Die griechische Freundin - Christophe Ono-dit-Biot - E-Book

Die griechische Freundin E-Book

Christophe Ono-dit-Biot

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Beschreibung

César will sterben. Er ist nicht krank, nicht ruiniert, er kann einfach nicht mehr leben, das ist alles. Wenn er nachts die Arme nach Paz ausstreckt, ist sie nicht mehr da. Die Frau, die César geliebt hat, ist tot. Für den gemeinsamen sechsjährigen Sohn hat der Vater alles geregelt, ihn zu den Großeltern gebracht und nun bleibt ihm nur noch, die zehn Kapseln einzunehmen, die vor ihm auf dem Küchentisch liegen. Doch dann klopft es an der Tür: Nana, Césars junge Nachbarin mit dem griechischen Akzent, von der er bislang keine Notiz genommen hat, steht plötzlich in seiner Wohnung und scheint sein Vorhaben durch ihre bloße Anwesenheit zu vereiteln. Denn besonderes Interesse hat sie an Césars Bibliothek voller antiker griechischer Autoren. Die griechische Freundin erzählt das moderne Märchen eines verzweifelten Mannes, der Erlösung in der Kindheit findet: seiner eigenen und der seines Sohnes. Ein Witwer, der die antike Welt von Homer, den Sirenen, Musen und griechischen Götter liebt, aber erneut lernen muss, im Hier und Jetzt Vater zu sein, begeleitet von einer jungen Fremden, die ihm die Kraft gibt, mit dem Leben einen neuen Bund einzugehen.

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César will sterben. Er ist nicht krank, nicht ruiniert, er kann einfach nicht mehr leben, das ist alles. Wenn er nachts die Arme nach Paz ausstreckt, ist sie nicht mehr da. Die Frau, die César geliebt hat, ist tot. Für den gemeinsamen sechsjährigen Sohn hat der Vater alles geregelt, ihn zu den Großeltern gebracht, und nun bleibt ihm nur noch, die zehn Kapseln einzunehmen, die vor ihm auf dem Küchentisch liegen. Doch dann klopft es an der Tür: Nana, Césars junge Nachbarin mit dem griechischen Akzent, von der er bislang keine Notiz genommen hat, steht plötzlich in seiner Wohnung und scheint sein Vorhaben durch ihre bloße Anwesenheit zu vereiteln. Denn besonderes Interesse hat sie an Césars Bibliothek voller antiker griechischer Autoren.

Die griechische Freundin erzählt das moderne Märchen eines verzweifelten Mannes, der Erlösung in der Kindheit findet: seiner eigenen und der seines Sohnes. Ein Witwer, der die antike Welt Homers, der Sirenen, Musen und griechischen Götter liebt, aber erneut lernen muss, im Hier und Jetzt Vater zu sein, begleitet von einer jungen Fremden, die ihm die Kraft gibt, mit dem Leben einen neuen Bund einzugehen.

Christophe Ono-dit-Biot, geboren 1975, ist Schriftsteller und Redakteur bei der französischen Wochenzeitung Le Point. Von ihm sind in Frankreich sechs Romane erschienen, ausgezeichnet mit dem Grand Prix du roman de l’Académie française und dem Prix recamier du roman. Auf Deutsch erschien 2008 der Roman Die Tigerfrau. Ono-dit-Biot lebt in Paris.

CHRISTOPHE ONO-DIT-BIOT

DIE GRIECHISCHE FREUNDIN

Roman

Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn

L.S.D

Für Hector und Alma, die schon jetzt Geschichten so sehr lieben

»Glauben Sie an Gott?« »Ich? Ich glaube an Zeus.« TOM WOLFE

»Nur die heidnische Antike weckte mein Verlangen, weil sie die Welt von früher war, weil sie eine Welt war, die es nicht mehr gibt. PAUL VEYNE

Inhaltsverzeichnis

Cover

Über den Autor

Titel

Widmung

I. Der Tod

Nana

Rückkehr zu Paz

Die Gesellschaft der Liebhaber der Sirene

Kommunizieren

Die Statue reparieren

Katalog der Tätowierungen

Der Balkon über dem Meer

Aus dem Wasser gerettet

Das Grab

II. Der Auferstandene

Die Schäferei

Aqualand

Nana in ihrer Wohnung

Orgiastisch

Lake Stymphalia

Das letzte zivilisierte Land der Welt

Blondes Haar auf dem Kopfkissen

Was kann man angesichts dieser Flut von Gewalt seinem Kind sagen?

Fast in Nana

Das Chaos

Heißes Wasser, grüner Marmor

Die Beerdigung des Monotheismus

In Nana

Jemand, der an dich denkt

III. Der Gast

Gefangener

Der Alte

Das Kind

Epilog

Nachweis der griechischen und lateinischen Zitate

Dank

Anmerkung

Impressum

I

DER TOD

Frankreich, Paris & Italien, Amalfi

Klarschiff machen

Heute werde ich sterben.

Ich bin nicht krank.

Ich bin nicht ruiniert.

Ich kann nicht mehr leben, das ist alles.

So amputiert, ist da das Wort leben überhaupt noch angemessen?

Ich habe lange geglaubt, dass ich es schaffen würde. Alles geglaubt, was man mir erzählt hat: das Zur-Ruhe-Kommen, wenn man den Tod des geliebten Wesens erst einmal akzeptiert hat, und dann seine sublimierte Wiedergeburt in Form von Erinnerungen … Von wegen. Ich denke nur noch an ihre Asche, die auf dem Wasser treibt. Schmecke sie.

Nachts streckt man die Arme aus, und es ist niemand mehr da, nichts.

Ich kann sie nicht zurückholen, meine Worte bewirken gar nichts, aber ich habe nur Worte, also will ich sterben.

Niemand mehr? Es ist noch schlimmer: Da ist jemand. Ein Kind, unser Sohn, sechs Jahre alt. Doch die Liebe, die ich für ihn empfinde, die Liebe, die er mir schenkt, und sogar die Summe dieser Liebe reichen nicht aus, die Waagschalen ins Gleichgewicht zu bringen. Die Waage neigt sich viel zu sehr zur anderen Seite hin, zur leeren Schale, von der ich mich angezogen fühle.

Wenn ich ihn anschaue, sehe ich sie. Und ich nehme es ihm übel, ebenso wie ihr. Die gleichen Gesichtszüge, der gleiche herausfordernde dunkle Blick, die gleiche Anmut, die gleiche Haut, die gleichen Wutanfälle.

Also Schluss machen. Ich weiß, dass ich all meine Verpflichtungen als Vater mit Füßen trete, indem ich das schreibe, aber bin ich überhaupt noch einer?

*

Wenn ich einer bin, dann ein schlechter. In Chambord ist es mir einmal mehr klar geworden, vor ein paar Monaten, mitten im Winter. Das Schloss, in dem Eselshaut gedreht wurde. Ich wollte ihn mitnehmen, weil er den Film so geliebt hatte, die Deneuve vor allem. Ich neige mehr zu Seyrig. Ein Himmel, der so grau war, dass er weiß wirkte, krönte die Türmchen, den Turm mit der Lilie und die mit gemeißelten Salamandern geschmückten Terrassen, über die wir beide streiften, Hand in Hand zwischen Erde und Himmel, bis dorthin, wo es in die Tiefe ging. Nur wenige Besucher, starr vor Kälte wie wir, und ringsumher so weit das Auge reicht der dichte Wald, der uns umschloss, als befänden wir uns auf einer Insel, bedroht von krallenbewehrten Wellen. Bilder kamen mir in den Sinn, nicht von Wildschweinen, die während der legendären Jagden durch die Hochwälder rasen, nicht von Fackeln, die die wilden Ritte junger Prinzen beleuchten, heißblütig und erregt vom Saft, der unter den Rinden fließt, sondern Visionen grauenhafter Morde, von Säuglingen, denen man das Herz herausreißt, weil eine Rabenmutter es verlangt, von jungen Frauen, denen man die Jungfräulichkeit raubt und deren Reize man anschließend den Wölfen überlässt, und von Köpfen, zertrümmert durch Schläge mit Feuersteinen, Unschuldige, deren Blut das Spitzenmuster des Farnkrauts besudelt.

Wir gingen die doppelte Wendeltreppe hinunter, die, wie es heißt, von Leonardo da Vinci entworfen wurde. In den Räumen war es bitterkalt, die Wandteppiche waren abgenutzt und ihre Farben verblasst. Die eisige Kälte herrschte überall, wir spürten sie schmerzhaft in unseren erfrorenen Fingerspitzen. Ein geschnitzter Hirsch aus Holz in Lebensgröße, den wir in Jacques Demys Film gesehen hatten, stand in der Mitte eines Raums und trug ein großes Kreuz zwischen den beiden Stangen seines Geweihs. Verloren in dieser unermesslichen Weite, gab dieses erstarrte Tier uns einen Stich ins Herz. Das war kein Schloss, das war ein Grabmal.

Ich hatte nicht die Kraft, seine Fragen über die Könige, Leonardo, die Renaissance und die Symbolik der Lilie zu beantworten. Dieser Stein gewordene Wahnsinn stank nach Tod und widerte mich an; ich wusste, dass der Geruch auch von mir ausging.

Ich bin hellsichtig, das ist mein Drama. Als wollte das Leben nicht mehr in meinen Adern zirkulieren. Ich fürchte, dass es ausweglos ist.

Ich verdiene meinen Sohn und seine Freundlichkeit nicht. Seine rehkitzhafte Anmut.

Auf dem Weg nach Chenonceau dachte ich an diese Eltern, die erst ihre Kinder und dann sich selbst töten. Ich hatte das immer abscheulich gefunden, doch an jenem Tag begriff ich. Wir hatten gerade eine Mautstelle passiert und waren an einem Betonsilo von kolossalen Ausmaßen vorbeigefahren, der aufgegeben wirkte.

»Papa, machst du ein bisschen Musik an?«, sagte sein Stimmchen.

»Natürlich, mein Herz.«

Ja, an jenem Tag begriff ich. Man tötet seine Kinder nicht, weil man durch eine Art Rückblende den Schlamassel ungeschehen zu machen versucht, den unsere Leben als Erwachsene in dem ihren angerichtet haben.

Nein: Man tötet, um nicht von seinen Kindern beurteilt zu werden, sobald sie das Alter erreicht haben, dazu imstande zu sein.

Ich habe Vertrauen in sein Urteil. Und deswegen will ich, dass er lebt.

Er wird leben, und zwar unter den bestmöglichen Bedingungen. Ich habe alles für ihn geregelt. Ein hübsches Sümmchen wartet bei seiner Volljährigkeit auf ihn. Und ein System großzügiger Überweisungen bis dahin. Alles ist geregelt, besiegelt, notariell beglaubigt. Er wird von denen großgezogen, die mich großgezogen haben. Dort, wo er jetzt ist. Es wird ihm an nichts fehlen. Doch, ihm wird ein Vater fehlen. Nicht schlimm, sogar besser: Ich werde keine Zeit gehabt haben, ihn zu enttäuschen wie alle Väter.

Feigheit? Nein. Feige wäre es, es nicht zu tun, mich weiterhin so sehr zu verleugnen. Es wird nicht das Ende meiner Tage sein, sondern das Ende einer langen Nacht.

Meine Gedanken spielen verrückt. Ich habe keine Kontrolle mehr über sie.

*

Meine Frau ist gestorben. Unter Wasser. Doch bevor sie starb, ist sie fortgegangen und hat uns allein gelassen, meinen Sohn und mich. Ich habe nie erfahren, ob sie vorhatte, von dieser Reise zurückzukehren, die tödlich enden sollte, oder ob sie uns abgeschrieben hatte. Sie war eine Künstlerin … Und bei Künstlern weiß man ja nie. Der Preis für die schöpferische Kraft ist hoch. Das Problem ist, dass ihn oft die anderen zahlen.

Diese Unsicherheit nagt an mir. Und ich irre umher, wie der gute alte Odysseus, an Bord meines Körpers, dessen Gerippe ächzt, und ohne Hoffnung, am Ende der Meere das Bett aus Olivenholz wiederzufinden, in dem Penelope auf mich wartet.

Penelope hat mich sitzen lassen.

*

Man muss mich nur anschauen. Es ist jetzt zwei Jahre her, aber ich bin um zehn Jahre gealtert.

*

»Warum weinst du, Papa? Ich geb dir ein Küsschen, und dann tut es nicht mehr weh.«

Und dann steht er auf, man muss sich das vorstellen, und beruhigt mich mit seiner kleinen Hand. Er legt sich neben mich, und ich finde wieder in den Schlaf zurück.

Die Welt steht kopf. Ich schäme mich.

»Wo tut es dir weh, Papa?«

Und weil ich ja irgendetwas antworten muss: »Mein Herz tut mir weh, mein Sohn.«

Er erzählte es am nächsten Tag in der Schule. »Meinem Papa tut das Herz weh.« Und als ich ihn abholte, fragte die Lehrerin mich prompt, ob ich einen guten Kardiologen brauche.

Ist das die Trauer? Mit dem Schweigen konfrontiert zu sein? Ständig gegen die Mauer der Abwesenheit zu prallen? Zu weinen und sich zugleich die Hoffnung auf ein Wunder zu bewahren?

*

Das Schloss von Chenonceau ist behutsam auf das Wasser gesetzt worden und ruht fest auf seinen Bögen. Es ist kein Wasserschloss, sondern ein Wasserbrückenschloss. Während des Ersten Weltkriegs wurde es in ein Krankenhaus umgewandelt. Von ihrem Bett aus angelten die Verwundeten im nassen Bett des Flusses. Des Cher. Meinem kleinen Liebling hat Chenonceau sehr gefallen. Das Schlafzimmer der Königin, die großen Himmelbetten, die Porträts von Diane de Poitiers als Diana, die Göttin der Jagd, mit ihrer Mondsichel im Haar und dem D, das mit dem H von Heinrich verbunden ist, um die Liebe zu symbolisieren, die Sirenen auf den Türen, das Porträt von Madame Dupin, die einen literarischen Salon unterhielt und Voltaire, Rousseau, Montesquieu oder Bernis empfing.

»Sie ist schön, Papa … Was ist eine Muse?«

»Eine Frau, die die Künstler beflügelt.«

»Heißt das, dass sie ihnen hilft zu fliegen?«

»Ja, mein Rehkitz.«

Mir hat nur ein Raum gefallen. Der von Louise de Lorraine, der Ehefrau von Heinrich III., ganz oben unter dem Dach. Alle Wände sind schwarz getäfelt und übersät mit dem immergleichen Motiv, das bis zum Überdruss wiederholt wird auf den schweren Stoffen der Baldachine und auf jenen, mit denen die Fenster verhängt sind: Füllhörner weinen silberne Tränen. In einer Ecke eine kleine Hauskapelle und ein Porträt von Heinrich, schwarzes Wams und schwarze Kappe, Barttracht eines Musketiers, Saphir am Ohr, melancholischer Blick. Und ein wie für mich gewähler Spruch: Manet ultima caelo, »Die Letzte bleibt im Himmel«. Nur dass es sich nicht um die letzte Frau handelte, sondern um die letzte Krone nach denen Polens und Frankreichs, die sein sterbliches Haupt gekrönt hatte. Der Dominikaner Jacques Clément, ein christlicher Terrorist, sticht ihm 1589 ein Messer in den Bauch. In den Himmel, Heinrich! Auf Erden zurückgeblieben, verzehrt sich Louise vor Kummer und verwandelt dieses Zimmer in ihr Grab. Lebendig, doch tot. Ich liebte diesen Ort. Ich liebte dieses Schwarz. Ich liebte das gerahmte Christusbild, auf dem drei Tropfen Blut aus einem von Dornen umgebenen Herz quollen.

Dieses Herz war meins.

Was für einen Sinn hat es, mit einem Vater wie dir zu leben?, fragte ich mich, als ich aus dem Labyrinth kam, das Katharina von Medici sich für ihren Park gewünscht hatte. Verloren zwischen den Eibenhecken und so glücklich, sich zu verlieren, rief mein Sohn nach mir: »Wo bist du, Papa? Ich sehe dich nicht! Papa!«

Tränen liefen mir übers Gesicht und wurden schnell mit dem Ärmel weggewischt. »Papa, wo bist du?« Er sah mich nicht. Blind von dem Salz, das auf meinen Wangen brannte, zutiefst beschämt, weil ich ihm nicht antworten konnte, wünschte ich mir, die feuchte, mit halb verfaulten Blättern bedeckte Erde würde mich verschlucken. Und eine gute Fee würde ihn in einer Kutsche mit sich nehmen und sich um ihn kümmern.

Ohne mich wäre er besser dran. Ich habe wirklich keine Kraft mehr. Ich habe das Beste von mir an ihn weitergegeben. Das Übrige, meine Laster, das Päckchen meiner Neurosen, muss er das wirklich entdecken?

Er hat den Ausgang des Labyrinths gefunden und springt in meine Arme. Ich nehme sein Köpfchen in meine Hände. Er lächelt. Es ist unerträglich, denn er hat ihre Gesichtszüge, aber er ist nicht sie.

Ich will ihm die Hölle ersparen, die ihn erwartet, wenn ich bleibe.

Warum hat sie mir nichts hinterlassen?

Eine Erklärung?

Damit ich wenigstens weiß, was sie mit uns vorhatte?

*

In den Brennnesseln, das Grand-Guignol, das Gehirn auf den Mauern verspritzt. Ich will sauber sterben, diejenigen respektieren, die mich finden werden. Formvollendet, wie meine Möbel.

Ich werde gleiten. Ganz langsam.

Klarschiff machen.

Meine endgültige Lösung ist medikamentös.

*

Es ist Zeit. Ich stehe auf, um die Fenster zu schließen. Ich möchte nicht auch noch schwitzen. In Paris herrschen die Hundstage, dies caniculares. Das ideale Wetter für eine endgültige Erstarrung. Die Straßen sind menschenleer. Kein Geräusch in der Stadt, in der seit einem Jahr der Tod regelmäßig zuschlägt, im Namen eines orientalischen Gottes, der, wie es heißt, nach dem Blut derer dürstet, die nicht an ihn glauben.

Canicula: auf Lateinisch »kleine Hündin«. Das ist der Name, erzählt Plinius der Ältere in seiner Naturgeschichte – Gipfelwerk der Antike, das dort in meiner Bibliothek thront –, den die Römer dem Sirius gaben, dem Hauptstern des Sternbilds »Großer Hund«. Zu dieser Zeit des Jahres erwacht er zur selben Zeit wie die Sonne und »entfacht seine glühende Hitze«.

Nam caniculae exortu acendi solis uapores quis ignorat.

»Die Wirkungen dieses Gestirns sind die mächtigsten auf der Erde«, fügt Plinius hinzu, der übrigens beim Ausbruch des Vesuvs den Erstickungstod starb. Die Meere brodeln, die stehenden Gewässer bewegen sich, die Hunde sind anfälliger für die Tollwut.

Kurz, ein Stern geht auf, und ich gehe unter.

Stern und Unstern.

Ich scherze. Ich habe das Recht dazu.

Ich setze mich in die Küche. Ich betrachte die zehn Kapseln, die nebeneinander auf dem Tisch liegen wie die Kugeln eines pedantischen Scharfschützen. Ich habe bereits drei geschluckt, und die myorelaxierende Wirkung macht sich endlich bemerkbar. Myorelaxierend: muskelentspannend. Myo ist der Muskel auf Griechisch, und es ist merkwürdigerweise auch die Maus, wie in Myosotella myosotis, einer Schnecke, die »Mäuseöhrchen« heißt. Interessiert keinen? Vermutlich. Ich habe die Leute lange genug mit meiner Etymologie genervt. Ich kann nichts dafür. Ich liebe die Wörter, ihre alte Bedeutung, die Brücken, die dadurch gebaut werden. Das Gefühl einer Ordnung, eines Zusammenhangs, einer Verwurzelung, die einzige, die in dieser wahnsinnigen Welt noch Bestand hat. In der die Wörter nichts mehr bedeuten. In der die Wahrheit nicht mehr zählt. In der die feinen Unterschiede gestorben sind.

Eine Kapsel rollt. Ich lege den widerspenstigen Zylinder an seinen Platz zurück. Es ist die Nummer 7. Kleiner als die anderen, als die 8 und die 9, die rund sind. Ich schlucke die Nummer 4. Mit der Dosierung habe ich mich eingehend befasst. Wie man die Gefahr des Erbrechens, die zu rasche Bewusstlosigkeit vermeidet. Man findet alles im World Wide Web, die vollständige Übersetzung des Quintus von Smyrna und diese Art von Rezepten. Ich spüre die Ruhe, die eintritt. Es ist sanft. Ich konzentriere mich auf die Empfindung. Wie flüssige Watte in meinen Adern. Ich komme zur Ruhe.

Ich sagte Odysseus, aber nein, ich bin Sokrates, der inmitten seiner Gefährten den Schierlingsbecher leert. Nur dass ich keine Gefährten habe. Das ist ein bisschen meine Schuld. Sehr bald schon, nachdem sie weg war, wollte ich niemanden mehr sehen. Ich meine, wirklich sehen. Bei der Arbeit war mir nichts anzumerken. Ich vergrub mich darin. Ich war sogar wieder als Reporter unterwegs, weil die Welt überall blutete, weil man nirgendwo in Sicherheit war, weil man auf Europa keine Wetten mehr abschließen konnte. Wie hatte ich mir Illusionen über einen möglichen Zufluchtsort machen können? Nein, keine Freunde, mit Ausnahme der Papiergeschöpfe, die zwischen den Seiten meiner großen Bibliothek leben. Nur die Bücher können mich beruhigen, am Tag, in der Nacht, wenn das Gespenst zurückkehrt. Nur die Menschen aus längst vergangenen Zeiten vermögen zu meinem Herzen zu sprechen, dort, wo die Lebenden scheitern.

Meine Beine sind schwer, mein Herz schlägt langsamer …

Die Griechen nannten das »Atarexie«. Unerschütterlichkeit.

»… ich bin davon überzeugt, dass es für mich besser ist, bereits jetzt zu sterben und von den Sorgen des Lebens befreit zu sein.«

Schon komisch, diese ganze alte Kultur, diese alten Zitate, diese alten Mythen, die wie Champagnerperlen vom Grund des Glases aufsteigen, nur dass ich derjenige bin, der stirbt.

Sie haben mich mein ganzes Leben begleitet, jetzt entbieten sie mir einen letzten Gruß.

Ich spüre, dass sich alles verlangsamt hat. Ich tauche in einen Ozean aus Watte. Ich betrachte die Schachteln, kleine Fahrzeuge mit den Namen von Science-Fiction-Helden, die mich zum Nichts bringen. Auch wenn ich, ich gebe es zu, etwas Besseres erwarte als das Nichts. Überraschungen vielleicht? Sie wiederzufinden, wer weiß? Es ist so weit, ich gleite.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Was ist das für ein Geräusch?

Nana

Es läutet an meiner Tür. Leise und regelmäßig. Schüchtern zuerst, und dann immer nachdrücklicher. Ich höre es, trotz der Watte, die meinen Kopf ausfüllt. Es stört mich. Es ging mir gut, wie ich da auf meinem Hocker saß und die Pillen betrachtete, die ich noch zu schlucken hatte, und von dem Augenblick träumte, in dem ich mich auf den Fliesen meiner Küche ausstrecken würde, um mich von meinem Psychopompos, meinem molekularen »Seelengeleiter«, meinem Lord Voldemort aus Kapseln entführen zu lassen.

Ich werde nicht zur Tür gehen, natürlich nicht. Nicht in der Lage. Keine Lust.

Allerdings hört es nicht auf. Lauter jetzt. Was ist das für ein Idiot? Der alles vermasseln wird? Ich verstecke die restlichen Kapseln unter einem Küchentuch. Sich nicht ertappen lassen. Mühsam stehe ich auf. Blicke durch den Spion.

Eine junge Frau.

Eine junge Frau, die ich nicht kenne und die an meiner Tür läutet.

Ich gehe zurück in die Küche. Sie läutet immer noch. Ich gehe wieder zur Tür. Sie hält einen Motorrollerhelm in der Hand. Golden. Sie ist blond. Langes Haar.

Sie wird noch das ganze Viertel aufscheuchen. Mir meinen Augenblick rauben. Mein Kopf ist schwer, aber ich muss eine Entscheidung treffen. Schnell handeln. Ich öffne die Tür.

»Entschuldigen Sie. Ich habe meine Schlüssel vergessen.«

Ich hätte beinahe laut gelacht. Ein Typ versucht zu sterben, und ding dong, »Ich habe meine Schlüssel vergessen«.

»Ihre Schlüssel?« Meine Zunge ist schwer. Die Droge macht mich allmählich benommen. Sie hebt die Augenbrauen und sieht mich mitleidig an. Bevor sie ohne zu fragen eintritt.

Sie trägt ein weißes Kleid, das bis zur Mitte des Oberschenkels geht. Eine Wildledertasche mit Schulterriemen teilt ihre Brust in zwei sanfte Hügel. Und in der Hand dieser goldene Helm. Ja, die gibt es: Die Spieler der Notre Dame Fighting Irish Football, der American-Football-Mannschaft der University of Notre Dame in Indiana, tragen sie.

Sie muss zwanzig sein. Na ja, zweiundzwanzig … Sie geht den Flur entlang. Ihre schmalen Knöchel lassen die Achillessehnen erkennen, die in schlanke, sportliche Waden übergehen. Ich spüre in diesem Körper eine Energie, der ich nicht gewachsen bin, und das beunruhigt mich. Ich habe zu tun. Sie droht alles zu gefährden. Ich wünsche mir, sie wäre bereits wieder draußen.

»Pardon, aber wer sind Sie?«

Sie bleibt stehen, dreht sich um. Ich werfe einen genaueren Blick auf ihr ovales, vielleicht ein wenig männliches Gesicht, ihre sehr großen Augen mit langen Wimpern. Glatte Gesichtszüge, halb geöffneter Mund.

»Ihre Nachbarin von gegenüber.«

Sie mustert die Wohnung, den Flur, die Spiegel, die Lampen. Sie geht weiter. Sie inspiziert, selbstbewusst.

Ich wage zu widersprechen: »Meine Nachbarin von gegenüber ist achtzig …«

»Sie ist vor sechs Monaten gestorben«, erwidert sie.

Sie hat einen ausländischen Akzent, den ich nicht einordnen kann.

»Haben Sie das nicht mitbekommen?«

»Scheint so.«

Ich habe das Gefühl, diese junge Frau schon gesehen zu haben. Ich habe ein gutes Personengedächtnis. Als Babysitter habe ich sie nie gehabt, da bin ich sicher.

»Eine hübsche Statue«, sagt sie und deutet auf die Schwimmerin, die in meiner Diele steht, versenkt in ihrem Glasgefäß. Ich erzittere; die Geschichte dieser Statue weckt schmerzliche Erinnerungen.

»Entschuldigen Sie, aber was wollen Sie?«

Ich habe die Stimme nicht erhoben. Keine Kraft.

»Das sagte ich doch. Ich warte auf meine Schlüssel. Aber keine Angst, ich niste mich nicht ein … So sagt man doch?«

Ich antworte nicht. »Ich niste mich nicht ein«, das klingt nach »ein Nest bauen« oder nach befruchtetem Ei. Mir gefällt beides.

»Mein Bruder wird in ein paar Minuten hier sein. Ich habe ihn angerufen. Er bringt mir die Ersatzschlüssel. Bei Ihnen zu klopfen war mir lieber, als im Café zu warten. Da wir uns nicht kannten …«

Ich bleibe stumm. Mein Kopf füllt sich weiter mit kalter Watte.

»Ich hoffe, dass ich Sie nicht störe.«

Ich schüttele nur den Kopf, und beinahe wäre ich ohnmächtig geworden. Sie muss unbedingt gehen.

Ich habe größte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Sich nur nicht ertappen lassen. Das ist nicht die Stunde der jungen Frauen, das ist die Stunde des Todes.

»Wann kommt Ihr Bruder?«

»Bald.«

Sie geht noch ein Stück weiter, betritt das Wohnzimmer und bleibt vor der Bibliothek stehen. Eine Wand mit Budé-Ausgaben, dieser Sammlung, die nur wenige der unter Zwanzigjährigen kennen. Da steht nicht nur Plinius der Ältere, da gibt es fast alles. Die besten Autoren der antiken Literatur. Gelb für Griechisch, ziegelrot für Latein. Bei mir herrscht Gelb vor. Ich verehre diese Bücher. Sie fährt mit einem langen und schlanken Finger über ihre Rücken. Eine Geste, die mich überrascht, eine Liebkosung, die etwas verweilt. Die Fingernägel sind lackiert, farblos allerdings, die Finger ohne Ringe. Kein Schmuck um den Hals und an den Ohren. Zwei Goldreifen am Handgelenk. Ineinandergeschlungene Blätter. Ihr Zeigefinger verweilt auf einem der Bände, den sie aus dem Regal nimmt. Einen gelben, dessen Einband mit einer kleinen Eule geschmückt ist, dem Emblem der Sammlung. Sie blättert darin, als wäre sie alleine. Ich betrachte sie neugierig.

»Leihen Sie es mir?«, fragt sie.

Ich lasse mir mit der Antwort Zeit.

»Die Theogonie von Hesiod?«

»Sie ist zweisprachig. Das hilft mir, mein Französisch zu verbessern.«

Das erklärt ihren Akzent. Griechin also. Griechin und blond. Ich finde noch die Kraft, zu antworten.

»Ein Epos aus dem 8. Jahrhundert vor Christus, das die Erschaffung der Welt und die Schlachten zwischen den Göttern und den Ungeheuern erzählt, ich bezweifle, dass Ihnen das im heutigen Frankreich von Nutzen ist.«

»Warum nicht, wenn die Ungeheuer da sind?«

Das ist hübsch. Aber sie hat hier nichts zu suchen. Die Zeit drängt.

»Nehmen Sie es. Und jetzt, tut mir leid, ich werde erwartet.«

Sie legt das Buch in ihren Helm, den sie wie einen Korb hält, rührt sich aber nicht.

Sie reicht mir die Hand.

»Nana«, sagt sie.

Ich bin gezwungen, ihr in die Augen zu blicken. Sie sind nicht nur grün, sondern hellgrün, mit so etwas wie Goldspänen im Hintergrund. Ich wiederhole benommen: »Nana?«

»Ja, wie Mouskouri. Das wollten Sie doch sagen?«, fügt sie lachend hinzu.

Ihr Gesicht erhellt sich. Es strahlt, aber nicht genug, um meine Dunkelheit zu vertreiben.

»Und Sie?«, fährt sie fort.

»Wie bitte?«

»Wie heißen Sie?«

»César.«

Ich habe immer noch ihre Hand in der meinen. Doch es ist eher sie, die mich festhält. Das Aufheulen eines Motors dringt durch die Fenster.

»Marcello«, murmelt sie, bevor sie auf dem Absatz kehrtmacht.

Das wurde auch Zeit. Dumpfe Geräusche sind auf der anderen Seite des Treppenabsatzes zu vernehmen. »Nana!«, brüllt eine kehlige Stimme, während Hände gegen die Tür gegenüber hämmern.

»Weiß er wirklich, dass Sie Ihre Schlüssel nicht haben?«

Ein Blitz zuckt in ihren Augen. Eine Spur von Grausamkeit.