Die Hafenärztin. Ein Leben für das Glück der Kinder - Henrike Engel - E-Book
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Die Hafenärztin. Ein Leben für das Glück der Kinder E-Book

Henrike Engel

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Beschreibung

Atmosphärisch und mitreißend: Eine Ärztin wacht über die Schwächsten am Hamburger Hafen Hamburg, 1911: In Deutschlands größtem Auswandererhafen kümmern sich die Ärztin Anne Fitzpatrick und die angehende Pädagogin Helene Curtius um Familien. Anne und Helene sorgen sich vor allem um die Kinder, von denen viele traumatische Erfahrungen gemacht haben. Plötzlich häufen sich unter den Ärmsten unerklärliche Todesfälle. Kommissar Berthold Rheydt sieht sich die Sache genauer an und stellt fest: Die Opfer wurden vergiftet. Wer hat ein Interesse daran, die Menschen scheinbar wahllos zu töten? Als die drei auf ein toxisches Interessensgeflecht stoßen, begreifen sie: An dem Geschäft mit den Auswanderern lässt sich eine Menge Geld verdienen … Lassen Sie den Alltag hinter sich und tauchen Sie ein in die Kaiserzeit Hamburgs und in das Leben einer außergewöhnlichen Frau. *Einzigartige Ausstattung mit besonderer Goldprägung* Das große Lesevergnügen geht weiter: Band 1: Die Hafenärztin. Ein Leben für Freiheit der Frauen, Januar 2022 Band 2: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Lachen der Kinder, Mai 2022 Band 3: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe, November 2022 Band 4: Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen, November 2023

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Seitenzahl: 630

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Die Hafenärztin. Ein Leben für das Glück der Kinder

HENRIKE ENGEL pendelte in ihrem Leben ständig zwischen Berlin und München, mit beiden Städten verbindet sie eine komplizierte Liebesbeziehung. Eines aber ist konstant geblieben: ihre Liebe zu Hamburg! Manche Träume jedoch müssen unerfüllt bleiben, und so hat die ehemalige Drehbuchautorin nicht ihren Wohnort in die Hafenstadt verlegt, sondern träumt sich lieber schreibend dorthin.

Sie kämpfen gegen das Unrecht: Eine Ärztin mit dunkler Vergangenheit, eine junge Lehrerin auf der Suche nach ihrer Bestimmung und ein Polizeibeamter, dem eine Tragödie das Herz gebrochen hat.

Henrike Engel

Die Hafenärztin. Ein Leben für das Glück der Kinder

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2640-5© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © bürosüd° (Rahmen, Details), © akg Images, © Arcangel Images / Ildiko NeerAutorinnenfoto: © Quirin LeppertE-Book powerded by pepyrusAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Was auf den Winter folgt

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

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12.

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27.

28.

29.

30.

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32.

33.

34.

35.

36.

37.

Der Himmel klart auf

Und noch ein Wort

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Was auf den Winter folgt

Was auf den Winter folgt

Dovenfleet, Hamburger Hafen, 8. März 1911

1.

Die Zeit heilt alle Wunden, dachte Dr. Anne Fitzpatrick, als sie in ihren Mantel schlüpfte, die Tür öffnete, den Fahrer begrüßte und ihm zu seinem an der Hauptstraße geparkten Wagen folgte.

Die Hapag ließ sich das Engagement der jungen Ärztin etwas kosten, Anne wurde nicht nur per Chauffeur auf die Veddel gebracht, ein Wagen fuhr sie auch nach der Schicht in den Auswandererhallen zurück zu ihrer Wohnung in der Gurlittstraße.

Aber nicht nur sie wurde auf diese Art verwöhnt, die Reederei ließ sich die Betreuung der Auswanderer in jeder Hinsicht viel kosten.

Bis vor wenigen Jahren waren die Menschen, die nun aus dem Osten nach Hamburg kamen, um von dort ihre Schiffspassagen anzutreten, noch auf dem großen Grasbrook untergebracht gewesen, in unmittelbarer Nähe zum Magdeburger Hafen und vor allem nah an der Innenstadt. Doch dann war das Terrain zu klein geworden, konnte die Massen an Auswanderungswilligen nicht mehr fassen, und überdies hatte Albert Ballin, Geschäftsführer der Hapag, beschlossen, das Geschäft mit den Auswanderern so zu professionalisieren, dass er jedwede Konkurrenz mit einem Schlag übertrumpfte. Und ließ auf der Veddel die Stadt in der Stadt bauen.

Sie passierten die Brandshofer Schleuse, in der Dämmerung leuchteten die Lichter des Hafens, in dem Tag und Nacht gearbeitet wurde, von den Schiffswerften drangen die Geräusche der Arbeiten an Annes Ohr. Metall klirrte dumpf auf Metall, Stahlkocher dröhnten wie anrollende Gewitter, und die Hammerschläge der Arbeiter orchestrierten die industrielle Symphonie.

Der Wagen bremste nun vor dem streng kontrollierten Tor der Auswandererhallen, ein Polizist blickte in den Fond, und als er Anne erkannte, tippte er sich an die Mütze und ließ sie passieren. Sie bogen auf die Hauptstraße ein und rollten langsam bis zur Rückseite des Empfangsgebäudes, wo Anne sich umkleiden konnte, bevor sie zu Fuß in den Quarantänebereich lief.

Auf der Hauptstraße waren ähnlich viele Passanten unterwegs wie auf dem Jungfernstieg. Hier in der kleinen Stadt auf der Veddel gab es alles, was die Auswanderer benötigten: eine Kirche, eine Synagoge, einen Kaufmannsladen und sogar einen kleinen Musikpavillon. Hier versorgten sie sich, bevor sie sich auf die Reise ins Ungewisse begaben. Kein Wunder, dass so viele Menschen ihre Heimat verließen. Sie hatten dort, wo sie geboren waren, selten eine Perspektive. Viele Juden flüchteten aus Russland vor den schrecklichen Pogromen, Bauern aus Galizien oder Polen mussten ihr Land verlassen, weil es nicht genug hergab, um ihre Großfamilien zu ernähren. Junge Frauen reisten allein oder in Begleitung von Verwandten, weil sie in der Heimat keine Ehemänner fanden. Allen war gemein, dass sie sich dort, wo sie hinreisten, eine bessere Zukunft erhofften.

An den fremdartigen Anblick mancher Menschen, die ihnen nun zu Fuß auf der Straße entgegenkamen oder die vor den riesenhaften Hallen – hier Pavillons genannt – saßen oder standen, in großen oder kleinen Grüppchen, hatte Anne sich längst gewöhnt. Frauen in bäuerlicher Kleidung, mit bunt bestickten Joppen und unzähligen Röcken, die sie übereinander trugen. Männer, die hohe Mützen aus lockigem Schaffell auf dem Kopf balancierten, unter den imposanten Schnurrbärten ragten lange, gebogene Pfeifen hervor. Schafhirten, Bauersfrauen, orthodoxe Juden, aber auch elegante Städter waren hier untergebracht. Wer es sich leisten konnte, war im Hotel Nord oder Süd einquartiert, alle anderen drängten sich in den Schlafsälen der Pavillons. Dreißig davon gab es hier. In jedem waren Toiletten und Aufenthaltsräume untergebracht. Außerdem wurden die Menschen streng nach Geschlecht, Religionszugehörigkeit und Nationalität getrennt. Beinahe alle diese Auswanderer wurden von Agenten, die für eine der Reedereien aus Hamburg oder Bremerhaven tätig waren, in ihren Heimatländern angeworben und hatten Komplett-Pakete erworben. Darin waren der Transport aus der Heimat in versiegelten Sonderzügen in die Hafenstädte, die Unterkunft und üppige Verpflegung vor Ort sowie die Schiffspassage zu den Zielen in Übersee enthalten. Die Hapag achtete, klug geworden aus der verheerenden Cholera-Epidemie, die 1892 in Hamburg grassierte, besonders auf die Gesundheit der Auswanderer. Diese wurden in ihrer Heimat vor der Abreise auf Krankheiten aller Art untersucht, bei ihrer Ankunft im Deutschen Reich am Bahnhof Berlin-Ruhleben und schließlich ein letztes Mal, bevor sie die Dampfschiffe der Hapag bestiegen. Zusätzlich dazu mussten sie mehrmals am Tag zum Gesundheits-Appell antreten. Nicht allein, dass die Hamburger Reederei einen erneuten Cholera-Ausbruch befürchtete, was die Schließung der Auswandererhallen – dem wichtigsten Geschäftszweig der Hapag – bedeutet hätte, sondern auch, weil die Beamten in New York, jener Hafen, zu dem der größte Teil der Auswanderer strebte, jeden Einreisenden penibel untersuchten. Bestand auch nur der geringste Verdacht auf eine Krankheit, wurden die Asylsuchenden zurückgeschickt – und die jeweilige Reederei, die die Auswanderer transportiert hatte, musste für die Kosten der Rückreise aufkommen. Das wollte sich keine Reederei leisten, die knapp kalkulierte Rechnung, bei der trotz des Aufwandes, der mit den Auswanderern betrieben wurde, schwarze Zahlen in der Bilanz standen, würde ins Rutschen kommen. Es rechnete sich für die Hapag mehr, die Auswanderer intensiv auf Krankheiten zu untersuchen.

Für die regelmäßigen Kontrollen waren allein sechs Ärzte und ein Heer von Krankenschwestern auf der Veddel angestellt, darunter Dr. Tergit, den Anne nun vertrat. Erkrankte jemand, so wurde er oder sie auf die Quarantänestation, die von allen anderen Pavillons strengstens abgeschirmt wurde, geschickt.

Nachdem Anne ihre Kollegen begrüßt hatte, die ihre Skepsis einer weiblichen Medizinerin gegenüber nur langsam abbauten, aber zu höflich waren, um ihr mit demonstrativer Ablehnung zu begegnen, betrat Anne die Quarantänestation. Lediglich ein Drittel der Betten war belegt. Wer hier eingewiesen wurde, konnte in der Regel nach wenigen Tagen entlassen werden, wenn sich keine dramatischen Krankheiten ausbreiteten.

Nachdem sie eine gute Stunde auf der Station verbracht hatte, Fieber gemessen, Puls gefühlt, die Medikamentengabe überprüft und vor allem tröstende Worte verteilt hatte, machte sich Anne auf den Weg, die Pavillons auf der anderen Seite der Wilhelmsburgerstraße zu besuchen. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, regelmäßig durch die Schlafsäle zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen. Denn nicht jeder suchte Hilfe, auch wenn er oder sie sie benötigte. Dazu waren die Sprachbarriere und der kulturelle Unterschied oftmals zu hoch. Anne aber scheute sich nicht, Frauen oder Kinder, die allein reisten, anzusprechen, ob sie Unterstützung benötigten. Selten traf sie auf Resonanz. Die Menschen hatten Angst davor, ihre Hilflosigkeit, Erschöpfung oder Schwäche einzugestehen, mussten sie doch befürchten, dass ihnen die Hapag möglicherweise die Schiffspassage verweigerte. Dennoch gab Anne in ihrem Bemühen nicht nach.

Doch an diesem Abend kam sie nicht weiter als bis zum Pavillon 27. Sie trat aus der Hintertür der Quarantänestation, streifte den Mundschutz ab und atmete tief die klare Abendluft ein. Es war noch nicht einmal sieben Uhr, aber schon stockfinster, eine schmale Mondsichel erhob sich über der Halbinsel, bereit, ihre nächtliche Bahn über das Firmament der Westhalbkugel zu ziehen. Einige Meter von ihr entfernt nahm Anne die Silhouette zweier Menschen wahr. Einer der beiden stand gebückt und den Geräuschen nach zu urteilen, erbrach er sich ins Gebüsch. Der andere Mensch – eine Frau mit Kopftuch, wie Anne im Schein des Mondes und der Hafenlichter erkennen konnte, stützte ihn.

Anne zog den Mundschutz hoch und eilte mit großen Schritten zu den beiden.

»Hilfe?«, erkundigte sie sich, ahnend, dass die beiden kein Deutsch verstanden, und wiederholte ihre Frage auf Russisch.

Die Frau, bei der es sich mit Sicherheit um die Mutter des Kranken, ein etwa vierzehnjähriger Junge, handelte, schüttelte verängstigt den Kopf. Aber Anne ließ sich davon nicht abhalten, nahm den Jungen bei den Armen und drehte ihn zu sich. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Schweiß überzog seine Stirn, er schlotterte am Körper, die vor den Magen gepressten Arme sagten Anne, dass er dort Schmerzen litt. Bevor sie etwas sagen konnte, drehte er sich erneut zum Gebüsch und erbrach sich. Ein großer Hund, schwarz und zottelig, den Anne erst jetzt wahrnahm, schnüffelte interessiert im Gebüsch, die Mutter des Jungen versuchte vergeblich, ihn zu vertreiben.

»Er ist krank«, versuchte Anne radebrechend sich mit der Mutter zu verständigen. Sie sprach kein Russisch, auf der Veddel gab es Übersetzer, aber schon am ersten Tag hatte Anne sich die wichtigsten Vokabeln notiert, um sich notfalls mit den Menschen zu verständigen. Natürlich waren nicht alle Auswanderer des Russischen mächtig, es waren Griechen oder Polen und manchmal auch Deutschsprechende unter ihnen. Aber der größte Teil waren Juden, die vor den russischen Pogromen geflohen waren.

Resolut bugsierte Anne den kranken Jungen und seine verzweifelte Mutter zu der Hintertür, aus der sie zuvor getreten war, und winkte einer Krankenschwester, die ihr helfen sollte. Während diese sich um die Mutter kümmerte, die ihren Jungen zunächst nicht allein lassen wollte – erst musste Anne ihr versichern, dass sie nach der Untersuchung zu ihm gelassen werden konnte –, führte Anne das Kind zu einem Bett. Mit vor Angst geweiteten Augen verfolgte das arme Kind jede ihrer Bewegungen, Anne gab sich größte Mühe, ihm trotz der Verständigungsschwierigkeit zu vermitteln, dass sie sich gut um ihn kümmern würde. Und er nichts zu befürchten hätte, ganz gewiss würde er gesund werden.

»Bitte benachrichtigen Sie einen Übersetzer«, wandte sie sich an die Krankenschwester, die nun zu ihr geeilt kam, um ihr bei der Versorgung des Jungen zu helfen, der sich immer wieder erbrechen musste, seine Ausscheidungen nicht halten konnte und in Krämpfen wand. »Ich muss wissen, was er gegessen hat.«

Die Symptome, die das Kind zeigte, ließen mehrere Ursachen zu. Es konnte sich um eine Lebensmittelvergiftung handeln – die Lösung, auf die Anne am meisten hoffte, denn das würde bedeuten, dass er, sobald er den Mageninhalt restlos erbrochen hatte, schnell wieder auf die Beine kam. Der wässrige Durchfall, das Erbrechen von Blut und Galle, die Krämpfe und das schnell schlagende Herz bei schwachem Puls, ließen jedoch auf Schlimmeres schließen. Mit großer Wahrscheinlichkeit litt der junge Patient an einer Darmkrankheit. Der Ruhr oder, Anne scheute sich, den Gedanken zuzulassen, der Cholera.

In beiden Fällen mussten Mutter und Sohn strengstens von allen anderen Patienten getrennt werden und unter ständiger Beobachtung bleiben. Eine Epidemie war in den Auswandererhallen unter allen Umständen dringend zu verhindern.

Die anderen Ärzte wurden umgehend alarmiert, und kaum war der Junge nach der medizinischen Versorgung durch Anne und die Schwester vor Erschöpfung eingeschlafen, besprachen sie untereinander die Maßnahmen. Da es jedoch nicht das erste Mal vorkam, dass jemand unter derartig heftigen Symptomen litt, waren sich die Mediziner schnell einig, dass sie den Krankheitsfall zwar mit allem gebotenen Ernst behandeln würden, übereinstimmend gingen sie jedoch davon aus, dass sich der Junge einen üblen Magen-Darm-Infekt zugezogen hatte. Man würde stündlich nach ihm sehen und ihn medizinisch intensiv betreuen, sich aber zurückhalten, was das Verkünden einer möglichen ansteckenden Krankheit betraf. Da sich aktuell kein weiterer Fall von Durchfall und Erbrechen zeigte, gingen Anne und ihre Kollegen nicht vom Schlimmsten aus.

Anne sah noch einmal nach dem Kind, das immer wieder von Magenkrämpfen geschüttelt wurde, beließ es aber in der fürsorglichen Obhut der Krankenschwester, die neben seinem Bett wachte. Die Mutter des Jungen war in einem anderen Zimmer untergebracht, sie hatte keinerlei Symptome, sollte aber zur Beobachtung auf der Quarantänestation bleiben, bis man Ruhr oder gegebenenfalls Cholera ausschließen konnte. Mithilfe eines Übersetzers gelang es Anne, der Frau die schlimmsten Befürchtungen zu nehmen, sie versicherte ihr, dass alles getan werde, um Valentin, so hieß der Junge, wieder gesund zu machen.

Anschließend machte Anne sich ein zweites Mal auf den Weg zu den Pavillons. Es war nun viel ruhiger auf der Straße geworden, vereinzelt saßen Männer auf den Stufen vor den Gebäuden, rauchten und unterhielten sich leise. Von irgendwo wehten die Fetzen eines sehnsuchtsvollen Liedes zu Anne, das jemand auf dem Akkordeon spielte. Die Mondsichel stand deutlich höher als zuvor am Abendhimmel und leuchtete mit voller Kraft. Morgen würde es wieder ein schöner Tag werden, hoffte die junge Ärztin. Ein weiterer sonnig-kalter Frühlingstag, der vom Ende der Kälte und Nässe kündete. Ein Hund fiel mit Gejaule in das Akkordeonlied mit ein, es klang schmerzvoll und traurig, Anne wollte es das Herz zerreißen angesichts des Jammerns des Tieres, dessen heftiges Wehklagen die schöne Melodie störte.

Anne lief in ihrem weißen Kittel durch die schwach erleuchtete Straße. Es war kalt, nur wenige Grade über null, schließlich war es erst März, aber es fühlte sich dennoch gut an, denn Anne liebte es, sich zu spüren, zu merken, wie sich die Poren ihrer Haut an der frischen Luft zusammenzogen, sich die Härchen aufstellten und sich vor ihrem Mund bei jedem Ausatmen eine weiße Wolke bildete. Sie hielt sich viel zu viel in Innenräumen auf, dachte sie nun. Hätte sie den morgendlichen Spaziergang an der Alster nicht, sie käme kaum noch hinaus. Und wie genoss sie es, Kälte, Frische, Freiheit zu spüren, mit jeder Pore einzuatmen, den Wechsel der Jahreszeiten hautnah zu erleben.

Die Fenster der Pavillons waren hell erleuchtet, durch ein Fenster spähte sie hinein, geradewegs in das Zimmer, das als Aufenthaltsraum den Frauen und Kindern vorbehalten war. Die Männer hatten einen eigenen Raum, in dem sie diskutieren, rauchen oder Schach spielen durften. Noch war es nicht an der Zeit, ins Bett zu gehen, mit Wohlwollen betrachtete Anne von draußen die Mütter und ihre Kinder im Inneren. Morgen würde Valentins Mutter wieder unter ihnen sein, dachte Anne, und wenig später auch der Junge selbst. Und dann würden die beiden das Dampfschiff besteigen, das sie in die Ferne bringen würde. Alle Brücken hätten die beiden, die ohne männliche Begleitung reisten, so hatte die Mutter es erzählt, hinter sich abgebrochen.

Anne wusste, was das bedeutete, sie hatte es so oder zumindest so ähnlich bereits selbst einmal erlebt. Sie war fünfzehn Jahre alt gewesen, als ihre Eltern mit ihr Hals über Kopf Hamburg verlassen hatten und nach London umzogen. Lediglich ihre Kleider, ihre Spielsachen und einige der Bediensteten hatten Anne in das fremde Land begleiten dürfen. Sie konnte damals nur wenig Englisch sprechen, und sie hatte keine Freunde in der fremden Stadt. Lange hatte sie gebraucht, um sich einzuleben, zum Schluss aber, nach zwölf Jahren, war ihr England und insbesondere London zur alleinigen Heimat geworden. Sie hatte ein Studium abgeschlossen, übte ihren Beruf aus, engagierte sich in der Frauenbewegung, hatte einen großen und lebendigen Freundeskreis und last but not least eine Lebensgefährtin. Milena.

Ach, Milena. Anne schloss kurz die Augen, um sich das Bild ihrer Geliebten zu vergegenwärtigen, aber es wollte ihr nicht mehr gelingen. Das weiche kupferfarbene Haar, die mandelförmigen Augen, die olivfarbene Haut – das Bild Milenas verblasste zusehends. Über ein Jahr war es her, dass sie sich ein letztes Mal in den Armen gehalten, ein letztes Mal geküsst hatten. Es war die Silvesternacht in eine neue Dekade, wenige Stunden später musste Anne aus ihrer zweiten Heimat fliehen, hatte bei Nacht und Nebel ein Schiff betreten und war zurück nach Hamburg gegangen. Wo sie sich erneut allein zurechtfinden und alles neu aufbauen musste.

Es war hart gewesen. Sie hatte viele einsame Stunden seitdem verbracht. Aber niemals war es für sie so schwer gewesen wie für die Frauen, die sie nun lachend und schwatzend, mit ihren Kindern spielend oder Handarbeiten ausführend durch das erleuchtete Fenster betrachtete. Anne Fitzpatrick oder Anne van der Zwaan, wie sie in Wirklichkeit hieß, war nie mittellos gewesen. Sie war die Tochter eines reichen Mannes, dessen Geld ihr jeden Weg geebnet hatte. Und sie war von England in ihre eigentliche Heimat zurückgekehrt. Außerdem – und das war in Annes Augen der bedeutendste Unterschied – übte sie einen Beruf aus. Einen Beruf, der ihr Ansehen und Reputation verschaffte. Der sie ausfüllte und glücklich machte. Einen Beruf, der sie ernährte – vollkommen unabhängig davon, ob ihr Vater sie unterstützte oder nicht.

Wie viele der rund vierzig Frauen dort drinnen in dem Zimmer konnten das von sich sagen? Einige würden ihre Existenz durch Heirat in den neuen Ländern sichern können. Zweckheiraten, daran gab es nichts zu beschönigen. Manche würden das Glück haben und Arbeit finden. Als Wäscherin, Näherin, am Fließband oder in einem der zahlreichen Restaurants, Hotels und Geschäften. Anne konnte den Mut und die Entschlossenheit dieser Frauen nur bewundern. Sie waren der Sprache in den Ländern, in welchen sie eine Zukunft aufbauen wollten, nicht mächtig, und manchmal waren sie dort, wo sie hinkamen, nicht willkommen – oftmals von Landsleuten, die lange vor ihnen bereits ausgewandert waren und sich eine Existenzgrundlage gesichert hatten, die sie mit den Neuankömmlingen nicht teilen wollten. Und dennoch ließen diese Menschen alles hinter sich, Verwandte, Freunde, Heimat, Hab und Gut, und hofften auf einen Neuanfang. Anne wünschte einem jeden von ihnen, Frauen wie Männern, nur das Beste. Und sie sah ihre Arbeit hier auf der Veddel als Unterstützung und nicht als Schikane. Sie lief die wenigen Treppen zur Eingangstür des Pavillons, öffnete diese und tauchte ein in die Wärme des Hauses, in das babylonische Sprachgewirr, die fremden Gerüche und Gesichter.

Eine weitere Stunde später hatte sie ihre Runde absolviert, noch eine weitere Stunde, dann erwartete sie der Wagen, der sie zurück in die Stadt bringen würde. Annes Weg führte sie geradewegs in die Quarantänestation, um nach dem Jungen Valentin zu sehen, den sie in der Obhut der Schwester zurückgelassen hatte.

Er lag in seinem Bett. Ein weißes schmales Gesicht, die schwarzen Haare lagen verklebt auf der Stirn. Die Schwester war nicht zu sehen, vermutlich widmete sie sich anderen Aufgaben, sobald der Junge erschöpft eingeschlafen war. Anne wollte sich ebenfalls abwenden, um das Kind nicht zu wecken, da hielt etwas sie zurück. Einer plötzlichen Eingebung folgend, wischte sie den Gazevorhang, der um sein Bett gespannt war, zur Seite und jetzt, wo sie ihn deutlicher sehen konnte, wusste sie auf den ersten Blick, dass etwas nicht stimmte.

Valentin schlief nicht.

Er war tot.

2.

»Ich kann das nicht!«

Entschlossen legte Paulina die Schere auf den Frisiertisch, verschränkte die Arme vor der Brust, schob das Kinn vor und sah Helene an. »Deine schönen Haare!«

Am Boden lag eine feuerrote Locke, Helene bückte sich und hob sie auf. Seidenweich schmiegte sich die lange Strähne in ihre Hand. Paulina hatte recht. Ihre Haare waren wunderschön. Nichtsdestotrotz: Sie mussten weg!

»Dann mache ich es selbst«, sagte sie, griff nach der Schere und schnitt beherzt eine weitere Locke ab. Wie sie erwartet hatte, nahm Paulina ihr das Werkzeug sofort aus der Hand.

»Bloß nicht. Das wird ja noch schlimmer, als wenn ich es tue.«

Helene grinste und besah sich im Spiegel. Die Freundinnen saßen in Paulinas Zimmer, im ersten Stock der Reimers’schen Villa. Von hier konnte Helene in den Garten blicken, der sich hinter dem Haus erstreckte. Aus dem Zimmer von Paulinas ältester Schwester Mina, das am anderen Ende des Flures lag, hätte sie ihr Elternhaus sehen können. Die Familien Curtius und Reimers wohnten dicht beieinander im Hamburger Stadtteil Uhlenhorst, in der Körnerstraße. Es waren nur wenige Meter, die die Häuser, aber Welten, die die Familien voneinander trennten.

Paulina lebte mit ihrer Mutter Ida, Vater Ferdinand, einem Sozialisten und Anwalt sowie den beiden Schwestern in einem liberalen, der Kunst und progressiven Politik gegenüber aufgeschlossenen Haushalt. Hier gaben sich Künstler, Musiker, Reformer, Wissenschaftler und Sozis die Klinke in die Hand. Ida Reimers führte ein offenes Haus, ihre Soireen waren legendär. Helene liebte es, zu Gast im Haus ihrer Freundin zu sein, denn hier war die Welt, nach der sie so sehr dürstete, zu Hause.

Welch ein Gegensatz zum Haushalt der Familie Curtius! Helenes Vater, ein evangelischer Pastor, war ein angesehener hochrangiger Kirchenmann. Bis vor Kurzem noch hatte er mit strenger Hand über seine Familie geherrscht und geglaubt, ihre Geschicke allein lenken zu können. Freudlos ging es im Hause Curtius zu, das hatten Helene und ihr Bruder Klaus mit zunehmendem Alter so empfunden. Keine Gäste, keine Musik, kein Lachen, keine Diskussionen. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten beugte man sich schweigsam über den Teller, nur für das Dankesgebet durfte gesprochen werden.

Im vergangenen Jahr allerdings hatte sich das Unterste zuoberst gekehrt, die Regentschaft des Vaters war arg ins Wanken geraten. Es hatte damit begonnen, dass Klaus nach einem Streit das Haus verlassen hatte. Von einem Tag auf den anderen war er verschwunden – wie Helene später von ihm erfuhr, hatte er auf einem Frachter als Heizer angeheuert und war so nach Südamerika gekommen. Jetzt verdingte er sich in Havanna als Hauslehrer, und wenn sie seinen Briefen Glauben schenken durfte, ging es ihm dort großartig.

Ein halbes Jahr später war Helene in den grausamen Fall um den Hafenmörder verwickelt worden, und obwohl die Begleitumstände traurig waren, hatte sie dadurch zu persönlicher Freiheit gefunden. Die Bekanntschaft mit der Ärztin Dr. Fitzpatrick hatte den Anstoß gegeben, sich von ihrem Vater zu emanzipieren. Helene, für die Ideen der Frauenbewegung schon lange aufgeschlossen, brach die Haushaltsschule ab, setzte durch, dass sie ein Lehrerinnenseminar besuchen und damit einen Beruf erlernen durfte und stand nun kurz vor dem Abschluss desselben. Sie war dem Verein Frauenwohl beigetreten und hatte Pläne für ihre Zukunft, die sich weder Mutter noch Vater in ihren wildesten Fantasien ausmalen konnten.

Ein weiterer Schritt auf diesem Weg war es, sich ihrer Lockenmähne zu entledigen. Helene wollte wie eine fortschrittliche Frau aussehen! Wie eine Frau, die ihren Mann stehen konnte. Liebreiz war für andere, sie wollte nicht gefallen, sie wollte stark wirken und es auch sein.

»Ich könnte heulen«, sagte Paulina, während sie Strähne um Strähne, Locke um Locke vom Kopf ihrer besten Freundin schnitt. »Ich wünschte, ich könnte mir deine Locken auf den Kopf kleben. Um meinen Schnittlauch wär’s nicht schade.«

Was eine glatte Untertreibung war, und Paulina wusste es. Sie hatte in der Tat glattes, aber volles und schimmerndes Blondhaar. Trug sie es offen, sah sie aus wie ein Engel, der goldene Vorhang brachte ihr edel geschnittenes Gesicht vortrefflich zur Geltung. Alsterschwan, hatte Helenes Bruder Klaus die jüngste Reimers-Tochter stets genannt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.

So unterschiedlich wie die Familien, aus denen sie kamen, waren auch die Freundinnen, die sich seit den frühesten Kindertagen innig zugetan waren. Helene war sportlich, ihre Figur eher die eines Jungen, die weiblichen Rundungen waren weniger ausgeprägt als bei Paulina, die mit ihrem weichen Körper dem Frauenideal ihrer Zeit glich. Helenes jungenhaftes Äußeres jedoch entsprach ihrer inneren Verfasstheit. Von früh auf war sie wild, abenteuerlustig und bockig gewesen. Sie war kaum zu bändigen, um den Bewegungsdrang von Körper und Geist zu kanalisieren, trieb sie mit Hingabe Sport. Sie war eine der besten Ruderinnen in ihrem Verein Germania, auf dem Land legte sie beinahe jede Strecke, egal, ob es stürmte oder eiseskalt war, auf ihrem heiß geliebten Hammonia-Rad zurück.

Zwanzig Jahre hatte sie wie im Gefängnis gelebt, durfte sich nicht entfalten, aber im November letzten Jahres hatte sie das Tor zur Freiheit aufgestoßen, und nun gab es für Helene Curtius kein Halten mehr.

Locke um Locke fiel auf den Boden, Paulina arbeitete sich stumm durch die üppige Haarpracht, ihr Unbehagen spiegelte sich in ihrem Gesicht, Helene jedoch fühlte sich mit jeder Strähne, die zu Boden fiel, freier.

»Helene!« Von den beiden unbemerkt hatte Ida Reimers das Zimmer ihrer Tochter betreten, in einer Hand die unvermeidliche lange Zigarettenspitze mit der flachen Orientzigarette. »Chapeau!«

Sie trat näher, musterte die Sensation und lächelte schließlich. »Das steht dir ausgezeichnet.«

Helene atmete auf. Ein Lob von Ida war der Ritterschlag. Paulina dagegen zog skeptisch die Brauen zusammen. »Das meinst du nicht ernst, Maman.«

»Und ob. Darf ich?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm sie Paulina die Schere aus der Hand, reichte ihr stattdessen die Zigarettenspitze, die jene angeekelt entgegennahm, und fing an, den Schnitt zu korrigieren.

»Kinnlang«, kommentierte Ida, und Helene verfolgte zunächst interessiert jede ihrer Bewegungen im Spiegel, doch dann setzte sich Ida so, dass ihr der Blick versperrt wurde. Paulinas Mutter schnippelte, zupfte, schob die Haare mal hier, mal dorthin, kniff kritisch die Augen zusammen, setzte die Schere erneut an. Dann musterte sie ihr Werk, lächelte und gab den Blick auf den Spiegel frei.

Helene beugte sich vor. Es war nicht besonders hell im Zimmer, aber was sie sah, gefiel ihr und erschreckte sie zugleich.

Sie erkannte sich kaum wieder. Ida hatte ihr die Haare wirklich kinnlang geschnitten, aber nicht nur das. Sie hatte sie an den Seiten gestuft, im Nacken kürzer als vorne geschnitten und Helene überdies einen kleinen Pony gezaubert. Sie hatte weniger weiblich wirken wollen mit den kurzen Haaren, tatsächlich aber umschmeichelte der neue Schnitt ihr Gesicht derart, dass sie nun aussah wie eine Frau und nicht mehr wie ein junges Mädchen. Wie eine erwachsene und sehr schöne junge Frau.

So eine Frisur sah man nicht alle Tage auf Hamburgs Straßen, aber Helene wusste aus den Zeitschriften, dass sich einige wenige moderne Frauen in New York und Paris so auf die Straße wagten.

»Eine Sensation«, kommentierte Ida. »Du siehst aus wie eine Amazone, Helene. Mit deinem kupferfarbenen Helm.«

In der Tat wirkte Helenes Lockenmähne gebändigt, Ida hatte ihr die Wildheit ausgetrieben. Die Haare schmiegten sich um ihren Kopf und umrahmten ihr Gesicht auf das Vorteilhafteste.

»Schick«, kommentierte nun auch Paulina. »Es steht dir tatsächlich!«

»Hochmodern wird das.« Ida Reimers klappte ihr Zigarettenetui auf, steckte eine neue Orientzigarette in die Spitze und zündete sie an – ungeachtet der angewiderten Miene ihrer Tochter. »Ich hätte gute Lust, es dir gleich zu tun. Runter mit den alten Zöpfen! Die moderne berufstätige Frau trägt kurz.«

»Dann können deine Haare ja getrost lang bleiben«, kommentierte Paulina trocken.

Aber ihre Mutter nahm die vorlaute Bemerkung nur mit einem schallenden Lachen hin. »Auf in den Kampf, du Amazone!«, gab sie Helene mit auf den Weg, die sich erhoben hatte. Es war Zeit, nach Hause zu gehen, bereits halb zehn am Abend.

Immer wieder fasste Helene sich in die Haare und blickte ungläubig auf den roten Haarberg auf dem Parkett. So richtig würde sie wohl erst am nächsten Tag begreifen, was sie getan hatte.

»Was wird dein Vater sagen?«, erkundigte sich dann auch Paulina, während sie die Freundin aus dem Zimmer hinab ins Erdgeschoss und von dort zum Gartentor begleitete.

»Ist mir gleich«, Helene zuckte mit den Schultern.

»Was ist eigentlich passiert, dass du so ungeniert auf die Meinung deines Vaters pfeifst?«

»Schlaf gut, Liebes.« Anstatt ihr eine Antwort zu geben, drückte Helene Paulina einen Kuss auf die Wange und eilte über die Straße. Auf halbem Weg drehte sie sich um und winkte zur Silhouette ihrer Freundin zurück. »Und tausend Dank!«

Wie gern hätte sie ihrer besten Freundin die neugierige Frage beantwortet, ihr erzählt, was sie im vergangenen Herbst über ihren Vater herausgefunden hatte, aber das durfte sie nicht. Zu ungeheuerlich war es für sie, und auch wenn ihr Vater, der ein Verhältnis mit dem Dienstmädchen gehabt hatte, ja, sogar ein Kind mit ihm gezeugt hatte, kein Einzelfall war – Helene verschloss diese Entdeckung tief in ihrem Herzen und sprach mit niemandem darüber. Ihr Verhältnis zum Vater allerdings hatte sich seitdem grundlegend gewandelt.

Durch den Türschlitz am Boden sah Helene noch Licht, als sie in den Flur des Elternhauses trat. Jemand war also wach, Vater oder Mutter oder sogar beide. Sie zögerte kurz, griff nach der Klinke, entschied sich dann aber anders.

»Ich bin wieder zurück!«, rief sie durch die geschlossene Tür und eilte die Stufen nach oben in ihr Zimmer.

Sie war noch nicht bereit, sich den entsetzten Blicken ihrer Eltern zu stellen, das spürte sie. Noch hatte sie sich selbst nicht mit den kurzen Haaren angefreundet, Kritik würde sie kaum aushalten.

In ihrem Zimmer ging sie sogleich zum Fenster, öffnete es weit und steckte sich eine Zigarette an. Ein schreckliches Laster, das sich für eine Frau – wenn man denn nicht so eine mondäne Salondame wie Ida Reimers war, die sich um Konvention nur wenig scherte – nicht geziemte. Aber Helene hatte sich das Rauchen von ihrem Bruder abgeschaut, der ihr bei seinem Fortgang eine Packung Salem hinterlassen hatte, mit dem Rat, ab und an eine Zigarette mit dem Dienstpersonal zu rauchen, bei dieser Gelegenheit erfahre man die interessanten Neuigkeiten.

Nun, Helene hatte geraucht. Mit Julie, dem damaligen Dienstmädchen. Und ja, sie hatte so einiges erfahren, leider auch das Unappetitliche, das sie niemals hatte wissen wollen. Aber Julie war verschollen, unter tragischen Umständen, nun war niemand mehr da, der das Laster mit Helene geteilt hätte. Doch sie behielt die Gewohnheit bei, rauchte anstatt im Dienstbotentrakt nun auf ihrem Zimmer.

Und dachte an Klaus, ihren Bruder im fernen Havanna. Sein letzter Brief hatte sie zum Jahreswechsel erreicht, seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Die Geschwister schrieben sich häufig, Helene erwartete die Briefe aus Kuba stets mit größter Vorfreude. Das lange Schweigen erfüllte sie mit Wehmut, Klaus fehlte ihr entsetzlich. Aber, so legte sie es sich zurecht, vermutlich war er zu beschäftigt und zu glücklich, um zu schreiben. Er schien seine Unabhängigkeit in der Ferne ordentlich auszukosten, schrieb ihr von nächtlichen Festen am Strand, von den unzähligen Bars in den Gassen der Stadt, die niemals schlief. Wenn sie hier stand, an ihrem Fenster, rauchte und auf die dunkle Binnenalster blickte, dachte Helene jeden Abend intensiv an ihn. Und stellte sich vor, was er sagen würde, wenn er sie so sähe. Heute mit ihrem kupferfarbenen Helm.

Ein letzter Blick zur schmalen Mondsichel, die einer goldenen Sense gleich am Himmel hing – war das ein böses Omen?, durchzuckte Helene kurz der Gedanke –, aber dann schloss sie ihr Fenster. Entkleidete sich, schlüpfte in ihr Nachthemd und lief in das dem Zimmer angrenzende Bad. Wusch sich das Gesicht und schob es danach nah an den Spiegel heran. Betrachtete es, wie ein Wissenschaftler ein Insekt auf dem Seziertisch inspiziert hätte. Ihr Blick glitt über die helle, von sehr blassen, im Winter beinahe unsichtbaren Sommersprossen übersäte Haut. Über den Mund, den sie seltsam unproportioniert fand, denn war die Oberlippe nicht zu schmal im Verhältnis zur eher üppigen Unterlippe? Blieb an ihren Augen hängen, auf deren Grün sie so stolz war, weil es ihrem Blick etwas Katzenhaftes verlieh. Aber sie konnte noch so lange in den Spiegel starren, ihr Ebenbild gab ihr keine Antwort auf die Frage, die sie so furchtbar umtrieb.

Wer bist du, Helene Curtius?

Und wohin gehst du? Wer wirst du werden? Wer willst du werden?

Sosehr sie grübelte und in ihr Innerstes hineinhorchte, so wenig fand sie eine Antwort.

Helene löschte das Licht, legte sich ins Bett und umschloss das Elefäntle, ihr Kuscheltier, mit beiden Armen.

Frei sein wollte sie, das war klar. Aber je mehr sie sich befreite – von ihrer Familie, von dem Rollenbild der Frau und ja, auch von ihrer Freundin Paulina –, desto unsicherer wurde sie. Besaß sie die Stärke, den Weg in ein selbstbestimmtes Leben weiterzugehen? Anne Fitzpatrick, die Ärztin, war ihr großes Vorbild. Je näher sie Anne in den letzten Monaten gekommen war, desto mehr wuchs ihre Bewunderung für deren Stärke und Unabhängigkeit, gleichzeitig schlich sich aber häufiger ein zarter Zweifel in die Bewunderung. War Anne, bei aller Freiheit, nicht auch einsam? Wollte Helene, die immerhin mit ihrer Familie zusammenlebte und Freunde hatte, allein leben? So allein wie Anne? Natürlich, die junge Ärztin und Frauenrechtlerin hatte sich innerhalb von wenigen Monaten einen Ruf als Medizinerin erarbeitet, der sie beinahe stadtbekannt gemacht hatte. Sie hatte gesellschaftlichen Umgang, war mittlerweile regelmäßiger Gast auf den Festen von Ida Reimers – aber legte sie sich nicht Abend für Abend allein in ihr Bett?

Der Gedanke, das Elefäntle könnte, würde sie so ein Leben führen, wie Anne es tat, lebenslang ihr einziger Begleiter sein, stimmte Helene traurig.

Darüber schlief sie ein.

Ihre Mutter Fanny schlug entsetzt die Hände vor den Mund, und Engelbert Curtius, Helenes Vater, sog vernehmlich die Luft ein, enthielt sich aber jedweden Kommentars.

»Was hast du nur mit deinen Locken angestellt, Kind?« Fanny erhob sich, ging zu ihrer Tochter und fasste ihr vorsichtig in die kurzen Haare.

»Wie du siehst, habe ich sie abgeschnitten. Ich fühle mich so viel wohler.«

Das war ein wenig gelogen, denn als Helene am Morgen in den Spiegel geblickt hatte, löste die neue Frisur durchaus widerstreitende Gefühle in ihr aus. Ja, es war bedeutend leichter auf dem Kopf, es kam ihr vor wie eine Zentnerlast, derer sie sich entledigt hatte. Das Haar fiel auch hübsch, es umschmeichelte noch immer ihr Gesicht, aber gleichzeitig befürchtete Helene, dass sie vielleicht doch zu wenig fraulich wirken könnte. Eine Wirkung, die sie immer abgelehnt hatte, aber jetzt, wo sie mutmaßte, dass sie sich dieses Aspekts ihrer Persönlichkeit beraubt hatte, wurde ihr unwohl.

»Mit Verlaub, ich finde, es steht Ihnen«, ließ sich Sophie vernehmen, das neue Mädchen im Haus.

Engelbert Curtius schickte ihr einen mahnenden Blick, woraufhin die Fünfzehnjährige beschämt zu Boden blickte, knickste und sich beeilte, Helene Kaffee einzugießen.

»Danke, Sophie, dass du deine Meinung mit uns teilst«, gab Fanny amüsiert zurück. »Aber es wäre mir lieber, wenn du mir das Omelett servierst, bevor es kalt wird.«

Röte überzog die Wangen des Mädchens, Helene beeilte sich, ihr zuzuzwinkern, dann lief Sophie rasch aus dem Esszimmer.

Die kleine Lautenschläger musste noch viel lernen. Helene hatte sie ins Haus geholt und durchgesetzt, dass ihre Eltern sie als neues Dienstmädchen engagierten, wo Julie doch bei Nacht und Nebel mit ihrem ungeborenen Kind verschwunden war. Sophie war Halbwaise – der Frauenmörder Joachim von Stetten hatte ihre Mutter auf dem Gewissen. Zufällig war Helene damals in der Polizeistation anwesend, als der Kommissar Berthold Rheydt der damals noch Vierzehnjährigen und zwei ihrer kleinen Geschwister die schlechte Nachricht überbracht hatte. Der Gedanke an die Kinder, deren Mutter gestorben und deren Vater arbeitsunfähig war, hatte Helene seinerzeit nicht losgelassen. Welches Schicksal erwartete die Kleinen? Sophie würde für den Lebensunterhalt aufkommen müssen – aber womit hätte sie das tun sollen, als Minderjährige? Diesen Gedanken hatte Helene, die Wohlbehütete, nicht zu Ende denken wollen.

Also war sie auf die Idee verfallen, dass sie Sophie retten konnte. Indem sie ihr eine Stelle anbot. Sie hatte es nicht bereut, das Mädchen und mit ihr der Vater waren dankbar für diese Chance – das Abkommen jedoch stellte alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Sophie war zu jung, sie war nicht vertraut mit der Sprache und den Gepflogenheiten in einem Haushalt wie dem der Familie Curtius. Überdies gab es niemanden, der sie anlernte. Zwar gab sich die Köchin, die lange Jahre bei der Familie war, alle Mühe, Sophie mit den wichtigsten Regeln vertraut zu machen, aber es schien manchmal hoffnungslos. Auch heute Morgen war die Zeitung nicht gebügelt, Helenes Vater faltete sie missmutig auseinander, er hatte Sophie zum hundertsten Mal auf ihre Pflichten hingewiesen, aber es gab schlichtweg zu viele Regeln, die das Mädchen im Kopf behalten sollte.

Trotzdem würde sie bleiben. Und dazu bedurfte es nicht einmal mehr Helenes Fürsprache, denn ein Mädchen an die Luft zu setzen, das seine gesamte Familie ernähren musste und andernfalls geradewegs auf der Straße landen würde, das brachten weder Engelbert noch Fanny übers Herz.

Der Pastor faltete nun seine Zeitung zusammen, legte sie sorgfältig auf den Tisch und betrachtete seine Tochter, der unter dem väterlichen Blick immer noch nicht ganz wohl war, Emanzipation hin oder her.

»Ich vermute, die Frisur ist eine Vorbereitung auf den unseligen Frauentag?«, erkundigte er sich mit mühsam unterdrücktem Missfallen. Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.

»Nicht nur, aber auch.« Helene zwang sich, dem Blick ihres Vaters standzuhalten. Anders als früher war es aber nicht sie, die zuerst auswich.

»Soso«, murmelte er nur und verabschiedete sich in seine Arbeit.

Auch Helene beeilte sich, trank ihre Tasse Kaffee, nahm sich eine Scheibe Brot, gab ihrer Mutter einen Kuss und stürmte nach draußen.

Zu ihrem Bedauern musste sie auf ihr Fahrrad verzichten und die Trambahn nehmen. Der Weg zu den Auswandererhallen war viel zu lang, um ihn auf dem Rad zurückzulegen, Helene fuhr mit Tram und Zug. Sie leistete dort ihr Praktikum ab, das am Ende ihrer Ausbildung zur Lehrerin stand. Nur noch wenige Tage, dann hatte sie ihre Prüfungen und war fertig mit dem Seminar.

Doch der Arbeitsweg war das einzige Ärgernis im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in den Auswandererhallen. Morgen für Morgen freute Helene sich auf die Arbeit. Sie war angestellt, um den Auswandererkindern Deutsch und Englisch beizubringen – eigentlich ein aussichtsloses Unterfangen, denn die Kinder blieben nur für die Zeit der zweiwöchigen Quarantäne, bevor sie weiterreisen mussten. Selten blieben ihre Schüler darüber hinaus, jeden Morgen begrüßte Helene neue in ihrer Klasse. Zudem verstand sie nur wenig von dem, was die Kinder zu ihr sagten – Helene war weder des Polnischen noch des Russischen mächtig. Umso größer war die Herausforderung. Der Spaß stellte sich trotzdem ein, zur großen Freude der Lehrerin nicht nur bei ihr, auch bei ihren Schülern. Helene hatte sich die Mühe gemacht und gemeinsam mit Paulina Bilder gemalt. Wichtige und grundlegende Begriffe wie Brot, Ball, Polizist, Schiff, Jacke, Blume, Sonne und dergleichen Vokabeln mehr hatten die beiden auf Papier gemalt. Mit dieser Bilderbibel fühlte Helene sich gut gerüstet und hatte sich in den zurückliegenden Wochen verschiedene Varianten der Vermittlung ausgedacht. Manchmal schrieb sie die Begriffe an die Tafel – und die Kinder mussten malen, was sie darunter verstanden. Oder Helene malte und die Schüler antworteten mit den richtigen Begriffen. Sie ließ die Kinder Begriffspaare bilden oder einen Begriff in vielen Sprachen an die Tafel schreiben, wodurch wiederum sie lernte, wie Ball auf Polnisch hieß und Brot auf Russisch. Dabei löste sich Helene mehr und mehr von der im Lehrerinnenseminar erlernten Pädagogik – demnach hätten ihre Schüler seitenweise denselben Begriff in ihre Hefte schreiben müssen –, sondern orientierte sich an der Fröbel’schen Spielpädagogik. Ihre Ausbilderinnen hätten ihre Unterrichtsmethoden missbilligt, das wusste Helene sehr wohl, allein, in den Auswandererhallen sah ihr niemand auf die Finger. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte, ab und zu steckte jemand den Kopf in ihr Klassenzimmer und sah nach dem Rechten. Da sowohl die Kinder als auch ihre Lehrerin stets gut gelaunt waren, und die Schüler auf Helenes Aufforderung hin ohne Probleme Gelerntes vortragen konnten, war man es zufrieden.

Nachdem sie den Eingang für die Angestellten passiert hatte und durch den Frühnebel, der vom direkt angrenzenden Zollhafen wie dicke Mehlsuppe aufgestiegen war und sich nur widerwillig zurückzog, durch die kleine Stadt in der Stadt lief, vorbei an den Pavillons und Speisehallen, in denen bereits reges Treiben herrschte, an ballspielenden Kindern und tollenden Hunden, den Verwaltungstrakt in Richtung der großen Kirche passierte, die den Platz zwischen Hotel Süd und Hotel Nord dominierte, überlegte sich Helene, was sie an diesem Tag mit ihren Kleinen üben würde. Sie entschied sich für ein Ballspiel.

Als sie ihr am Ende des Verwaltungsgebäudes gelegenes Klassenzimmer betrat, blickte sie in vierunddreißig Gesichter. Freudige, skeptische, verängstigte, fröhliche Gesichter. Das jüngste Kind, ein Mädchen, dürfte fünf, das älteste, ebenfalls ein Mädchen, vielleicht sechzehn sein.

»Guten Morgen!«, begrüßte Helene ihre Klasse mit Schwung.

Auch wenn nicht alle Kinder ihre Worte verstanden, wussten sie doch sofort, was gemeint war, und so erhielt Helene eine vielsprachige Antwort.

Die junge Lehrerin lächelte und nickte, drehte sich zur Tafel und schrieb ihren Gruß auf Deutsch an die Tafel. Dann winkte sie die älteste Schülerin zu sich, sagte noch einmal deutlich »Guten Morgen« und zeigte dabei auf die Worte, die sie an die Tafel geschrieben hatte. Sie forderte das Mädchen auf, ihren Gruß ebenfalls zu wiederholen.

»Доброе утро!«, gab das Mädchen zurück und lächelte verschämt.

Eine Russin, erkannte Helene, die in den Wochen ihrer Tätigkeit in den Auswandererhallen mit kaum einer Sprache so viel Umgang hatte wie mit der russischen.

Das Mädchen durfte nun ihrerseits den russischen Gruß an die Tafel schreiben, und so setzte sich der Sprachunterricht fort, in dessen Lauf auch das mürrischste Kind auftaute. Helene war vollkommen bei der Sache, sie bemühte sich stets, jedes Kind im Klassenzimmer mindestens einmal direkt anzusprechen und mitzunehmen, es gelang ihr beinahe immer. Nur sehr selten gab es Kinder, die nicht in der Lage waren, dem Unterricht zu folgen, sei es, weil sie verängstigt, zu erschöpft oder einfach zu übermütig waren, um sich zu konzentrieren. Doch das brachte die junge Lehrerin nicht aus dem Konzept. Konnte sie das Kind auch über mehrere Stunden nicht in den Unterricht integrieren, schickte sie es zu den Eltern zurück. Die Teilnahme am Unterricht war freiwillig, es war ein Angebot der Hapag an die Auswanderer, und viele nahmen es mit Freude an. Auf diese Weise waren die Kinder beschäftigt und lernten etwas, das sie in der Fremde brauchen konnten – und den Eltern verschaffte es ein paar Stunden Luft, um sich auszuruhen oder wichtige Dinge für die Weiterreise zu klären.

Der kleine Unterrichtsraum befand sich im Abschnitt B des Geländes. B, das hieß, in der »reinen«, von Krankheiten befreiten Zone. Die »unreinen« Zonen waren mit A und C beziffert, der Beobachtungszone und dem Quarantänebereich.

Durch die beiden Fenster hatte Helene den Blick auf den Vorplatz, in dessen Mitte der hölzerne Kirchenbau thronte. In einem anderen Gebiet, hinter den Pavillons 11 und 12 befand sich eine Synagoge für die Auswanderer jüdischen Glaubens. Sie stellten zurzeit die Mehrheit der Auswanderungswilligen dar, kein Wunder, nach allem, was Helene über ihre Fluchtgründe erfahren hatte. Den Kindern merkte sie an, dass diese mit der Situation überfordert waren, nicht verstanden, warum sie alles, was sie liebten und kannten, zurücklassen mussten. Mit diesen Kindern gab Helene sich besondere Mühe, auch wenn die Sprachbarriere und die kurze Zeit, die sie die Kleinen in ihrer Obhut hatte, eine intensive Betreuung verhinderten. Das aber war die Arbeit, die die junge Pastorentochter am meisten interessierte und auch erfüllte. Welches Glück es ihr bereitete, ein trauriges, verschlossenes Kind zum Lachen zu bringen! Die Kinderseele war ein wertvolles Gut, und Helene gelangte immer mehr zu der Ansicht, dass sich diese Seelen nicht durch Zwang und Grobheiten, sondern nur durch Mitgefühl und Fantasie entfalten konnten.

Der Vormittag verging auf diese Art rasch, um zwölf entließ Helene ihre Schüler in die Mittagspause und machte sich selbst auf in die Speisehalle, ein großer Bau, der zwischen den beiden Hotels lag. Dort war für die Angestellten ein eigener Saal reserviert, das Essen war üppig und wurde in der direkt angrenzenden Küche frisch zubereitet.

Angelika, eine der Krankenschwestern in Helenes Alter, winkte ihr, sobald sie den Saal betrat, und Helene setzte sich auf den von ihrer neuen Bekanntschaft freigehaltenen Platz. Hühnerbrühe mit Einlage, Brot und zum Nachtisch Grießbrei stand an diesem Tag auf der Speisekarte.

»Hast du es schon gehört?« Angelika senkte den Kopf und flüsterte.

Helene sah sie verwundert an und schüttelte nur den Kopf.

»Gestern Abend ist wieder ein Junge gestorben. Ein kleiner Russe, einer von den Neuen.«

Unwillkürlich zog sich Helenes Magen zusammen, und sie legte den Suppenlöffel hin.

Es kam nicht zum ersten Mal vor, dass sie in den Auswandererhallen einen Todesfall zu beklagen hatten. Trotz der strengen Hygienemaßnahmen.

Aber die Toten waren zumeist Kinder oder sehr alte Menschen, die an der Auszehrung starben, oftmals schon vorher geschwächt waren und die beschwerliche Reise nicht verkrafteten. Dennoch. Jedes tote Kind war eines zu viel.

Helenes Gedanken wanderten zu Anne. Hatte diese nicht auch am Abend Dienst gehabt?

Helene hatte ihre Freundin auf die Stelle hingewiesen. Doktor Tergit, der die Gesundheitsabteilung der Auswandererhallen leitete, hatte vorübergehend jemanden gesucht, der ihn vertrat, und Anne hatte die Stelle tatsächlich bekommen. Daraufhin hatte Helene gehofft, dass sie mit ihrer Freundin gemeinsam Dienst in den Hallen tun konnte, aber Anne trat ihre Schicht stets nach ihrer Arbeit in der Praxis an – dann, wenn Helene den Unterricht längst beendet hatte.

»Sie munkeln jetzt, es ist die Cholera«, fuhr Angelika fort und riss die Augen auf.

»Sag das nicht!«, fuhr Helene sie an. Und leiser fort. »Die Cholera ist ausgerottet. Und sie hätte keine Chance, hier, wo ständig alles kontrolliert wird.«

Angelika zuckte nur mit den Schultern. »Die Kolleginnen sprechen darüber. Auch dieser Junge hatte Krämpfe und Durchfall. Genau wie die anderen. Und genau wie die Cholerakranken. Margit sagt …«

»Margit«, Helene verzog verächtlich den Mund. Margit war die Oberschwester in den Auswandererhallen. Eine sauertöpfische Alte, mit der Anne – wie Helene wusste – auf ständigem Kriegsfuß stand.

»Margit hat die Epidemie erlebt. Die weiß genau, wie die Cholera aussieht.« Angelika senkte ihre Stimme weiter. »Sie sagt, sie ist sich sicher. Aber die Hapag will’s geheim halten, sonst wird hier alles dichtgemacht.«

Helene wollte etwas entgegnen, aber dann fing sie den Blick eines Arbeiters auf, der ihnen schräg gegenübersaß und offensichtlich Fetzen ihres Gespräches aufgeschnappt hatte. Sie schüttelte nur den Kopf und beschloss, nach der Arbeit einen Stopp bei Anne Fitzpatrick in der Praxis einzulegen. Wenn jemand etwas darüber wusste, dann war sie es.

Nach der Mittagspause sammelte Helene ihre Schüler wieder ein, die sich meistens auf dem Vorplatz tummelten, Ball und Kreisel spielten oder Hüpfspiele. Doch heute fehlten einige ihrer Schützlinge. Helene sprach das älteste Mädchen an, verständigte sich mit ihr mit den wenigen Brocken Russisch, etwas Deutsch und Englisch, woraufhin die Schülerin ihr bedeutete, ihr zu folgen. Sie führte Helene auf die Rückseite des Verwaltungstraktes. Dort befand sich ein kleiner Grünstreifen. Tatsächlich waren einige ihrer Schüler hier beschäftigt – offensichtlich buddelten sie ein Loch. Helene hieß sie, unverzüglich damit aufzuhören, und lief mit großen Schritten zu den beiden halbwüchsigen Jungen, die mit Schaufeln dort zugange waren. Um sie herum hatten sich ein paar kleinere Kinder gruppiert. Als sie näher trat, sah Helene, was die Kinder dort vorhatten.

Sie schaufelten ein Grab.

Auf der vom Winter noch braunen Wiese lag der Kadaver eines Hundes. Es war der große schwarze Zottel, den Helene von Anfang an hier beobachtet hatte, ein lieber Streuner, der sich von jedem streicheln und füttern ließ. Betrübt blickte sie zu ihm herab, er hatte die Lefzen über die Zähne gezogen, an seinem Maul klebten trockene Reste von Erbrochenem. Offensichtlich war der Alte keines sanften Todes gestorben. Helene scheuchte die Kinder weg. Das Tier konnte Krankheiten übertragen, sie wies ihre Schüler an, sich umgehend die Hände zu waschen und in den Klassenraum zurückzukehren. Sie selbst suchte einen Wachmann und berichtete ihm von dem toten Tier. Es musste umgehend entsorgt werden, damit keine Seuchengefahr von ihm ausgehen konnte.

Sie dachte kurz an die Mondsichel, in der sie gestern Nacht eine Sense erkannt und dies als Omen gelesen hatte, aber dann schüttelte sie diesen Gedanken rasch ab. Sie war alles andere als abergläubisch!

»Die Cholera?« Anne sah Helene kopfschüttelnd an und fuhr fort, ohne sich um die Köpfe der anderen Frauen zu kümmern, die sich bei diesem Stichwort unwillkürlich zu ihnen gedreht hatten. »So ein Unsinn!«

»Margit behauptet …«

»Margit!« Die Ärztin stöhnte. »Diese unerträgliche Person. Warum setzt sie diese Gerüchte in die Welt? Sie schadet damit nur sich selbst.«

»Bist du ganz sicher, dass es nicht diese Krankheit sein kann? Was, wenn sich der Erreger plötzlich doch verbreitet?« Helene vermied es, den Namen der Krankheit in den Mund zu nehmen.

»Zugegeben«, Anne zerteilte die Kartoffeln auf ihrem Teller und häufte Szegediner Gulasch darauf, »die Symptome passen.«

»Ist das dein Ernst?« Helene beugte sich etwas weiter zu Anne. Sie saßen im Grünen Haus, direkt am Magdeburger Hafen. Helene war nach der Arbeit zu Anne in die Praxis gefahren, um aus ihrem Mund mehr über den Tod des Jungen, Valentin, wie sie mittlerweile wusste, zu erfahren. Da Anne nicht die Gelegenheit gehabt hatte, über Tag etwas zu essen, geschweige denn, sich die Beine zu vertreten, waren sie gemeinsam hierhergelaufen, um die Stunde, bevor Anne zum Dienstantritt abgeholt wurde, an ihrer alten Wirkungsstätte zu verbringen.

Theresa kochte wunderbar, und Anne ließ es sich nicht nehmen, dem Haus regelmäßig einen Besuch abzustatten. In den Monaten seit der Gründung war das Frauenhaus von den Frauen der Umgebung – zum größten Teil die Prostituierten der Hafengegend – gut angenommen worden, es hatte sich herumgesprochen, dass sie hier warme Kleidung, Essen, Tee und tröstende Worte empfangen konnten, aber auch Rat in allen Angelegenheiten.

Anne und Helene stachen vor den anderen Besucherinnen des Hauses in jeder Hinsicht hervor, aber die Ärztin war bekannt unter den Prostituierten, sodass sie sie nicht mit missbilligenden Blicken bedachten, sondern ihre Gegenwart als etwas Alltägliches hinnahmen. Die Erwähnung der Cholera aber provozierte scheele Blicke.

»Doch«, fuhr Anne fort, »dann müsste sich mindestens die Mutter angesteckt haben. Wir haben sie beobachtet, sie ist symptomlos. Und alle anderen, die auf dem Transport mit den beiden in Berührung kamen, ebenfalls. Nein, wäre es die Cholera, hätten wir jetzt mehr Erkrankte.«

Helene fiel ein Stein vom Herzen. Obwohl sie Angelika und noch weniger Margit Glauben schenken wollte, hatte sie doch den restlichen Nachmittag an die Möglichkeit einer Epidemie denken müssen. Aber sie vertraute Anne, und wenn diese fest davon überzeugt war, dass die Todesursache eine andere war, glaubte sie ihrem Wort.

Die Ärztin schob nun kauend ihren Teller von sich weg, sie hatte kein Fitzelchen übrig gelassen. Trotz ihrer schmalen Gestalt konnte Anne Fitzpatrick essen wie ein Pferdekutscher, auch etwas, das beide Frauen einte.

»Er muss bereits geschwächt gewesen sein, als er auf die Reise gegangen ist. Wahrscheinlich hatte er die Ruhr, und sie konnten es vor den Kontrollen noch geschickt verbergen. Aber dann hat er etwas Falsches gegessen, sich vielleicht überanstrengt. Sein Körper hatte keine Reserven.«

Sie schwiegen. Helene hatte keinen Appetit mehr, sie musste an die teilweise ausgemergelten Gestalten in ihrem Unterricht denken. Bauernkinder, die verschimmelte Kartoffeln aßen, weil der Acker nichts mehr hergab. Wassersuppe, Brotkanten, Kartoffelschalen – es war ein Trauerspiel, in welchem Zustand manche der Kinder waren. Es konnte, ja, es musste für sie besser werden, dort, wo sie hinwollten. Kinder waren die Zukunft, sie waren die Hoffnung jedes Landes, wenn die Kinder starben, dann starb das Land. Helene hatte gedacht, dass sie in Hamburg, im Frauenhaus in der Paulstraße, genug Kinderelend gesehen hatte, aber das war kein Vergleich mit den armen Wesen, denen sie in den Auswandererhallen begegnete. All das war so weit entfernt von der Welt, in der sie aufgewachsen war, dass Helene umso stärker die Verpflichtung fühlte, diesen Menschen etwas von dem Behütetsein zurückgeben zu wollen.

Sie hatte Valentin nicht gekannt, aber sie trauerte nun um ihn, stellvertretend für all die Kinder in Not.

»Hast du den Mond gestern gesehen?«, fragte sie ihr Gegenüber.

»Die schmale Sichel?«

Helene nickte.

»Eigentlich wunderschön. Aber ich hatte plötzlich das Bild einer Sense vor Augen, wie ein schlechtes Omen.«

Jetzt lachte Anne sanft, fasste über den Tisch und griff nach Helenes Haaren. »Meinst du nicht, der Gedanke an eine Sense hat vielmehr damit zu tun? Sense, Schere …«

Helene schüttelte den Kopf und wurde auf einmal verlegen. Beinahe jeder hatte sie heute auf ihre Haare angesprochen, auf der Straße hatten ihr Leute hinterhergeschaut. Es würde dauern, bis sie sich daran gewöhnt hatte.

»Es ist wunderschön«, sagte Anne nun mit einem Lächeln in ihren dunklen Augen.

Manchmal sah sie die Jüngere auf eine Weise an, die diese nicht einordnen konnte. Ja, die Helene sogar unangenehm war. Es schien ihr, als sähe sie Begehrlichkeit in Annes Blick.

»Nein«, gab sie zurück und schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein, damit hatte es nichts zu tun. Ich habe eine Sense gesehen«, beharrte sie. »Und tatsächlich ist ausgerechnet dann, als ich den Mond betrachtet habe, ein Kind gestorben.«

»Auf der ganzen Welt sind zahlreiche Menschen zu diesem Zeitpunkt gestorben«, versuchte Anne zu beschwichtigen, aber Helene fiel ihr ins Wort.

»Und dann auch noch der Hund. Nein, es war ein schlechtes Omen.«

»Der Hund?« Anne runzelte die Stirn. »Welcher Hund?«

»Der große schwarze Zottel mit dem grauen Bart. Er lag hinter dem Verwaltungsgebäude. Die Kinder wollten ihn begraben, aber …«

Ruckartig setzte Anne sich auf und griff fest nach Helenes Hand. »Wo ist er?«

Helene war verwirrt. Warum nur brachte die Nachricht des toten Tieres die Ärztin so auf? Mehr noch als der Tod des Jungen, so schien es ihr.

»Wo er ist? Ich weiß nicht, ich habe dem Wachpersonal gesagt, sie sollen sich darum kümmern.«

»Woran ist er gestorben?«

»Das kann ich dir nun wirklich nicht sagen! Jedenfalls keines natürlichen Todes. Er hatte sein Maul verzerrt und …«

»Schaum?« Anne schien vollkommen aufgebracht, »Schaum, Erbrochenes, Kot?«

»Warum fragst du das?«

Aber Anne gab Helene keine Antwort. Sie war aufgestanden und lief zur Tür. »Ich muss unverzüglich dorthin.«

»Anne!«, rief Helene und bekam an der Tür die Freundin zu fassen. »Was ist denn mit dem Hund?«

Anne drehte sich nun ganz zu ihrer Freundin um und blickte ihr fest in die Augen. »Es ist der Hund, der gestern etwas von dem Erbrochenen des Jungen gefressen hat.«

Helene war verwirrt. Sie verstand nicht.

»Ruhr überträgt sich nicht auf ein Tier. Aber wenn der Hund genauso gestorben ist wie der Junge, kann es nur eine Ursache haben.«

»Und die wäre?«, fragte Helene nach.

»Gift.«

Helene sog scharf die Luft ein. Die Sense, dachte sie. Diese vermaledeite Sense.

3.

»Auf ein Bier?« Berthold Rheydt wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels über die verschwitzte Stirn. Er kam direkt vom Fußballtraining und hatte anschließend weder geduscht, noch hatte er sich umgezogen, sondern trug sein schwarzes Trikot mit dem weißen Kragen und die knielange Trainingshose. Lediglich die Fußballschuhe hatte er gegen seine Stiefel umgetauscht, die ledernen Stollenschuhe baumelten nun über seiner Schulter.

Obwohl die Temperaturen an diesem Abend nur wenig über null lagen, verspürte er keinen Drang, sich wärmer anzuziehen, sein schwerer Körper war durch die sportliche Betätigung vollkommen durchgewärmt, ja, er glühte förmlich. Ihn dürstete nach Abkühlung, aber nicht mit einer kalten Dusche, vielmehr sehnte er sich nach einem kalten Bier. Auf dem Heimweg würde Berthold bis auf die Knochen durchfrieren, das wusste er, aber er brauchte den Schmerz, den er am Ende mit einer heißen Wanne betäuben würde. Und mehreren Gläsern Genever. Anders, das ahnte der Kommissar, würde er nicht in den Schlaf finden können.

Aber zuerst ein kaltes Bier gegen den Durst.

Willy Brenner zögerte. Ein Blick auf seinen Vorgesetzten, dem die Ungeduld und Anspannung ins Gesicht geschrieben stand, ließ ihn nicken.

»Gern. Ich würde aber vorher noch …« Er zeigte zum Duschraum.

Berthold nickte. »Ich warte draußen.«

Der Kommissar verließ die große Turnhalle auf dem Heiliggeistfeld, wo sie ihr Fußballtraining absolviert hatten. Dass sie die Umkleiden und Duschen dort benutzen durften, war eine große Gnade des Turnvereins, dessen Mitglieder die Fußballer behandelten wie Abschaum. Sport, das war Fechten oder Turnen. Aber einem ledernen Ball hinterherjagen, galt als Beschäftigung für tumbe Affen.

Nun, dachte Berthold, während er sich mit dem Rücken an die Backsteinmauer lehnte und ein paar Jungen zusah, die sich einen Ball aus alten Lumpen zukickten, momentan spielte sein Verein, der 1. FC St. Pauli auch genauso. In einer Liga mit den Affen. Es war die schlechteste Saison, seit er bei dem Verein spielte. Sie verloren ein Spiel der norddeutschen Meisterschaft nach dem anderen und nicht nur seine zweite Mannschaft, auch die erste, in der sein Schupo Brenner Torwart war. Dessen erste war in die dritte Liga abgerutscht, ein Aufstieg unmöglich. Die Mannschaft behandelte den Jungen, als sei er allein schuld am Abstieg, aber das lag wohl daran, dass Willy der einzige Spieler aus der Arbeiterklasse war. Schauten die Turner auf die in ihren Augen primitiven Fußballer herab, so meinten diese, sich von den Arbeitern abzusetzen, indem sie nur Angestellte und Snobs in ihre Vereine aufnahmen.

Deshalb gewannen sie auch keinen Blumentopf, ärgerte sich Berthold Rheydt, wenn man sich zu fein war, sich beim Sport schmutzig zu machen, konnte es nie was werden mit dem Aufstieg.

Erst jetzt bemerkte er, dass einer der Jungen, die er gedankenverloren beobachtete, ein Hellblonder mit kurzen Hosen und ordentlicher Filzjoppe, nass war. Durchgeweicht von Kopf bis Fuß. Es schien weder ihn selbst noch die anderen Jungen zu stören. Kein Wunder, dachte Berthold wehmütig, sie können ihn ja nicht sehen. Meinen Sohn. Willem. Nur er konnte das, nur er hatte immer wieder diese Vision. Als spüre er, dass sein Vater ihn betrachtete, drehte sich der Junge um, blickte direkt zu Berthold, winkte – und verschwand.

»Wir können.«

Der frisch geduschte Brenner trat aus der Tür neben seinen Chef und blickte ihn prüfend an. Berthold wusste, dass seine Leute ihn manchmal seltsam fanden. So wie jetzt, wahrscheinlich hatte er seinem Sohn zugelächelt, ohne es zu merken. Seinem Sohn, der nicht hier war, es nicht sein konnte, der mit seiner Mutter Elisabeth auf dem Grund der Nordsee lag. Und der, ebenso wie sie, keine Ruhe fand und immer wieder vor Bertholds geistigem Auge auftauchte.

Ein Grund mehr für ein Bier, befand der Kommissar, packte Brenner am Arm und zog ihn mit sich. In der Annen-, Ecke Sophienstraße gab es ein namenloses Kellerlokal, dorthin entführte er seinen Mitarbeiter.

Es war eine saubere, einfache Kneipe, die Holztische und der Tresen wurden nach jedem Getränk abgewischt, der Wirt war nicht selbst sein bester Gast, schenkte dafür jedoch ordentlich ein. Hier saßen nicht die üblichen Verbrechervisagen, wie sonst auf St. Pauli, aber auch keine der vielen Polizeispitzel, denen man in der Hansestadt kaum entkommen konnte.

Beim Eintreten hob Berthold lediglich zwei Finger in die Höhe, der Wirt nickte, und die beiden Polizisten suchten sich einen ruhigen Tisch in der Ecke.

Sie schwiegen, bis das frisch gezapfte Bier vor ihnen auf dem Tisch stand, der Kommissar orderte eine Gulaschsuppe, dann erst prosteten sie sich zu.

Willy Brenner wischte sich nach dem ersten Schluck den Schaum aus seinem Schnauzbart, den er seit Neuestem trug.

»Ziemlich lausiges Spiel«, kommentierte er das Training.

»An Ihnen liegt es nicht, Brenner, ganz gleich, was die Mannschaftskollegen behaupten.«

Der junge Schupo nickte. »Weiß ich. Trotzdem. Hab schon drüber nachgedacht, ob ich den Trainer nicht bitten soll, dass er mich in die zweite steckt.« Er sah seinem Chef ins Gesicht. »Dann sind wir wenigstens zusammen miserabel.«

Trotz seiner schlechten Laune musste Berthold lachen. »Napfmann wird einen Teufel tun«, gab er zurück, schob sein Glas, das er in einem Zug geleert hatte, dem Wirt zu, als dieser den Suppenteller zu ihrem Tisch brachte. »Der weiß genauso gut wie ich, wer sein bester Mann ist.« Berthold schlug dem jungen Mann freundschaftlich auf die Schulter. »Die anderen sind Pfeifen. Wenn wir bloß mehr von Ihrer Sorte in den Verein bekämen. Raabe wäre ein Anfang.«

Jens Raabe war ein weiterer Kollege, den Berthold im Fall des Hafenmörders in sein Team geholt hatte. Frisch von der Polizeischule, ein fittes Kerlchen, gierig und aufgeweckt. Und kicken konnte er zudem. Er wäre ein Gewinn für den FC, da war der Kommissar sicher.

Brenner hob hilflos die Hände. »Napfmann hat die Hosen voll. Der traut sich nicht, sich gegen die Vereinsleitung durchzusetzen.«

Ein weiteres frisches Bier landete vor Bertholds Nase auf dem Tisch, während Brenner an seinem lediglich genippt hatte.