Der Duft der Verführung - Lyall Watson - E-Book

Der Duft der Verführung E-Book

Lyall Watson

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Beschreibung

Warum entscheiden oft Sekunden darüber, dass wir manche Menschen unwiderstehlich finden und andere nicht riechen können? Warum erinnert uns der Duft eines bestimmten Parfums an eine verflossene Liebe? Und warum haben wir für manche Dinge buchstäblich den richtigen Riecher, eine Art »sechsten Sinn«? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Lyall Watson

Der Duft der Verführung

Das unbewusste Riechen und die Macht der Lockstoffe

Aus dem Englischen von Yvonne Badal

FISCHER Digital

Inhalt

Das Geheimnisvollste, das Allermenschlichste, [...]Direkt unter unserer NaseTeil Eins System in die Dinge bringenFragrantes1 · Die Geburt einer NaseHircinos2 · Warmes BlutAmbrosiacos3 · Im Duft-WebTeil Zwei Der duftende AffeTetros4 · EigengerücheNauseosos5 · Ekel erregende GerücheAromaticos6 · WohlgerücheTeil Drei Das AllermenschlichsteAlliaceos7 · Der sechste Sinn»Ich glaube, wir können [...]TaxonomieBibliographieRegister

Das Geheimnisvollste, das Allermenschlichste, ist Geruch …

COCO CHANEL

Direkt unter unserer Nase

Wir haben einen guten Riecher. Wir wittern Probleme, folgen und schlagen auf dem Weg zum Ziel oft Richtungen ein, die alles andere als nahe liegend sind. Trotzdem disqualifizieren wir hartnäckig unsere Riechfähigkeiten und tun verächtlich so, als sei die menschliche Nase nichts als ein Gebrauchsgegenstand.

Sicher, die meisten Tiere haben einen ausgeprägteren Geruchssinn. Hunde sind millionenfach geschickter im Erschnüffeln sozialer Fährten, Igel tausendmal besser gerüstet für das Aufspüren von Fressbarem. Doch sogar wir Menschen sind bemerkenswert gut im Wahrnehmen, Erkennen und Erinnern von Gerüchen, obwohl unsere olfaktorischen Zentren nur ein Tausendstel unserer Hirnkapazität in Anspruch nehmen.

Wir können allein am Geruch erkennen, wer mit uns verwandt ist oder in welchem Stadium des Menstruationszyklus sich unsere Frauen und Freundinnen befinden. Wir wittern Krankheiten und Gefahr und können zwischen frischer und verdorbener Nahrung unterscheiden. Wir wissen, was Rousseau meinte, als er schrieb, der Geruchssinn sei der Sinn unseres Erinnerns und Begehrens. Es ist uns bewusst, dass dies der sinnlichste all unserer Sinne ist, wie Diderot einmal sagte. Wir erkennen auch den Wahrheitsgehalt von Helen Kellers Behauptung, dass der Geruchssinn zwar der »gefallene Engel« unter unseren Sinnen, aber dafür ein mächtiger Hexenmeister sei, der uns in all den Jahren unserer Existenz über viele Tausende Kilometer sicher geleitet hat.

Woher also diese Ambivalenz? Irgendwas scheint uns entgangen zu sein. Und ich glaube auch zu wissen, was das ist: Wir übersehen, dass wir seit Urzeiten ein eigenartiges Körperteil besitzen, obwohl wir es sozusagen direkt vor unserer Nase haben. Die Naturwissenschaften kennen es seit 1811. Den Biologen ist es als Struktur im Gaumendach von Schlangen vertraut, mit der das Reptil Moleküle »schmeckt«, die von seiner ruckartig hervorschießenden Zunge eingesammelt wurden. Anatomen haben Entsprechendes auch in den Nasenhöhlen von Opossums, Ameisenbären, Fledermäusen, Katzen, Wildkaninchen und sogar Weißwalen gefunden. Doch obwohl dieses Körperteil vor über einem Jahrhundert auch beim Menschen entdeckt und beschrieben wurde, verschwand es auf mysteriöse Weise wieder aus den Lehrbüchern.

Bemerkungen über dieses Organ finden sich in medizinischen oder technischen Fachzeitschriften der vergleichenden Anatomie und olfaktorischen Physiologie, in denen es gewöhnlich als rudimentär bezeichnet wird, als anatomischer Geist, der für einen kurzen Moment im menschlichen Embryo erscheine und vor der Geburt längst wieder entschwunden sei. In Wirklichkeit aber bleibt es uns erhalten: 1991 wurde es bei einer Studie in fast allen Nasen von eintausend nach dem Zufallsprinzip ausgewählten erwachsenen Probanden gefunden.

Dieses schwer fassbare Gebilde heißt »Jacobson-Organ«, benannt nach einem scharfsichtigen dänischen Anatomen, der es vor beinahe zwei Jahrhunderten entdeckte. Es ist leicht zu übersehen. Sein wahrnehmbares Äußeres besteht aus nichts als einem winzigen Tüpfel auf jeder Seite der Nasenscheidewand, beim Menschen jeweils eineinhalb Zentimeter oberhalb des Nasenlochs. Und mit der Tatsache, dass es existiert, verändert sich alles. Denn damit haben wir die Möglichkeit, uns ein mächtiges und uraltes Erbe zurückzuerobern, einen chemischen Sinn, der uns Zugang zu einem unterschwelligen Signalsystem bietet, welches vielen anderen Lebewesen seit jeher die Tür zu einer Welt öffnete, die wir für uns verloren glaubten, seit wir die Betonung vom Riechen aufs Sehen verlagerten.

Dieses Jacobson-Organ rettet den am meisten unterschätzten all unserer Sinne vor dem Vergessen. Es dient nicht nur als eine Art Supercharger, der uns empfänglicher für Gerüche macht, sondern scheint vielmehr einen vom eigentlichen olfaktorischen System ganz unabhängigen Riechkanal anzubieten und eine viel ältere, urzeitlichere Hirnregion mit Daten zu füttern, nämlich den Teil des Gehirns, in dem Informationen von luftgetragenen Hormonen und noch viele andere verdeckte Informationsmuster verarbeitet werden. Und auf diese Weise führt es zu physiologischen Veränderungen mit tief greifenden Auswirkungen auf unser Bewusstsein, unsere emotionale Verfassung und unsere grundlegendsten Verhaltensweisen. Jüngsten Forschungen zufolge könnte es sich bei genau diesem System um den Mechanismus für unseren »sechsten Sinn« handeln, der für unsere manchmal so offensichtliche »übernatürliche« Fähigkeit verantwortlich ist, Informationen zu erwerben, die von den traditionellen fünf Sinnen kaum wahrgenommen werden könnten.

Wenn diese Annahme richtig ist, dann könnte das Jacobson-Organ der wichtigste Schlüssel seit der Entdeckung des Unbewussten sein, um den Schleier vor den Geheimnissen unseres Geistes zu lüften. Als Evolutionsbiologe und Anthropologe finde ich diese Möglichkeit natürlich enorm aufregend.

Aristoteles verknüpfte die vier Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser mit den vier Sinnen Sehen, Hören, Tasten und Schmecken. Doch er sprach auch noch von einem fünften Element – er nannte es »Quintessenz« –, das er für das wichtigste von allen hielt und mit dem Geruchssinn verband. Ihn stellte er ins Zentrum unseres Wahrnehmungsvermögens, weil er ihn als das Bindeglied zu allen anderen Sinnen sah. Seither war die Zahl Fünf in der Kultur des Abendlandes als Anzahl unserer Sinne etabliert. Ich will Aristoteles ganz und gar nicht widersprechen, doch ich denke, es ist an der Zeit, diesen von ihm beschriebenen fünften Sinn im Zentrum unseres Bewusstseins unter neuen Aspekten zu betrachten und dem Riechen, diesem Aschenbrödel unter unseren Sinnen, den Platz einzuräumen, der ihm gebührt.

 

Lyall Watson

Castlemehigan, Irland, im November 1998

Teil Eins System in die Dinge bringen

Die hochgestelltenZiffern verweisen aufdie Bibliographie

Riechen ist unser vergessener Sinn. Es gibt keine allgemein akzeptierten Messwerte seiner Eigenarten, keine Gesellschaft, die ihn angemessen würdigt, und keine Wörter, die ihn beschreiben, abgesehen von jenen, die wir uns von unserem alles beherrschenden Sehsinn borgen.

Riechen ist unser verführerischster und provokativster Sinn. Er bestimmt jeden Bereich unseres Lebens mit und stellt das mächtigste aller Verbindungsglieder zu unseren weit zurückliegenden Ursprüngen her. Doch dieser Sinn ist ebenso stumm, wie fast vollständige Sprachlosigkeit ihm gegenüber herrscht. Er trotzt allen Beschreibungen und Überprüfungen und fordert damit unsere Phantasie heraus. Dass er nicht völlig sprachlos geblieben ist, verdanken wir einigen wenigen aufopfernden Versuchen, an ihm festzuhalten. Und die begannen mit der Arbeit eines sehr auf Ordnung bedachten Schweden.

Carl von Linné (1707–1778) war der Große Indexator. Er hatte an der Universität von Uppsala Medizin studiert, obwohl sein Herz schon immer der Botanik gehörte. Seine Naturforschungen, die er mit einer Studie über alle Blütenpflanzen Lapplands begann, beendete er 1737 mit Hilfe eines revolutionären neuen Begriffsbestimmungsund Beschreibungsschemas für jede nur denkbare Spezies. Und während der folgenden zwanzig Jahre, bis zur Veröffentlichung seiner Systema naturae, in dem er alles verzeichnete, was ihm unter die Augen kam, erweiterte er seine Naturgeschichte derart, dass er damit ein für alle Mal unser Denken über die Welt um uns veränderte.114

Den Dingen einen Namen zu geben verleiht uns Macht über sie – die Macht, sie aus der Natur auszugliedern. Diese Separation ist zwar künstlich, aber außerordentlich nützlich, denn sie erlaubt es uns zum Beispiel, für einen Augenblick den Baum zu vergessen und uns stattdessen auf die Komposition und Koexistenz des Waldes zu konzentrieren. Namensgebung ist ein erster entscheidender Schritt, um die Ökologie zu begreifen. Linné wandte diese Kunst in seinem Eifer, die gesamte lebende Existenz zu katalogisieren, sogar auf die unfassbare Welt der Gerüche, Düfte und des Gestanks an. Es gibt, so entschied er, sieben Geruchshauptklassen, vom Wohlgeruch bis hin zum Gestank, von solchen, die »nicht nur unseren Nerven, sondern dem Leben im Allgemeinen freundlich gesonnen sind«, bis hin zu solchen, die »alles Lebendige abstoßen«.115

1752 veröffentlichte Linné sein Werk Odores medicamentorum. Im Verlauf der folgenden zweieinhalb Jahrhunderte gab es Dutzende Versuche, dieses System aus den Blickwinkeln der Psychologie, Chemie, Physiologie oder Riechstoffkunde weiterzuentwickeln. Einige dieser weiterführenden Untersuchungen erwiesen sich zwar für die Chemiker der Kosmetik- und Parfumindustrie von Nutzen, doch selbst die ausgeklügeltsten neuen Taxonomien sind letzten Endes nicht zufrieden stellend und widersprüchlich, da sie zum einen alle an der Zufälligkeit scheitern, die den meisten Gerüchen anhaftet, und zum anderen der Tatsache unterliegen, dass es jeder Sprache dieser Welt an einem spezifischen Vokabular für den Akt des Riechens mangelt.115

Es gibt weder semantische Traditionen noch kritische Forschungen über Ursprung und Funktion all der Begriffe, die Sprachen für die Beschreibung von Gerüchen verwenden. Und in keiner Kultur sind Lernprozesse feststellbar die unmittelbar vom Geruchssinn geprägt wären. So muss auch ich ständig, Geruch für Geruch, auf die Klassifikationen jenes Mannes zurückgreifen, den der Romancier John Fowles einmal »den großen Lagerverwalter der Natur« nannte.57 Sie sind in der Tat nicht nur hilfreich, sondern ergeben auch überraschend tief greifenden Sinn, folgt man dem Duftspiel der Fragrantes (wohlriechend), Hircinos (aufreizend), Ambrosiacos (verführerisch), Tetros (faulig), Nauseosos (Ekel erregend), Aromaticos (duftend) und Alliaceos (knoblauchartig).

 

Linné war sehr viel mehr als nur ein Ordnungsfanatiker. Er war ein meisterhafter Organisator, der Lebendiges in all seiner Unbändigkeit und Erscheinungsform sortierte und systematisierte. Mit seiner wunderbaren Intuition erfand er Namen und erschuf Muster, die im Prinzip bis heute ihre Gültigkeit behalten haben und dazu beitragen, Zusammenhänge und Verwandtschaften dort zu verdeutlichen, wo sie auf den ersten Blick niemand vermuten würde. Er bereicherte unsere Sicht mit Einsicht und ermöglichte uns spannende Einblicke in den Göttlichen Plan. Und nicht zu vergessen: Er war es auch, der unseren Platz in der Natur bestimmte und uns als sapient einordnete, also zu Lebewesen erklärte, die zwar nicht gerade weise, aber – angemessen bescheiden – »vernunftbegabt« sind und daher vielleicht einmal zur Weisheit gelangen könnten.

Für die Ongee auf den Andamanen, einer Inselgruppe im Bengalischen Meerbusen, ist der Geruchssinn nichts Eigenständiges, sondern ein fundamentales kosmisches Prinzip und Urquell jeder individuellen Identität. Ihm ist das Entstehen wie das Vergehen von Leben zu verdanken. Wenn die Ongee – oder auch die modernen Japaner – »ich« meinen, legen sie den Zeigefinger auf die Nasenspitze. Denn dort wohnt der Geist, und ist dieser zu groß oder klein, kann das zu Problemen führen. Gesund ist der Mensch, der seinen eigenen Geruch »gebändigt« hat, wohingegen der vollständige Verlust des Eigengeruchs zum Tode führen kann.29

Die Vorstellungen von Leben und Atmen, Seele und Geruch sind in vielen Kulturen untrennbar miteinander verwoben. Einige Mexikaner glauben noch heute, dass der Atemgeruch eines Mannes mehr zu seiner Zeugungsfähigkeit beiträgt als sein Samen. Und auf den Andamanen kommunizieren die Menschen sogar unmittelbar über Gerüche, eine Tradition, die sie »mineyalange« nennen, was wörtlich »sich erinnern« heißt.

Nichts prägt sich mehr ins Gedächtnis ein als Gerüche. Man kann fragen, wen man will, wer sich an das Haus seiner Kindheit oder an einen Jugendfreund erinnern soll, wird nur vage Details vor Augen haben. Doch der kleinste Hauch irgendeines vertrauten Dufts genügt und schon fließen die Erinnerungen, und zwar nicht peu ä peu, sondern als etwas Ganzheitliches mit allen Aspekten. Auf wundersame Weise tauchen sämtliche Gerüche der einstigen Erlebniswelt geradezu explosionsartig wieder auf, so wie Diane Ackerman einmal schrieb: »Eine komplexe Vision schießt aus dem Unterholz hervor.«1

Ganz genauso geschieht es. Vielleicht, weil der Geruchssinn der Einzige ist, den man nicht abstellen kann. Man kann die Augen schließen, sich die Ohren zuhalten oder sich davon abhalten, etwas zu berühren oder zu kosten. Doch wir riechen ständig und mit jedem Atemzug, zwanzigtausendmal am Tag. Und wenn ich mit meinen Vermutungen über das Jacobson-Organ richtig liege, dann werden diese Informationen nicht in der grauen Masse des bewussten Gehirns gespeichert, denn das ist viel zu beschäftigt mit den Dingen des Augenblicks, sondern im Langzeitgedächtnis, in jenen Hirnregionen also, die mehr von Sensibilitäten als reinen Empfindungen gespeist werden – und es besteht in der Tat ein großer Unterschied zwischen Empfindungsvermögen und Sensibilität. Da sich nun meine Überlegungen über die Existenz eines sechsten Sinnes auf mehrere Möglichkeiten von olfaktorischer Erfahrung erstrecken, sollte ich aber erst einmal etwas über die grundlegenden Funktionsweisen des Geruchssinns sagen.

 

Nasen sind auffällig. Sie sind der Mittelpunkt unseres Gesichts, ragen in die Welt hinaus und ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Wir gehen immer der Nase nach, stecken sie in anderer Leute Angelegenheiten und laufen ständig Gefahr, auf sie zu fallen.

Wir atmen durch die Nase und wärmen darin die eingehende Luft. Doch für diesen Vorgang hätte jede Art von simpler Öffnung genügt. Stattdessen haben wir ein hervorstechendes Profil, eine Art Dach, das von einem ausgesprochen zweckdienlichen Knorpel gestützt wird. Es hält den Regen ab, leitet beim Schwimmen das Wasser um und verleiht unserer Sprache Resonanz. Funktionell betrachtet ähnelt die Nase am ehesten einer Gebläsehaube, vergleichbar einem Luftansaugstutzen, wie er auf Bootsdecks zu finden ist. Sie ragt über den direkt am Gesicht herrschenden Geruchswirrwarr hinaus und vermeidet somit beim Erschnuppern von Informationen den Eigengeruch. Wer Wache stehen und Gefahr wittern soll – für gewöhnlich Männer –, braucht folglich auch eine deutlich größere Nasenstruktur.

Im Inneren sind unsere Nasen jedoch alle gleich. Alle führen in zwei durch das Septum getrennte Hohlräume, überraschend große Gewölbe, die im Schädel beinahe ebenso viel Platz beanspruchen wie unser berühmt großes Gehirn. Ein Großteil davon dient als eine Art Airconditioner, der von dünnen, spiralförmigen Knochen in drei horizontale Kammern unterteilt wird und von Gewebe umhüllt ist, das sich je nach Motiv und Anlass ausdehnt oder zusammenzieht. Der Luftstrom durch das rechte und linke Nasenloch, zwei eher alternierende als parallele Passagen, in denen ständig turbulente Bedingungen herrschen, ist also selten gleich. Aber das hat vielleicht einen guten Grund.

Hoch oben an der Decke der beiden oberen Kammern, in etwa auf Höhe der Augenbrauen, befindet sich jeweils eine Spalte mit gelblichem Gewebe. Jedes davon ist nur einen Quadratzentimeter groß. Zusammengeschoben würden sie auf eine Briefmarke passen, dennoch sind beide mit Millionen von fadenartigen Sinneszellen ausgestattet. Und genau dort werden Gerüche aufgegriffen.

Dass diese Geruchsepithelien so versteckt im Hintergrund der Nase angesiedelt sind, erscheint auf den ersten Blick merkwürdig. Es wäre doch nahe liegender; wenn sie dort wären, wo sie von einem konstanten Luftstrom umweht werden könnten. Doch genau wie alle anderen Sinnessysteme braucht auch das Riechorgan Abwechslung. Wie die Retina all die winzigen spontanen Augenbewegungen zur notwendigen Reizvielfalt braucht, ist auch der Erfolg der Nase von Subtilität und Variation abhängig. Sie liegt ständig auf Lauer nach einem neuen, interessanten Hauch und fordert je nach Anlass unsere Aufmerksamkeit – und dann rümpfen wir die Nase oder schnuppern.

Der Geruchssinn ist ein chemischer Sinn. Aufgabe der Rezeptoren in der Nase ist es, chemische Informationen in elektrische Signale umzuwandeln, die dann durch die Riechnerven in die Schädelhöhle geschickt werden, wo sie sich im Bulbus olfactorius sammeln (dem so genannten Riechkolben, einer Anschwellung im Nasentrakt und Teil des Telenzephalons). Dieser wiederum leitet die Information an die Großhirnrinde weiter wo dann Assoziationen stattfinden und noch nicht identifizierte Signale beispielsweise in den Duft einer Rose oder in die moschusartige Warnung eines irritierten Stinktiers verwandelt werden.5

Trainierte Nasen können Hunderttausende von Gerüchen unterscheiden, weit mehr, als unser Gedächtnis zu beschreiben im Stande ist. Aber unzählige namenlose Düfte bleiben uns buchstäblich auf der Zunge kleben, weil nicht einmal die vertrautesten Gerüche jemandem verständlich zu machen sind, der sie nie gerochen hat. Meiner Meinung nach entsteht ein Teil dieser Konfusion nur durch unsere spezifische Art, Gerüche zu erleben.

Die Sequenz Duft-Nase-Gehirn, die ich eben in äußerst groben Zügen beschrieben habe, ist nun aber nicht unsere einzige Möglichkeit der Geruchsaufnahme. Unsere Nasenhöhlen sind einerseits über die Nasenlöcher direkt mit der Außenluft verbunden, andererseits indirekt mit »Innenluft«, die durch den Rachen strömt und mit den Aromen von Speisen, Getränken oder Verdauungsprodukten angereichert ist. All diese Informationen laufen zum Bulbus olfactorius im Gehirn. Doch an den Seiten dieser Anschwellung liegen die beiden kleineren Lappen des so genannten Bulbus olfactorius accessorius oder Nebenbulbus, der seine Informationen über die Umwelt aus einer ganz anderen Quelle speist, nämlich aus den Zwillingsröhren des Jacobson-Organs.

 

Vor zwanzig Jahren gab es kaum jemanden, der an die Existenz eines solchen Organs glaubte. Zwar lagen diverse Berichte von viktorianischen Anatomen darüber vor, aber der moderne anatomische Konsens war, dass der Mensch über ein solches Organ nicht verfügt. All das änderte sich 1991 durch eine Entdeckung an der University of Colorado. Bruce Jafek, damals noch ein auf Nasen spezialisierter Chirurg, war neugierig geworden auf dieses ominöse Jacobson-Organ und entwarf gemeinsam mit dem Mikroskopiker David Moran einen simplen Nasenspiegel, der ihnen bei der Suche danach helfen sollte. Und einfach indem sie Patienten mit einem Lichtstrahl in die Nase leuchteten, entdeckten sie, dass jede der zweihundert von ihnen untersuchten Personen über dieses Organ verfügte.129

Wenn man erst einmal weiß, wo man suchen muss, ist es leicht zu finden. Die Öffnungen sind normalerweise mit bloßem Auge zu erkennen, zwei winzige, blässliche Tüpfel am vorderen unteren Abschnitt des Nasenseptums, etwa eineinhalb Zentimeter von jedem Nasenloch entfernt. Manchmal sind sie mit ein paar Millimetern Durchmesser relativ groß, manchmal bedarf es eines Binokularmikroskops, um sie zu finden. Doch jeder Mensch, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Rasse, besitzt sie – es sei denn, es wurde jene Art von kosmetischer Nasenoperation durchgeführt, bei der dieser Teil des Nasenseptums vollständig entfernt wird.

Diese Tüpfel führen in zwei kurze, mit Sinneszellen bestückte Röhrchen, die sich von den Rezeptoren im normalen Riechepithel stark unterscheiden. Moran schrieb: »Sie sehen anders aus als alle Nervenzellen, die ich jemals im menschlichen Körper gesehen habe.«2141990 untersuchten die Physiologen Luis Monti-Bloch und Larry Stensaas an der University of Utah vierhundert weitere Probanden und stellten fest, dass auch sie alle über diese Zwillingsröhren verfügten. Und jeder benutzte diese Organe eindeutig, um Botschaften an das Gehirn zu schicken.128

Am interessantesten ist, dass das Jacobson-Organ nicht für gewöhnliche Gerüche empfänglich ist. Vielmehr reagiert es vorrangig auf eine Reihe von großmoleküligen Substanzen, die häufig keinerlei erkennbaren Geruch haben. Es kommuniziert auch nicht mit dem Hauptbulbus und der Großhirnrinde, sondern mit den Nebenbulben und jenen Hirnregionen, die das Paarungsverhalten und andere grundlegende Emotionen koordinieren. Jüngsten Forschungen zufolge stehen diese beiden eigenständigen parallelen Riechsysteme aber auch auf überraschende Weisen miteinander in Verbindung, wodurch eine Sensibilität entsteht, die keines dieser Systeme allein hervorzurufen im Stande wäre.

Moran, Jafek, Stensaas und Monti-Bloch gehören mittlerweile einer kleinen Gruppe von hervorragenden Wissenschaftlern an, die überzeugt sind, ein neues Sinnesorgan für die Ermittlung von chemischen Signalen entdeckt zu haben, welche nach bisheriger Meinung außerhalb der Reichweite menschlicher Empfindungsmöglichkeiten liegen würden. Sie haben den Namen Jacobson-Organ abgelegt und nennen es das »vomeronasale Organ«. Doch nicht nur durch diese neue Namensgebung distanzieren sie sich deutlich von der unter konservativen Physiologen und Neurologen noch immer vorherrschenden Meinung, weshalb diese auch mehr konkrete Nachweise von ihnen fordern. Diese werden vorzugsweise mit Hilfe von Probanden erworben, die bereit sind, sich Farbstoffe injizieren zu lassen, damit festgestellt werden kann, wo die Indikatorsubstanzen im Gehirn ankommen. Solche Sturheit angesichts all der vorliegenden Fakten kommt einem vertraut vor. Ähnliches begegnete mir das letzte Mal in den sechziger Jahren, als dickschädelige Geologen bis zum letztmöglichen Moment versuchten, die kontinentale Drift der Erdplatten als Unsinn hinzustellen.

Ich jedenfalls bin von den vorliegenden Nachweisen für dieses Organ – das ich nach wie vor mit dem Namen seines dänischen Entdeckers benennen möchte – beeindruckt. Die Möglichkeiten, die sich damit allen Erforschern des Ungewöhnlichen eröffnen, faszinieren mich: Das Jacobson-Organ scheint das »primitive Gehirn« mit Informationen zu füttern. Es ist kein olfaktorisches Bindeglied zu unserem Bewusstsein, sondern eher eine chemische Verrechnungsstelle für unterschwellige Eindrücke, all das, was mit den Worten der Wissenschaftsautorin Karen Wright zu »schlechten Schwingungen, wohligem Schauder, augenblicklichen Antipathien und unwiderstehlicher Anziehung« führen kann214 – zu all den irrlichternden Empfindungen also, die ein sechster Sinn, welcher dieses Namens wert ist, hervorrufen können muss.

Doch bevor ich mich nun mit diesen außergewöhnlichen Randzonen des Geruchssinns befasse, möchte ich vor dem Hintergrund der neuesten Erkenntnisse tun, womit jeder gute Evolutionsbiologe beginnen sollte: Ich werde einen Blick zurückwerfen und mit Hilfe von Linné feststellen, wie alles begann.

Fragrantes

In diese Geruchsgruppe ordnete Linné alle blumigen und ausgesprochen wohlriechenden Düfte wie zum Beispiel Jasmin, Safran und Zitrus ein.

Wie es scheint, war er, der Lateiner, sich durchaus bewusst, dass die beiden Wortstämme fragrare (riechen) und flagrare (brennen) verwechselt werden können, fand aber offenbar gerade das angemessen.

Safran zum Beispiel ist nicht nur wohlriechend, sondern hat auch etwas Feuriges, Köstliches, ja geradezu Üppiges an sich – was beispielsweise Alexander Pope veranlasste, die Flotte, unter der Odysseus Segel setzte, als »eine Kreuzfahrt der goldglänzenden Düfte« zu beschreiben.

Safran ist ein Krokusgewächs. Crocus ist der chaldäische Name für die Familie der Iris. Und Iris ist die Göttin des Regenbogens und die Götterbotin der griechischen Mythologie.

Es finden sich hier also genügend Übereinstimmungen zwischen Biologie und Mythologie, um einen klassischen Forscher glücklich zu machen und ihm als gutes Omen für die Evolution eines Sinnes zu erscheinen, der in der Lage ist, etwas Strahlendes und Schönes wahrzunehmen.

1 · Die Geburt einer Nase

Der Geruchssinn war der Erste unserer Sinne. Es ist sogar denkbar, dass die treibende Kraft, um einen kleinen Klumpen olfaktorischen Gewebes im Neuralrohr eines Urfischs ins Gehirn zu transportieren, die Riechfähigkeit war. Wir denken, weil wir riechen konnten.

Diese Behauptung lässt sich schnell erläutern. Bevor Seh- und Hörvermögen begannen unsere ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen, teilten wir uns mit allen übrigen Lebewesen einen gemeinsamen chemischen Sinn, der vom direkten Kontakt mit einer Materie im Wasser oder in der Luft abhängig war. Und während neunzig Prozent unserer Zeit auf Erden haben wir auf genau diese Weise funktioniert.

Dann verlagerte sich der Schwerpunkt. Wir lernten stattdessen mit Energiewellen zu leben, begannen Sinn im Chaos zu suchen und ein Bewusstsein zu entwickeln – was natürlich gut war. Aber nun müssen wir noch einmal zurückgehen und ein paar sehr nützliche Fähigkeiten aufsammeln, die wir auf unserem Weg zurückgelassen haben.

Vor vierhundert Millionen Jahren, im Devon, waren Fische die bedeutendsten und am weitesten entwickelten Tiere auf Erden. Und die meisten von ihnen waren kieferlose, schwer gepanzerte Gestalten, die ihre Nahrung aus dickem Küstenschlamm herausfilterten. Ihre Welt bestand aus unmittelbaren Empfindungen, ihre Verhaltensweisen waren simpel. Jeder ungewöhnliche Reiz, ob es nun grelles Licht, ein lautes Geräusch oder irgendein abrupter Kontakt war, führte zur mehr oder weniger gleichen Reaktion: Aversion. Der Fisch zog sich zurück und versuchte sein Glück später noch einmal. Er roch sich durchs Leben, wie es kam.

Am Anfang war es schwierig, Geschmack und Geruch zu unterscheiden. Im Schlamm folgt Empfindung unmittelbar auf Kontakt. Man prallt auf etwas und dann kostet man es, um festzustellen, ob man der Sache ausweichen oder sie fressen sollte. Das waren chemische Tests, vorgenommen von Zellen, die dazu geschaffen waren, wasserlösliche Moleküle zu analysieren.

Viele Krustentiere funktionieren noch heute so. Sie benutzen dazu Zellen an ihren Beinen, die ausschließlich auf Aminosäuren reagieren und somit schnell zwischen organischer und anorganischer Materie unterscheiden können. Nahrungsfiltrierende Fische brauchten keine größere Unterscheidungsfähigkeit als die, etwas Fressbares aus dem Schlamm herausziehen und den ganzen Rest umgehen zu können. Es wäre diesen hirnlosen Pionieren jedoch durchaus zugute gekommen, hätten sie irgendeine Möglichkeit gehabt, immer nur das Nahrhafteste aus dem Schlamm herauszuwühlen, anstatt ständig mit offenem Maul darin herumbohren zu müssen. Doch dazu hätte es der Fähigkeit bedurft, bereits aus einer gewissen Entfernung heraus Dinge testen und kosten zu können – und genau hier sind wir beim Punkt Geruch angekommen.

Der Geruchssinn ist ein Fernsinn, eine Möglichkeit, Zeit auszudehnen und im Voraus herauszufinden, was vor einem liegt. Er ist bewusstseinserweiternd und schafft neue Möglichkeiten, doch damit bedarf er einer Analysefähigkeit, die im Leben von Gewässerbodenbewohnern normalerweise nicht notwendig ist. Dennoch war es ausgerechnet einer jener Schlammfische, dem der große Sprung vorwärts gelang. Das Ergebnis ist noch heute sichtbar, eingefroren in den Lebensgeschichten einiger weniger moderner Arten von kieferlosen, gliedlosen, knochenlosen und oft blinden Schleimaalen und Neunaugen.

Schleimaale sind geduldige Aasfresser. Sie verbringen den größten Teil ihres Lebens in leichtem Schlick vergraben, sodass nur noch ihre stumpfen Rüssel herausragen, und warten auf dieselben chemischen Signale, die auch Krustentiere auf verwesenden Fisch aufmerksam machen. Doch diese primitiven Fische haben einen Vorteil vor Hummer und Krabben. Sie verfügen über eine Öffnung oberhalb des Mauls, die in eine Doppelkammer führt, wo Gerüche isoliert, analysiert und vielleicht sogar lokalisiert werden können. Ihnen war allem Anschein nach die erste Nase der Welt gegeben.

Mit dieser Geheimwaffe ausgerüstet, konnten Schleimaale wachsen und gedeihen. Mindestens zwanzig Arten haben überlebt, und das derart gut, dass sie den Fischern zur reinsten Plage wurden. Sie verkriechen sich in den Fangnetzen unter den Dorschfischen und fressen sich einfach durch diese hindurch, bis nur noch Gräten in den Netzen übrig sind. Schleimaale können nichts sehen, aber ausgezeichnet riechen. Sie schwimmen mit wellenartigen Bewegungen einer Fischspur hinterher, bis sie die Richtung ausgemacht haben, aus der der stärkste Reiz kommt, dann wählen sie die Route mit dem richtigen Geruch und folgen ihr, bis sie am Ziel angelangt sind.

Ihre Verwandten, die Neunaugen, haben diesen Prozess sogar noch verfeinert, indem sie gelernt haben, instinktiv bereits auf ein einziges chemisches Aroma zu reagieren, das zum üblichen Körpergeruch von lebenden Fischschwärmen wie beispielsweise Forellen gehört. Sie entwickelten diesen Spürsinn, verließen ihr schlammiges Larvenrevier, bekamen funktionsfähige Augen und jagen und parasitieren seither ihre Wirte. Kaum sind sie in deren Reichweite, beginnen sich diese behänden, fadenwurmartigen Tiere mit ihrem scharfen Gebiss an irgendeinem Weichteil der Forelle festzusetzen und wie Wasservampire deren Körpersäfte auszusaugen, wobei sie das Blut ihrer Opfer nach der Art von Fledermäusen mit gerinnungshemmenden Stoffen in Fluss halten.101

Diese unangenehme Angewohnheit der rundmäuligen Schleimaale und Neunaugen wird nahe liegenderweise »Ansaugen« genannt. Und dieses saugende Leben wird ihnen durch die Tatsache ermöglicht, dass sie über Kiemen verfügen, die sich direkt in den Rachen öffnen, damit sie während des Blutsaugevorgangs weiter atmen können. In dieser Hinsicht sind sie derart gut angepasst, dass sie trotz ihrer ansonsten so primitiven Merkmale seit über vierhundert Millionen Jahren überleben konnten. Allerdings fand im Laufe dieser Zeit eine entscheidende Veränderung statt: Sie haben nicht nur eine Nase, sie haben auch so etwas wie ein Nasenhirn bekommen.

Das Nervensystem dieser Säuger ist rudimentär. Sie haben weder sympathische noch vegetative Nerven – nichts von diesem Netzwerk, das bei modernen Wirbeltieren Darm, Leber, Drüsen und das Herz versorgt. Doch die Nerven aus der Nase haben sich mittlerweile im Kopf dieser Tiere zu einem Bündel von bereits erstaunlichen Ausmaßen ausgeprägt. Und das beginnt sich nun proportional zu seinen Aufgaben seitlich auszudehnen. Das Aufregendste an diesem Merkmal ist, dass es schon in diesem frühen Stadium die Gestalt von etwas völlig Neuem anzunehmen beginnt. Es ist ein im Wachstum begriffenes Vorderhirn, welches als unmittelbare Reaktion auf ein Riechbedürfnis zu sprießen beginnt.

In einem Lebensraum, in dem die Sicht begrenzt ist und Geräusche nicht lokalisiert werden können, kann man nur über den Geruch Spuren aufgreifen, die solide Informationen über etwas anbieten, das sich noch in weiterer Entfernung befindet. Aber dazu reicht der Geruchssinn allein nicht aus. Es muss auch feststellbar sein, woher ein Geruch stammt. Schleimaale und Neunaugen begeben sich zu diesem Zweck in einen Geruchskorridor, indem sie den Körper von einer Seite zur anderen schwingen und dabei dem Wasser auf breiterer Front mit ihrer einzigen Nasenöffnung Proben entnehmen. Die meisten evolutionär jüngeren Fische verfügen hingegen über zwei äußere Nasenöffnungen und praktizieren somit »Stereoriechen«, was umso besser funktioniert, je weiter diese beiden Öffnungen voneinander entfernt sind. Je größer der Kopf, desto besser also auch die Chance, stereo riechen zu können. Irgendwo zwischen diesen Nasenöffnungen gab es nun Platz für einen Koordinator, eine Stelle, an der Informationen über Gerüche analysiert werden können. Und das führte wiederum zu Verhaltensanpassungen.

Fische leben in einer Umwelt, in der sogar teillösliche Substanzen ihren Weg in chemisch sensible Bereiche des Körpers finden und damit außerordentliche Bravourstücke beim Aufspüren von Gerüchen ermöglichen. Der Gewöhnliche Flussaal zum Beispiel hat eine höchst ungewöhnliche Affinität zu einigen Alkoholarten, wobei er immer nur auf ein paar wenige Moleküle gleichzeitig reagiert, sogar wenn deren Konzentration nur bei 1:10 liegt. Man bedenke: diese Verdünnung entspräche einem einzigen Schuss Wodka in einer Wassermenge vom Volumen des Eriesees.189 Natürlich sind diese Aale in Wirklichkeit Abstinenzler. Sie laichen und sterben in den Tiefen der Sargossa-See, wo sie ihre blattartigen Larven sich selbst überlassen, bis diese dann führungslos durch fünftausend Kilometer offenen Ozeans den Weg zurück zu ihren uralten Jagdgründen in den Tümpeln und Seen von Polen und Deutschland schwimmen – eine Reise, die drei Jahre dauert. Wie ihnen das gelingen kann, ist noch immer ein Geheimnis, aber ganz offensichtlich hat es etwas mit dem Geruchssinn zu tun.

Experimente mit Lachsen haben gezeigt, dass diese in der Lage sind, zwischen klarem und solchem Wasser zu unterscheiden, durch das kurz eine Meerespflanze gezogen wurde. Vermutlich werden junge Lachse von den spezifischen Aromen der jeweils einzigartigen Pflanzenkombinationen in den Flüssen ihrer Heimat geprägt. Nun ist es schwer vorstellbar, dass sich junge Aale ohne eine solch entscheidende, frühe Prägung durchschlagen können. Aber sie tun es. Sie werden allein vom Instinkt und dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einiger weniger spezifischer Moleküle getrieben, Entscheidungen zu treffen, von denen das Überleben ihrer gesamten Art abhängt.74

Geruch ist tatsächlich stimulierend. Er weckt Erinnerungen und Sehnsüchte – Nostalgie ist eine wunderbare Bezeichnung dafür, weil sie buchstäblich »sehnsüchtiges Heimweh« bedeutet. Das Ganze dient dazu, neue Nervenverschaltungen in unserem Gehirn zu fördern, was bei einfacheren Spezies bereits ausreichte, um ein simples Nasenhirn zu erschaffen. Bei Zugfischen wie dem Lachs hat sich dieses Zentrum zu einem paarigen Organ ausgebildet, ganz wie es einer Spezies angemessen ist, die bilateral wahrzunehmen und zu funktionieren begann. Und genau dieses Organ ist der Bulbus olfactorius.

Viele Haie finden ihre Nahrung über den Geruch. Lässt man Wasser, in dem lebende Fische aufbewahrt worden waren, in einen Hai-Tank einfließen, reagieren die Bewohner mit typischem Jagdverhalten. Waren in diesem Wasser verletzte oder tote Fische gewesen, kann man die Haie bis zur Raserei treiben. Ihre Aufregung verstärkt sich proportional zum Stress, unter dem ihre Beute gestanden hatte. Sie erspüren deren Angstgeruch und reagieren mit außerordentlicher Genauigkeit darauf. Bei einem Hai-Experiment ließ man einen verletzten Fisch die Länge eines Tanks durchschwimmen, nahm ihn heraus und ließ kurz darauf den Hai hinein. Der Weißspitzen-Hundshai folgte exakt der Zickzacklinie des Fisches und wiederholte jede einzelne Bewegung, die seine für ihn nun unsichtbare Beute zuvor gemacht hatte.190

Wie es scheint, werden diese Raubtiere vom Geruch ihrer Beute aus der Entfernung angelockt, doch der entscheidende, der tödliche Schlag wird vermutlich durch einen anderen Sinn ausgelöst. Bei einigen Arten ist dies, sofern das Wasser klar ist und Tageslicht einfällt, der Sehsinn. Bei anderen können es Druckwellen sein, die von Sinneszellen entlang der Körperflanken aufgegriffen werden. Doch kleine, grundbewohnende Haie wie der gefleckte Katzenhai scheinen sich einzig auf das schwache elektrische Feld zu konzentrieren, das durch die Muskelbewegungen eines anderen Fisches hervorgerufen wird. Und diese Eindrücke werden offenbar durch Geruch verstärkt, beziehungsweise scheinen auf merkwürdige Weise sogar in direktem Zusammenhang mit ihm zu stehen.91

Diese Synästhesie, das Verschmelzen eines Sinns mit den Reizen eines anderen, dient dem Überleben. Sogar im Leben eines Fisches wird Empfindung nur selten durch einen einzigen Umstand ausgelöst. Die Sinne überlagern sich. Die Grenzen zwischen ihnen sind oft fließend. Auf unsere Beobachtungen von außen gestützt, können wir allerdings bestenfalls behaupten, dass bei einem Fisch jeweils ein Sinn nach dem anderen zu dominieren scheint.

Im Falle des gefleckten Katzenhais gleitet das Riechen nahtlos in einen Bewusstseinszustand über, den der Fisch, könnte er sprechen, vermutlich eher als Schmecken denn Riechen bezeichnen würde. Ich finde es faszinierend, dass gerade dieser Katzenhai bekannt dafür ist, ein Vorderhirn zu besitzen, das nicht nur groß, sondern auch mit einem Paar angeschwollener Riechkolben ausgestattet ist, die proportional größer und differenzierter ausgeprägt sind als bei nahezu jedem anderen Fisch. Und damit ist er bestens ausgestattet, um Sinnesgrenzen fließend zu halten, so wie wir, wenn wir uns aus einer verwirrenden Wahrnehmung zu Metaphern flüchten und einen »leisen Geruch« oder einen »hellen Klang« beschreiben.177

Dr. Samuel Johnson empfand die Farbe Scharlachrot wie das »Schmettern einer Trompete« und der Dichter Rimbaud beschrieb den Klang des Vokals A als »schwarzhaarigen Panzer der Fliege«. Es kann auch kein Zufall sein, dass Menschen mit angeborener Synästhesie – bei Reizung eines bestimmten Sinnesorgans wird die Reizempfindung eines ganz anderen erlebt – Probleme mit ihrem limbischen System haben, mit jenen Hirnregionen also, die sich bei Säugetieren aus dem alten Bulbus olfactorius heraus entwickelt haben.

Ein Physiologe ging sogar so weit, Menschen, bei denen sich Sinneseindrücke derart vermengen, als »lebende kognitive Fossile« zu beschreiben, die im Gedächtnis bewahrten, wie unsere frühesten Vorfahren unter den Wirbeltieren sahen, hörten, tasteten, schmeckten und rochen.119 Tatsache ist, dass sich unsere Hirnhemisphären, jene walnussartigen, angeschwollenen grauen Massen, die das Vorderhirn dominieren und mittlerweile fast unser gesamtes bewusstes Verhalten kontrollieren, unmittelbar aus olfaktorischem Gewebe entwickelt haben.

Die Grenzen der Sinnesentwicklung von Fischen werden im Wesentlichen von ihrem Lebensraum gesetzt. Wasser ist nicht nur ein physikalischer Träger, der besonders gut die Ausbreitung bestimmter Gerüche unterstützt, sondern auch ein gutes Transportmittel für Geräusche – und zwar um einiges schneller als Luft. Dafür lässt es andere, unmittelbarere Kommunikationsformen nicht zu. In die Luft entlassene Gerüche schaffen sehr viel mehr Möglichkeiten. Luft atmen zu können, ist eine liberalisierende Erfahrung. Erst diese Fähigkeit befreite unsere Vorfahren von dem Zwang, den Körper nass halten und sich ständig in der Reichweite von Wasser aufhalten zu müssen, um eine schnelle Rückzugsmöglichkeit zu haben, atmen und sich fortpflanzen zu können. Doch die größte Veränderung in unserem Leben war, dass uns eine ganz neue Bandbreite an Sinneserfahrungen eröffnet wurde.

Luft wird traditionell als »dünn« bezeichnet, doch je mehr wir über unsere Atmosphäre wissen, desto reichhaltiger wird sie. An manchen Orten ist sie derart angefüllt mit anorganischem Treibgut, dass man sie beinahe durchpflügen könnte, an anderen so angereichert mit lebendigen Nebenprodukten, dass sie beinahe selbst zu einem lebenden Gewebe geworden ist. Sogar die sauberste Luft über dem Südpazifik oder der Antarktis besteht aus zweihunderttausend unterschiedlichen Partikeln pro Lungenzug. Und diese Zahl kann im Getümmel der Serengeti-Migration oder über der sechsspurigen Autobahn von Los Angeles während der Rushhour auf über zwei Millionen und mehr ansteigen.

Die meisten Stoffe in der Luft bestehen aus winzigen Salz- und Tonpartikeln oder der Asche von Waldbränden und entfernten Vulkanausbrüchen. Doch mitten auf diesem fruchtbaren Nährboden wächst und treibt ein ganzer Garten an exotischer Flora und Fauna. Jeder Atemzug, den wir aus dieser Suppe schöpfen, enthält ziemlich sicher auch ein paar zwischen ihren Wirten umherschwirrende Viren, vier bis fünf gewöhnliche Bakterien, fünfzig bis sechzig Pilze, darunter mehrere Rost- oder Schimmelpilze, ein bis zwei winzige, von den Küsten angetriebene Algen und vielleicht auch eine Farn- oder Moos-Spore und sogar den einen oder anderen verkapselten Einzeller.202

Das ist völlig unvermeidlich. Immerhin ist das der Stoff, aus dem das Leben ist. Wir teilen unseren Planeten auf ganz natürliche Weise mit einem permanenten Aeroplankton, einer schwebenden Ökologie, die zu still ist, um sie hören zu können, und zu klein, um sie zu sehen, aber voller Sinn und Zweck. Man stelle sich nur einmal vor, dass man sich ständig all dieser luftigen Einschlüsse bewusst wäre, und schon begreift man, was es hieße, wirklich gut riechen zu können.

Luftatmer pflegen Dinge anders zu tun. Ihre Riechsinneszellen sind nicht wie bei Fischen in isolierten Nasensäcken angesiedelt, sondern strategisch sinnvoll in einer nasalen Passage, durch die die Luft auf ihrem Weg in die Lunge strömt. Und diese simple Tatsache verlieh der Nase ihre spezifischen Formen. Am deutlichsten wird dies anhand eines Tieres, das eine Zwischenform darstellt. Wie jeder amphibische Frosch oder jede Kröte ist es mit je einer Nase für beide Welten ausgestattet und führt buchstäblich ein Doppelleben. Es ist das für die Forschung auf diesem Schauplatz exemplarische Versuchstier, der afrikanische Krallenfrosch.

Jedes gynäkologische Labor besaß einen solchen Frosch, weil er die erste verlässliche Möglichkeit für den Test einer menschlichen Schwangerschaft bot. Ein unbefruchteter weiblicher Frosch legt seine Eier binnen Stunden nach der Injektion mit Urin, der mit dem typischen Hormon einer Schwangeren angereichert ist. Doch diese weichen, stromlinienförmigen Frösche mit den seltsamen Füßen – ihre Drillingsklauen setzen sie ein, um am Grund südafrikanischer Tümpel nach Nahrung zu scharren – werden auch unter Genetikern immer populärer.

Tierphysiologen am Biologischen Institut der Universität Stuttgart haben bei Arbeiten über das Genom dieses Froschs herausgefunden, dass »Strange Foot« nicht nur seltsam aussieht, sondern über ein mindestens ebenso seltsames genetisches Repertoire verfügt, darunter über Hunderte von Genen, welche kodieren, wie die Riechsinneszellen (die so genannten »Rezeptoren«) funktionieren sollen. An sich ist das keine große Überraschung, denn Säugetiere verfügen über Tausende solcher Gene, wohingegen Fische nur sehr wenige haben, weshalb auch vorhersagbar war, dass Amphibien eine Zwischenstufe zwischen beiden darstellen. Und so ist es: Ihre olfaktorischen Gene gehören zwei völlig unterschiedlichen Familiengruppen an.58

Wassertiere sind wasserlöslichen Molekülen wie Aminosäuren ausgesetzt, während Luftatmer Zugang zu einer sehr viel größeren Vielfalt an flüchtigen Geruchsstoffen haben. Daher wäre zu erwarten gewesen, dass der Krallenfrosch als Amphibie, welche an das Leben im Wasser wie an Land angepasst ist, etwa über die gleiche Anzahl an entsprechenden Genen und Rezeptoren verfügen würde. Doch das stimmt nicht. Er hat wesentlich mehr Zellen von der Art, über die luftatmende Säugetiere verfügen, was vermutlich daran liegt, dass es sehr viel mehr von der Luft getragene Gerüche gibt als vom Wasser transportierte. Die große Überraschung ist jedoch, dass beide Arten von Rezeptoren in separaten Bereichen angesiedelt sind. Strange Foot hat zwei Nasen und zwei Geruchssinne: einen Satz für den Gebrauch unter Wasser und einen für das Leben an Land.

Die Nase des Froschs ist in zwei eigenständige Säcke oder Kammern unterteilt. Gleich am Eingang jeder Nasenöffnung liegt eine lappenartige Gewebeklappe, die die Funktion eines Zwischenventils hat. Unter Wasser schwingt sie in eine Lage, in der sie die Hauptkammer verschließt und die andere freilegen kann – eine Sackgasse, bestückt mit Rezeptoren, die auf wassertransportierte Gerüche reagieren. Sobald die Kröte an die Wasseroberfläche kommt und ihre Nase in die Luft reckt, schwingt diese Klappe zurück, verschließt die Wasserkammer und legt die Hauptkammer frei, in der sich Zellen aneinander reihen, die für atmosphärische Gerüche empfänglich sind. Erst wenn die Luft an ihnen vorbeigeströmt ist, versorgt sie die Lungen mit Sauerstoff.

Das Leben an Land fordert mehr vom Geruchssinn. Und wie es scheint, haben sich sogar die primitivsten Amphibien dieser Herausforderung gestellt.

Mexikanischen Kröten konnte im Zuge eines Lernprozesses in einem Labyrinth beigebracht werden, sich an ihnen unbekannte Gerüche wie Geraniol, Vanillin und Zedernholz zu erinnern.70 Sowohl der Gefleckte Chorfrosch als auch der Streckersche Chorfrosch haben bewiesen, dass sie den Geruch des Teiches, in dem sie laichen, über Hunderte Meter Entfernung wahrnehmen können.69 Der amerikanische Leopardenfrosch kann seinen Weg sogar dann zurück zu dem ihm vertrauten Teich finden, wenn sein Sehnerv direkt hinter dem Auge durchtrennt wurde, und zwar unabhängig davon, ob er mit dem oder gegen den Wind ausgesetzt wurde.41 Doch wirklich unglaublich sind die Riechkünste des kalifornischen Feuerbauchmolchs.

Dieser Molch hat ein echsenartiges Aussehen, große, dunkle Augen und tomatenrote Flecken, die vor einem giftigen Sekret in seiner Haut warnen. Mit den Raubtieren seines Lebensraums im Küstengebirge hat er daher kaum Probleme, eher schon mit den örtlichen Biologen, die wegen seiner beinahe unglaublichen Navigationsfähigkeiten Jagd auf ihn machen. Man kann ihn aus seinen gewohnten Jagdgründen in den Feuchtbiotopen eines Tales herausholen und über einen Bergrücken von dreihundert Meter Höhe tragen, und er wird dennoch unbeirrbar seinen Weg zurück nach Hause finden.193 Egal in welche Richtung man ihn verschleppt, sogar wenn man ihn in einem ihm völlig unbekannten Gebiet aussetzt, wird er sich schnell orientieren und schnurstracks wieder nach Hause wandern.

Nicht einmal wenn man dieses heimwehkranke kleine Tier erblinden lässt, kann es aufgehalten werden. Und wenn man ihm Formaldehyd in die Nase spritzt, um das Epithel zu zerstören – jene dünne Gewebestruktur, auf der die Riechsinneszellen angesiedelt sind –, so führt dies höchstens zu »einem deutlichen Verlust an Orientierungsfähigkeit«, wie ein Forscher schrieb.67 Wie es scheint, kann man ihn nur dann am Nachhausewandern hindern, wenn man seine Riechnerven komplett durchtrennt. Solche Eingriffe zu Studienzwecken bereiten mir wirklich Kummer, aber die Tatsache, dass man sie für notwendig hielt, zeigt das Maß unserer Frustration angesichts eines Verhaltens, für das wir einfach keine Erklärung haben. Die Natur ist voller Geheimnisse. Selbst die einfachsten Kreaturen können uns in Erstaunen versetzen, wenn wir nur die richtigen Fragen stellen. Ihre Antworten sind niemals einfach, es sei denn rückblickend betrachtet.