem klassischen Fall der botanischen Fortpflanzung breitet sich eine Pionierpflanze, die in Böden mit niedrigem Stickstoffgehalt gedeiht, in offenem Gelände aus. Sie wächst dort üppig weiter, führt damit dem Boden Stickstoff zu und zerstört so durch ihren eigenen Erfolg die Voraussetzungen, die eben diesen Erfolg ermöglichten. Bei Arten, die diese Selbstregulierung nicht kennen, sorgen Feinde für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts.

Das Leben ernährt sich vom Leben, und so entsteht eine zyklische Wirkung, bei der die Atome, die ein bestimmtes Stück lebender Materie bilden, unaufhörlich von einer Lebensform zur anderen weiterwandern. Grünpflanzen produzieren Leben aus dem Boden, dem Wasser und der Sonnenenergie. Sie entnehmen ihre Rohmaterialien direkt der unbelebten Materie; aber dann wird die Pflanze von einer Raupe gefressen, die von einem vorüberfliegenden Spatzen aufgepickt wird, der seinerseits wieder die Beute eines Habichts wird; der Habicht wiederum erfriert und wird von Aaskäfern gefressen … und so weiter. Sobald sie einmal in das Netzwerk der lebenden Materie geraten, sind die Atome durch eine Art von organischer Schwungkraft gefangen, die sie – vielleicht jahrhundertelang – durch zahllose Lebenszyklen treibt. Es sieht geradeso aus, als könnte das Leben der unbelebten Materie durch die bloße Berührung irgendeine mystische Eigenschaft verleihen und als würde die Materie, sobald sie einmal in eine Zelle aufgenommen wurde, in einer Weise verändert, die ihre neuerliche Aufnahme in lebende Organismen wahrscheinlicher werden läßt. Wir werden noch sehen, daß es sogar möglich sein wird, diese Veränderung zu messen.

Der Biophysiker Joseph Hoffman nennt diesen kontinuierlichen Prozeß den »atomaren Strudel des Lebens«, und er weist darauf hin, daß wir nur wenige Nahrungsstoffe verzehren, die nicht kurz zuvor noch Teil eines anderen lebenden Wesens waren. Und daß das Wachstum der Pflanzen durch das Vorhandensein ehedem lebendigen Materials gefördert wird, selbst wenn dieses (wie im Falle von Holzasche) verbrannt wurde, seitdem es zum letztenmal lebendig war [15]. Die Veränderung, die das Leben in der Materie bewirkt, ist eindeutig nicht nur eine chemische.

Wieder einmal müssen wir uns mit der Vorstellung vertraut machen, daß es verschiedene Grade des Todes oder des Totseins gibt. Die Überreste lebender Organismen enthalten noch Lebensspuren und sollten vielleicht als Teile des Lebens betrachtet werden. Jedes einzelne Stückchen organischen Materials, das man heute auf der Erdoberfläche findet, wurde vom Leben gebildet, und viele Fragmente scheinen noch Spuren dieser Erfahrung an sich zu tragen. Humus ist nach allen herkömmlichen Anschauungen tot, und dennoch unterscheidet er sich beträchtlich von dem Gestein, auf dem er liegt. Hoffman meint, daß »lebende Dinge mehr wissen, als sie sagen können«, und daß ein Baum seine Samen »in dem Glauben« ausstreut, daß etwas anderes sie aufnehmen wird als nur unfruchtbarer Fels. Im Lichte dessen, was wir heute über die Beziehungen zwischen isolierten Pflanzen und anderer belebter Materie wissen, fällt es schwer, ihm nicht zuzustimmen, wenn er sagt, das Netz des Lebens sollte so weit ausgespannt werden, daß es auch alles mit erfaßt, was erst seit kurzem »tot« ist.

Auf der Grenzebene zwischen organischer und anorganischer Materie bewegen sich die höchst vielseitigen Bakterien. Im Gegensatz zu den anomalen Viren schlagen diese Organismen tatsächlich eine Brücke zwischen belebter und unbelebter Materie. Die Bakterien sind zweifellos lebendig, und obwohl sie am besten in einer warmen, feuchten Umgebung gedeihen, kommen sie in den unterschiedlichsten Milieus vor. Viele können ohne Sauerstoff existieren, manche können in Wasser leben, das beinahe den Siedepunkt erreicht, und die meisten überleben beliebig lange bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Einige sind photosynthetisch und beziehen ihre Energie wie Pflanzen direkt aus dem Sonnenlicht, aber die anderen brauchen organische Nahrung. Um diese zu bekommen, fördern sie den Verwesungsprozeß, in dessen Verlauf komplexe organische Verbindungen in einfachere anorganische Chemikalien zerlegt werden. Die Bakterie nimmt, was sie braucht, und überläßt das Übrige der Natur. Viele dieser Produkte kommen frei nicht vor, und wenn die Bakterien sie nicht verfügbar machten, wären sie für alle Zeiten in für andere Lebewesen unzugängliche Formen eingeschlossen, und alles Leben würde bald verlöschen.

Die Bakterien selbst scheinen praktisch unsterblich zu sein. Sobald sie ihre optimale Größe erreicht haben, wofür sie nur zwanzig Minuten brauchen, teilen sie sich einfach, und zwei neue Bakterien fressen und wachsen und teilen sich ihrerseits. Unter idealen Bedingungen, das heißt wenn keine durch Viren oder weiße Blutkörperchen getötet würde, brauchte keine Bakterie jemals zu sterben. Eine Bakterie geht nicht an Altersschwäche ein, und sofern sie nicht regelrecht zerstört wird, gibt es auch keine Leiche. Für die einfachsten, in einer einzigen Zelle eingeschlossenen Ansammlungen von Materie ist der Tod daher ein bedeutungsloser Begriff. Die Evolution scheint mit einem einzigen raschen Schritt von der völlig toten anorganischen Materie zum ewigen, sich selbst reproduzierenden Leben weitergeschritten zu sein. Die komplizierte flexible Beziehung zwischen Leben und Tod ist offenbar eine Verfeinerung, die aus irgendeinem Grunde später eingeführt wurde.

Die meisten einfachen, einzelligen Organismen vermehren sich wie die Bakterien durch eine Zweiteilung, bei der sich eine Mutterzelle in zwei Tochterzellen spaltet, deren jede ungefähr die Hälfte des Ausgangsmaterials enthält. Wenn die Zelle einen Kern hat, teilt sich dieser zuerst, so daß jede Tochterzelle einen gleichen Anteil von dem Erbmaterial des Organismus erhält. Enthält eine Zelle unpaarige Gebilde wie, zum Beispiel, den Schlund beim Pantoffeltierchen (Paramaecium), so erhält eine der Tochterzellen diesen Teil und die andere muß ihn nach den in ihrem Anteil des Zellkerns enthaltenen Instruktionen selbst bilden. Parasitäre Protozoen wie die Plasmodien, die in der Körperflüssigkeit ihrer Wirte leben, sind vor den Härten der äußeren Umwelt geschützt und auf allen Seiten von einer Fülle von Nahrung umgeben, die sie nur durch die Zellwände aufzunehmen brauchen. Unter diesen idealen Bedingungen geht die Vermehrung sehr rasch vor sich. Die Zweiteilung ist diesen Organismen zu langsam, und sie haben sich daher auf eine vielfache Teilung verlegt, bei der sich der Kern rasch in eine große Anzahl von Teilen spaltet, deren jeder von einem winzigen Stück Protoplasma umgeben wird und wieder eine eigene Zelle bildet. Der Schock dieser plötzlichen Vermehrung und das gleichzeitige Auftreten von Milliarden winziger Parasiten in unserem Blutstrom sind es, die das Malariafieber auslösen. Indem sie ihre Masse auf solche Weise teilen, genießen Pantoffeltierchen und Plasmodien die gleiche Art von Fortdauer ohne Tod wie die Bakterien.

Auf den höheren Sprossen der Evolutionsleiter gibt es noch viele andere Unsterbliche. Ein kleines Hohltierchen trägt den Namen des sagenhaften Ungeheuers Hydra, weil es die Fähigkeit besitzt, einen neuen Kopf wachsen oder völlig neue Individuen aus der Seite seines Körpers sprießen zu lassen. Die Planarie, ein Süßwasserplattwurm, kann zwei oder mehr neue Würmer bilden, wenn sie auf eine Weise, die für andere Arten tödlich wäre, in Stücke geschnitten wird. Ein Arm, der einem Seestern abgetrennt wird, läßt bald die vier fehlenden Arme nachwachsen und geht seine eigenen Wege. Eine Reproduktion dieser Art ist für jeden Organismus nützlich, wenn rasche Vermehrung nötig oder vorteilhaft ist, aber sie hat auch einen Nachteil: Alle Tochterzellen, beziehungsweise alle neuen Sprosse sind genaue Abbilder der Eltern. Das ist gut, solange sich die Bedingungen nicht ändern, aber in unserem dynamischen System sind Organismen begünstigt, die sich ändern und dadurch mit den Umweltveränderungen Schritt halten können.

Das Leben löste dieses Problem durch das Geschlecht. Während sich die meisten Bakterien noch teilten, begannen einige mit einem direkten Austausch des Erbguts zwischen unversehrten Individuen zu experimentieren. Im Jahre 1947 wies Joshua Lederberg von der Columbia University nach, daß der gewöhnliche Dickdarmbazillus Escherichia coli, von dem jeder von uns Millionen mit sich herumträgt, manchmal in zwei Formen auftritt, die elementare männliche und weibliche Merkmale besitzen [16]. Manchmal nähert sich eine längliche männliche Zelle einer der plumperen, runderen vom weiblichen Typ und streckt einen kurzen Schlauch aus, der die Zellwand des Weibchens durchbohrt und genetisches Material injiziert. Dieser Übertragungsvorgang dauert ungefähr zwei Stunden; das bedeutet, daß die Paarung bei Bakterien sechsmal so lange dauern kann wie eine ungeschlechtliche Generation. Eine angenehme Methode, das Leben zu verlängern.

Der Wert der Übertragung liegt darin, daß Zellen, die später von der weiblichen Bakterie produziert werden, eine Mischung aus männlichen und weiblichen Merkmalen besitzen. Zum erstenmal in der Evolution haben die Nachkommen zwei Eltern, und sie unterscheiden sich von beiden. Die Vorteile dieser Entwicklung im Hinblick auf die Anpassungsfähigkeit sind beträchtlich, und von dieser Stufe an spielte die geschlechtliche Fortpflanzung eine immer wichtigere Rolle im Leben aller Organismen. Eine Zeitlang existierte sie neben den ungeschlechtlichen Techniken der Teilung und Sprossung, wobei geschlechtliche und ungeschlechtliche Generationen einander ablösten, aber zuletzt übertrafen die Vorteile der geschlechtlichen Fortpflanzung die aller anderen Methoden, und rein geschlechtliche Organismen entwickelten sich.

Das bedeutet, daß sie entweder männlich oder weiblich waren und sich nur in der Weise vermehren konnten, daß sie kleine Teile ihres Körpers zu einer Vereinigung beisteuerten, aus der neue Individuen hervorgingen. Zum erstenmal waren Organismen echte Individuen mit einem begrenzten Lebenszyklus. Sie wurden geboren, wuchsen, reiften und pflanzten sich fort, aber im Gegensatz zu den Bakterien, die sich teilten und einfach wieder von vorn anfingen, alterten sie und starben. Der Preis, den wir für das Geschlecht zu zahlen haben, ist der Tod.

Als einen gewissen Ausgleich für den Verlust der Unsterblichkeit gewannen die Organismen Individualität. Waren sie bis dahin nur Übergangsphasen in einem endlosen Prozeß gewesen, so wurden sie nun eigene Wesen mit einem einzigartigen Charakter. Während man von Bakterien lediglich sagen konnte, daß ein Prozeß unterbrochen wurde, wenn sie zerstört wurden, kann dasselbe Ereignis in der Insektenwelt so beschrieben werden, daß man beispielsweise sagt, eine Heuschrecke sei gestorben. Sobald es Individuen gibt, wird es möglich, von der allgemeinen Feststellung, daß der Tod eingetreten sei, zu der genauen Aussage überzugehen, wer gestorben ist. Aber schon ergibt sich ein neues Problem. Wir stellten fest, daß ein Organismus noch lebte, obwohl einige der ihn bildenden Zellen tot waren. Wir sagten sogar, daß die toten Zellen als noch lebendig betrachtet werden könnten, weil sie noch eine Rolle für das Überleben des ganzen Organismus spielten. Wenn Individuen einer eng verbundenen Gesellschaft angehören, können sie unter demselben Gesichtspunkt betrachtet werden.

Der Zoologe Claiborne Jones verweist darauf, daß es ebenso schwer ist, ein Individuum zufriedenstellend zu definieren wie eine ganze Spezies, und er meint, daß beispielsweise die Honigbiene gar kein Organismus sei, sondern ein rein künstlicher menschlicher Begriff [17]. Der Bienenstock als Ganzer sei vielmehr ein einziger Organismus. Wenn das zutrifft – ist dann eine Arbeitsbiene, die getötet wurde, gestorben, oder ist lediglich ein entbehrlicher Teil des Stocks verlorengegangen? Es gibt ausreichende Gründe dafür, den Bienenstock und den Termitenbau als eigene Organismen zu betrachten. Die einzelnen Arbeitsbienen oder Termiten sind unfruchtbar und ebensowenig imstande, sich fortzupflanzen, wie rote Blutkörperchen. Sie üben sogar eine ähnliche Trägerfunktion aus und haben ebensowenig eine Chance, als Individuen zu überleben, wie ein isoliertes Blutkörperchen. Wer besitzt also eine individuelle Identität – die Biene oder der Stock? Wenn der Stock der Organismus ist, hängt dann sein Leben von der Zahl der überlebenden arbeitenden Komponenten ab? Wie viele Bienen kann man wegnehmen, bevor man von dem Stock behaupten darf, er sei gestorben? Es scheint, daß die Antwort auf diese Probleme dieselbe ist, die auch für die Zellen in einem Körper gilt – nämlich daß Leben und Tod Seite an Seite existieren und daß eine Definition des einen oder anderen, wenn sie sinnvoll sein soll, beide mit einschließen muß.

Die Möglichkeit sozialer Organismen und Gruppenidentitäten wirft noch eine weitere Frage auf. Nehmen wir an, irgendeine von außen wirkende Kraft zerstört den Stock, ohne eine einzige Biene zu töten; sie zerstreut die Insekten nur in der ganzen weiteren Umgebung. Der Stock ist verschwunden, aber ist der Organismus tot? Wenn nicht – was geschieht, wenn die Bienen eingefangen und auf mehrere andere Stöcke verteilt werden? Wenn ein Wolf getötet und von anderen Wölfen gefressen wird, sagen wir, er sei tot, aber ist das richtig? Das Dilemma wird immer größer. Wo bleibt das Leben, wenn seine Bestandteile umgruppiert werden? Das ist nicht nur ein philosophisches Problem; seit es Organverpflanzungen gibt, ist es zu einer wesentlichen moralischen und juristischen Frage geworden.

Meeresschwämme bestehen aus Massen von Zellen, die eine als Ganzes funktionierende Gemeinschaft bilden und von den meisten Zoologen als Organismen betrachtet werden. Wenn man aber einen Schwamm zerschneidet und die Stücke durch ein Seidentuch quetscht, so daß alle Zellen voneinander getrennt werden, organisiert sich dieser formlose Brei bald wieder zu einem Schwamm. Ein sehr aufschlußreiches Experiment wurde mit dem roten Schwamm Microciona prolifera und dem gelben Schwefelschwamm Cliona celata angestellt (120). Je ein Exemplar wurde durch ein feines Sieb gedrückt. und die beiden Flüssigkeiten wurden gründlich vermengt. Nach Ablauf von vierundzwanzig Stunden hatten sich die roten und die gelben Zellen wieder organisiert und die ursprüngliche Schwammform gebildet. Als das Experiment begann, gab es zwei verschiedene lebendige Organismen, aber wer war in der vermischten »Suppe« lebendig, und wer war tot? Die Zellen lebten alle, aber in welchem Stadium können wir für jeden der beiden Organismen individuelles Leben annehmen? Und was fangen wir mit der seltsamen Tatsache an, daß zuletzt einige rote Zellen in den gelben Schwamm aufgenommen worden waren und sich offenbar ganz wohl fühlten?

Man kann natürlich argumentieren, daß Schwämme eher Zellenkolonien als regelrechte Organismen seien, aber Theodore Hauschka arbeitete mit einem Lebewesen, das unbestreitbar ein Organismus ist, nämlich mit einer Maus, und erzielte erstaunliche Ergebnisse (120). Er nahm einer Maus am 13. Tag der Trächtigkeit die Embryos und zermahlte sie so gründlich, daß er den Brei mit einer feinen Injektionsnadel aufziehen konnte. Diese Flüssigkeit spritzte er in die Bauchhöhlen unbefruchteter Mäuseweibchen desselben Stammes. Nach fünf Wochen konnte er feststellen, daß in den Bauchhöhlen aller dieser Tiere große koordinierte Massen von Knochen und Geweben wuchsen. Diese Massen glichen denen von etwa eine Woche alten Mäuseembryos. Die getrennten Zellen waren offensichtlich imstande, sich wieder zu vereinigen und weiterzuwachsen, so als wollten sie vollständige Tiere bilden. Aber was für Tiere? Mäuse offenbar. Aber was für Mäuse? Dieselben, die im ursprünglichen Uterus entstanden wären? Wenn nicht – was wurde aus diesen Mäusen? Sind sie tot?

Einer der Schlüssel zu dem ganzen Problem ist in dem Verhalten individueller Zellen zu suchen.

Viele verschiedene Arten von Zellen vermehren sich auch außerhalb des Körpers, wenn man ihnen die entsprechenden Bedingungen schafft. Diese Technik der Gewebekultur erfordert die richtige Temperatur und eine vielfältig zusammengesetzte Nährlösung, die bis zu hundert verschiedene Bestandteile enthalten kann. Die meisten Fachleute haben ihre eigenen kleinen Tricks, um eine Kultur in Gang zu bringen. Zellen aus dem Knochenmark oder von der Darmschleimhaut vermehren sich schon im Körperinnern reichlich, daher eignen sie sich besonders gut für Kulturen. Gute Kandidaten sind auch die Embryonalzellen, weil sie schon begonnen haben, schnell zu wachsen, und etwas von diesem Schwung in neue Situationen mitzunehmen scheinen.

In den letzten Jahren wurden isolierte Gewebe aus Zellen kultiviert, die man Enten, Kaninchen, Kühen, Schafen, Pferden, Mäusen, Ratten, Meerschweinchen, Affen und Menschen entnahm. Wenn die Zellen von einem Embryo stammen, gruppieren sie sich oft zu einem entsprechenden Gebilde, das heißt zu einem Knochen oder Muskel von der für ihre Spezies richtigen Form und Größe. Isolierte Pflanzenzellen können sogar dazu gebracht werden, vollständige neue Organismen zu bilden. Eine Gewebekultur, die mit einer einzigen, dem wachsenden Schößling einer Tabakpflanze entnommenen Zelle begann, entwickelte sich im Labor zu einer ganzen ausgewachsenen Pflanze mit Wurzeln, Blättern und Blüten. An sich besitzt jede Zelle in jedem Organismus diese Fähigkeit. In jedem Zellkern sind alle Instruktionen enthalten, die nötig sind, um eine voll funktionstüchtige Kombination von Zellen in der Form eines Individuums dieser Spezies zu produzieren. Noch hat man auf diese Weise kein Tier »herstellen« können, aber theoretisch ist nicht einzusehen, warum es nicht möglich sein sollte, Hunderte von neuen Individuen zu kultivieren, die alle dem ursprünglichen Spender der Zelle gleichen.

In der Praxis gibt es allerdings ein Hindernis, nämlich die sogenannte Hayflick-Grenze. L. Hayflick ist ein Fachmann für Gewebekulturen. Er arbeitet am Wistar-Institut in Philadelphia und entdeckte dort, daß sich eine Kultur aus menschlichen Embryonalzellen nur etwa fünfzig Generationen lang vermehrt [18]. Selbst unter den günstigsten Bedingungen kann die Kultur nicht weitergeführt werden – sie stirbt einfach. Hayflick meint, dies könne eine naturgegebene Grenze sein und auch im Körper wäre die Zelle nicht imstande, mehr zu leisten. Wenn wir zum Ausgangspunkt, das heißt zum befruchteten Ei, zurückgehen, können wir vielleicht zwanzig Generationen hinzufügen, und diese insgesamt siebzig Multiplikationen würden eine hinlänglich große Zahl ergeben, um jede Körperzelle zwanzigmillionenmal zu ersetzen. Das ist zwar mehr als genug für die Lebensspanne eines Menschen, aber im Augenblick gibt es noch keine Anhaltspunkte dafür, daß die Hayflick-Grenze auch für Zellen gilt, die sich an ihrem richtigen Platz befinden. Fest steht jedoch, daß Zellen in einer Kultur nach einer gewissen Periode isolierten Wachstums irgendeinen lebenswichtigen Faktor einbüßen. Wir werden noch sehen, daß dieser Faktor mittlerweile identifiziert wurde, und ich nehme an, daß es mit verbesserten Techniken möglich sein wird, diesen Faktor zu bewahren oder zu ersetzen und die Hayflick-Grenze zu überschreiten.

Das Faszinierendste an dieser Gewebeforschung ist die Entdeckung, was mit einer isolierten Kultur geschieht, wenn sie sich der vorerst noch gegebenen Grenze nähert. Zellen, die als deutlich erkennbare menschliche Körperzellen beginnen, verlieren nach und nach ihre Identität. Nachdem sie gezwungen wurden, sich immer wieder zu vermehren, ohne ein für ihre Art typisches Organ oder Gewebe bilden zu dürfen, scheinen die Zellen zu »vergessen«, wer sie sein sollen. Die Hayflick-Grenze ist für jede Spezies eine andere, aber alle Zellen, gleich aus welchem Organismus sie stammen, erleiden dasselbe Schicksal, wenn sie sich diesem Endpunkt nähern: sie scheinen das Gedächtnis zu verlieren. Nach einer entsprechend langen Kulturperiode sehen alle Zellen ungeachtet ihrer Herkunft gleich aus. Höchst verschiedene Einheiten, beispielsweise aus den Speicheldrüsen von Fruchtfliegen, aus den Eierstöcken von Schafen, aus dem Innenohr von Mäusen oder aus den Blütenblättern einer Blume gleiten ab in die Anonymität. Sie entwickeln sich zu amorphen schuppenartigen Zellen ohne besondere, eigene Form und ohne Hinweis auf ihre Herkunft oder Bestimmung. Sie werden zu dahinvegetierenden Idioten.

Diese anonymen, isolierten Zellen tragen noch ihre genetischen Blaupausen in sich, sie ernähren sich und wachsen, ihr Zytoplasma pulst und brodelt, und sie teilen sich programmgemäß, aber sie sind zu sich selbst kopierenden Automaten ohne besonderen Plan geworden. Sie haben ihre Identität und ihren Zweck verloren und sind völlig außerstande, das noch in ihren Chromosomen ruhende Potential auszuwerten. Die Pläne sind noch intakt, sie enthalten alle für das Leben nötigen Instruktionen, aber die Zellen haben das Lesen verlernt.

Diese schwachsinnigen Zellen scheinen zu einem Zustand zurückgekehrt zu sein, der dem der ersten je entstandenen lebenden Zellen ähnelt. Sie werden wieder so etwas wie der niedrigste gemeinsame Nenner, ein unspezialisierter Baustein, der zu allem taugen könnte; aber in der erschöpften Gewebekultur taugen sie zu nichts mehr, sie gehen einfach ein. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Zellen zu retten: man muß ihnen neue Instruktionen erteilen. Wenn »verbannte« menschliche Zellen mit einer Mischung ernährt werden, die Pferdeserum enthält, werden sie pferdeähnlicher und schlagen mit neuer Energie diese Richtung ein. Oder wenn in einer dieser Zellen eine Mutation stattfindet, beginnt eine neue Entwicklung, und die Kultur wächst über die alte Hayflick-Grenze hinaus weiter. Genau das geschieht, wenn eine Zelle verkrebst. Sie macht eine Mutation durch und empfängt nun andere Instruktionen als die Elternzellen, deren Anweisungen sie nicht mehr unterworfen ist. Das Gewebe nimmt eine neue Identität mit eigenen Grenzen an, die ihrerseits wieder durch weitere Veränderungen und Mutationen überschritten werden können.