Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen - Henrike Engel - E-Book
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Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen E-Book

Henrike Engel

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Beschreibung

Berührende Schicksale und dunkle Geheimnisse im Hamburg der Kaiserzeit Hamburg im Herbst 1911: Bei ihrer Arbeit am Hamburger Hafen wird die Ärztin Anne Fitzpatrick zunehmend mit Süchtigen konfrontiert. Sie beginnt, nach den Hintermännern zu suchen, als plötzlich ihre Freundin Ju entführt und Anne erpresst wird. Für sie beginnt ein Rennen gegen die Zeit um Jus Leben. Zusätzlich ist Kommissar Berthold Rheydt mit eigenen Problemen konfrontiert: Er glaubt, seine Frau Elisabeth, die mutmaßlich verstorben ist, gesehen zu haben. Eigentlich wollte er Helene heiraten, nun platzt der Hochzeitstermin. Die engagierte Lehrerin Helene merkt unterdessen, dass sie auf Schritt und Tritt beobachtet wird. Wer will ihr Schaden zufügen? Und wer hat es auf Anne abgesehen? Lassen Sie den Alltag hinter sich und tauchen Sie ein in die Kaiserzeit Hamburgs und in das Leben einer außergewöhnlichen Frau. *Einzigartige Ausstattung mit besonderer Goldprägung* Das große Lesevergnügen geht weiter: Band 1: Die Hafenärztin. Ein Leben für Freiheit der Frauen, Januar 2022 Band 2: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Lachen der Kinder, Mai 2022 Band 3: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe, November 2022 Band 4: Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen, Dezember 2023

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Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen

HENRIKE ENGEL pendelte in ihrem Leben ständig zwischen Berlin und München, mit beiden Städten verbindet sie eine komplizierte Liebesbeziehung. Eines aber ist konstant geblieben: ihre Liebe zu Hamburg! Manche Träume jedoch müssen unerfüllt bleiben, und so hat die ehemalige Drehbuchautorin nicht ihren Wohnort in die Hafenstadt verlegt, sondern träumt sich lieber schreibend dorthin.

Aufbruch und Elend, weite Welt und enge Gassen, der Reichtum der einen, die Armut der anderen – im Hamburger Hafen der Kaiserzeit kämpfen sie gegen das Unrecht: Eine Ärztin mit dunkler Vergangenheit, eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst und ein Polizeibeamter, dem eine Tragödie das Herz gebrochen hat.

Henrike Engel

Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Paperback1. Auflage Dezember 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Rahmen, Details © bürosüd°, Stadtansicht © akg Images, Frau © Richard Jenkins / RJ-Edwardian Set 13-065Autorinnenfoto: © Quirin LeppertE-Book powerded by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3059-4

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Textbeginn

1.

Berlin, Charlottenburg

2.

Hamburg

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Föhr

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

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28.

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30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

Hamburg, drei Monate später, Januar 1912

Zum guten Schluss

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Textbeginn

Widmung

»Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen mitzuteilen, dass ich Sie für einen Schurken halte.«

Arthur Schnitzler, Der Mörder, 1911

     

1.

Sie stand an die Tür gelehnt. Der Kopf war leicht zur Seite geneigt, ihre Stirn lag am Türrahmen, das Gesicht gezeichnet von der Erschöpfung des Lebens. Ihre Haare in einem wirren Knoten zusammengerafft, die Kleider ordentlich, aber der Geruch, der ihnen entströmte, ließ darauf schließen, dass sie länger nicht gewaschen worden waren.

Klara Herrmann wirkte, als wollte sie nur eine kleine Pause machen. Kurz innehalten, bevor sie zu Mann und Kindern zurückkehrte, zur schmutzigen Wäsche, zu der Graupensuppe, die sie seit Wochen täglich auf den Tisch stellte, weil zu anderem das Geld nicht reichte. Zu den schmutzigen, nie gebohnerten Böden, zu den ungemachten Betten und den Schlägen ihres Mannes.

Doktor Anne van der Zwaan blickte vom Treppenabsatz nach oben, dorthin, wo die Frau, die sie von der Armenspeisung des Frauenhauses kannte, stand, und sie wusste, dass sie zu spät gekommen war. Es war nichts mehr zu machen, die Totenstarre hatte die erschöpfte Frau ereilt. Im Stehen. Der Tod hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, gnädig abzuwarten, bis Klara Herrmann die Tür aufgesperrt hatte, durch den Flur gewankt und in eines der Betten gesunken war.

Sie musste die ganze Nacht hindurch getrunken haben. Dass die Leichenstarre so schnell einsetzte, kam selten vor, nur nach extrem hohem Alkoholgenuss oder nach der Einwirkung stumpfer Gewalt.

Beides war möglich, beides hatte die junge Frau, die ein paar Stufen über ihr stand, zur Genüge gekannt. Klara war keine dreißig Jahre alt geworden, aber ihr Körper und auch ihr Gesicht waren wie von einer alten Frau. Oft genug hatte Anne Prellungen und Brüche verarztet. Hatte gesehen, wie die Frau des Dockarbeiters ihre Kinder schon am frühen Morgen in der Paulstraße abgeliefert hatte, die Alkoholfahne umgab sie wie ein stinkender Kokon. Dann war Klara weitergezogen, durch die düsteren Kneipen des Verbrecherviertels, durch den Langen Heinrich oder den Munteren Hering, den Schleusenkrug und andere Kaschemmen. Hatte für ein Bier die Röcke gehoben und war irgendwann in einem Fleet oder Straßengraben erwacht.

»Was hat die Mama?«

Anne drehte sich um. Käthchen stand hinter ihr und sah sie an, mit diesen klugen und wachsamen Kinderaugen. Unschuld und Wissen im Blick.

»Lauf und sag dem Schupo, er soll kommen«, gab Anne ihr zur Antwort, unfähig, dem Mädchen die Wahrheit zu sagen. Die Position der Toten war so ungewöhnlich – selbst wenn sie eines natürlichen Todes gestorben war, wovon Anne ausging, wollte sie auf der sicheren Seite sein und die Polizei benachrichtigen.

Die Kleine nickte und machte kehrt, lief auf nackten Sohlen die zwei Stockwerke hinunter. Oktober, dachte Anne, während sie das Kind beobachtete, wie es im raschen Lauf den Hof überquerte, es ist Mitte Oktober, und das Kind trägt keine Schuhe.

Anne seufzte und stieg mit schweren Beinen die wenigen Treppenstufen zu der Toten empor. Sie überprüfte routiniert die Temperatur, warf einen Blick auf die Augäpfel, tastete den Körper vorsichtig nach äußeren Verletzungen ab, aber sie konnte weder Anzeichen von Vergiftung noch der Einwirkung stumpfer Gewalt feststellen. Klara Herrmann war mit Ende zwanzig an ihrem harten Leben elend zugrunde gegangen. Eine Leberzirrhose, ein Herz, das aufgehört hatte zu schlagen, ein Körper, der zu erschöpft war, um weiterzumachen. Die genaue Todesursache würde nur eine Autopsie feststellen können, aber wer würde die Mühe auf sich nehmen? Wozu? Wer, außer ihren vier Kindern, trauerte dieser armen Frau nach? Sie war eine von vielen, die in der großen Hafenstadt krepierten, ihr Mann würde kein Geld für eine anständige Beerdigung haben, und es hätte auch keinen Sinn, es ihm zuzustecken – er würde es in die nächste Kneipe tragen und versaufen.

Schwere Schritte waren zu hören – konnte das wirklich schon der Schupo sein? Doch als Anne sich nach ihm umdrehte, sah sie einen völlig Fremden die Treppe hochkommen. Der Mann beachtete sie nicht, drängte sich neben sie und die stehende Tote.

»Aus dem Weg, Weiber«, knurrte er und klopfte ungeduldig an die Tür der Herrmanns.

Anne war sprachlos. Konnte es sein, dass dieser Grobian nicht einmal bemerkte, dass er neben einer Toten stand? Er hatte weder sie noch Klara eines Blickes gewürdigt, stattdessen brüllte er nun durch die geschlossene Tür.

»Pavel, fauler Sack! Komm sofort raus, Arbeit ruft!«

»Haben Sie keinen Funken Anstand im Leib?« Anne war außer sich. »Gar keinen Respekt vor dem Tod?«

Jetzt erst warf ihr der Mann einen Blick zu. Er hatte die Augenbrauen grimmig zusammengezogen und schien nicht zu verstehen, wovon sie sprach. Dann wanderten seine Augen zu der Toten an der Tür, während von innen aus der Wohnung ein deutliches Rumpeln zu vernehmen war.

»Was denn«, sagte er, »die steht doch. Die Säuferin.«

»Sie steht, ja. Aber sie lebt nicht mehr. Ich möchte Sie also bitten, mich meine Arbeit machen zu lassen«, Anne zeigte auf die geöffnete Arzttasche zu ihren Füßen. »Und der Mann wird heute wohl kaum zur Arbeit kommen.«

Just in dem Moment öffnete sich die Wohnungstür, und Pavel, Klaras Ehemann, lugte durch den geöffneten Spalt. Saurer Geruch strömte aus dem Inneren der ärmlichen Wohnung heraus. Ungewaschene Körper, Ausscheidungen, Alkohol und schlechtes Essen – Anne schien es, als röchen alle Arbeiterquartiere nach demselben Parfüm. Pavel Herrmann hatte getrunken, er warf einen irritierten Blick auf seine tote Frau, dann auf Anne. Diese hielt Klara Herrmann fest, um zu verhindern, dass deren Körper in die Wohnung kippte.

Der Grobian neben ihr forderte Pavel auf, ihm ohne Verzögerung zur Arbeit zu folgen, von der toten Frau ließ er sich nicht davon abhalten. Pavel nuschelte eine Entschuldigung in Annes Richtung, blickte noch ein letztes Mal Klara an – und verließ dann die Wohnung. Knallte die Tür hinter sich zu und folgte dem anderen Mann. Fassungslos blickte Anne den beiden hinterher.

Ob er überhaupt verstanden hatte, dass seine Ehefrau die halbe Nacht tot vor der Tür gestanden hatte? Anne schätzte, dass Klaras Tod vor sechs, maximal acht Stunden eingetreten war. Wie viele Menschen waren in der Zwischenzeit an ihr vorbei durch das Treppenhaus gegangen? Konnte es sein, dass niemand etwas unternommen oder sie gefragt hatte, ob sie Hilfe brauche?

Anne war durch die Äußerung einer Bekannten von Klara stutzig geworden, die erzählte, dass Klara Herrmann seit Stunden vor ihrer Wohnungstür stehe, der Mann habe sie ausgesperrt. Wieder einmal.

Anne hatte beschlossen, nach dem Rechten zu sehen, sie kannte die Familie seit Langem. Vorgefunden hatte sie die Tote.

Der Mann, der statt des Schupos – warum nur brauchte dieser so lange? – durch das Treppenhaus gekommen war, zerrte Pavel hinter sich die Treppen hinunter, ungeachtet der Tatsache, dass dessen Frau soeben verstorben war und vier kleine Kinder zurückließ.

»Hören Sie!«, rief Anne ihm hinterher. »Lassen Sie den Mann in Frieden, er muss sich um seine Kinder kümmern!«

Aber Pavel Herrmann sah mit blutunterlaufenen Augen zu ihr zurück. »Schon gut, Frau Doktor, muss zur Schicht.« Dann stolperte er hinter dem Grobian her und blickte nicht zurück.

»Sieht man auch nicht alle Tage«, murmelte Willy Brenner, der neben Anne auf der halben Etage stand und dem Assistenten des Physikus zusah, wie dieser die Tote behutsam in eine waagerechte Position brachte.

Romuald Schleicher sah kurz auf und nickte Brenner zu. »In der Tat«, sagte er fröhlich. »Das ist mal was fürs Lehrbuch. Am liebsten würde ich die ganze medizinische Fakultät herbitten, sich das anzusehen.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »So ein Tod hat Seltenheitswert! Es ist mir eine Ehre, dass ich das erleben darf.«

Dann wandte er sich wieder der Leiche zu, gab den beiden Helfern genaue Anweisungen, wie diese die Tote einzupacken und zu transportieren hatten. Schleicher, der Physikus Bäuerlein nicht nur assistierte, sondern seit geraumer Zeit immer häufiger vertrat, schien über das Ableben Klara Herrmanns hocherfreut.

Anne und Willy Brenner warfen sich einen befremdeten Blick zu. Die Leichenbeschauer hatten einen mehr als morbiden Humor. Anne würde nie verstehen, was der Reiz daran war, sich nur mit Toten zu beschäftigen, anstatt Lebende zu heilen. Andererseits war sie froh über den Eifer des jungen Mediziners, vielleicht war er bereit, sich aus purem Interesse mit den Gründen des Ablebens von Klara Herrmann zu beschäftigen. Dem jungen Mann eilte der Ruf voraus, sehr viel genauer hinzuschauen als sein Vorgesetzter und obendrein mit den allerneuesten Methoden der Forensik vertraut zu sein.

»Werden Sie sie obduzieren?«, erkundigte sie sich.

»Auf jeden Fall! Das lasse ich mir nicht entgehen, selbst wenn kein Verbrechen vorzuliegen scheint. Aber so einen Fall hatte ich noch nie. Ein Tod im Stehen, das ist so ungewöhnlich, dass ich der Ursache auf den Grund gehen will.« Schleicher kam die Treppe herunter und zog seinen Hut, als er vor Anne stand. »Wenn Sie möchten, lade ich Sie herzlich ein, mir dabei Gesellschaft zu leisten.«

»Tatsächlich nehme ich Ihre galante Einladung an.«

Schleicher verneigte sich und folgte seinen Helfern die Treppe hinab. Anne und Willy brachen ebenfalls auf, sie konnten hier nichts mehr tun. Die vier Kinder der Familie waren bei einer Nachbarin untergekommen, solange der Vater auf der Arbeit war, ihr weiteres Schicksal war ungewiss.

»Dass der Mann nicht einmal heute zu Hause bleiben kann«, sinnierte Anne. »Der Vorarbeiter hat ihn zur Arbeit gejagt, es hat ihn nicht die Bohne interessiert, dass die Ehefrau tot vor der Tür steht.«

Brenner schüttelte den Kopf. »So sind unsere Gesetze. Die Arbeiter haben keine Rechte. Jeder Tag, den sie fehlen, kostet dem Unternehmer Geld.«

»Was ist das für eine Welt?« Anne erwartete keine Antwort, sie wusste, dass diese Frage niemand beantworten würde.

Sie standen mittlerweile vor dem Häuserblock auf der Straße. Der Dunst der Kohleöfen kroch wie Gift durch die engen Gassen. Seit ein paar Tagen waren die Temperaturen gefallen, nach dem überheißen Sommer brachte der Monat ungewöhnliche Kälte mit. Plötzlich war es Herbst geworden, von einem Tag auf den anderen. Schneidender Wind fegte die verbliebenen Blätter von den Bäumen, der sommerlich hohe Himmel war verschwunden, stattdessen drückte graue Feuchtigkeit vom Hafen in die Fleete und engen Gassen Hamburgs. Die Menschen begannen zu heizen, wer keine Kohle hatte, verbrannte Papier, feuchte Lumpen und Holzreste, das machte das Atmen schwer. Anne spürte, wie sich die schlechte Luft auf ihre Bronchien legte, und sie war heilfroh, dass sie in ihrer Dachgeschosswohnung in der Gurlittstraße hoch oben über den Dächern der Stadt bessere Luft atmen durfte.

»Was schreiben Sie in Ihren Bericht?«, erkundigte sie sich, während sie neben dem jungen Mann, den sie so gut kannte, in Richtung der Straßenbahnhaltestelle lief. Willy Brenner war ihr im vergangenen Jahr ans Herz gewachsen, begegnet waren sie sich bei dem Fall um den Hafenmörder. Kommissar Berthold Rheydt hatte den Jungen zu sich ins Team geholt und es nicht bereut. Brenner war pfiffig, freundlich und hatte das Herz am rechten Fleck. Überdies hatte er sich mit Theresa verlobt, einer jungen Frau aus dem Umkreis des Vereins Frauenwohl, für den Anne ebenfalls tätig war.

Der Schupo zog die Achseln hoch. »Natürliche Todesursache«, antwortete er. »Da liegt wohl keine Straftat vor.«

»Das klingt ein bisschen enttäuscht.«

Willy Brenner lachte. »Ertappt! Ja, tatsächlich ist zurzeit nicht viel los bei uns. Seit van der Zwaan sitzt …« Er brach ab und warf Anne einen entschuldigenden Blick zu. »Tut mir leid, ich wollte nicht – ich hatte vergessen, dass …«

Anne half ihm aus der Verlegenheit. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Dass mein Vater hinter Gittern sitzt, ist schließlich mein Verdienst.«

Brenner nickte, aber seine Ohren waren hochrot angelaufen. »Also jedenfalls ist bei uns nicht viel los. Mord und Totschlag eher mau.«

»Was eigentlich ein Grund zur Freude sein sollte, nicht wahr?«

»Schon.« Die Ohren glühten nun förmlich. »Aber Sie kennen doch den Chef. Dem fällt die Decke auf den Kopf, wenn er nichts zu knobeln hat.«

Bei dem Gedanken an Kommissar Rheydt, der mangels interessanter Fälle schlechte Laune bekam, musste Anne lächeln. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass der große Mann nicht gut darin war, nur Dienst nach Vorschrift zu machen. Er war ein Süchtiger – wie sie. Getrieben von dem unbedingten Willen, das Böse aus der Welt zu schaffen, und dabei ging er oft über seine Grenzen. Auch sie suchte ständig die Herausforderung, arbeitete Tag und Nacht, mehr, als erforderlich war. Der Gedanke an Frauen und Kinder, die krank, verarmt und misshandelt in dieser großen Stadt ihr Dasein fristeten, die niemanden hatten, der ihre Partei ergriff, ließ Anne van der Zwaan niemals los und machte sie zur Getriebenen. Berthold Rheydt und sie hatten mehr gemeinsam, als Anne zugeben mochte – überdies hätte sie sich niemals offen eingestanden, dass sie eine tiefe Leidenschaft für diesen Mann hegte, die aus genau dieser Seelenverwandtschaft herrührte.

Aber nun hatte sie Ju getroffen, und sie waren seit dem Sommer ein Paar. Rheydt hingegen würde Helene Curtius heiraten – eine gute Wahl für beide, und Anne wünschte dem Paar aufrichtig nur das Beste. Dennoch – dachte sie an den Kommissar, fühlte sie stets einen Stich in der Magengrube.

»Vielleicht ergibt die Obduktion doch etwas Ungewöhnliches«, versuchte sie, Willy Brenner Hoffnung zu machen, aber der verzog skeptisch das Gesicht.

»Wohl kaum. Die arme Frau hat sich totgesoffen, und wer kann’s ihr verdenken?«

Dem hatte auch Anne nichts hinzuzufügen.

An der Haltestelle trennten sich ihre Wege, der Schupo fuhr zurück ins Polizeipräsidium, während Anne den Weg zur Sternschanze einschlug. Die Obduktion würde noch etwas dauern, vielleicht sogar ein bis zwei Tage, so lange wurde die Leiche im Kühlhaus des Hafenkrankenhauses aufbewahrt.

Romuald Schleicher hatte die Tote dahin transportieren lassen, denn in den Katakomben dort reklamierte die Pathologie einen Raum für sich, in dem die Obduktionen durchgeführt werden konnten. Zwar befand sich ein solcher auch innerhalb des Stadthauses, wo das Polizeipräsidium residierte, aber der Assistenzarzt hatte die Ausstattung als zu primitiv erachtet und sich höchstpersönlich bei Gustav Roscher, dem Kripochef, dafür eingesetzt, einen besser ausgestatteten Raum nutzen zu dürfen. Er arbeitete nach den neuesten Methoden der Kriminaltechnik, reiste zu internationalen Kongressen und brachte von dort neue Erkenntnisse mit, die sein Vorgesetzter Bäuerlein allesamt als neumodischen Schnickschnack abtat. Anne war sich gewiss, dass Romuald Schleicher schon bald auf den Posten Bäuerleins befördert würde, ein Gewinn für das Präsidium.

Sie lief nach Norden durch die Straßen St. Paulis, am Heiliggeistfeld vorbei. Das Laub der Büsche und Bäume am Straßenrand hatte sich längst von Gelb zu Rot verfärbt, Hamburg hatte im Sommer unter einer extremen Hitzewelle gelitten, wochenlang regnete es nicht, die Pflanzen warfen schon im August ihr Laub ab. Nun hingen noch vereinzelt rote Farbkleckse in den hoch aufragenden Platanen und Eichen, die ihre Äste wie bleiche Arme in den trüben Hamburger Himmel streckten. Der Wind ließ Anne frösteln, der dunkle Schatten der Schlachthofgebäude, entlang derer sie nun lief, trug nicht zu ihrem Wohlbefinden bei. Anne beschleunigte ihre Schritte und dachte an Helene Curtius, bedauerte, dass sie sich nicht mit der jungen Frau auf einen Kaffee treffen konnte. Helene war ihr im letzten Jahr zu einer Herzensfreundin geworden, mit der sie auch delikate Angelegenheiten besprechen konnte. Seit ein paar Tagen hatte Anne das Bedürfnis, ein ausgiebiges Gespräch mit ihr zu führen. Eines, in dem sie ihre Sorgen und Gedanken über die Zukunft äußern konnte. Das hätte sie, selbst wenn Ju sie besser verstehen könnte, mit ihrer Partnerin nicht führen wollen, weil sie die junge Chinesin nicht verunsichern oder gar ängstigen wollte. Zu frisch war die Erinnerung daran, dass ihr eigener Vater versucht hatte, Anne zu kidnappen und nach China entführen zu lassen. Nein, nur Helene würde die Nervenstärke besitzen, sich mit Anne darüber auszutauschen. Zumal Helene all das, was Anne im letzten Jahr widerfahren war, aus nächster Nähe miterlebt hatte. Weil auch Helene, ebenso wie sie, mit dem Tod bedroht worden war. Das verband sie beide, schaffte eine Nähe, die nur sie miteinander teilten. Aber die junge Frau weilte in Berlin, Anne wusste nicht, wann sie vorhatte, nach Hamburg zurückzukehren, aber gewiss nicht vor übermorgen – und dies war der Tag, vor dem Anne sich fürchtete. Der Prozess gegen ihren Vater, Roger van der Zwaan, würde eröffnet werden, und Anne war für die darauffolgenden Tage als Kronzeugin geladen.

Sie würde ihrem Vater gegenübertreten müssen. Ihrer Mutter. Vor den Augen der Öffentlichkeit zerbrach ihre Familie in tausend Stücke, niemals mehr heilten die Wunden, die sie einander zugefügt hatten.

Anne war nicht kaltherzig. Ja, sie hatte ihren Vater angezeigt. Und ja, sie hatte ihm hinterherspioniert, um seine schmutzigen Geschäfte aufzudecken. Aber Roger van der Zwaan hatte die Leben einer Menge unschuldiger Menschen zerstört – vor vielen Jahren, als der Ausflugsdampfer Lotus, ein Schiff seiner Flotte, gesunken war und er sich geweigert hatte, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Ein zweites Mal, als er zugelassen hatte, dass Doktor Tergit mit Arsen vergiftete Süßigkeiten an die Kinder der armen Auswanderer verteilt hatte. Und ein Junge unter Annes Händen elend daran zugrunde gegangen war.

Und in der jüngsten Gegenwart, als er akzeptiert hatte, dass sein Komplize, der Triade Sun Bo, den Hafenmörder Joachim von Stetten zurück nach Hamburg geholt und weitere Morde gedeckt hatte.

Und immer war es ums Geschäft gegangen. Ja, Anne, die ihre Arbeit aus Überzeugung und Leidenschaft den Ärmsten der Gesellschaft gewidmet hatte, musste entdecken, dass ihr Vater nur eine Liebe kannte: das Geld.

Diese beispiellose Serie an Grausamkeiten musste zur Anzeige gebracht werden. Anne vertraute darauf, dass die Justiz die Gerechtigkeit wiederherstellen könne. Und dass ausgerechnet sie es gewesen war, die ihren Vater der Polizei überantwortete – das hatte er sich selbst zuzuschreiben. Hätte er sie nicht entführt, wäre all das nicht passiert. Dennoch machte das Wissen darum, dass sie das Richtige getan hatte, ihren Schmerz nicht wett.

Anne van der Zwaan hatte bis zum Alter von fünfzehn Jahren eine glückliche Kindheit in Hamburg verlebt. Behütet und von den Eltern geliebt. Wie hatte sie zu ihrem Vater aufgesehen! Dass all dies nun nicht mehr zählte, dass ihr Band der Familienliebe ein für alle Mal zerschnitten war, schmerzte sie unendlich. Sie versuchte, diesen Schmerz durch Arbeit zu betäuben – als ob sie mit jeder guten Tat eine schlechte ihres Vaters wiedergutmachen könnte. Das half ihr – und die Liebe zu Ju. Das große Glück, das sie empfand, wenn sie mit ihrer chinesischen Freundin zusammen war.

Anne steuerte auf die Kaffeerösterei an der Sternschanze zu, sie war hier mit Max Lauritzen verabredet. Der junge Journalist war ihr zum Freund geworden, er war loyal und ein Sozi – was er bei dem Schmierblatt Hansepost verloren hatte, war Anne ein Rätsel, und sie hoffte bei jedem Treffen, dass Max ihr eröffnen würde, dass er eine andere Stelle bei einer seriösen Zeitung angenommen hatte, doch bislang war es nicht dazu gekommen.

Sie hatte ihn um das Treffen gebeten, weil sie wusste, dass er für die Hansepost aus dem Gerichtssaal berichten würde. Seit seiner großen Serie um die Machenschaften der Mädchenhändler und den mörderischen Doktor Tergit war er einer der wichtigsten Berichterstatter Hamburgs geworden, natürlich hatte seine Zeitung ihm den Fall Roger van der Zwaan überantwortet.

Was sie sich konkret von dem Gespräch erhoffte, konnte Anne nicht sagen. Sie wusste, dass ihr Freund versuchen würde, sie aus der Schusslinie zu halten, das hatte er immer getan. Doch dieses Mal war sie keine Randfigur, sie war Kronzeugin im Prozess gegen ihren Vater. Vielleicht wollte sie Max treffen, um herauszuhören, wie die Stimmung unter den Journalisten war und was sie zu erwarten hatte?

Das Gesicht, das Max machte, als sie das Kaffeehaus betrat, ließ nichts Gutes ahnen. Er, der eigentlich immer heiter war, ein spitzbübisches Grinsen auf dem Gesicht, hatte seine Stirn heute in Dackelfalten gelegt und blickte ihr bei der Begrüßung kaum in die Augen. Stattdessen umfasste er ihre Hand mit beiden Händen und wollte sie nicht mehr loslassen.

Anne kniff die Augen zusammen und sah ihn prüfend an. »Entweder plagt dich eine Gastritis, oder du hast schlechte Nachrichten.«

»Ich wollte, es wäre die Gastritis«, gab er zurück. »Ehrlich, Anne, ich würde sogar ein Magengeschwür vorziehen, als dir zu sagen, was ich zu sagen habe.«

Anne setzte sich. »Was, um Himmels willen …?«

»Komm, wir gehen ins Verlagshaus«, fasste sich Max Lauritzen ein Herz. »Ich glaube, es ist besser, du siehst es mit eigenen Augen.«

Auf dem Weg hinüber zum Gebäude der Hansepost redete der junge Journalist unablässig, und doch begriff Anne nicht, was er ihr sagen wollte. Ihr dämmerte jedoch, dass es nichts Gutes war. Max sprach über redaktionelle Zwänge und seinen Chefredakteur und die Konkurrenz auf dem Markt, die auch ihn manchmal zu seinem größten Bedauern zu Zugeständnissen zwang. Sie hatten das große Klinkergebäude, das wie ein Schiff in die Kreuzung zweier Hauptstraßen ragte, erreicht, doch Max lief nicht durch den Haupteingang zur Redaktion des Blattes, sondern nahm einen anderen Eingang, den zur Druckerei, wie Anne sogleich erkannte. Sie waren in das Hauptgebäude eingetreten, einem kurzen Gang gefolgt, und schließlich hatte Max das Tor zur Hölle geöffnet. Eine schwere Metalltür schirmte die Zeitungsdruckerei von den anderen Räumen der Zeitung ab – aus gutem Grund, wie Anne sofort erkannte.

Der Lärm war enorm. Die Halle, in der die Hansepost produziert wurde, wurde vollkommen von einer – oder mehreren zusammenhängenden, Anne konnte es nicht erkennen – Rotationsdruckmaschine ausgefüllt. Riesige Papierwalzen waren in die großen Maschinen eingespannt und drehten sich in atemberaubender Geschwindigkeit, während sie durch verschiedenste große und kleine Walzen liefen. Auf diesen befanden sich die gegossenen Druckformen, mit denen das Papier von der Rolle geschwärzt wurde. Überall drehte sich etwas, das Papier wurde bedruckt, transportiert, geschnitten, gefaltet, auf Förderbändern von einer Herstellungsstufe zur anderen befördert. Neben den großen Rotationsdruckmaschinen erkannte Anne auch Setzmaschinen, an denen der Text eingepflegt wurde, anderswo arbeiteten Männer an Klischeematten mit den entsprechenden Bildern, die in die Texte eingefügt werden sollten. Die Druckmaschinen machten einen Höllenlärm, es roch nach Dampfantrieb und Druckerschwärze, nach Ammoniak und Papier. Überall an den Maschinen befanden sich Handräder, die von Männern mit aufgekrempelten Hemdsärmeln bedient wurden, sie kontrollierten, justierten nach und füllten Druckerfarbe auf. Dampf, Hitze und Lärm erzeugten eine Kulisse wie im Maschinenraum eines Ozeandampfers. Oder wie in den großen Werften, drüben auf der anderen Seite der Elbe. Wie um Himmels willen hielt man es aus, hier tagein, tagaus zu arbeiten? Doch die Männer schienen allesamt völlig unbeeindruckt von ihrer Arbeitsumgebung, sie waren vollkommen auf eine Sache konzentriert: die neueste Ausgabe der Hansepost – es handelte sich um die Mittagsausgabe, die jetzt gedruckt wurde und nur wenig später in Umlauf gelangte – in bester Qualität und fehlerfrei herzustellen. Anne sah die Drucker, wie sie sich über die Walzen beugten, kontrollierten, halb fertige Seiten überprüften, und konnte sich einer gewissen Faszination für den Betrieb nicht entziehen. Die meisten hier kannten Max und nickten ihm zu, Anne wurde kaum zur Kenntnis genommen.

Max lief zu einem der Förderbänder, wo die druckfrischen Exemplare zu langen Tischen befördert wurden, an denen Hilfsarbeiter standen, die die Zeitungen stapelten, bündelten und für die Auslieferung fertigstellten. Er griff sich ein Exemplar, seufzte und übergab es an Anne.

Die Schlagzeile wies, selbstverständlich, auf den anderntags beginnenden Prozess hin. Mörderischer Reeder van der Zwaan vor Gericht gestellt! Und in der Unterzeile: Wie das Oberhaupt einer Bande von Mördern und Drogenhändlern von der eigenen verbrecherischen Tochter überführt wurde. Ein Exklusivbericht von Max Lauritzen.

Anne blickte auf. »Verbrecherische Tochter? Was soll das, Max?«

Sie sah ihm an, dass er im Boden versinken wollte. Max hatte seine Schirmmütze abgenommen, drehte sie in den Händen und wagte es nicht, ihr in die Augen zu blicken.

»Es tut mir so leid, Anne«, stammelte er. »Ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Der Chefredakteur hat darauf bestanden, dass wir deine Vergangenheit …«

Er brauchte nicht weiterzureden. Anne begriff sofort. Sie warf ihm die Zeitung vor die Füße. »Pfui!«, sagte sie. »Pfui, Max! Dass du dich dafür hergibst. Ich dachte, du bist mein Freund.« Mit diesen Worten drehte sie auf dem Absatz um und verließ die Druckerei, stürmte durch das Vestibül der Hansepost und stand kurz darauf auf der Straße.

Sie sah verschwommen, in ihren Augen hatten sich Tränen der Wut und Enttäuschung gebildet, das passierte ihr oft unvermittelt. Anne hasste es, es war für sie ein Zeichen der Schwäche, das sie nicht kontrollieren konnte. Sie war fassungslos, dass Max sie derart durch den Dreck zog. Max! Von dem sie glaubte, er sei ein treuer Freund! Sie holte ein paarmal tief Luft, um sich zu beruhigen und wieder klar im Kopf zu werden, doch ihr Herz raste, und Schweiß stand auf ihrer Stirn.

So würde es also werden. Man würde sie nicht schonen. Was hatte sie geglaubt? Dass man ihr einen Orden verlieh, weil sie maßgeblich dazu beigetragen hatte, ihrem Vater das Handwerk zu legen?

Alle Augen würden sich auf sie richten. Nicht nur die Hansepost, auch die anderen Zeitungen würden ihre Geschichte ausbreiten, Anne machte sich keine Illusionen: noch ein Tag, und ihr Leben war nicht mehr wie zuvor. Nie wieder würde sie unerkannt durch die Straßen der geliebten Heimatstadt laufen können. Jeder Hamburger und weit darüber hinaus würde wissen: Das ist sie, die Tochter des Verbrechers. Eine Abtreibungsärztin, die sich in Großbritannien strafbar gemacht hatte, unter falschem Namen in die Hansestadt gekommen war, um sich einer Verurteilung zu entziehen, und sich erst sehr viel später, mithilfe ihres Vaters, den sie selbst nun vor Gericht gezerrt hatte, der Justiz gestellt und sich mit seinem Geld freigekauft hatte.

Ihr guter Name war Vergangenheit. Fortan würde sie mit einem für alle sichtbaren Kainsmal leben müssen.

Berlin, Charlottenburg

2.

»Zur heutigen Sitzung darf ich einen Gast in unseren Reihen begrüßen.« Doktor Hirschfeld nickte zu Helene, die augenblicklich spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Fräulein Helene Curtius aus Hamburg hospitiert bei uns. Fräulein Curtius, möchten Sie sich kurz vorstellen?«

Nein, das mochte sie nicht. Sie mochte viel lieber ein kleines Mäuschen sein, das sich in der Dielenritze unter dem mächtigen Bücherregal verkroch. Doch wenn sie sich in diesem illustren Kreis, unter all den Psychologen und Psychoanalytikerinnen behaupten wollte, musste sie Selbstbewusstsein zeigen. Jetzt. Zumal sie schon von ihrer äußeren Erscheinung her kein Mäuschen war – die hoch aufgeschossene junge Frau mit der ungewöhnlichen kupferroten Kurzhaarfrisur zog die Blicke aller auf sich, wo auch immer sie auftrat.

Helene räusperte sich und stellte sich in wenigen Sätzen vor – wer sie war, das hatte Doktor Magnus Hirschfeld bereits erläutert. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Verhinderte Lehrerin – ansonsten war das Buch ihres Lebens leer. Was also war zu ihr zu sagen, das Interesse hervorrufen könnte?

»Während meiner Ausbildung habe ich Auswandererkinder in den Hallen der Hapag unterrichtet«, fügte sie hinzu. »Außerdem engagiere ich mich in der Frauenwohlfahrt.«

Alle Blicke waren auf sie gerichtet, und es waren wohlwollende Blicke. Zwei der Frauen nickten ihr zu, was Helene animierte, noch etwas anzuhängen.

»Leider bin ich in beiden Tätigkeiten mit den Auswirkungen von Gewalttaten konfrontiert worden, und mich interessiert, wie es dazu kommen kann, dass jemand eine kriminelle Laufbahn einschlägt. Liegt es nur am Milieu? Mangelnder Bildung? Oder sind manche Menschen vorherbestimmt? Und wenn ja, wodurch? Herkunft? Angeborener Charakter? Umgebung? Sind eventuelle kriminelle Veranlagungen bereits in der Kindheit, gar von Geburt angelegt?«

Oh weh, sie kam ins Plaudern! Rasch bemühte sich Helene, ihre Plapperei zu beenden.

»Für solche Themen interessiere ich mich, und ich bin äußerst glücklich und dankbar, dass Sie mir erlauben, Ihrem erlauchten Kreis beizuwohnen.«

Sie bekam freundlichen Applaus für ihre Worte, eine der anwesenden Frauen neigte den Kopf und blickte Helene prüfend an. »Mit Ihren Erfahrungen sind Sie herzlich willkommen, Fräulein Curtius. Wer von uns kann schon behaupten, maßgeblich mit den Menschen in Kontakt getreten zu sein, über die wir in unseren Studien sprechen? Die meisten von uns kennen das wahre Leben, das, welches sich auf den Straßen abspielt, allerhöchstens von den wenigen Probanden, die uns vorgestellt werden. Wir kommen doch eher von der Theorie als von der Praxis.« Sie lächelte.

Und Helene lächelte zurück. So wenig sie glaubte, dass diese Worte der Wahrheit entsprachen, so dankbar war sie für deren Wirkung – die Unbekannte hatte ihr damit, dass sie ihr diese Expertise zusprach, einiges an Beklemmung genommen. Helene wuchs einen halben Zentimeter.

»Anna«, sprach der Doktor die Frau, die Helene Mut zugesprochen hatte, an. »Du wirst uns sogleich das Thema der heutigen Sitzung vorstellen, ist es nicht so?« Er nickte ihr freundlich zu, dann fragte er in die Runde: »Seid ihr alle versorgt? Tee? Kuchen? Oder etwas anderes? Erni kümmert sich gerne um euer leibliches Wohl.«

Jetzt, da die Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihr ruhte, entspannte sich Helene. Sie rutschte etwas tiefer in den bequemen Sessel, der mit dem Rücken an einem Bücherregal stand. Bücher vom Boden bis zur Decke. Auch ihr Vater besaß eine stattliche Büchersammlung, sein Büro wirkte ebenfalls wie eine Bibliothek, und doch unterschieden sich die Bibliotheken oder Bücherräume, die Helene bisher gesehen hatte, deutlich von dem, in dem sie nun saß.

Doktor Magnus Hirschfeld, bei dem die Sitzung der »Berliner Psychologischen Gesellschaft« sich an diesem Tag traf, residierte in einer weiträumigen Wohnung in der Berliner Straße, und diese Wohnung war das Gemütlichste, was Helene jemals gesehen hatte. Ihr Elternhaus war hochherrschaftlich und elegant, aber ohne jede Zier gestaltet. Zwar liebte ihre Mutter Fanny helle Farben, Kissen und Blumen über alles, aber Pastor Engelbert Curtius konnte »Tand und Zierrat«, wie er es nannte, nicht ertragen. Für ihn war alle Dekoration überflüssig und eitel.

Bei ihrer Kindheitsfreundin Paulina Reimers dagegen, die direkt gegenüber groß geworden war, erlebte Helene Dekoration im Überfluss. Paulinas Mutter Ida liebte Pflanzen, Orientteppiche, üppige Sofas und Récamieren. Auf dem Boden lagen Tierfelle, an den Wänden moderne Kunst; wo man stand und ging, begleiteten einen Souvenirs aus fremden Ländern, Aschenbecher aus Onyx, Schnitzereien aus Afrika, ein Glockenspiel aus Indien und dergleichen mehr. Helenes Vater fiel bei einem seiner wenigen nachbarschaftlichen Besuche beinahe in Ohnmacht angesichts des Überflusses, den Ida um sich herum versammelte. Die Villa der Familie Reimers war mondän, trotz Überfluss elegant und modern, auch in Teilen gemütlich – aber überaus heimelig waren die großen Salons nicht.

Diese Berliner Wohnung jedoch, in der Helene nun saß – und die sie am liebsten nie mehr verlassen wollte – war anders. Sie war warm und gemütlich, gleichzeitig ließ sie keinen Zweifel daran, dass ein intellektueller und feinsinniger Geist sie bewohnte. Überall Bücherregale, die Bücher jedoch waren in Gebrauch, sie wurden herausgezogen und gelesen, sie standen keineswegs herum und verstaubten. Auch hier lagen Teppiche auf dem Parkett, aber sie dienten weniger der Zier, auf ihnen saßen und lagen die Gäste des Doktors, die keinen Stuhl ergattert hatten. Eine Bulldogge schlief auf einem Miniatursofa, das extra für den Hund gebaut schien. Zwei träge Katzen rekelten sich auf den dunkelroten Perserteppichen. Aschenbecher und Rauchzeug standen herum, ein silberner Samowar dampfte in einer Ecke des Zimmers, in dem sie sich versammelt hatten, vor sich hin. Ihm entströmte der Duft des schwarzen aromatischen Tees, den Erni, die Haushälterin Hirschfelds, servierte. Mehrarmige Leuchter, so wie Helene sie auch aus dem Haushalt der Reimers, kannte, wiesen auf die jüdische Abstammung Hirschfelds hin. Hie und da waren Zeitschriften und Bücher, lose Papiere und aus Tageszeitungen herausgerissene Artikel gestapelt, direkt neben Helene lag sichtbar eine Ausgabe des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen, dessen Herausgeber Hirschfeld war. Die Atmosphäre in der weiträumigen Beletage war heimelig, aber auch ein wenig geheimnisvoll, dem Arzt eilte ein zweifelhafter Ruf voraus, seine Studien zur Homosexualität und Travestie trafen beileibe nicht auf großes Verständnis, und Helene hatte es ihrem Vater, dem konservativen Pastor, wohlweislich verschwiegen, dass das heutige Treffen in der Wohnung des Sexualwissenschaftlers stattfand.

»Ich möchte euch heute die Erkenntnisse meiner Dissertation zur Psychologie des Kindsmords vorstellen«, begann die Frau, der Hirschfeld das Wort erteilt hatte, nun ihren Vortrag, und Helene lauschte in der folgenden Stunde atemlos ihren Worten. Zwischendurch machte sie sich Notizen, denn sie wusste, dass sie, kaum würde sie diese Wohnung verlassen haben, in ihrem Kopf alles durcheinanderbringen würde – zu vielfältig waren die Eindrücke, die sie von diesem Treffen mitnahm.

An den überaus erkenntnisreichen Vortrag von Anna Stegmann, wie Helene im Lauf des Nachmittags erfuhr, schloss sich eine hitzige Diskussion an. Was umso erstaunlicher war, da alle Beteiligten einer Meinung zu sein schienen – sie glaubten allesamt an den direkten Zusammenhang zwischen der mangelnden Selbstertüchtigung der Frau in der Gesellschaft, die in Abhängigkeit zum Manne gefangen war und der aus diesem Grund ein selbstbestimmtes Leben – zu dem angemessene Bezahlung ihrer Arbeit gehörte – verwehrt war. Aus dieser Verzweiflung heraus und letztendlich nicht, weil die betroffenen Frauen, die Kindsmörderinnen, einen Mordtrieb oder generellen Willen zur Tötung hatten, begingen Mütter die schrecklichen Verzweiflungstaten. Weil sie keinen anderen Ausweg sahen! Gesellschaftliche Zustände trugen oftmals die Schuld an Kindsmorden und nicht die Psyche der tötenden Frauen – das war letztendlich die Quintessenz von Stegmanns Doktorarbeit, und Helene ertappte sich dabei, wie sie bei jedem Wort nickte. Ihre Erfahrungen, die sie bei ihrer Arbeit im Frauenhaus der Paulstraße gemacht hatte, im Grünen Haus am Hafen, alles, was sie von Anne van der Zwaan aus deren Praxis gelernt hatte, sprach für die These Stegmanns.

Draußen war die Dunkelheit bereits über der Stadt hereingebrochen, als sich der Gesprächskreis auflöste, sie sich von ihrem Gastgeber verabschiedeten und auf das Trottoir hinaustraten. Helene gab allen artig die Hand und bedankte sich dafür, dass sie der Versammlung beisitzen durfte. Die Herren und Damen Psychoanalytiker eilten in alle Richtungen durch die Straßen Charlottenburgs davon, einzig Anna Stegmann blieb neben Helene stehen.

»Was haben Sie nun vor?«, erkundigte sich die Ärztin.

»Ich fahre nach Nikolassee, dort wohne ich bei Bekannten meines Vaters.«

Doktor Stegmann lachte. »Ich meinte vielmehr, welche Lehren und Erkenntnisse ziehen Sie für sich aus dem heute Erlebten?«

Just in diesem Moment verließ Doktor Magnus Hirschfeld das Haus. Er grüßte die beiden Frauen freundlich und eilte in Richtung Schiller Theater davon. Er war nur wenige Schritte gegangen, als sich eine Horde Jungs an seine Fersen heftete und ihm, das Hirschfeldlied grölend, folgte.

»Jeder kriegt ’nen Schreck, kommt Hirschfeld um die Eck’! Der Hirschfeld kommt! Der Hirschfeld kommt! Dann rücken alle aus.«

Anna Stegmann blickte ihm bedauernd hinterher. »Der arme Mann. Er bekommt für seine Forschung bei Weitem nicht die Anerkennung, die er verdient.« Und an Helene gewandt: »Ich habe einen Bärenhunger. Leisten Sie mir Gesellschaft? Um die Ecke ist eine angenehme Gastwirtschaft.«

Helene nickte nur, überglücklich, mit der Frau, die sie beeindruckend fand, mehr Zeit verbringen zu dürfen. Gemeinsam liefen sie die Berliner Straße in die entgegengesetzte Richtung wie Hirschfeld, bogen um zwei Ecken und betraten eine gepflegte, aber gemütliche Kneipe. Doktor Stegmann bestellte Blut- und Leberwurst, Helene begnügte sich mit einer Gulaschsuppe. Sie sah sich um. Diese Art von Gastwirtschaft gab es in Hamburg nur äußerst selten. Einrichtung und Speisenangebot waren eher rustikal, das Publikum aber war es nicht. An den Tischen saßen viele anständig gekleidete Menschen, die mit Sicherheit nicht zum Arbeitermilieu gehörten. Aber sie waren auch nicht Teil der gehobenen Gesellschaft, vielmehr glaubte Helene, sich inmitten von Geistesmenschen, Künstlern und Intellektuellen zu befinden. Menschen dieser Art kannte sie von den Soireen bei Ida Reimers, aber ansonsten trat die sogenannte Intelligenzia in Hamburg nicht offen zutage. In ihrer Heimatstadt gehörte man entweder zum gehobenen Bürgertum, zum Handelsadel der Stadt – oder aber zu der breiten Masse der Arbeiter und sozial Unterdrückten.

»Charlottenburg ist ein besonderes Biotop«, schien Anna Stegmann ihre Gedanken zu erraten. »Wenn Sie in den Wedding fahren oder ins Scheunenviertel, sieht es schon ganz anders aus.«

Sie bestellte für sich und Helene ein frisches Bier, und nach den ersten Schlucken spürte Helene, wie sie sich merklich entspannte. Obgleich sie zu der Frau ihr gegenüber aufsah und großen Respekt vor ihr hatte, vor ihrem Intellekt, der Tatsache, dass sie studiert und promoviert hatte, fühlte sie sich in ihrer Gegenwart frei und ungezwungen.

»Im Moment bin ich zu überwältigt, um zu wissen, welche Erfahrungen und Eindrücke sich nachdrücklich bei mir festsetzen werden«, antwortete sie auf die Frage, die die Analytikerin ihr zuvor auf der Straße gestellt hatte. »Aber eines weiß ich gewiss: Ich will mehr wissen. Mehr über alles. Über die Psyche, das Unbewusste, über Herrn Doktor Freud, über die Analyse – all das, was ich heute hören durfte, erschließt mir einen neuen Zugang zur Welt.«

Helene konnte nicht anders, sie strahlte über das ganze Gesicht. Ihr Bier hatte sie bereits zur Hälfte geleert, sie wischte sich den Schaum von den Lippen. Durstig war sie – und das im doppelten Sinn des Wortes. Dieser eine Nachmittag hatte ihr mehr gegeben als all die Bücher, die sie las, und vor allem: sehr viel mehr als die Ausbildung zur Lehrerin es vermocht hatte. Sie spürte, dass sie auf der untersten Stufe zum Palast des Wissens stand – und dass sie danach trachtete weiterzugehen. Höher und höher zu steigen.

»Ich bin mit sechzehn Waise geworden«, sagte Anna Stegmann. »Und habe bei der Post gearbeitet. Es war mir nicht vorgezeichnet, dass ich studieren würde. Dass ich diese Laufbahn einschlagen würde. Aber ich habe es getan, und ich konnte es – obwohl ich von ganz unten komme und obwohl ich eine Frau bin.«

Helene hing an ihren Lippen, und die Stegmann griff nach ihrer Hand und beugte sich vor. »Helene, lassen Sie sich inspirieren! Studieren Sie. Lernen Sie. Praktizieren Sie. Es ist fast egal, was. Aber die Welt braucht Frauen wie uns! Kluge, gebildete Frauen, Frauen, die sich nicht ins Gefängnis sperren lassen. Die denkende Frau darf sich nicht vom Manne abhängig machen! Werden Sie Ihr eigener Herr.«

Die Kellnerin brachte das Essen, Frau Doktor Stegmann ließ Helenes Hand los. »Und wenn ich Ihnen etwas Persönliches raten darf: Machen Sie eine Analyse. Das ist die Voraussetzung, um diesen Beruf ernsthaft zu ergreifen. Beschäftigen Sie sich mit Ihrem Unterbewussten, Ihren Träumen. Es wird Ihnen die Augen öffnen!«

Mit diesem Appell trat die Analytikerin weit geöffnete Türen bei Helene ein, ihre Worte gaben Helene eine Bestätigung, wie sie sie nie zuvor erfahren hatte. Hier saß jemand, eine erfolgreiche Frau, Doktor der Medizin, eine Psychoanalytikerin, und sprach aus, was Helene sich nicht einzugestehen traute: dass sie es schaffen konnte. Dass sie die Gelegenheit am Schopfe packen sollte und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Niemand würde ihr den Weg ebnen. Nicht ihre Familie – deren größte Hoffnung darin bestand, dass Helene Berthold Rheydt ehelichte und damit Frau Kommissar werden würde. Auch nicht Anne van der Zwaan, die Helene zwar gleichfalls riet zu studieren und sie immer inspiriert und ermutigt hatte, aber zu sehr mit sich selbst und ihrer Arbeit für das Wohl der Frauen auf den Straßen Hamburgs beschäftigt war, um ihrer jüngeren Freundin konkrete Ausbildungsratschläge zu geben. Noch Berthold, ihr Verlobter, der Helene zwar durchaus die Freiheit, einen Beruf zu ergreifen, zugesichert hatte, aber es ihr ganz und gar überließ, in welche Richtung sie gehen sollte. Und konnte.

Hier aber saß ihr mit Anna Stegmann eine Frau gegenüber, die Helene sehr konkrete Ratschläge für einen zukünftigen Lebensweg erteilte. Und die ihr zutraute, eine der Frauen zu werden, die ihre Umgebung maßgeblich zum Besseren wenden konnten.

»Gehen Sie nach Wien. Dort unterrichten einige Koryphäen! Natürlich können Sie auch in Berlin bleiben und hier studieren. Sehen Sie zu, dass Sie eine Hospitanz an der Charité machen, mein Mann ist dort als Psychologe angestellt, sicherlich kann er Ihnen unter die Arme greifen. In jedem Fall, Helene, studieren Sie. Schreiben Sie Doktor Freud! Fahren Sie nach Wien!«

So ging es über dem Essen und weiteren Bieren beinahe zwei Stunden lang. Die Stegmann sprühte vor Energie und Inspiration, zwischendurch erzählte sie Helene von ihren Studien, die sie gegenwärtig trieb, woran sie forschte und schwärmte, dass sie das Glück hatten, gegenwärtig eine Zeitenwende zu erleben. Frauen in der Forschung – Marie Curie! Frauen in der Kunst – Marianne von Werefkin und Else Lasker-Schüler! Bedeutende Frauen in der Politik – Clara Zetkin! Alles war möglich! Nur noch wenige Jahre, und die Frauenbewegung würde sich durchgesetzt haben, bald würden sie in alle Bereiche des Lebens vorstoßen, sie würden wählen und die Welt ebenso wie die Männer mitgestalten.

Helene hing an ihren Lippen, und als sie zwei Stunden später wieder auf der Straße standen, in der kühlen Berliner Oktoberluft, wo das gelbe Licht der Gaslampen die Trottoirs Charlottenburgs erleuchtete und sich Doktor Stegmann mit einer innigen Umarmung von Helene verabschiedete, wusste diese nicht, wo ihr der Kopf stand. Kurz entschlossen winkte sie einer Droschke, die sie zu ihrer Unterkunft bringen sollte. Eigentlich hatte Helene vorgehabt, die S-Bahn zu nehmen, aber die Vorstellung, sich im verwirrenden Nahverkehrsnetz der Ringbahn orientieren zu müssen, verlangte ihr zu viel ab. Lieber investierte sie ein Heidengeld, dafür saß sie allein in der Droschke und hatte ihre Ruhe, konnte sich sortieren, bevor sie ihren Gastgebern gegenübertrat und mit diesen noch ein wenig plauderte, um sich dann endlich ins Bett zu verabschieden.

Das Gespräch mit ihren Gastgebern – ein mit ihrem Vater befreundeter Pastor mit seiner Frau, beide im Alter ihrer Eltern und kinderlos – brachte Helene mit Anstand, aber großer Mühe hinter sich. Die Fragen nach ihrem Nachmittag beantwortete sie wahrheitsgemäß, aber nicht allzu detailliert. Als sie endlich, endlich auf ihrem Zimmer war, öffnete sie das Fenster, das zum nahen Schlachtensee hinausging, atmete tief durch und versuchte, sich zu konzentrieren. Die Luft war klar und frisch, aber nicht so kalt, wie es in Hamburg bei ihrer Abreise gewesen war. Der Geruch von feuchter Erde hing in der Luft, die schwere Süße der Sommernächte war Vergangenheit. Die schwarze Silhouette des Grunewalds auf der anderen Uferseite baute sich auf wie ein undurchdringlicher Wall, eine Mauer aus Bäumen, die das Ende der großen Stadt markierte. Die Wasseroberfläche lag dunkel und glatt vor ihr, das Licht des aufgehenden Mondes spiegelte sich auf ihr und warf einen milchigen Schein auf die weißen Körper der Schwäne, die in Ufernähe schlafend dümpelten. Helene verspürte das dringende Bedürfnis, sich ihrer Sachen zu entledigen, in den Garten zu laufen und vom Steg in das Wasser zu tauchen. Aber es war bereits Mitte Oktober, und ihre Gastgeber würden es bestimmt überaus seltsam finden, wenn die junge Frau zu dieser Jahreszeit, nackt, wie Gott sie geschaffen hatte, nächtliche Runden durch den eisigen See zog. Wie schade! Es hätte sie befreit, ihr Klarheit gebracht, sie beruhigt. Wasser hatte immer eine beruhigende Wirkung auf Helene, sie war eine Nixe, Wasser ihr Element.

Ihr Herz und ihr Kopf waren übervoll, ein Nachmittag nur, und ihr Leben drehte sich wie ein Karussell. War ihr Plan noch vor einem Jahr gewesen, Lehrerin zu werden, weil sie unbedingt einen Beruf ergreifen wollte, so hatte sie dieses Ziel längst verworfen, sie wusste, dass sie mehr wollte, als nur zu unterrichten. Vor wenigen Monaten dann hatte sie sich in Berthold Rheydt verliebt – und er sich in sie. Sie wollten heiraten, sie hatte bereits ihre Jungfräulichkeit an ihn verloren. Ja, es war ihr Ziel gewesen, den Kommissar zu ehelichen, aber seltsamerweise erschien ihr auch das nicht mehr erstrebenswert. Zu lange zog sich der Heiratsantrag von Berthold hin. Zuerst war es der Fall um Roger van der Zwaan und den Hafenmörder Joachim von Stetten, der verhindert hatte, dass Berthold bei Helenes Vater um ihre Hand anhielt. Danach allerdings war Helenes Mutter Fanny Curtius nach Havanna aufgebrochen, um Klaus, den verlorenen Sohn, heimzuholen. Sie hatte darum gebeten, dass Berthold nicht genau dann seinen Antrag machte, wenn sie abwesend war. Und so war die Zeit dahingegangen, Zeit, in der Helenes Liebe zu Berthold keineswegs abgenommen hatte. Wenn sie nicht bei ihm war, verzehrte sie sich nach ihm, sie konnte es nie abwarten, ihn wiederzusehen, ihn zu berühren, seine Lippen auf ihren zu spüren, die Kraft seiner Hände, wenn er sie umfing. Helene hatte die Angst davor, ein Kind von ihm zu bekommen, fast gänzlich abgelegt, sie genoss die wenigen Stunden mit ihm, die Stunden, in denen sie sich ihrer Leidenschaft hingaben. Nein, sie liebte ihn, liebte ihn mehr denn je. Aber heiraten? Warum? Wollte sie nicht vielmehr frei sein? Wenn sie studierte, konnte sie das nicht in Hamburg tun. Berthold aber war durch seine Arbeit bei der Polizei an Hamburg gekettet. Sie würden also für die Zeit, in der Helene in Berlin, in Zürich, in Leipzig oder gar in Wien studierte, nicht beisammen sein können. War das richtig für ein junges, frisch verheiratetes Ehepaar? Hielt man das aus? Was würde Berthold dazu sagen, würde er ihr diese Freiheit zugestehen? Was hielt er überhaupt von ihrer Idee, Psychologin zu werden, Psychoanalytikerin? In welchem Gegensatz standen die Thesen, die heute Nachmittag diskutiert wurden, zu seiner Arbeit?

Sie hatten in der Runde bei Doktor Hirschfeld darüber geredet, dass Frauen, die ihre Kinder aus Verzweiflung töteten, mittelbar keine Schuld an den Verbrechen trugen, sondern von der Gesellschaft in diese Verzweiflung getrieben wurden.

Berthold war Kommissar für Tötungsdelikte – was hielt er von dieser Art Thesen? Helene wusste, dass er in seiner Arbeit durchaus danach fragte, welche Triebfeder hinter Gewalttaten steckte, dass es ihm aber in der Hauptsache darum ging, Täter – und Täterinnen – zu fassen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Und das war im Falle von Kindsmörderinnen noch immer die Guillotine oder der Galgen.

Würde Helenes Interesse und zukünftige Beschäftigung mit der Psyche und dem Unterbewussten sie nicht in diametral entgegengesetzte Positionen treiben? Konnte sie unter diesen Vorzeichen noch guten Gewissens seine Frau werden?

Helene schloss das Fenster und spürte, wie ihre Euphorie über das am Nachmittag und Abend Erlebte einer großen Traurigkeit wich. Konnte es sein, dass sie sich, je näher sie ihren Vorstellungen von ihrem Berufsziel kam, von der Vorstellung, Berthold Rheydts Ehefrau zu sein, entfernte? Und warum rückte die Sehnsucht nach einer Ehe mit ihm in weitere Ferne, je mehr sie sich mit ihm verbunden fühlte?

Und warum, verdammt noch mal, dachte Helene mit aufsteigender Wut, bringt jedes Ziel, jede Lösung im Leben, ein neues Problem oder eine Hürde hervor?

Sie wusste, dass sie nicht umhinkam, mit Berthold schon sehr bald ein erstes Gespräch über all die Themen zu führen. Sie musste seine Meinung hören. Und wenn es sie auseinandertrieb – sie wusste in der Tiefe ihres Herzens, dass sie nur glücklich werden konnte, wenn sie ihre Ziele verfolgte.

Hamburg

3.

Gott, wie er diesen Geruch hasste! Formaldehyd und tote Körper. Eine ekelerregende Mischung, Berthold würgte hinter seinem Taschentuch, das er auf den Mund gepresst hielt. Schon als er die Treppen nach unten in die Kellerräume des Hafenkrankenhauses hinabgestiegen war, hatte er den sehr speziellen Geruch in der Nase gehabt. Die schimmelgrün gestrichenen Wände, die feuchtkalte Luft und das mangelnde Tageslicht verstärkten sein Unwohlsein – wie schafften es die Leichenbeschauer und Ärzte, stundenlang in diesen übel riechenden Katakomben zu stehen und sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren? Ein ewiges Rätsel. Elmar Thönnes neben ihm schien der widerlich süß-faulige Gestank allerdings recht wenig auszumachen.

Sie standen zu fünft um den Steintisch mit der Frauenleiche. Neben Romuald Schleicher, der die Obduktion durchgeführt und wegen einer Entdeckung die Polizisten verständigt hatte, waren noch Elmar, Willy Brenner sowie Anne van der Zwaan anwesend, die als Erste bei der Toten gewesen waren. Der Körper, auf den sie gemeinsam herabstarrten, war unnatürlich wächsern, das Gesicht hatte mehr von einer Totenmaske und alles Lebendige, jeden Ausdruck eingebüßt. Wehrlos musste der Körper erdulden, dass er aufgeschnitten und entleert wurde, dass Proben all seiner Organe entnommen wurden, dass der Physikus Blutgefäße und Organe zur Seite schob, schieben musste. Menschen, die hier landeten, war keine Totenruhe vergönnt.

Berthold mühte sich, den Worten des Pathologen zu folgen, aber in Gedanken war er bei der Ärztin. Warum zum Teufel war sie hier? Sie hatte die Tote gefunden, den Totenschein ausgestellt und war von Schleicher eingeladen worden, die Obduktion zu begleiten, so viel wusste er. Aber dennoch: Wann immer sich in dieser Stadt ein zweifelhafter Todesfall ereignete, tauchte sie auf. Sie war maßgeblich in den Fall des Hafenmörders involviert gewesen, hatte einen Anschlag auf ihr Leben knapp überlebt. Als sie in den Auswandererhallen gearbeitet hatte, waren die Kinder vergiftet worden – sie war die Erste gewesen, die einen Verdacht äußerte. Mit den Frauen der Lilith, der randalierenden Frauenbande, die einen beispiellosen Rachefeldzug gegen Zuhälter geführt hatte, war sie in Verbindung gewesen. Und zu guter Letzt hatte sie ihren Vater als Drahtzieher hinter Menschenschmuggel und Drogengeschäften enttarnt. Wie konnte es sein, dass eine einzige Person mit allen spektakulären Mordfällen der Stadt in Verbindung stand, ja, dass diese überhaupt erst auftauchten, seit sie in die Hansestadt gekommen war? Jedes Mal allerdings hatte sich herausgestellt, dass sie an dem mörderischen Treiben, das sie umgab, unschuldig war.

War sie das? Immer wieder schweiften seine Blicke von der Toten vor ihm zu der Ärztin. Bleich stand sie am anderen Ende des Tisches, bleich und schön. Anne van der Zwaan war eine faszinierende Erscheinung, sie wirkte zart und zerbrechlich mit ihrer weißen, makellosen Haut, den schwarzen Haaren, die sanft ihr Gesicht umrahmten, ihren veilchenfarbenen Augen und den roten, zarten Lippen. Die Unschuld selbst. Und doch, das hatte Berthold im vergangenen Jahr mehrfach erlebt, besaß diese schmale Frau mehr Kraft und innere Stärke als eine Handvoll Schupos aus seinem Revier. Sie zog ihn magisch an – gleichzeitig misstraute er ihr zutiefst. Wer war diese Frau, und welche Geheimnisse barg sie noch?

Die Stimme des Physikus-Assistenten riss ihn aus seinen Gedanken.

»Schließlich ist diese Leber ein Prachtexemplar einer Säuferleber«, sagte der und hob triumphierend einen Klumpen Gewebe empor, bei dem es sich offenbar um das besagte Organ handelte. »Ursprünglich hatte ich diese Obduktion nur vorgenommen, weil die Auffindesituation der Toten durch und durch außergewöhnlich war.« Schleicher legte die Leber mit einer beinahe zärtlichen Geste in einen extra bereitgestellten Eimer zurück. »Sowohl Frau Doktor van der Zwaan als auch ich hatten keinen Grund zur Annahme, dass die Todesursache eine andere als eine natürliche sein würde.«

»Geht’s noch geschraubter?«, knurrte Elmar und zog aus seiner Manteltasche eine Zigarette.

Romuald Schleicher machte ein noch freundlicheres Gesicht und lächelte den Kommissar an. »Wenn Sie Schwierigkeiten haben, mir zu folgen, Herr Thönnes, dann verschwenden Sie hier Ihre Zeit. Gerne dürfen Sie draußen warten, einer Ihrer werten Kollegen wird Ihnen sicher später in einfachen Worten mitteilen, was ich gesagt habe.«

Thönnes schnaubte nur und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

»Im Übrigen freue ich mich schon, Ihre Lunge alsbald präparieren zu können und neben der hübschen Leberzirrhose hier meiner Sammlung einzuverleiben.«

Willy Brenner lachte spontan auf, aber als ihn der scharfe Blick von Thönnes traf, sah er rasch zu Boden.

»Alkohol und Tabak«, dozierte Romuald Schleicher, »verkürzen unsere Lebenserwartung ganz erheblich. Wenn dann noch übermäßiger Fleischgenuss hinzukommt, haben Sie schlechte Aussichten auf einen langen Lebensabend. Das nur en passant.«

Berthold verdrehte innerlich die Augen. Er verschwendete seine Zeit. Obgleich er große Stücke auf Schleicher hielt, der anders als sein Vorgesetzter Bäuerlein seine Aufgabe mit Ernsthaftigkeit und Akribie erledigte, sich außerdem beständig fort­-bildete und forensisch auf der Höhe der Zeit war – seine Vorträge zu angeblich gesunder Lebensführung konnte er sich schenken. Sie waren erwachsene Männer, sie aßen und tranken, wie es ihnen gefiel und wie es ihnen guttat, der modernen Askese – der leider auch Helene ab und an verfiel – konnte Berthold nichts abgewinnen.

»Jetzt kommen Sie mal zum Punkt, Schleicher«, unterbrach er deshalb dessen Sermon.

Der junge Mann machte einen Diener in Richtung des Kommissars. »Ich habe also obduziert und war bass erstaunt, als ich feststellen musste, dass keineswegs die Überlastung der Leber den schnellen Tod der Frau Herrmann herbeigeführt hat, sondern …« Er machte eine theatralische Pause und warf einen triumphierenden Blick in die Runde. »… eine Überdosierung des Hustenstillers Heroin.« Schleicher strahlte stolz in die Runde, als erwartete er Applaus. »Argwöhnisch geworden bin ich aufgrund der Miosis.« Schleicher bemerkte die fragenden Gesichter bei den Polizisten. »Pupillenverengung«, erklärte er. »Dann habe ich genauer hingesehen und festgestellt: Herzstillstand war die Todesursache. Die Aufnahme des Pulvers durch die Nase …« Er wies auf die Nasenlöcher der toten Frau hin, an deren Rändern Berthold nun tatsächlich weißliche Krusten erkennen konnte. »… hat in Verbindung mit starkem Alkoholkonsum zum sofortigen Tod geführt.«

»Aber auch das fällt unter die Kategorie natürlicher Tod«, wandte Berthold ein. »Fremdeinwirkung ist vermutlich ausgeschlossen – die Dame wird das Heroin wohl freiwillig geschnupft haben. Warum also haben Sie uns holen lassen?«

»Ich pflichte Ihnen voll und ganz bei.« Der Pathologe entfernte sich ein paar Schritte vom Tisch und griff sich in einem Haufen von Kleidern, die ursprünglich der toten Klara Herrmann gehört haben mussten, ein kleines braunes Tütchen. »Die Dame hat mit Sicherheit freiwillig konsumiert. Aber …« Er überreichte es Berthold. Dieser musterte die Tüte. Eine harmlose kleine braune Tüte aus billigem Papier, davon gab es unzählige. Kein Stempel fand sich darauf, keine Inhaltsbezeichnung. Und doch erinnerte sie den Kommissar an das von Roger van der Zwaan vertriebene Heroin. Jasmin Corp. Ltd., das war seine Firma gewesen, die auf den Namen seiner Frau Dorothy ins Handelsregister in London eingetragen war. Sie hatten versucht, mehr über die Firma, die seit ein paar Monaten mit gefälschten Medizinprodukten auf den Hamburger Markt drängte, herauszubekommen, waren jedoch gescheitert. Dorothy van der Zwaan gab vor, von nichts zu wissen, einen echten Firmensitz gab es nicht. Die Tatsache, dass Roger van der Zwaan als Drahtzieher hinter dem massiv in den Markt gedrückten falschen Heroin seit Wochen in Haft war, bedeutete aber, dass die Umtriebe der dubiosen Firma eigentlich aufgehört haben müssten.

Berthold reichte das Tütchen an Elmar weiter. Der zuckte mit den Schultern.

»Wer weiß, wie lange sie das schon gehabt hat«, sagte er. »Und wenn schon – weder Erwerb noch Gebrauch von Heroin ist strafbar. Jeder nimmt es.«

»Richtig«, ertönte nun die Stimme Anne van der Zwaans, die bislang geschwiegen hatte. »Aber nur die Firma Bayer darf Heroin unter diesem Namen herstellen und in Umlauf bringen. In der Apotheke bekommt man es gemeinhin in Tablettenform und in dem allseits bekannten Fläschchen. Ich kann mir also nicht vorstellen, dass Frau Herrmann das Medikament in der Apotheke erworben hat.«

»Darüber hinaus ist sie keine Langzeitkonsumentin«, sprang Schleicher der Ärztin zur Seite. »Das Heroin ist nur im Blut nachweisbar, nicht einmal in der Blase wurde es verstoffwechselt. Sie hat es also ein Mal genommen – das sollte auch ihr letztes Mal bleiben.«

Berthold erkannte, dass die beiden den Fall bereits vor ihrem Eintreffen gemeinsam erörtert haben mussten.

»Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht die erste Tote ist, die mit dieser Todesursache auf meinen Tisch kommt.« Romuald Schleicher überreichte Berthold und Elmar eine Liste. »Ich habe mir erlaubt, aus meinen Aufzeichnungen dies hier zu exzerpieren. Es sind die Todesfälle aufgrund einer Intoxikation mit Heroin. Was außergewöhnlich ist. Heroin ist ein Allerweltsmittel. Jeder schluckt es, und auch wenn es nicht mehr frei verkäuflich ist – die Ärzte stellen bedenkenlos jedem ein Rezept aus. Ob gegen Bronchialerkrankungen oder Verstopfung, Erschöpfung oder Schlaflosigkeit, es erfreut sich größter Beliebtheit.«

»Hätte Klara das Heroin, wie es allgemein üblich ist, oral aufgenommen, wäre nichts passiert. Sie würde noch leben.« Anne van der Zwaan warf einen bedauernden Blick zu der Toten. »Die Tatsache, dass sie es geschnupft hat, lässt mich vermuten, dass sie sich betäuben wollte. Sie hatte die Absicht, es als Rauschgift und nicht als Medikament einzunehmen.«

»Wie die anderen Damen auf der Liste auch«, ergänzte Schleicher.

Berthold sah auf das Blatt. Fünf Namen. Fünf Todesdaten. In den vergangenen zwei Monaten. Alles Frauen.

Elmar pfiff durch die Zähne, Berthold trat einen Schritt näher an den Tisch und blickte auf die Frauenleiche herab. Was er sah, war das Bild einer Frau, die zu jung gestorben war. Sie war keine dreißig Jahre alt geworden, aber sie hatte das ausgezehrte Gesicht und die Haut einer deutlich Älteren. Immer wieder sah er sich mit diesem Typus Frau konfrontiert. Oftmals als Opfer – erschlagen, erwürgt, erstochen. Von ihren ebenso überforderten Ehemännern oder Lebensgefährten. Auch als Selbstmordopfer trat ihm dieser Typus Frau vor Augen. Es waren Frauen, die ein hartes, allzu entbehrungsreiches Leben führten und die kein Entkommen daraus sahen. Viele von ihnen tranken und versuchten so, ihr Lebenselend zu vergessen. Aber Morphin, Kokain oder Heroin – das waren keineswegs die Suchtmittel, die typisch für diese verzweifelten Wesen waren. Ja, wenn er genauer darüber nachdachte, war ihm noch keine einzige Arbeiterfrau begegnet, die Betäubungsmittel dieser Art konsumiert hatte. Warum auch? Der Humpen Bier, das Gläschen Klarer waren leichter zu beschaffen und weitaus billiger. Die Frauen brauchten oftmals nicht dafür zu bezahlen. Sie ließen sich in den Kaschemmen um das Hafenviertel herum in die Bluse fassen oder unter die Röcke, der Preis war ein Getränk. Um Heroin zu kaufen, hätten sie ein Rezept gebraucht, in die Apotheke gehen müssen – das war viel zu aufwendig.

»Frau Herrmann war bei Ihnen in Behandlung?«, fragte er Anne van der Zwaan.

»Ich kannte sie aus der Paulstraße. Sie kam oft, um ihre Kinder im Hort abzugeben. Angeblich, weil sie zur Arbeit musste.« Das Gesicht der Ärztin verschattete sich. »Tatsächlich wusste ich, dass sie durch die Kneipen zog. Sie hat die Kinder entweder gar nicht mehr abgeholt – wir mussten sie unbegleitet nach Hause schicken. Oder sie kam verspätet. Nüchtern war sie jedoch nie.«

»Hatten Sie jemals den Verdacht, dass sie etwas anderes konsumiert als Alkohol?«

»Nein. Ich glaube auch nicht, dass sie es hätte verbergen können.«