Die große Trockenheit - Tim Smedley - E-Book
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Die große Trockenheit E-Book

Tim Smedley

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Beschreibung

Wir leben in einer beginnenden Dürrezeit. Die Welt stöhnt unter einer Hitzewelle nach der anderen und mittlerweile wissen wir: Selbst Zentraleuropa trocknet aus. Unsere Wasserreserven schwinden in erschreckendem Tempo. Ein globales Problem: Wassermangel und die Verunreinigung von Wasser sind bereits Ursache für Flüchtlingswellen, der globale Süden verdurstet, vierzehn der größten Städte weltweit sind von Wasserknappheit betroffen. Die Hälfte der größten Wasserreservoire der Welt – ob in Indien, China, den USA oder Frankreich, schrumpft.

Tim Smedley zeichnet in seinem Buch ein schockierendes Bild vom Zustand der Trinkwasserreserven gerade auch in den europäischen Ländern und lenkt den Fokus auf hoffnungsvolle und hochinteressante Lösungsansätze. Er spricht mit Experten, Forschern, Opfern der Trockenheit und Aktivisten auf der ganzen Welt, um ein absolut klares Bild der Krise und der möglichen Lösungen zu gewinnen. Was machen Singapur und Israel richtig und Kalifornien nicht? Wie effizient sind Salzwasseraufbereitung und Regenwasserreservoirs? Was bringt es, wenn wir auf Konsumgüter aus wasserarmen Regionen verzichten? Kann man Eisberge vor wasserarme Küsten schleppen? Ein spannender Aufruf zur Rettung unseres Trinkwassers.

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Bis zum letzten Tropfen – warum verschwindet das Trinkwasser und wie bekommen wir es zurück?

Wir leben in einer beginnenden Dürrezeit. Die Welt stöhnt unter einer Hitzewelle nach der anderen: Selbst Zentraleuropa trocknet aus. Unsere Wasserreserven schwinden in erschreckendem Tempo. Ein globales Problem: Wassermangel und die Verunreinigung von Wasser treiben bereits unzählige Menschen in die Flucht, der globale Süden verdurstet, vierzehn der größten Städte weltweit sind von Wasserknappheit betroffen. Tim Smedley zeichnet ein schockierendes Bild vom Zustand der Trinkwasserreserven gerade auch in den nordeuropäischen Ländern und lenkt den Fokus auf hoffnungsvolle und hochinteressante Lösungsansätze. Was machen Singapur und Israel richtig und Kalifornien nicht? Wie effizient sind Salzwasseraufbereitung und Regenwasserreservoirs? Was bringt es, auf Konsumgüter aus wasserarmen Regionen zu verzichten?

»So sicher, wie auf Mai Juni folgt, werden wir von nun an jedes Jahr Klimakatastrophen erleben, die schlimmer sind als die des Vorjahres. […] Die gleichzeitig gute und schlechte Nachricht ist, dass Wasserkrisen […] für gewöhnlich nicht durch das Klima, sondern durch menschliches Fehlverhalten verursacht werden. Doch mit der Verschärfung des Klimawandels, veränderten Niederschlagsmustern und stetig mehr Klimaflüchtlingen schrumpft die Zeitspanne, die uns bleibt, um noch die Kurve zu kriegen. Wir sind dabei, die Wasserquellen zu erschöpfen, von denen unsere Existenz abhängt. Damit können wir weitermachen, bis zum allerletzten Tropfen. Oder wir entscheiden uns dafür, den Kurs zu ändern, bevor es zu spät ist. Es ist nicht die Welt, der das Wasser ausgeht. Es sind die Menschen. Dieses Buch erzählt, wie es zu der Krise kam und wie wir die Katastrophe noch abwenden können.« (Tim Smedley)

Tim Smedley

Die großeTrockenheit

Hitze, Dürre, Wassernot

Was kann die Welt noch vor dem Verdursten retten?

Aus dem Englischen von Elisabeth Schmalen

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Last Drop. Solving the World's Water Crisis bei Pan Macmillan.

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Deutsche Erstausgabe 2023 © by Tim Smedley 2023

First published 2023 by Picador an imprint of Pan Macmillan,

a division of Macmillan Publishers International Limited

© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Gisela Fichtl

Umschlaggestaltung: eisele grafik design unter Verwendung eines Fotos von: Bigstock/alfotokunst

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30116-3V001

www.Ludwig-Verlag.de

»Doch immer wieder vergaßen die Menschen während der trockenen Jahre die üppigen und verloren während der feuchten Jahre die Erinnerung an die trockenen. Immer wieder ging es so.«[1]

John Steinbeck, Jenseits von Eden (1952)

»Wasser ist kostbar. Ja, manchmal noch kostbarer als Gold.«[2]

Der Schatz der Sierra Madre (1948)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung:  Gewässer in Not

TEIL EINS   Bis zum letzten Tropfen

1  Der nächste Day Zero

2  Der Wasserkreislauf im Umbruch

3  Wie der Westen verloren ging

4  Bodenverluste

5  Die neue Verschmutzung

6  Die Probleme in England

7  Woher kommt der grüne Spargel?

TEIL ZWEI AUF ZU NEUEN UFERN

8  Die Rückzahlung der Schulden

9  Neue Wasserquellen

10  Schwere Entscheidungen, kluge Lösungen

11  Einfachere Lösungen

12  Renaturierung

Fazit:  Wir müssen uns mehr anstrengen

Dank

Anmerkungen

TEIL EINS

Bis zum letzten Tropfen

1  Der nächste Day Zero

Auf dem Weg von Amman hinab in den Jordangraben überwinden wir innerhalb weniger Minuten einen Höhenunterschied von 1400 Metern. Zu meiner Überraschung – vielleicht, weil ich die Erfahrung nur aus dem Flugzeug kenne – bekomme ich Druck auf den Ohren. Am Grund des Tals angekommen, passieren wir Anbauflächen, auf denen sich unzählige Reihen nackter Metallringe erstrecken, Skelette von Pflanztunneln. Der Boden ist mit schwarzen Plastikfetzen durchsetzt, Überreste der Folie, mit der man die Felder in der Anbausaison abdeckt, um die Feuchtigkeit zu binden, und die hier anschließend einfach untergepflügt wird. Nasser fährt langsamer und zeigt auf seine Lieblingsdattelfarm. Ich frage mich, ob ich wohl jemals zuvor jemanden getroffen habe, der eine Lieblingsdattelfarm hat. Wir verbringen viel Zeit damit, unser Ziel zu suchen. In Jordanien gibt es keine genauen Adressen, und es gibt auch keine offizielle Post. Das Tal ist der Wilde Westen des Landes, hier drängen sich kleine Ansiedlungen rund um eine einzige Hauptstraße, die von Norden nach Süden verläuft. Die Menschen verdienen ihr Geld mit Landwirtschaft, kleinen Läden oder Dienstleistungen. Auf den Straßen ist mehr los, als bei der Hitze möglich scheint. Zwischen den großen Feldern der Bewässerungslandwirtschaft sehen wir einzelne Straßenverkäufer, Feigenplantagen, den einen oder anderen Schäfer mit seiner Herde, Jungen, die abwechselnd auf einem Esel reiten, vertrocknete Wüstenlandschaft und – immer mal wieder – den König-Abdallah-Kanal.

Dieser Kanal ist das jordanische Gegenstück zum »National Water Carrier« in Israel: Beide wurden Anfang der 1960er-Jahre gebaut, um Wasser aus den Flüssen Jarmuk und Jordan in die großen Städte des jeweiligen Landes zu leiten. Der israelisch-jordanische Friedensvertrag von 1994 gesteht Jordanien jährlich 50 Millionen Kubikmeter Wasser zu, darunter 75 Prozent aus dem Jarmuk, dem Grenzfluss zu Syrien, plus 20 Millionen Kubikmeter, die durch Rohrleitungen aus dem See Genezareth nach Jordanien gelangen. All dieses Wasser landet im König-Abdallah-Kanal. Für die Hauptwasserquelle eines ganzen Landes wirkt der Kanal von der Straße aus ziemlich bescheiden – als würde ganz Nordengland sein Wasser aus dem Leeds-Liverpool-Kanal beziehen.

Yana Abu Taleb, die jordanische Direktorin von EcoPeace Middle East, will mir die Quelle des Kanals zeigen – das Abschlagsbauwerk, wo jedes Land seinen Anteil bekommt. Da wir uns nahe an der Grenze zu Syrien und Israel bewegen, sind die Sicherheitsvorkehrungen groß; wir werden von bewaffneten Wachen durchsucht und dann ins Niemandsland durchgewunken, wo wir einen guten Blick auf das Jarmuk-Tal haben. Am Horizont ist der See Genezareth zu erkennen; darunter weichen die sonnengebleichten Berge und Schluchten einem schmalen, grünen Band, das den Verlauf des Flusses markiert. Ein Anwohner erzählt mir später, dass der Jarmuk nur noch ein Viertel dessen sei, was er früher war; die Wasserentnahme weiter stromaufwärts (und das Wasserverteilungsabkommen zwischen Jordanien und Israel von 1987), der syrische Bürgerkrieg und der Klimawandel hätten ihm schwer zugesetzt. Ein Stück weiter oben im Tal ragt eine kaputte, verrostete Brücke im osmanischen Stil auf, über die einst die Hedschasbahn* fuhr – sie verläuft deutlich höher über den Fluss, als heute notwendig wäre. Diese drei zusammen zu sehen, den schmalen Kanal und die beiden wasserarmen, grenzüberschreitenden Flüsse, führt mir noch einmal eindrücklich vor Augen, wie prekär die Wasserlage in der Region ist.

Der Wassermangel in Jordanien ist so groß, dass das Land immer mehr importieren muss, um die Versorgung zu gewährleisten, doch das ist extrem kostspielig. Das Wasser, das den Jordaniern durch das Abkommen von 1994 zusteht, erhalten sie zum »Selbstkostenpreis« von 4 US-Cent pro Kubikmeter von Israel. 2021 bat Jordanien um weitere 50 Millionen Kubikmeter jährlich zum selben Preis. Israel sagte, so billig ginge es nicht, erzählt mir Yana, aber ihrer Meinung nach dürfte das Land bald einwilligen, da es wisse, wie wichtig »unsere Landesgrenze für die nationale Sicherheit ist. […] Es ist in ihrem eigenen Interesse.« Ein Großteil der Arbeit von EcoPeace besteht darin, die gemeinsamen Interessen zu fördern. Allein schon die Existenz der Organisation, deren Team zu gleichen Teilen aus Palästinensern, Israelis und Jordaniern besteht, mit einem Direktor aus jeder dieser Gruppen, ist ein Symbol – sie zeigt, was durch Zusammenarbeit möglich ist.

Im November 2021 wies König Abdullah höchstpersönlich** seine Regierung an, eine bessere Langzeitstrategie für die Wasserfrage zu erarbeiten. Das Wasserministerium ging davon aus, dass sich der Bedarf 2022 auf etwa 555 Millionen Kubikmeter belaufen würde, obwohl nur 510 Millionen Kubikmeter zur Verfügung stehen. Dr. Raya Al-Masri, eine jordanische Wissenschaftlerin vom Zentrum für Umwelt und Nachhaltigkeit an der Surrey University in England, berichtete mir, dass die Stauseen in Jordanien in den meisten Jahren zu 40 bis 60 Prozent gefüllt sind, »was [in der Summe] etwa 340 Millionen Kubikmetern entspricht. Aber dieses Jahr [2021] sind es weniger als 30 Prozent. Das ist ein enormes Defizit.« Der Plan des königlichen Wasserministers, um dieses Defizit auszugleichen, besteht darin, die Grundwassermenge, die aus dem mit Saudi-Arabien geteilten Disi-Aquifer entnommen wird, von 12 auf 14 Millionen Kubikmeter zu erhöhen. Doch Fachleute wie Al-Masri sind sich nicht einmal sicher, ob das kurzfristig helfen würde, geschweige denn auf lange Sicht. Als man 2010 begann, den Grundwasserleiter anzuzapfen, hätten die Verbesserungen in der Wasserversorgung von Amman nur bis 2013 angehalten, erklärt sie mir. Anfangs habe es geheißen, dort unten sei genug Wasser für 50 Jahre.[1] Doch jetzt macht es den Eindruck, als würde die Menge auf Dauer nicht ausreichen; neue Quellen werden schon vor 2025 nötig sein. Das sind nur 15 Jahre. Die Differenz ist Al-Masri zufolge darauf zurückzuführen, dass die Bedarfskalkulation auf einer deutlich geringeren Bevölkerungszahl basierte und ohne Berücksichtigung der Auswirkungen des Klimawandels durchgeführt wurde. Die letzte Volkszählung in Jordanien ergab, dass unter den insgesamt 10,2 Millionen Einwohnern 1,3 Millionen Syrer sind – ein Anstieg um fast 15 Prozent. »Durch die Geflüchteten ist die Bevölkerung im Norden stark angewachsen, also braucht man mehr Wasser«, erläutert Al-Masri. »Die Versorgung in der Region war ohnehin fragil und der größte Grundwasserleiter bereits leer gepumpt.«

Die Kosten, die entstehen, wenn mehr Wasser aus noch tieferen Schichten des Disi-Aquifers heraufgepumpt wird, sind auch deshalb untragbar, weil die Qualität des Wassers immer schlechter wird, je weiter der Grundwasserleiter erschöpft wird. Irgendwann wird es extrem mineralienhaltig, womöglich sogar radioaktiv und schwer aufzubereiten sein. Ein Teil des angepriesenen »Fünfzig-Jahre-Vorrats« hätte ohnehin im Boden bleiben müssen, Syrienkrieg hin oder her. Doch ohne eine alternative Wasserquelle ist man auf diesen fossilen Bestand angewiesen. Das verringert die Zeitspanne, in der er nutzbar ist – und rückt Jordanien näher an einen Day Zero heran, den »Tag Null«, an dem dem Land das Wasser ausgeht und strenge Rationierungen nötig werden. Laut Aussagen des World Resources Institute (Weltressourceninstitut, WRI) befinden sich 12 der 17 Länder mit der angespanntesten Wassersituation im Nahen Osten und Nordafrika; Jordanien ist sogar unter den Top 5. Amman wurde lange zweimal wöchentlich aus dem Netzwerk beliefert, erzählt Yana. »Jetzt kommt das Wasser nur noch einmal in der Woche und manchmal nur für acht Stunden. Können Sie sich vorstellen, wie schwierig das ist?« Omar Shoshan, der Vorsitzende der jordanischen Umweltvereinigung Jordan Environmental Union, erklärte der Jordan Times: »Wir sind dem Day Zero schon ganz nahe.«[2]

Day Zero in Kapstadt

Es war die Stadtverwaltung von Kapstadt, Südafrika, die Ende 2017 den Begriff Day Zero prägte: für den Tag, an dem die Wasserversorgung der Vier-Millionen-Stadt abgestellt würde und die Bürger sich an Notbrunnen anstellen müssten, um sich ihre tägliche Ration abzuholen. Kapstadt wäre an diesem Punkt, wenn die Füllmenge der großen Stauseen der Stadt auf unter 13,5 Prozent fiel. Da damals keine Niederschläge zu erwarten waren, ging man davon aus, dass Day Zero am 12. April 2018 erreicht wäre. Der Begriff entwickelte sich zu einem Weckruf, der ganz Kapstadt in Angst und Schrecken versetzte und die Bewohner zum Handeln bewog. Auf öffentlichen Toiletten hingen plötzlich Schilder mit Aufschriften wie »Verhindern Sie Day Zero. Spülung bitte erst nach viermal Urinieren betätigen.« und »Ist’s gelb und flüssig, ist das Spülen müßig. Ist’s braun und fest, gib ihm den Rest.« Hotels flehten ihre Gäste an, das Duschen auf 90 Sekunden zu beschränken, und fingen das Abwasser in Bottichen auf, um es in der Toilettenspülung weiterzuverwenden. Schwimmbecken wurden geleert, Gärten vertrockneten. Die Gegend, die die Stadtgründer einst wegen ihres üppigen Wasservorkommens ausgewählt hatten, war zwei Jahre in Folge von einer »Jahrtausenddürre« heimgesucht worden. »Sollte es so weit kommen, wäre Kapstadt weltweit die erste Großstadt, die sämtlichen Haushalten das fließende Wasser abstellt«, schrieb die Zeitung Globe and Mail. Kapstadts damalige Bürgermeisterin, Patricia de Lille, erklärte auf einer Pressekonferenz: »Wir sind an einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt.«

Am 1. Januar 2018 verkündete die Stadt die Wasserrationierung gemäß »Stufe 6«: 87 Liter pro Person pro Tag (die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt mindestens 100 Liter für eine ausreichende Hygiene und Gesundheitsversorgung). Im Februar wechselte man in »Stufe 6B« – 50 Liter pro Person pro Tag. Dann wurden die finalen Pläne für den errechneten Day Zero im April bekannt gegeben: Man würde sämtliche Wasserleitungen zudrehen und stattdessen über die Stadt verteilt 200 Notbrunnen errichten. Diese Notbrunnen, von den Einheimischen als »pods« bezeichnet, würden täglich nur 25 Liter pro Person ausgeben (im Vergleich: in den USA liegt der durchschnittliche Tagesverbrauch bei rund 380 Litern***). Neben den »pods« sollten Toiletten aufgebaut werden, wo man mit Schlangen von bis zu 5000 Menschen rechnete.[3] Louise Stafford, Direktorin des Südafrikanischen Wasserfonds für die Naturschutzorganisation The Nature Conservancy (TNC), die am Stadtrand von Kapstadt wohnt, erinnert sich noch an die logistischen Vorbereitungen, die kurz vor dem 12. April getroffen wurden. Man erstellte gemeinsam Pläne, sagt sie; die Leute erkundigten sich, wo der nächste Notbrunnen stehen würde, und fingen ihr Duschwasser in Eimern auf. »Alle richteten sich auf das Schlimmste ein. […] Wie würden die Menschen in inoffiziellen Siedlungen an Wasser kommen? Die Auswirkungen waren enorm. Manche verfielen in Panik.« In Staffords Blog war damals zu lesen: »Mehr als 30000 Menschen im Landwirtschaftssektor haben ihre Arbeit verloren, weil die Pflanzen nicht bewässert werden können. Einige Bauern schneiden die Knospen aus ihren Obstbäumen, da die Bäume irreparabel Schaden nehmen könnten, wenn sie Früchte tragen, aber kein Wasser bekommen. Das wird sich auch auf die nächste Ernte auswirken. Kapstadt erhält Futtermittelspenden von außerhalb der Stadt, weil es einen Mangel an Tiernahrung gibt.«[4]

Im März kam der Regen dann doch, und die Wasserspeicher füllten sich langsam wieder. Im Mai 2018 rutschte das Theewaterskloof-Reservoir, das mit Abstand größte des Wassersystems, unter die Day-Zero-Schwelle, auf 12 Prozent, doch die fünf kleineren Stauseen standen deutlich besser da, mit im Schnitt 21 Prozent. Das Datum des Day Zero wurde erst auf Juni und dann, dank der Winterniederschläge, in unbestimmte Zukunft verschoben. Die Notbrunnen wurden nie installiert. Zumindest noch nicht.

Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte in Städten und der zunehmenden Verstädterung ist die urbane Wasserversorgung besonders anfällig. Schätzungen zufolge werden im Jahr 2050 685 Millionen Menschen in mehr als 570 Städten durch den Klimawandel einen Rückgang des verfügbaren Süßwassers um mindestens 10 Prozent hinnehmen müssen. In einem Bericht der Vereinten Nationen heißt es: »Einige Städte, wie Amman, Kapstadt und Melbourne, könnten Einschränkungen der Süßwasserverfügbarkeit in Höhe von 30 bis 49 Prozent erleben, während sie in Santiago möglicherweise über 50 Prozent betragen.« Die nüchterne Schlussfolgerung: »Es ist wahrscheinlich, dass dies schwerwiegende gesellschaftliche Auswirkungen nach sich zieht.«[5]

Die Frage ist nicht, ob, sondern wo der nächste Day Zero ansteht. Potenzielle Kandidaten gibt es viele. Dieses Kapitel – und das ganze Buch – zielt nicht darauf ab, eine erschöpfende Liste zusammenzustellen. Stattdessen möchte ich eine Sammlung von universell relevanten Geschichten teilen, die wegen der Wasserknappheit am Abgrund stehen. Diese Geschichten ergeben zusammen ein Bild der Welt.

Kapstadts Day Zero war bereits mehr als ein Jahrzehnt zuvor vorhergesagt worden. 2006 hielten die Forscher Asit K. Biswas und Cecilia Tortajada – damals für das Institute of Water Policy an der Lee Kuan Yew School of Public Policy in Singapur tätig – im Auftrag des südafrikanischen Wasserministeriums einen Vortrag, in dem sie prophezeiten, dass »mindestens eine Metropole der Welt innerhalb der nächsten 20 Jahre eine überaus schwerwiegende Wasserkrise erleben wird. Das Ausmaß dieser Krise wird so groß sein, wie es noch keine Generation zuvor erlebt hat.« In einem gemeinsam veröffentlichten Fachartikel von 2018 griffen die beiden das Thema noch einmal auf und schrieben, dass Kapstadts Day Zero »unsere Berechnungen bestätigte«, bevor sie eine neue Prognose tätigten: »Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden mindestens zehn wichtige Städte Indiens eine noch schlimmere Wasserkrise erleben als Kapstadt.«[6] Nur ein Jahr später ging Chennai, mit rund 11 Millionen Einwohnern, das Wasser aus.

Chennai, Indien

Im Juli 2019 fielen alle vier großen Stauseen, aus denen Chennai, die sechstgrößte Stadt Indiens, versorgt wird, trocken. Das hieß nicht, dass ihr Pegelstand auf 12 Prozent der Maximalkapazität oder so etwas sank – sie bestanden nur noch aus rissigem Schlamm. Anfang des Monats belief sich die gesamte Füllmenge auf nur 0,1 Prozent.[7] Es gab keine öffentliche Wasserversorgung mehr. Day Zero hatte die Millionenstadt voll erwischt. In den Straßen stauten sich die Tankwagen privater Wasserlieferanten, an denen verzweifelte Menschen Schlange standen. Zunächst wurden Milchwagen umgewidmet, um damit Wasser aus dem 220 Kilometer entfernten Jolarpet herbeizuschaffen, kurz darauf auch Öl- und Benzintransporter. Man saugte das Wasser aus verlassenen Steinbrüchen, behandelte es mit Chlor und verteilte es an notleidende Stadtbewohner.[8] Alpana Jain, die beruflich regelmäßig in Chennai ist, erzählt mir: »Die Menschen erhielten nur alle zwei Wochen Wasser aus einem Tankwagen; sie standen Schlange und befüllten dann mehrere Gefäße. Sie hörten auf zu baden, versuchten, sich ohne Wasser zu waschen, sparten, wo es nur ging. Es war eine Herausforderung.« In wohlhabenderen Stadtteilen, wo die Hausbesitzer private – oft illegale – Grundwasserbrunnen hatten, »wurde nun tiefer gebohrt. Selbst 120 Meter tiefe Brunnen waren trocken. Also vertiefte man sie, aber so manch einer fand nichts als Gestein.«

Jain ist heute Stadtbeauftragte von The Nature Conservancy Indien, ihr Fokus liegt auf dem Thema Wasser. »Chennai hat in den letzten zehn Jahren abwechselnd Überschwemmungen und Dürren erlebt«, sagt sie. Früher gab es dort etwa 1000 Seen, von denen heute nur noch 200 übrig sind – und diese wiederum dienen als »Abladeorte für Müll und Abwasser«. Mit den Seen und Feuchtgebieten verlor Chennai seine Widerstandsfähigkeit. »Feuchtgebiete können bei Überschwemmungen das überschüssige Wasser aufnehmen und es für die Zeit der nächsten Dürre oder die Trockensaison speichern«, erklärt Jain. Doch als diese Feuchtgebiete zerstört, geschwächt oder einfach bebaut wurden, war das nicht länger der Fall.

Ich frage nach, wie die Krise von Chennai in Indien insgesamt aufgenommen wurde. Waren die Menschen geschockt, als eine ihrer größten Städte ohne Wasser dastand? »Absolut«, sagt Jain. »Jedes Mal, wenn es eine Dürre oder eine Überschwemmung gibt, besinnen sich die Menschen und fangen an, jeden Tropfen Wasser zu sparen. Aber dann setzt das Vergessen ein. Dieses Mal war es anders. Es war ein neues Bewusstsein entstanden. Zeitgleich gab die Zentrale Planungskommission Indiens einen Bericht heraus, in dem zu lesen war, dass bis 2030 fast 20 Großstädten in Indien das Wasser ausgehen könnte. Auch das war ein Riesenthema.« Die Bauordnung von Chennai sieht schon länger vor, dass sämtliche Neubauten mit Regenwassertanks ausgestattet sein müssen, was die Krise von 2019 hätte abwenden können. »Indien ist sehr gut darin, hervorragende Regeln aufzustellen«, sagt Jain. »Die schwerste Aufgabe ist, sie durchzusetzen. Darin sind wir nicht so gut. […] Wenn sie [die Tanks] verstopften oder so, hat sich niemand darum gekümmert. Und plötzlich gab es eine Urbanisierungswelle, massenhaft Leute zogen vom Land in die Stadtgebiete, und ab da ging alles schief.«

Vaibhav Chaturvedi, Mitglied des Council on Energy, Environment and Water (Rat für Energie, Umwelt und Wasser, CEEW) in Delhi, ist der Meinung, dass der Day Zero Chennai in Sachen Wassermangel »aufgeweckt« habe. »Die Menschen dort waren völlig entgeistert, so etwas hätten sie nie erwartet. Chennai ist eine Stadt mit hohem Durchschnittseinkommen, eine der Metropolen Indiens.« Aber, fährt er fort, »es ist nicht die einzige Stadt, in der ein solch schwerwiegendes Wasserproblem möglich ist. […] Egal, welchen Bundesstaat man sich anschaut, es gibt überall extrem trockene Regionen.« Dass Wasser rund um die Uhr aus dem Hahn kommt, sei in Indien ohnehin so gut wie nirgendwo der Fall, sagt Vaibhav. Der Regierungsbericht, den Jain erwähnt hat, spricht eine deutliche Sprache: »Berechnungen zufolge wird der Wasserbedarf die verfügbare Menge bis 2030 um das Doppelte übersteigen, was einen schwerwiegenden Wassermangel für Hunderte Millionen Menschen bedeutet. […] 54 Prozent der indischen Grundwasserbrunnen trocknen aus, und 21 Großstädten wird voraussichtlich das Grundwasser ausgehen.«[9]

Jackson, Mississippi

Am 4. März 2021 machte Jazmine Walker ihrer Verzweiflung auf Instagram Luft. In einem leidenschaftlichen, vierzehnminütigen Video erklärte sie: »Ich habe nun schon seit über zwei Wochen kein sauberes Wasser mehr.«[10] Aus den Wasserhähnen »kommt mal etwas, mal nicht – heute Morgen kommt nichts, und wenn doch, kann man es nicht zum Waschen, nicht zum Kochen und nicht zum Trinken verwenden.« Ein historischer Wintereinbruch in den Südstaaten der USA hatte dafür gesorgt, dass viele Wasserleitungen in der größten Stadt des Bundesstaates Mississippi eingefroren und geplatzt waren. In den Hauptleitungen waren mindestens 80 Brüche und Lecks gemeldet worden. Extremwetterereignisse wie dieses sind historisch gesehen die absolute Ausnahme, könnten aber zur Norm werden – 2020 waren die USA von einer ähnlichen Kältewelle heimgesucht worden –, da der Golfstrom durch die steigenden Temperaturen in der Arktis an Kraft verliert und dadurch einstmals »arktische« Wettersysteme weiter nach Süden gedrückt werden. »Wir dürfen es nicht einfach zur neuen Normalität erklären, keinen Zugang zu sauberem Wasser zu haben«, appellierte Walker. »Das ist unmenschlich, vor allem im – in Anführungsstrichen – reichsten Land der Welt.« Zum Trinken und Zähneputzen war sie auf Wasser in Flaschen angewiesen. Vielen Menschen blieb nichts anderes übrig, als Schnee und Eis zu schmelzen, um sich zu waschen. Eine Lokalzeitung informierte: »Nicht trinkbares Wasser (für die Toilettenspülung) ist am Montag von 9 bis 18 Uhr an diesen Orten erhältlich«, gefolgt von einer Liste von Turnhallen und Gemeindezentren.[11]

Walker, eine Schwarze in einer zu 80 Prozent von Schwarzen bewohnten Stadt, meinte, es sei »kein Zufall«, dass dies ausgerechnet hier geschehe. Trinkwassersysteme, die gegen die staatlichen Mindeststandards verstoßen, treten laut dem Natural Resources Defense Council (Nationaler Rat zum Schutz natürlicher Ressourcen, NRDC) mit 40 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit in Städten oder Gegenden auf, in denen viele nicht-weiße Menschen leben. Grund dafür ist die langjährige Unterfinanzierung der städtischen Infrastruktur. Mehr als ein Viertel der Bewohner von Jackson leben unterhalb der Armutsgrenze, was Erinnerungen an den Wasserskandal im mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Flint im Bundesstaat Michigan fast vier Jahre zuvor weckt, wo das Grundwasser aufgrund von chronisch unzureichenden Investitionen mit Blei verseucht war. In solchen Fällen bleiben selbst grundlegende Aufgaben liegen. Der Lokalpolitiker Ronnie Crudup erklärte dem Nachrichtensender NBC News: »Die Infrastruktur war immer schon ein Problem hier, das jahrelang jede Regierung nur vor sich hergeschoben hat. Es ist eine Langzeitaufgabe, aber jetzt zahlen wir für das Versäumnis einen hohen Preis.«[12] Der Bürgermeister von Jackson, Chokwe Antar Lumumba, fügte hinzu, dass für die Instandsetzung des Trink- und Abwassersystems der Stadt mindestens 2 Milliarden Dollar nötig seien. »Die Frage lautet nicht, ob die Systeme versagen, sondern wann«, sagte er im Podcast Mother Jones. »Überall platzen Rohre, weil sie über 100 Jahre alt sind. Sie sind so brüchig wie Erdnusskrokant.«[13]

Die Aufforderung an die Bürger von Jackson, das Leitungswasser vor der Nutzung abzukochen, wurde am 17. März aufgehoben, nachdem die Stadt fast einen Monat ohne Trinkwasser hatte auskommen müssen. Parallel dazu meldet die New York Times immer mehr Trockenheit und Wasserknappheit in den USA: »Laut staatlichen Prognosen wird bis 2040 fast der gesamte Bereich westlich von Missouri unter extremem Wassermangel leiden. Aus dem Memphis-Sands-Aquifer, der entscheidend zur Wasserversorgung von Mississippi, Tennessee, Arkansas und Louisiana beiträgt, werden bereits jetzt täglich Hunderte Millionen Liter zu viel entnommen.« Hinzu kommt: »In Bundesstaaten wie Texas, Florida und Georgia werden mindestens 28 Millionen Amerikaner ähnliche ›Megabrände‹ erleben, wie wir sie jetzt schon in Kalifornien sehen.«[14] Waldbrände sind sowohl ein Symptom als auch eine Ursache von Wassermangel. Viele Regionen sind auf Bäume und Wälder als natürliche Wasserfilter angewiesen, die sauberes Wasser in Flussläufe leiten – wenn es gebrannt hat, ist dieser »natürliche Service« verschwunden.

Mexiko-Stadt

Die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, beschrieb die Dürre von 2021 als die schlimmste, die die Stadt in den letzten 30 Jahren erlebt hatte. Weite Teile des Landes, insgesamt 80 Prozent, litten unter historisch geringen Niederschlägen. Aber Mexiko im Allgemeinen und Mexiko-Stadt im Besonderen flirten schon lange mit Day Zero. Ironischerweise prasselt während meines Gesprächs mit Anaid Velasco, die als Umweltanwältin für das Mexikanische Zentrum für Umweltrecht (CEMDA) arbeitet, ein schwerer Regenschauer auf die größte Stadt Nordamerikas nieder. »Leider löst der Regen nicht das Problem des Wasserzugangs in Mexiko-Stadt«, erklärt sie. Durch die schlechte Infrastruktur »fließt er direkt ins Abwasser; er wird vergeudet. Saisonale Niederschläge richten nichts gegen den grundsätzlichen Mangel aus. […] Wir schwanken zwischen extrem nass und extrem trocken.«

Wie viele alte Städte trägt auch Mexiko-Stadt schwer an seiner Kolonialvergangenheit: »Die Spanier haben die Seen leer gepumpt und die Flüsse durch Rohre geleitet – ein ziemlich verrückter Weg, eine Stadt zu gründen«, sagt Velasco. Durch Überentnahme senkt sich die Stadt jährlich um durchschnittlich 50 Zentimeter ab; Hunderte privater Brunnen saugen den Boden aus wie ein Milchshake durch einen Strohhalm.[15] Die Stadt ist auf dem Gebiet des einstigen Texcoco-Sees errichtet, auf den Überresten der legendären »schwimmenden« Aztekenstadt Tenochtitlán, und droht durch die immer tieferen Bohrungen nach Wasser ständig weiter abzusinken. »Wir nehmen nicht genug Rücksicht auf den Wasserkreislauf; wir schaffen es einfach nicht, genug Wasser wieder in die Erde fließen zu lassen«, sagt Velasco. »Also müssen wir uns an anderen Wassersystemen bedienen – in gewisser Weise berauben wir andere Gemeinden.«

In Mexiko-Stadt, sagt Velasco, gingen ungefähr 40 Prozent des Wassers durch Lecks im Leitungsnetz verloren. Das ist deutlich mehr als der weltweite Durchschnitt****, aber ein unsichtbares Problem, das politisch wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht und für das wenig öffentliche Gelder da sind, obwohl die Wasserknappheit ein bekanntes Problem darstellt. Genau wie die meisten Bewohner der Stadt trinkt auch Velasco das Wasser nicht direkt aus der Leitung. Sie benutzt einen Wasserfilter, doch vielen Menschen reicht auch der nicht aus, was zur Folge hat, dass die Stadt mit 73 Prozent wohl die höchste Quote an Flaschenwassertrinkern der Welt hat.[16] Viele Haushalte haben nicht einmal Zugang zu minderwertigem Wasser: »Sie bekommen gar keins«, betont Velasco. Die betroffenen Gebiete, darunter auch der dicht besiedelte Bezirk Iztapalapa, sind auf Wasser aus Tankwagen angewiesen, das mindestens »zehnmal so teuer« ist wie das aus den öffentlichen Wasserleitungen. Die noch Ärmeren, die an den steilen Hängen des Acalpixca leben, bekommen ihr Wasser auf Eseln geliefert, die jeweils 4 Zwanzig-Liter-Kanister tragen.[17] Wenn die Politiker in diesen Gegenden auf Stimmenfang gehen, versprechen sie Zugang zur Wasserversorgung, erzählt Velasco, aber wenn sie dann gewählt sind, lassen sie ihren Worten keine Taten folgen.

In den am schlechtesten angeschlossenen Vierteln ist der Anteil der indigenen Bevölkerung laut Velasco durchgehend überdurchschnittlich hoch. Sie hat sich für das Volk der Yaqui in der Sonora-Wüste im Norden Mexikos eingesetzt, als deren Wasserquelle von den Behörden einer nahe gelegenen Stadt angezapft wurde, um den dortigen Wasserbedarf zu bedienen. Als Grund gab die Stadt Velasco zufolge an, dass »das Wasser benötigt würde, um die Menschenrechte der Stadtbewohner zu erfüllen«. Das war ein zynischer, aber geschickter Schachzug, der viele Stadtbewohner gegen das Anliegen der Yaqui aufbrachte. Noch während die Gerichtsprozesse liefen, wurde ein Aquädukt in die Stadt gebaut. Mehrere Jahre später verhandelt Velasco immer noch darüber, wer welchen Anteil vom Wasser im Aquädukt erhält. Sie behauptet, dass einer der Yaqui-Anführer unter falscher Anklage inhaftiert worden sei. »Für Umweltschützer ist Mexiko das sechstgefährlichste Land der Welt«, erklärt sie nüchtern.

São Paulo, Brasilien

Von allen Megametropolen mit mehr als 20 Millionen Einwohnern ist noch keine dem Day Zero so nahe gekommen wie São Paulo im September 2014. Damals versammelten sich Demonstranten vor der Zentrale des regionalen Wasserversorgers SABESP und protestierten gegen den Wassermangel in der größten Stadt Südamerikas – und auf der südlichen Erdhalbkugel –, weil sie »tagelang kein Wasser« hatten.[18]SABESP gestand ein, dass der Wasserstand des Cantareira-Systems, des größten Stauseeverbundes, aus dem fast 9 Millionen Menschen versorgt werden, am 25. September auf ganze 7,4 Prozent gesunken war – das kam einem Day Zero bedrohlich nah und lag beträchtlich unter dem Schwellenwert von Kapstadt. Das Wasser wurde mittlerweile aus dem »Totraum« gepumpt – im Grunde aus dem schlammigen Sediment.

Lise Alves, eine erfahrene freie Journalistin in São Paulo, erzählt mir, dass die Anwohner während der Krise 2014 angewiesen wurden, ihren Wasserverbrauch um 20 Prozent zu senken, ansonsten drohten Bußgelder. Sie erinnert sich an Geschichten über Menschen, die hektisch Eimer, Badewannen und Waschbecken füllten, sobald das Wasser lief. Unser Gespräch findet am 7. September 2021 statt, zu Beginn der Trockenzeit, und Alves sagt, dass der Stadt erneut das Wasser ausgehe. »Brasilien bezieht seinen Strom in beträchtlichem Umfang aus Wasserkraftwerken. Der Präsident [Bolsonaro] hat uns schon gewarnt, dass uns eine noch größere Energiekrise bevorsteht als vor 20 Jahren, und São Paulo stellt sich bereits auf Wasserrationierungen ein, weil nicht mehr genug für die Wasserkraftwerke da ist. Der Strompreis ist auf das Dreifache angestiegen.« Laut der Zeitung La Prensa Latina soll die neue »Wasserknappheitssteuer« (ein Zuschlag von 14,2 Real, gut 2,50 Euro, pro 100 verbrauchte Kilowattstunden) die Haushalte dazu anspornen, ihren Stromverbrauch zu senken.[19]

Es ist jedes Jahr das gleiche gefährliche Spiel. Alves bezeichnet es als »wiederkehrenden Albtraum«. Im September 2016 fiel der Pegelstand in den Stauseen erneut auf 17 Prozent der Maximalkapazität.[20] Eine von der Regierung ausgegebene Wassernotstandsmeldung im Mai 2021 wies darauf hin, dass Brasilien die schlimmste Dürre seit 91 Jahren erlebte; die Niederschlagsmenge in São Paulo habe im Winter 56 Prozent unter dem Durchschnittswert gelegen. Ein SABESP-Mitarbeiter sagte voraus, dass das Cantareira-System bis zum folgenden Sommer erneut unter die Zwanzig-Prozent-Marke fallen würde. Alves erzählt, sie habe Berichte gesehen, laut denen es bald noch schlimmer werden könne als 2014. Sie fügt hinzu, dass das vorhandene Wasser zudem verunreinigt sei: Da hier alles Mögliche in den Flüssen und Zuflüssen lande, gäbe es ein Verschmutzungsproblem. Auch Überschwemmungen könnten große Schwierigkeiten nach sich ziehen. »Im Januar und Februar dauert es hier unten vielleicht eine halbe Stunde, bis die Straßen überflutet sind, weil wir auch noch ein Ablaufproblem haben – die Gullys sind sofort verstopft.« In diesem Jahr habe es viel geregnet, aber »an den falschen Stellen«, lacht sie. Die Stauseen hätten sich »einfach nicht gefüllt«.

Im Oktober, einen Monat nach unserem Gespräch, kommt der Regen dann doch, gerade noch rechtzeitig, um die Katastrophe abzuwenden, und der Füllstand des Cantareira-Systems steigt wieder auf 29,9 Prozent – damit steht er über dem offiziellen Rationierungsgrenzwert von 20 Prozent, aber deutlich unter den 60 Prozent, die zu diesem Jahreszeitpunkt eigentlich normal sind.[21] Im Januar 2022 geht das Ganze wieder von vorn los, mit einer Meldung im Nachrichtenportal The Brasilian Report: »In sechs der zehn bevölkerungsreichsten Bundesstaaten des Landes führen die Stauseen zu Beginn des Jahres weniger Wasser als im Jahr zuvor.« Ob es in São Paulo zum Day Zero kommt, ist jedes Jahr ein Glücksspiel.

Santiago, Chile

»Dieses Jahr gab es ein bisschen Regen und die Leute haben sich riesig gefreut«, erzählt Andrea Becerra und macht mir damit Hoffnung. »Doch wir liegen weiterhin unter dem historischen Durchschnittswert. Genau genommen ist dieses Jahr immer noch das zweitschlechteste der letzten zwei Jahrzehnte. Es sieht also ziemlich übel aus.« Damit ist meine Hoffnung wieder dahin. Becerra, die frühere Lateinamerika-Verantwortliche des NRDC, erklärt, dass die Metropolregion Santiago – einer von 16 Verwaltungsbezirken Chiles – unter einer zehnjährigen Dürre leide, mit jährlich maximal 300 Millimetern Niederschlag. Vor 2010 waren es eher 700 Millimeter im Jahr. Bevor die Krise die Stadt Santiago erreichte, waren ihre Auswirkungen vor allem »im ländlichen Bereich« spürbar. »Grundwasserleiter fielen trocken, die Bauern mussten immer tiefere Brunnen graben. Letztes Jahr sind in der Metropolregion durch den Wassermangel mehr als 35000 Tiere verendet.« Doch nun macht sich die Dürre auch in der Stadt bemerkbar.

Das Oberflächenwasser in Santiago stammt aus dem El-Yeso-Stausee, der sich aus Regen- und Schmelzwasser speist. Auf Satellitenbildern der NASA ist zu erkennen, dass das gewaltige Reservoir zwischen 2016 und 2020 aufgrund der geringen Niederschlagsmenge und dem Zurückweichen der Gletscher auf rund die Hälfte geschrumpft ist.[22] Die Gletscher in den Anden verlieren jedes Jahr rund einen Meter ihrer Dicke – im Verhältnis zu ihrer Größe mehr als in allen anderen Gebirgsregionen der Welt. Vom Tuni-Gletscher in Bolivien war 2021 nur noch 1 Quadratkilometer übrig, was die Wasserversorgung von La Paz gefährdete.[23] In anderen Regionen bewirkt die schnelle Gletscherschmelze jedoch ein falsches Sicherheitsgefühl – wenn die Gletscher schmelzen, lassen sie Flüsse und Bäche anschwellen und gleichen den Regenmangel aus. Doch dieses Wasser ist fossiles Wasser – sobald es weg ist, kommt es nicht wieder; ist der Höhepunkt überschritten, gibt es nur noch eine Richtung. Irgendwann sind die gefrorenen Wasserspeicher, auf die wir uns so lange verlassen haben, einfach verschwunden, und ohne Regen und Grundwasser gibt es keine Alternativen. Der NRDC-Bericht zieht eine trübe Bilanz: »Die Niederschlagsmenge [einschließlich Schnee] in den Anden der Metropolregion sinkt pro Jahrzehnt um 3 Zentimeter. […] Das hat dazu beigetragen, dass 8,54 bis 15,14 Gigatonnen Gletschermasse abgeschmolzen sind – eine Menge, die ausgereicht hätte, um ganz Chile vierzehn Jahre lang mit Wasser zu versorgen.«

2018 trocknete der Aculeo-See südwestlich von Santiago, ein Touristenmagnet und mit einer Oberfläche von 11,7 Quadratkilometern eines der größten natürlichen Gewässer in Zentralchile, restlos aus. Er ist nicht wieder zurückgekehrt. In nur fünf Jahren, berichtet Lorena Guzmán auf der Medienplattform Diálogo Chino, habe sich die verfügbare Wassermenge in Chile durch die Dürre um 37 Prozent verringert.[24] »Santiago steht ein Day Zero bevor, so viel ist sicher«, sagt Becerra, die für den NRDC einen Bericht über die Region verfasst hat.[25] Zwei Drittel des Zuflusses hier gehen auf die Gletscherschmelze zurück, sagt sie; nur das habe Santiago im vergangenen Jahrzehnt vor der Katastrophe bewahrt. Was passiert also, wenn die Gletscher weitgehend verschwunden sind? »Das ist die große Frage.«