Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe - Henrike Engel - E-Book
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Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe E-Book

Henrike Engel

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Beschreibung

Die Bestsellerautorin Henrike Engel mit dem neuen großen Roman über vergangene Zeiten und unbekannte Welten am Hamburger Hafen Hamburger Hafen, 1911: Anne Fitzpatrick behandelt in ihrer Arztpraxis am Hafen immer häufiger chinesische Frauen, die in den Kolonien als Arbeitskräfte angeworben wurden. Als eine der Frauen vor Annes Augen stirbt, schwört die Hafenärztin, die Verantwortlichen zu finden. Zusammen mit Kommissar Berthold Rheydt fängt sie an, im Chinesenviertel auf Sankt Pauli nachzuforschen. Der Kommissar glaubt, die mörderische Handschrift eines Erzfeindes zu erkennen. Sein Herz jedoch ist nicht ganz bei der Sache – er hat Helene Curtius seine Liebe erklärt. Doch auch Helene kämpft an mehreren Fronten um das Heil misshandelter Frauen. Während Anne sich zunehmend in große Gefahr begibt, macht Rheydt einen Schritt, der sein Leben und das von Helene für immer verändert. Lassen Sie den Alltag hinter sich und tauchen Sie ein in die Kaiserzeit Hamburgs und in das Leben einer außergewöhnlichen Frau. *Einzigartige Ausstattung mit besonderer Goldprägung* Das große Lesevergnügen geht weiter: Band 1: Die Hafenärztin. Ein Leben für Freiheit der Frauen, Januar 2022 Band 2: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Lachen der Kinder, Mai 2022 Band 3: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe, November 2022 Band 4: Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen, Dezember 2023

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Seitenzahl: 642

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Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe

Die Autorin

HENRIKE ENGEL pendelte in ihrem Leben ständig zwischen Berlin und München, mit beiden Städten verbindet sie eine komplizierte Liebesbeziehung. Eines aber ist konstant geblieben: ihre Liebe zu Hamburg! Manche Träume jedoch müssen unerfüllt bleiben, und so hat die ehemalige Drehbuchautorin nicht ihren Wohnort in die Hafenstadt verlegt, sondern träumt sich lieber schreibend dorthin.

Das Buch

Aufbruch und Elend, weite Welt und enge Gassen, der Reichtum der einen, die Armut der anderen – im Hamburger Hafen der Kaiserzeit kämpfen sie gegen das Unrecht: Eine Ärztin mit dunkler Vergangenheit, eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst und ein Polizeibeamter, dem eine Tragödie das Herz gebrochen hat.

Henrike Engel

Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Paperback 1. Auflage Dezember 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © bürosüd° (Rahmen, Details),© akg Images, © Richard JenkinsAutorinnenfoto: © Quirin LeppertE-Book powerded by pepyrusAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-8437-2795-2

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Chinesisches Meer

Ende und Anfang, Abschied und Aufbruch

1.

Frühling lässt sein blaues Band …

2.

3.

In der Hitze des Sommers

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

Im Licht der Wahrheit

43.

Nachbemerkung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Chinesisches Meer

Chinesisches Meer

In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 1911, an Bord eines Frachtschiffes

»Was ist mit ihr?«

Mian zieht die Decke weg.

»Himmel! Wer … das war ein Monster! Was tun wir jetzt?«

Der Körper wird wieder zugedeckt, Han sieht seinen Kollegen an.

»Wir können keinen Ärger brauchen.«

Wenig später prallt ein Körper dumpf auf den Wellen des nachtschwarzen Ozeans auf. Eine Weile schaukelt er auf den weißen Schaumkronen, doch nach und nach beginnt er zu sinken. Bis die dunkle See ihn gnädig in ihre Arme nimmt, hinabzieht in die Tiefe, als Geschenk für ihre hungrigen Tiere.

Ende und Anfang, Abschied und Aufbruch

London, Ende April 1911

1.

Sie sah aus wie eh und je. So schön wie vor sechzehn Monaten, so schön wie damals, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Milena und Anne. Anne und Milena. Das Liebespaar.

Und nun stand Anne hier, auf der Princess Road, verborgen in einer Hofeinfahrt, und beobachtete, wie Milena, ihre Freundin – oder sollte sie sagen ihre ehemalige Freundin? – , aus ihrem Wohnhaus kam, die steinerne Treppe des schmalen Townhouses hinab auf die Straße lief – und sich nach einer Frau umdrehte, die ihr folgte. Die Frau sagte etwas zu Milena, woraufhin diese den Kopf in den Nacken warf, lachte, ihr breites und freies Lachen, schöne Zähne, schöner Mund, die Hand nach der anderen ausstreckte, und gemeinsam liefen sie Schulter an Schulter die Straße hinunter.

Glücklich.

Anne verzichtete darauf, dem Pärchen zu folgen. Sie wollte sich nicht noch mehr Schmerzen zufügen, hatte genug gesehen. Im Grunde hatte sie es gewusst, seit damals, seit sie London des Nachts verlassen hatte. Vom rauschenden Silvesterfest aus den Armen ihrer Geliebten gerissen, hatte sie ein Schiff bestiegen und war nach Hamburg geflohen. Aus Anne van der Zwaan war Anne Fitzpatrick geworden.

Und aus einer glücklichen Frau, die in London inmitten einer Clique Gleichgesinnter gelebt, gearbeitet und gefeiert hatte, aus einer Frau, die liebte und geliebt wurde, war eine von der Polizei Gejagte geworden, eine, die sich mit dem Vorsatz zu helfen strafbar gemacht hatte.

Sie war eine einsame Seele auf der Suche nach Geborgenheit.

Milena würde ihr diese nicht mehr geben wollen und können, das hatte Anne schon lange begriffen, doch sie musste es erst mit eigenen Augen sehen, um sich ihre schöne Freundin, die Suffragette Milena Suslowa, aus dem Herzen zu reißen.

Aber auch das war ein Grund für ihren Aufenthalt in London. Anne musste die Dinge hier zu Ende bringen, um dort, in Hamburg, einen wirklichen Neubeginn wagen zu können. Sie hatte gedacht, dass sie das geschafft hätte, das bittere Ende, hingegen ein Anschlag, dem ihre Arztpraxis zum Opfer gefallen war, hatte ihr vergegenwärtigt, dass sie sich selbst nicht belügen konnte. Sie musste Wahrhaftigkeit erlangen – und das bedeutete, in London aufzuräumen und abzuschließen.

Es war ein scheußlicher Tag, der April machte seinem Namen alle Ehre, trieb kalten Wind durch die Straßen, peitschte die Bewohner Londons mit Regen und riss schließlich mit einem hämischen Grinsen seine Wolkendecke auf, um zu zeigen, welchen Trumpf er in der Hinterhand hatte – Sonne.

Anne lief in die entgegengesetzte Richtung der beiden Frauen davon, in Richtung Süden. Sie würde eine gute Stunde nach St James’s zu laufen haben, bei dem Wetter eine Herausforderung, die Anne dennoch mit Freuden annahm. Von der Princess Road – Milena lebte trotz ihres Engagements für die Frauenbewegung und die Ärmsten der Stadt herrschaftlich in Primrose Hill – führte sie der Weg quer durch den wunderschönen Regent’s Park. Sie brauchte Bewegung und frische Luft, und wenn sie nass würde, war es ihr gleich. Anne konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als nach einem ordentlichen Spaziergang, der ihr Kopf und Herz öffnen würde, in einem warmen Tea House einzukehren und bei einer Kanne Darjeeling Scones mit Clotted Cream und Gurkensandwiches zu genießen.

Den Park hatte Anne beinahe für sich, und sie staunte erneut, wie es möglich war, inmitten einer Stadt wie London, die so dicht besiedelt war, Inseln der Ruhe zu finden. Hier waren aufgrund des Wetters nur wenige Menschen unterwegs, eine alte Frau, ihrer Kleidung nach zu urteilen mittellos, fütterte Tauben mit Körnern, der Parkwächter patrouillierte auf den Wegen, und eine Nanny zerrte zwei kleine Kinder hinter sich her in Richtung Zoo.

Die Vegetation erschien umso üppiger, je weniger Menschen unterwegs waren, als nähme sie sich den Raum, den die Menschen ihr gelassen hatten. Kaskaden von weiß blühenden Schneespieren, harmonisch gestaltete Tulpen- und Frühblüherbeete, Kastanienbäume, die stolz ihre roten und weißen Blüten in die Höhe reckten, und Grün in allen Schattierungen erfreuten Annes Auge und beruhigten ihre Seele.

London entfaltete seine ganze Pracht und Herrlichkeit, die Parks waren Balsam für ihr Gemüt, aber die Ärztin Anne Fitzpatrick kannte auch die düstersten Seiten der Stadt. Die engen Gassen Whitechapels, in denen sie und Milena unterwegs gewesen waren, um Frauen aus dem Elend herauszuhelfen, und sei es nur, ihnen eine Suppe anzubieten, eine warme Decke oder die Versorgung ihrer Wunden.

In den Docks von London war Anne zum ersten Mal all der Kinder gewahr geworden, die schwer arbeiteten, um zu überleben, Sechsjährige, die Säcke schleppten, noch kleinere Kinder, die auf der Straße bettelten, Mädchen, die noch nicht zur Frau erblüht waren, aber bereits ihre Körper verkaufen mussten. Oder das Labyrinth unterirdischer Wege, Flüsse und Schächte, das die Metropole durchzog wie ein Spinnennetz und in dem Menschen und Tiere hausten, die sich aus verschiedenen Gründen vor aller Augen verbargen.

Nein, Anne machte sich über die Schönheit der Stadt keine Illusionen mehr, ebenso wie in Hamburg, der anderen Metropole, in der sie zu Hause war, lagen auch hier Schrecken und Schönheit nah beieinander.

Anne hatte den südlichen Ausgang des Parks erreicht, war weitgehend vom Regen verschont geblieben und suchte sich ein Tea House, in welches sie einkehrte, bevor sie ihre Einkaufstour in der Bond Street in Angriff nahm. Sie wollte sich gönnen, was sie sich in Hamburg versagte: ein neues Kleid für den Frühling, vielleicht ein paar Handschuhe, einen Duft, Pralinen und natürlich englischen Tee. Im Grunde genommen hätte sie all das auch in Hamburg kaufen können, schließlich war die Metropole durch den Hafen eines der größten Handelszentren Europas, es gab nichts, was es nicht gab, aber Anne nahm sich dort nicht die Zeit, sie hatte keine Muße, sie arbeitete Tag und Nacht.

Bis vor wenigen Wochen. Bis sie vor den rauchenden Trümmern ihrer Praxis gestanden hatte, vor den Trümmern all dessen, was sie sich in Hamburg aufgebaut hatte. Ihr Traum von der eigenen Arztpraxis, in der sie vornehmlich die Armen und Bedürftigen, die Frauen und Kinder behandelte, war Opfer von Brandstiftung geworden – das Attentat verübt hatten ausgerechnet die, für die Anne Fitzpatrick sich aufopferte. Frauen. Junge Frauen aus der Unterschicht, die sich voller Wut gegen die Verhältnisse, in die sie gezwungen worden waren, auflehnten – und ihr Zorn hatte sie getroffen, die Ärztin.

Kurzerhand hatte Anne ihre Koffer gepackt, hatte Hamburg hinter sich gelassen und war zurück ins Vereinigte Königreich gefahren. Eingereist mit gefälschten Papieren, denn in London lag ein Haftbefehl gegen sie vor. Auch das eine Last, die ihr in den vergangenen Monaten im Nacken saß. Sie hatte ihre Existenz in Hamburg auf eine Lüge gegründet, natürlich konnte das nicht gut gehen.

Das Servierfräulein stellte ein silbernes Tablett mit einem Kännchen Tee, Milch, Zucker und einer Etagere mit den Köstlichkeiten für den High Tea vor Anne auf das Tischchen.

»Could you bring me some German newspapers please?«, bat Anne, und kurz darauf kehrte das Mädchen mit drei Ausgaben an ihren Tisch zurück.

Anne griff zur Hansepost, der Aufmacher gehörte ihrem Freund, dem Journalisten Max Lauritzen: »Florierender Menschenhandel in Hamburg – lesen Sie die schockierenden Enthüllungen unseres Reporters.«

Seit Tagen schon gehörte Max die erste Seite – weltpolitisch gab es wohl nichts, was die Hamburger von ihrer Skandalgeschichte ablenken konnte. Vielleicht lag es daran, dass die Geschichte, die Max recherchiert und Berthold Rheydt mit Elmar Thönnes aufgeklärt hatte, alle Ingredienzien hatte, die zu einem Aufmacher taugten: ein gut aussehender Arzt aus bestem Haus, der über viele Jahre hinweg gelogen, betrogen und gemordet hatte. Der sich im fernen Kattowitz eine Doppelexistenz als Mädchen- und Menschenhändler aufgebaut hatte, dem es aber gelungen war, seine bürgerliche Fassade zu wahren. Und der auch dann noch weiter mit jungen Mädchen handelte, als er nach Hamburg zurückgekehrt war und die Leitung der Gesundheitsabteilung der Auswandererhallen übernommen hatte. An seiner Seite eine junge Frau, ehemalige Prostituierte, die ihm hörig gewesen war und ihn bei seinen kriminellen Machenschaften unterstützt hatte. Sowie eine Frau, die der Doktor zur Ehe gezwungen hatte, deren Vater er ruiniert und sich dessen Unternehmen einverleibt hatte.

Dass dieser Mann, Doktor Tergit, letztendlich überführt wurde, daran hatte Anne ihren Anteil gehabt. So wie auch Helene, ihre Freundin in Hamburg. Und natürlich Berthold Rheydt, der melancholische Kommissar mit den schönen Augen, der Tergit schließlich erschossen hatte.

Max Lauritzen hatte in dem Fall in Kattowitz recherchiert, und endlich, endlich hatte er die große Geschichte in der Zeitung, nach der er sich so lange gesehnt hatte. Anne gönnte es ihm von Herzen. Max war neben Helene einer der wenigen Menschen, denen sie vertraute, sie waren Freunde geworden. Und Freunde verdienten Aufrichtigkeit, dachte Anne. Sie verdienen, die Anne zu kennen, die ich wirklich bin.

Sie bat um die Rechnung und verließ das Teehaus.

Zwei Stunden später betrat sie die Eingangshalle ihres Elternhauses, im Schlepptau einen Bediensteten, beladen mit Taschen und Hutschachteln. Sie hatte sich regelrecht verausgabt und sich eine komplette Frühjahrsgarderobe zugelegt. Annes Gesicht glühte vor Aufregung und Überforderung, noch nie zuvor war sie in einen solchen Kaufrausch geraten, zumal sie allein und nicht mit Milena unterwegs gewesen war, die ihr geschmackssicher stets die schönsten Stücke ausgesucht hatte.

Es war eine neue, aber auch einmalige Erfahrung, dessen war sich Anne gewiss. Sie hatte sich ablenken wollen, von dem, was vor ihr lag – und das war ihr gelungen. Nun musste sie nur noch den Abend in der Gegenwart ihrer Eltern überstehen und ein paar Stunden in den Schlaf finden, bevor sie den schwersten Gang ihres bisherigen Lebens antreten würde.

»Oh, Darling, du warst einkaufen?« Annes Mutter blickte von der Balustrade im ersten Stock in die Eingangshalle hinunter, wo ein Bediensteter all die Taschen und Kisten stapelte, die Annes modische Errungenschaften enthielten.

Ein junger Mann lief die Treppe hinab, nachdem er sich von Dorothy, Annes Mutter, verschämt verabschiedet hatte. Sie gab ihre Gewohnheiten also nicht auf, konstatierte Anne und warf dem Mann einen müden Blick hinterher. Er mochte in ihrem Alter sein, vielleicht sogar jünger, und entsprach ganz dem Geschmack ihrer Mutter. Je älter sie wurde, desto jünger die Liebhaber.

Annes Eltern, Roger und Dorothy van der Zwaan, er Niederländer, sie Britin, gingen seit Langem getrennte Wege – nicht offiziell natürlich. Öffentlich zeigten sie sich als harmonische Ehepartner, eine Fassade, die sich der vermögende Reeder einiges kosten ließ. Damals, vor dreizehn Jahren, als die Familie ihren Hamburger Wohnsitz verlassen hatte und nach London gezogen war, hatten ihre Eltern aufgehört, miteinander zu sprechen. Was Anne früher, als junges Mädchen, angestrengt und befremdet hatte, woran sie sich aber im Lauf der Jahre gewöhnte und glaubte, dies sei die übliche Zerrüttung einer langen Ehe, konnte sie sich heute besser erklären. Erst vor Kurzem hatte sie erfahren, dass ihr Vater für ein entsetzliches Schiffsunglück verantwortlich gewesen war – der Untergang der Lotus, über hundert Kinder und Frauen waren dabei zu Tode gekommen. Die Schuld daran hatte er stets bestritten, und Anne begriff nun, dass ihre Mutter die Haltung des Vaters nicht teilen konnte, ja, ihn dafür verachtete. Mit dieser neuen Erkenntnis sah sie ihre Mutter plötzlich mit anderen Augen. Sie verstand, dass eine Frau ihres Standes keine Optionen hatte, dem Gefängnis ihrer Ehe mit einem Gatten, der sie versorgte und ihr ein Leben in Sicherheit und Wohlstand ermöglichte, zu entkommen. Was hätte sie tun sollen? Sich von dem Mann lossagen? Sich gar scheiden lassen? Es hätte gesellschaftlich und wirtschaftlich einen Fall ins Bodenlose bedeutet.

Nein, Dorothy van der Zwaan hatte sich entschieden, nach außen hin gute Miene zu machen und innerhalb der Mauern ihres Hauses ihr Leben so befriedigend und frei wie möglich zu leben. Unter anderem, indem sie sich junge Liebhaber holte. Sich begehren ließ, auch wenn es gegen Bezahlung geschah. Aber sie schien Genuss daran zu empfinden, jedenfalls strahlte sie noch immer Grandezza und Lebensfreude aus.

Jetzt schritt sie die Treppe ihres Teils der Villa hinunter – mit jedem Schritt war sie sich ihrer eleganten Erscheinung bewusst. Anne sah ihrer Mutter ähnlich, von ihr hatte sie die schneeweiße Haut und das schwarze Haar geerbt, das nun bei Dorothy mit silbernen Strähnen durchzogen war.

»Zeigst du mir, was du erstanden hast? Oh! Du warst bei Gormley?« Sie zeigte auf einen länglichen Karton, den Anne daraufhin hochhob, öffnete und ihrer Mutter die in Seidenpapier eingeschlagenen Lederhandschuhe zeigte. So hauchdünn, als wären sie aus Seide geschneidert, umschmeichelten sie die Hand wie eine zweite Haut. Angetan strich ihre Mutter darüber und ließ sodann Annes Einkäufe nach oben bringen, in das Gästezimmer, in das sich Mutter und Tochter wenig später zurückzogen, um sich über das einzige Thema auszutauschen, über das sie miteinander sprechen konnten, ohne aneinanderzugeraten: Mode. Etwas, das Anne im Grunde wenig interessierte, aber alles andere war gefährliches Terrain. Der Vater und seine Geschäfte – darüber verlor Dorothy kein Wort. Annes Engagement für die Frauenbewegung – absurd! Die Tatsache, dass Anne unverheiratet war – ein Skandal. Aber über Kleider, Stoffe, Parfüm und Dekoration fanden die beiden so unterschiedlichen Frauen zueinander. Dorothy hatte Sherry in das Zimmer bringen lassen, und so ließen sie gemeinsam den Tag ausklingen, in fragiler Harmonie.

Schließlich faltete Dorothy ein Schultertuch aus feinstem Kaschmir zusammen, legte die Hände in den Schoß und blickte ihre Tochter besorgt an.

»Und du bist sicher, dass du den Schritt gehen willst?«

»Müssen wir das wirklich noch einmal diskutieren?« Anne seufzte.

Ihre Mutter schüttelte leicht den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Wenn du fest entschlossen bist. Deinen Vater scheinst du auch auf deiner Seite zu haben.«

Anne lachte auf. »Glaubst du? Ich bin nicht sicher. Er zahlt den Anwalt, das schon. Aber ob er mich unterstützt? Wenn es schiefgeht, wird er mich fallen lassen, dessen bin ich gewiss.«

»Hast du so eine schlechte Meinung von ihm?«

»Das fragst du mich? Du? Die du seit vielen Jahren kein Wort mit ihm sprichst?«

»Das geht nur uns etwas an.«

Anne fasste sich ein Herz. Wenn sie selbst mit den Lügen abschließen und der Wahrheit Tür und Tor öffnen wollte – warum also nicht das ansprechen, was ihre Familie belastete? »Es ist die Lotus, nicht wahr? Seit das passiert ist …«

Abrupt stand ihre Mutter auf. »Wir sehen uns um acht Uhr zum Abendessen.« Damit rauschte sie aus dem Raum und ließ Anne ohne eine Antwort zurück.

Es wird Zeit, dass ich hinter mich bringe, weswegen ich hier bin, dachte diese. Ich halte es keine Minute länger als nötig bei meinen Eltern aus.

Das Abendessen war wie alle Mahlzeiten eine verkrampfte Angelegenheit. Anne saß in der Mitte eines absurd langen Tisches, Vater und Mutter je an einem Ende. Sie sprach entweder mit ihrer Mutter über Belanglosigkeiten oder mit ihrem Vater über Hamburg und seine Geschäfte.

Ein Thema allerdings klammerten sie aus: Doktor Tergit. Der Mörder, der versucht hatte, mittels Arsen die Geschäfte der Hapag und deren Finanzier Wilhelm von Stetten zu sabotieren.

Der Hamburger Kommissar Berthold Rheydt hatte Anne darüber informiert, dass der Mörder mutmaßlich nicht auf eigene Rechnung gehandelt hatte, er vermutete ihren Vater als Drahtzieher hinter allem – deshalb war sie fest entschlossen, im Zuge ihrer Wahrheitsfindung auch diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

»Chaimbers wird dich morgen abholen«, ließ Roger van der Zwaan nun seine Tochter wissen, während er gekonnt eine Scheibe Roastbeef mit Remoulade bestrich und mit Messer und Gabel zu einem kleinen Röllchen formte, das er sich genüsslich in den Mund steckte, kaute und mit einem ordentlichen Schluck Rotwein hinunterspülte.

Anne sah ihm dabei zu. Eine gewöhnliche Geste ihres Vaters. Er aß, wie er immer aß, und trank, wie er immer trank. Sie hatte geglaubt, ihn gut zu kennen. Warum nur hatte sie nie geahnt, was sich hinter seiner Fassade verbarg? Wenn der Kommissar mit seiner Vermutung recht hatte, war ihr Vater ein skrupelloser Verbrecher. Einer, der sein Werk noch nicht vollendet hatte – seine ehemalige Macht in Hamburg zurückzuerlangen und seinen Erzfeind Wilhelm von Stetten zu vernichten.

»Ich weiß«, gab Anne zurück. »Ich bin sehr dankbar, dass du das für mich in die Wege geleitet hast, Vater.«

»Glaube mir, ich habe kein gesteigertes Interesse daran, dass meine Tochter inhaftiert wird. Chaimbers wird die Dinge regeln – die Mittel dazu habe ich ihm zur Verfügung gestellt.«

Daran zweifelte Anne nicht. Für ihren Vater gab es nichts, was sich nicht mit Geld regeln ließ, und bislang hatte ihm das Leben immer recht gegeben.

Später auf ihrem Zimmer sah Anne lange zum Fenster hinaus auf das nächtliche London. Sie konnte von hier aus die weißen Rundbögen von Marble Arch sehen. In unmittelbarer Nähe davon hatte in früherer Zeit der Galgen von Tyburn gestanden, ein schlechtes Omen, durchfuhr Anne der Gedanke. Fröstelnd zog sie die Vorhänge zu und legte sich ins Bett. Sie dachte an den Blick aus ihrer kleinen Wohnung in der Gurlittstraße in Hamburg, ein ganz und gar unspektakulärer Blick auf die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Aber wie sehr sehnte sie sich jetzt danach zurück.

»Habe ich das richtig verstanden? Sie wollen …«

Der Chief Inspector schaute verwirrt von Anne zu ihrem Anwalt Chaimbers.

»Ich möchte mich stellen«, wiederholte Anne mit fester Stimme. »Es liegt ein Haftbefehl gegen mich vor. Anne van der Zwaan.«

Der Chief Inspector erhob sich und nickte ihr zu. »Bitte nehmen Sie Platz. Ich informiere meinen Vorgesetzten.«

Anne und ihr Begleiter Rufus Chaimbers folgten der Aufforderung. Der Anwalt, der alle Angelegenheiten Roger van der Zwaans zu dessen größter Zufriedenheit diskret regelte, nickte Anne zu.

»Halten Sie sich an das, was ich Ihnen gesagt habe«, gab er ihr mit gedämpfter Stimme zu verstehen. »Und lassen Sie mich reden.«

Nur zu gerne, dachte sie. Ich bin zu allem bereit, wenn ich nur wieder die werden kann, die ich mein Leben lang gewesen bin. Die falschen Papiere, die auf Anne Fitzpatrick ausgestellt waren, hatte sie noch am Vorabend im Kamin dem Feuer übergeben. Diese Identität war wie Asche zu Staub zerfallen, und Anne van der Zwaan hoffte nun, wie Phönix daraus geläutert und gereinigt emporzusteigen.

Frühling lässt sein blaues Band …

Hamburg, Anfang Mai 1911

2.

Helene nahm sich die Zeitung, die ihr Vater nach dem Frühstück hatte liegen lassen. Max Lauritzen und seine groß aufgemachte Serie über die Machenschaften des Doktor Tergit, aber auch über Hamburg als Drehkreuz für den Mädchenhandel, fesselte dieser Tage die Hansestadt. Eigentlich war diese Lektüre nichts, mit dem sie sich heute beschäftigen wollte, zu frisch war Helenes Erinnerung an den Mann, der sie niedergeschlagen, gefesselt und geknebelt hatte und dessen Plan es gewesen war, ihren Körper in der Nordsee zu beseitigen. In letzter Minute hatte Berthold Rheydt sie gerettet – ihr persönlicher Held. Nichtsdestotrotz überflog Helene nun die ersten Zeilen, angewidert, wie Mädchenhändler ihr Geld mit der Verzweiflung junger Frauen und mittelloser Familien machten. Aber auch erleichtert – immerhin hatte die Hamburger Polizei ganze Arbeit geleistet und nicht nur den Mörder gefasst, sondern auch einen international operierenden Mädchenhändlerring in Kattowitz ausgehoben. Es war also möglich, diesen Machenschaften einen Riegel vorzuschieben, Helene war überzeugt davon! Die Politik musste nur die Bedingungen dafür schaffen, dass die Ärmsten gar nicht erst in die Zwangslage kamen, ihre Töchter oder den eigenen Körper zu verkaufen.

Aus dem Garten hörte sie Kinderlachen und die Stimme ihrer Mutter. Helene stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Auf dem abschüssigen Grundstück, das von ihrer wunderbaren Villa zum Wasser führte, stand Fanny, an ihrer Hand ein kleines Mädchen, Lydia. Auch sie konnte aus den Fängen Tergits gerettet werden. Helenes Mutter hatte sich der Kleinen angenommen und suchte eine Familie, die Lydia, ein Waisenkind aus Galizien, adoptieren würde. War dies der Weg in eine bessere Zukunft des Mädchens?

Zwei Schwäne waren vom Langen Zug auf das Grundstück gewatschelt, frech forderten sie nun die Fütterung ein, mit der Fanny und Lydia sie gelockt hatten. Sie hatten Körner auf die Wiese gestreut, eine Spur gelegt, der die Schwäne verfressen gefolgt waren, nun schien einer der beiden es auf die kleinen Füße des Mädchens abgesehen zu haben, aber Fanny zog die Kleine rasch fort und rettete sie vor dem kräftigen Schnabel des Wasservogels. Hob sie hoch und drehte sich wirbelnd mit ihr um die eigene Achse.

Mit Freuden sah Helene ihre Mutter lachen. Schwere Tage lagen hinter ihnen, aber die Anwesenheit des Waisenmädchens munterte Fanny auf. Seit einiger Zeit hatte sie, nicht zuletzt dank der kleinen Geschwister ihres Dienstmädchens Sophie Lautenschläger, die Beschäftigung mit kleinen Kindern für sich entdeckt und blühte darin auf. Sie wurde nimmermüde, sich Spiele auszudenken, sie besuchte Hagenbeck’s mit den Kindern und unternahm alle Anstrengungen, Lydia die deutsche Sprache beizubringen.

Fanny Curtius leistete auf diese Weise Abbitte, Abbitte an ihren eigenen Kindern Klaus und Helene, zu denen sich die Beziehung in den vergangenen Jahren merklich abgekühlt hatte. Helene hatte nun die Chance, sich ihrer Mutter wieder anzunähern, und sie genoss es. Dagegen trauerte sie darum, dass Klaus dies verwehrt war. Klaus, ihr Bruder, der vor ziemlich genau einem Jahr spurlos verschwunden war. Das heißt, spurlos nur für die Eltern, Helene hielt heimlich mit ihm Kontakt. Erst zwei Tage zuvor war wieder ein Brief von ihm aus Havanna gekommen, ein Brief, der Helene besorgt und traurig zurückgelassen hatte.

In den ersten Monaten war ihr Bruder stolz und frohgemut gewesen, hatte ihr sein Leben in Havanna, der pulsierenden Stadt, in allen Farben der Freude ausgemalt. Doch dann hatte sich nach und nach ein anderer Ton in seine seltener werdenden Briefe geschlichen. Sie hatte es nicht gleich wahrhaben wollen, zu sehr wünschte sich Helene, dass ihr über alles geliebter Bruder ein Leben im Paradies führte. Doch an dem Brief, der sie jüngst erreicht hatte, gab es nichts zu deuten. Es ging ihm nicht gut. Warum, das sprach er nicht aus. Aber er schrieb Helene, dass er Sehnsucht hatte, nach Hamburg, nach Freunden und ihr, seiner Schwester. Dass er an Schmerzen litt – aber wovon, wodurch? War er krank? Er führte es nicht näher aus. Und das Schlimmste: Er bat sie um Geld. Helene hätte ihm alles gegeben, was sie hatte, ihr lag nichts an Geld, sie würde ihre Lehrerinnenausbildung in wenigen Tagen abschließen und dann in ihrem erlernten Beruf arbeiten, gerade so viel verdienen, wie sie zum Leben brauchte, und Klaus konnte alles, alles von ihr haben! Nein, was Helene Angst machte, war die Tatsache, dass Klaus nicht wie erwartet in Kuba Fuß gefasst hatte und arbeiten konnte. Er schien, seinen kargen Schilderungen zufolge, Hunger zu leiden, Helene hoffte inständig, dass er wenigstens ein Dach über dem Kopf hatte.

Während sie Fanny nun dabei zusah, wie gelöst diese mit Lydia über die Wiese lief, entschied sich Helene dafür, ihrer Mutter reinen Wein einzuschenken. Sie wusste, wie sehr Fanny – aber auch der Vater, wie er unlängst gestanden hatte – darum trauerte, dass Klaus sie verlassen hatte. Sie liebten ihn, das war Helene erst jetzt klar geworden. Und sie fand es nicht mehr richtig, dass sie die Einzige sein sollte, die um seinen Verbleib wusste.

Außerdem konnte sie die Last des Wissens um ihn nicht mehr allein tragen. Sie musste sich mit den Eltern oder wenigstens mit Fanny beraten, wie ihm zu helfen sei! Denn Hilfe benötigte Klaus im fernen Kuba, dessen war sie gewiss.

Aber wann war der richtige Zeitpunkt? Helene sah auf die Uhr – noch zwei Stunden, dann würde sie zu ihrem ersten Rendezvous aufbrechen. Zu einer Verabredung mit dem Mann, der sie in ihren Gedanken und ihrem Herzen jede Minute des Tages begleitete. Zu dem Mann, den sie liebte und dem jede Faser ihres Körpers zustrebte. Dem Mann, der sie des Abends daran hinderte, einzuschlafen, weil sie versuchte, sich jedes Detail seiner Existenz in Erinnerung zu rufen, damit sie nichts vergessen würde – den schwarzen Kranz langer Wimpern über den dunkelblauen Augen, die winzigen feinen Narben auf seinen Wangen, die Kraft seiner Arme, als er sie gehalten hatte, nachdem er sie an Deck der Pennsylvania aus den Fängen Dr. Tergits gerettet hatte, den Duft seines Körpers und den Klang seiner Stimme.

Berthold Rheydt war ihr steter Begleiter in Gedanken geworden, und Helene fand, es war an der Zeit, dass er aus ihren Träumen hervortreten und an ihre Seite kommen würde. In Fleisch und Blut.

Heute am späten Nachmittag sah sie ihn endlich wieder, sie trafen sich am Uhlenhorster Fährhaus, direkt gegenüber an der Mündung des Langen Zugs in die Außenalster.

Eine Frau traf sich mit einem Mann – was das Normalste auf Erden sein sollte, geriet für Helene zu einem beinahe weltbewegenden Ereignis. Sie ahnte, dass dieses Treffen – rein privater Natur und unter vier Augen – über ihren Lebensentwurf entscheiden würde. Sie hatte vor einigen Monaten den Beruf der Lehrerin nicht allein deshalb gewählt, weil er einen Kompromiss zwischen ihrem Wunsch, einen Beruf zu ergreifen, und den Vorstellungen ihrer Eltern für sie, eine bürgerliche Ehe, darstellte, sondern auch, weil ihr die Vorstellung gefallen hatte, dass es sie der Notwendigkeit einer Ehe enthob. Lehrerinnen verpflichteten sich zum Zölibat – das hatte ihr gefallen.

Nun gefiel es ihr nicht mehr. Wie ihr auch der Berufswunsch nicht mehr zusagte, schon bevor sie diesen überhaupt ausübte. Pädagogik faszinierte die junge Frau aus dem Pastorenhaushalt, aber es genügte ihr nicht. Helene wollte mehr. Mehr von allem – studieren, sich mit Psychotherapie und Analyse beschäftigen. Reisen, feiern.

Und lieben.

Am besten Berthold Rheydt.

Sie drehte sich vom Fenster weg, holte Klaus’ letzten Brief aus der Schublade mit den Strümpfen, wo sie seine Schreiben verbarg, und wollte soeben hinuntergehen, als es klopfte und ihre Mutter sogleich den Kopf durch die Tür steckte.

»Helene? Magst du uns Gesellschaft leisten? Wir essen Kuchen.«

»Sehr gerne! Aber, Mama, hast du vorher noch ein wenig Zeit für mich? Ich möchte etwas mit dir besprechen.«

Fanny zog die Stirn kraus, bat dann aber das Dienstmädchen, ein Auge auf die kleine Lydia zu haben, und betrat Helenes Zimmer.

»Setz dich.« Helene zeigte auf ihr Bett und nahm neben ihrer Mutter Platz. Es würde Tränen geben, das wusste sie. Zu Recht. Es war ein Verrat der Kinder an der Mutter, dass sie ihr verschwiegen hatten, wie es Klaus ging und wo er war. Aber jetzt wollte sie nicht länger zögern, ihrer Mutter die Wahrheit zu offenbaren.

Helene zog den Brief hervor.

Keine zwei Stunden später schloss sie das Gartentor hinter sich, erleichtert und froh, zu ihrem Rendezvous aufbrechen zu können und sich auf andere Gedanken zu bringen. Auf hoffentlich vollkommen andere Gedanken!

Fanny hatte gefasster reagiert als erwartet. Natürlich waren Tränen geflossen, aber es waren Tränen der Erleichterung, dass sie nun erfuhr, wo Klaus war, und dass er zumindest mit Helene Kontakt gehalten hatte.

Dass ihre Kinder darüber geschwiegen hatten, traf Fanny, aber sie überraschte Helene mit der Selbsterkenntnis, dass sie wusste, wie wenig ansprechbar sie gewesen war. Melancholie und eine düstere Gemütslage hatten Fanny Curtius in die Isolation ihres Zimmers getrieben, mit den Jahren war es immer schlimmer geworden, es war, als hätte ihre Mutter sich Stück für Stück von der Familie abgekapselt, so erschien es Helene. Aber je mehr sie selbst sich emanzipierte, desto mehr kehrte auch Fanny wieder ins Leben zurück. Wäre da nicht die bittere Erkenntnis gewesen, dass ihr Mann, der Pastor Engelbert Curtius, mit dem letzten Dienstmädchen der Familie ein Kind gezeugt hatte – wäre vielleicht auch das Eheglück zurückgekehrt.

Helene hatte Fanny alle Briefe, die sie von Klaus erhalten hatte, ausgehändigt, und nachdem ihre Mama diese gelesen hatte und ihre Tränen versiegt waren, hatte sie Helenes Hände genommen, ihr fest in die Augen geblickt und gesagt: »Wir müssen ihm helfen, Helene. Ich werde mir etwas überlegen.«

Eine Zentnerlast war von Helene abgefallen! Sie trug nicht länger allein schwer an dem Wissen, dass es Klaus im fernen Havanna schlecht ging, ihre Mutter stand an ihrer Seite, und gemeinsam würden sie eine Lösung finden, ihm zu helfen. Fürs Erste wollte Fanny Geld senden und ihm von nun an auch schreiben, um den Kontakt mit ihm zu halten.

Ihr Hammonia-Rad ließ Helene heute im Schuppen und lief leichtfüßig über die Mühlenkampbrücke und von dort in Richtung Fährhaus. Dass der viel beschäftigte Kommissar sich für sie Zeit genommen hatte, ja, dass er mit einem Brief um ein Treffen gebeten hatte, erfüllte Helene mit Stolz und Freude. Kaum hatte sie das Schreiben in den Händen gehalten, gestern, war sie zu Paulina hinübergelaufen, ihrer besten Freundin.

»Rheydt?«, hatte diese verwundert gefragt und die Augenbrauen hochgezogen. »Ist das dein Ernst? Der Kommissar? Ist er nicht ein bisschen … zu verbraucht?«

Verbraucht! Helene reagierte empört. Reif, das war der richtige Begriff. Reif, erfahren, männlich, er stand mitten im Leben, war ein angesehener Beamter, Kommissar in der Hamburger Mordkommission, sein Bild war in allen Zeitungen gewesen, nachdem er Doktor Tergit gestellt hatte. Aber Helene konnte Paulina nicht gram sein. Sie wusste ohnehin, dass sie in puncto Männer und allem, was damit zusammenhing – Ehe, Kinder bekommen, einen Haushalt führen –, vollkommen konträrer Ansicht waren.

Während Paulina einer Ehe mit Franz Hopp entgegensah – einem Menschen, den Helene für einen falschen und niedrigen Charakter hielt – und sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als Ehefrau und Mutter zu sein, die das bürgerliche Heim mit der nötigen Nestwärme ausstattete, strebte Helene nach einer Liebesbeziehung auf Augenhöhe. Dass Kommissar Berthold Rheydt ihr an Jahren, Reife und Erfahrung weit voraus war, störte Helene in ihrer Argumentation kein bisschen. Sie war wissbegierig. Und lernfähig. Sie würde seinen Vorsprung aufholen, so betrachtete sie das. Und ein aufregender Mann in einem ganz und gar nicht langweiligen Beruf hatte eine mächtige Anziehungskraft auf sie.

Außerdem spielte Berthold Fußball! Sie hatte ihn auf dem Spielfeld gesehen, er war stark, er war voller Energie, und er besaß gerade die richtige Portion Scham- und Rücksichtslosigkeit, die Helene so anziehend fand. Dass er dabei ein sensibler Mensch mit Tiefgang war, hatte sie bereits in diversen Situationen erlebt.

Für Helene Curtius stand fest: Berthold Rheydt war der Richtige.

Der Richtige wartete bereits auf sie auf den Stufen des Fährhauses. Als Helene ihn erblickte, gaben ihre Beine unter ihr nach. Du meine Güte, was sah dieser Mensch gut aus! Und er hatte sich herausgeputzt, das hatte sie noch nie zuvor an ihm gesehen. Die Haare waren frisch frisiert, das Kinn glatt rasiert, er trug ein sauberes Hemd mit Binder und nicht, wie sonst, einen knittrigen und geöffneten Hemdkragen.

Außerdem knetete er einen kleinen Strauß Veilchen in seinen Händen. Veilchen! Für sie!

Helene spürte, wie ihr die Hitze in den Kopf schoss, und als sie endlich mit Puddingknien vor ihm stand, ihm in die Augen sah und er ihr, erkannte sie, dass Berthold Rheydt, dieses Bild von einem Mann, mindestens ebenso unsicher war wie sie.

»Wie schön, dass Sie gekommen sind«, begrüßte er sie und hielt ihr ungelenk die Blumen hin.

»Veilchen!«, rief Helene aus und steckte ihre Nase in den Strauß, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

Der Kommissar nahm ihren Arm und führte sie die Treppe hinauf. »Ich habe uns einen Tisch reserviert«, sagte er, »auch wenn Sie mir deutlich zu verstehen gegeben haben, dass Ihnen ein Treffen bei Kaffee und Kuchen zu langweilig ist, dachte ich, das ist erst einmal ein Anfang.«

Helene musste lachen. Ja, in der Tat, als er sie um ein Treffen gebeten hatte, letztens, beim Fußballspiel, hatte sie ihm einen Korb gegeben und ihm klipp und klar gesagt, was sie von ihm erwartete: etwas Spannendes! Dass er sie ins Lichtspielhaus einlud oder ins Varieté. Offenbar hatte er ihrem Wunsch nicht nachkommen wollen.

»Ich finde es schöner, wenn wir uns bei unserem ersten Treffen in die Augen sehen können«, gab er zu seiner Verteidigung an, und als hätte er sich mit seiner Bemerkung zu weit vorgewagt, schob er hinterher: »Damit Sie genau abwägen können, ob Sie sich trauen, beim nächsten Rendezvous mit mir im Dunkeln zu sitzen.«

»Sie haben mein Leben gerettet, Herr Rheydt, mit Ihnen würde ich mich auch im tiefsten Dschungel, am Südpol oder am Meeresboden treffen«, gab sie amüsiert zurück. Und hatte genau registriert, dass er ihr Treffen als Rendezvous bezeichnet und ein nächstes in Aussicht gestellt hatte. Helene war ebenso beeindruckt wie geschmeichelt. Rheydt hielt nicht hinterm Berg damit, dass er Gefallen an ihr gefunden hatte.

Ein Ober führte sie an den reservierten Tisch, ein Plätzchen direkt am Fenster, am Rand, sie hatten einen guten Blick über das Geschehen draußen wie drinnen, saßen selbst aber nicht auf dem Präsentierteller, perfekt.

»Verzeihen Sie, Helene. Ich bin nicht besonders gewandt auf dem Parkett der Konversation.«

»Ich möchte keine Konversation mit Ihnen machen.« Helene hätte am liebsten seine Hand genommen, konnte sich aber im letzten Moment noch zurückhalten. »Es genügt mir vollauf, wenn wir uns unterhalten.«

Er öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber sie gebot ihm Einhalt, indem sie eine Hand hob.

»Nein, warten Sie! Im Gegenteil, ich möchte um keinen Preis Konversation mit Ihnen machen. Ich möchte, dass wir uns austauschen. Wir haben so vieles miteinander erlebt, und doch weiß ich nicht, wer Sie sind.«

Er lächelte. Er lächelte! Berthold Rheydt, der ernste Mann mit den sorgenvollen Augen lächelte sie an, und ihr Herz schlug Purzelbäume.

»Sie wissen alles, was man über mich wissen muss. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, Kriminalkommissar, einen Meter zweiundneunzig groß und spiele Fußball.«

»Sie rauchen Pfeife und geben nicht auf sich acht«, ergänzte Helene. »Sie waren beim Militär, sind auf Föhr geboren und wohnen zur Untermiete.«

»Und Sie haben eine Vorliebe für Sherlock Holmes, wie mir scheint?«

Helene nickte. »Für Sherlock Holmes, aber auch für Arsène Lupin. Ich liebe Detektive und Schauergeschichten.«

Der Kuchen wurde serviert und verschaffte ihnen eine kleine Verschnaufpause.

»Schauergeschichten«, wiederholte Rheydt und nahm ein Stück von seinem gedeckten Apfelkuchen. Die Kuchengabel sah in seinen großen Händen aus, als wäre sie aus dem Puppengeschirr entliehen. »Daran habe ich keinen Bedarf. Und ich werde Ihnen auch keine erzählen, falls Sie sich aus diesem Grund mit mir treffen wollten.« Er sah ihr in die Augen. »Sie haben gerade die schlimmste Schauergeschichte am eigenen Leib erlebt.«

Helene zog es vor, nicht weiter darauf einzugehen. Es genügte vollauf, dass Dr. Tergit sie in ihren Träumen heimsuchte.

»Womit vergnügen Sie sich, wenn Sie nicht gerade arbeiten? Oder Fußball spielen?«, lenkte sie vom Thema ab.

Rheydt dachte nach und sah nach draußen, wo die Außenalster verführerisch glitzerte.

Dann zuckte er ratlos mit den Schultern, zauberte ein kleines Lächeln in seine Mundwinkel und konzentrierte sich auf den Kuchen.

»Sagen Sie bloß …« Helene legte ihre Kuchengabel beiseite. »… Sie vergnügen sich nicht. Sie lesen nicht, Sie gehen niemals ins Theater und gönnen sich auch sonst keine Zerstreuung. Oder wie soll ich es verstehen, dass Sie auf so eine simple Frage keine Antwort finden?«

Jetzt lachte er. »Liebe Helene, die Lektüre von Detektivgeschichten scheint lehrreich zu sein. Sie ziehen die richtigen Schlüsse und setzen mir zu, als würden Sie mich vernehmen.«

»Das tut mir leid. Meine Eltern haben immer schon gesagt, meine Neugier wird mich eines Tages umbringen.«

»So weit wollen wir es um Himmels willen nicht kommen lassen!«

Daraufhin schwiegen sie für eine kleine Weile, es schien Helene, als wären sie zu schnell zu weit vorgeprescht in ihrer Unterhaltung, es war kaum mehr möglich, auf Belanglosigkeiten zu sprechen zu kommen. Doch dann ergriff der Kommissar wieder das Wort.

»Aber es stimmt. Ich arbeite zu viel. Zeit für Vergnügungen nehme ich mir kaum. Der Sport ist mir darum auch wichtig, wichtiger als kulturelle Vergnügungen. Wenn ich auf dem Platz bin, vergesse ich alles um mich herum, auch meine Arbeit. Das tut mir gut.«

»Ich sehe schon …« Helene schob ihren leeren Teller von sich. »… es gibt da noch einiges, das ich Ihnen beibringen kann.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin gespannt, Fräulein Curtius. Und was erwarten Sie von mir? Soll ich Ihnen auch etwas beibringen, oder möchten Sie Schauergeschichten von mir hören?«

»Weder noch«, gab sie zurück. »Ich möchte Zeit mit Ihnen verbringen. Und Sie kennenlernen.«

Woher nahm sie nur die Chuzpe, auf diese Weise mit ihm zu reden? Einem Mann, der ihr an Jahren und Lebenserfahrung so viel voraus war?, fragte sich Helene, während die Worte aus ihr herauspurzelten. Sie dachte nicht darüber nach, was schicklich war, was sich gehörte, vergaß die Regeln der Konversation, die man ihr von Kindesbeinen an eingebläut hatte. Hätte sie nicht einfach über das Wetter und die Schwäne oder die Südpolexpedition reden können? Dem Mann zuhören und ihn nicht unterbrechen, so gehörte es sich. Aber sie war vorschnell und trug ihr Herz auf der Zunge, sie konnte sich nicht bremsen. Ob sie Berthold Rheydt überforderte? Sie musterte ihn.

»Dann lernen wir uns kennen«, antwortete er ihr und deutete auf den Bootsverleih draußen, neben dem Steg des Fährhauses.

»Wagen Sie sich mit mir aufs Wasser?«

Rheydt legte sich in die Riemen, er ruderte mit Kraft – aber nicht mit Technik. Helene konnte kaum hinsehen, ihr lagen die Worte ihrer Rudertrainerin auf der Zunge, mit der diese die Mädchen piesackte. Aber sie schaffte es, sich jeglichen Kommentar zu verbeißen, zumal der Kommissar einen ausgesprochen reizvollen Anblick bot, wie er vor ihr im Bug des hölzernen Bootes saß, hemdsärmelig, Jackett und Hut hatte er abgelegt. Seine vorhin noch ordentlich frisierten Haare hingen ihm wieder in die Augen, auf der Stirn stand Schweiß. Obwohl es fast schon früher Abend war und der Wonnemonat Mai gerade erst begonnen hatte, wärmte die Sonne bereits mit Kraft. Helene, die alle Kanäle Hamburgs, dem Venedig des Nordens, in- und auswendig kannte, dirigierte den Kommissar in Richtung Winterhude. Sie wusste, dass es dort eine schöne Uferstelle gab, kaum frequentiert von Spaziergängern oder anderen Wassersportlern, wo sie eine kleine Pause einlegen konnten. Durch den Schilfgürtel führte eine schmale Schneise zu einem flachen Rasenstück am Ufer, umgeben von Rosenhecken und Trauerweiden, wo sie geschützt vor den Blicken anderer rasten konnten.

Als sie die richtige Stelle des Kanals erreicht hatten, bat Helene Berthold darum, ihr eines der Ruder zu reichen.

»Hier müssen wir durch«, erklärte sie und zeigte auf die Stelle, wo das Schilf sich öffnete. »Wir müssen staken, mit rudern kommt man da nicht weit.«

»Sagen Sie bloß, Sie kennen sich hier aus?«

»Ich rudere, seit ich acht bin«, erklärte Helene stolz. »Bei der Germania. Ich kenne jeden Kanal in Hamburg.«

Gemeinsam stakten sie vorsichtig durch das Schilf, Stockenten flatterten empört empor, dann stieß das Boot an den flachen Uferbereich. Der Kommissar sprang heraus, zog es weiter auf den Kies und half Helene auszusteigen.

»Wo sind wir hier?«, erkundigte er sich, während er sein Jackett auf der feuchten Wiese für sie ausbreitete.

»Osterbeckkanal«, antworte Helene und setzte sich.

Berthold Rheydt nahm neben ihr Platz, rutschte allerdings auf den äußersten Rand des Stoffes, auf dem sie saßen, um zwischen ihnen schicklichen Abstand zu wahren.

Helene ließ sich nach hintenüberfallen und blickte in den blauen Himmel.

»Gestern bin ich großjährig geworden«, sagte sie.

Er fuhr überrascht herum. »Tatsächlich? Herzlichen Glückwunsch! Warum haben Sie nicht früher etwas gesagt? Dann hätten wir darauf anstoßen können.«

»Das können wir immer noch.« Helene sah ihn an. Er saß neben ihr, sie sah seinen leicht gebeugten Rücken, die Weste, seine breiten Schultern unter dem weißen Hemd. Sah die dunklen Haare auf den Unterarmen, den leichten Schweißfilm im Nacken. Roch seinen charakteristischen Duft, den er ausströmte, von Tabak, Seife, Schweiß. Wie sehr wünschte sie sich, diesen Geruch in ein kleines Fläschchen zu bannen, das sie am Abend, wenn sie allein in ihrem Bett lag, öffnen und ihn einsaugen konnte, um sich Berthold Rheydt nahe zu fühlen.

Der Kommissar sah über seine Schulter zu ihr. Er nahm den Blick nicht von ihrem Gesicht, und plötzlich floss die Zeit zäh wie flüssiges Blei, die Geräusche um Helene herum verstummten, das Blau des Himmels verschwand, weil sie in das Blau seiner Augen eintauchte. Noch nie zuvor war sie ihm so nah gewesen, war verbunden mit ihm und eins.

»Sie haben einen Wunsch frei«, sagte er, seine Stimme brüchig.

Helene musste nicht lange überlegen. »Einen Kuss«, gab sie zurück und schloss die Augen.

3.

Einen Kuss also. Nichts lieber wollte Berthold in dem Moment, als das junge Mädchen küssen, das neben ihm lag, hingestreckt, die Augen geschlossen, voller Erwartung.

Aber er kam ihrer Bitte nicht nach. Stattdessen fasste er ihre Hand, führte sie an seine Lippen und küsste sie sanft. Helene öffnete daraufhin die Augen, und ihr Blick war überrascht, enttäuscht und doch voller Zärtlichkeit.

Wann war er zuletzt von einer Frau mit einem solchen Blick bedacht worden? Elisabeth hatte ihn schon lange vor ihrem Tod nicht mehr auf diese Weise angesehen.

Verliebt.

Die Erkenntnis versetzte Berthold einen Stich, aber gleichzeitig spürte er, wie ihn der Blick Helenes im Innersten traf, ihn erwärmte, sein Herz zum Leuchten brachte. Wie sehr sehnte er sich danach, wieder und wieder auf diese Weise angesehen zu werden.

Jetzt legte er sich neben sie, stützte sich auf einen Arm und führte ihre Hand, die er noch immer hielt, an seine Wange. Warm, zärtlich, sanft – Haut an Haut. Wie gut das tat. Wie hatte er je vergessen können, wie sich das anfühlte? Wie viel Stärke und Zuversicht es ihm gab und wie verletzlich es ihn gleichzeitig machte?

Berthold hätte ewig so bleiben mögen, er sehnte sich in diesem Moment nicht nach mehr, aber er wollte nie wieder weniger als das. Zweisamkeit.

Das war keineswegs geplant, als er Helene Curtius geschrieben und um ein Treffen gebeten hatte. Vor ein paar Tagen, als sie überraschend bei einem Fußballspiel aufgetaucht war, hatte er einer spontanen Gefühlsaufwallung nachgegeben. Die Frage, ob sie sich mit ihm zum Spazierengehen treffen wolle, war aus ihm herausgebrochen, und dann stand er in der Pflicht, konnte seine Worte nicht ungesagt machen. Also hatte er ihr geschrieben. Nichts hatte er sich davon versprochen – denn was hatte er einer jungen Frau aus gutem Haus zu bieten? Außer einem gebrochenen Herzen und einem Beruf, der ihm Albträume bereitete?

Bevor er zu seiner Verabredung am Uhlenhorster Fährhaus aufgebrochen war, hatte er sich fest vorgenommen, Helene keine Aussicht auf romantische Gefühle zu machen. Es sollte bei diesem einen Treffen bleiben, schwor er bei sich.

Als er, nach Seife duftend, mit frisch gestutzten Haaren, das Haus seiner Vermieterin verließ, der Admiralswitwe Petersen, hatte diese sofort gewittert, dass er zu einem Rendezvous ging. Obwohl er alles dafür tat, seinen Aufzug herunterzuspielen, und betonte, dass er sich lediglich mit der Frau traf, deren Leben er auf der Pennsylvania gerettet hatte, machte Frau Petersen aus ihrem Herzen keine Mördergrube.

»Ach was, Herr Rheydt! Einer alten Frau wie mir können Sie doch nichts vormachen. Ihre Ohren werden ganz rot!«

Beschämt und verärgert zugleich hatte er festgestellt, dass sie recht hatte. Herrgott noch mal! Er war ein gestandener Mann, der bei der Marine gedient hatte und nun in Diensten der Polizei des Kaisers stand, er fing Verbrecher und hatte alle möglichen Abscheulichkeiten gesehen – da würde er doch nicht vor einem Treffen mit Helene Curtius heiße Ohren bekommen wie ein Schuljunge!

Aber nun saß er hier und musste sich eingestehen, dass er sich wohl etwas vorgemacht hatte. Er war nicht nur ein harter Hund, sondern hatte sich selbst nach der Tragödie mit Frau und Sohn einen weichen Kern bewahrt. Und diese Frau, deren Pulsschlag er nun ertasten konnte, die ihn einhüllte mit ihrem Geruch von Mandeln, frischer Wäsche und Maiglöckchen, die ihre Augen auf ihn richtete und mit deren leuchtend grünem Strahl sein Herz durchbohrte, diese Frau schlug genau diese Saite in ihm an.

Lange blieben sie so, Berthold hielt Helenes Hand, sie lauschten den Vögeln in der Rosenhecke, atmeten im Gleichklang und schwiegen. Erst als Berthold die Kälte des Bodens spürte, mahnte er zum Aufbruch. Gemeinsam stakten sie das Boot aus der Uferzone, und dann setzte sich Helene neben ihn auf die Bank. Jeder nahm ein Ruder, sie wies ihn an, sich nach ihrem Rhythmus zu richten, und zeigte ihm, mit welcher Technik er kräfteschonend und effektiv zugleich ruderte.

Als sie den Bootsverleih erreichten, war die Sonne beinahe zur Gänze hinter Harvestehude versunken. Berthold bot Helene seinen Arm an, sie hakte sich ein, und Seite an Seite schlenderten sie in die Körnerstraße, zum Haus der Familie Curtius. Die junge Frau erzählte von ihren Plänen – in wenigen Tagen würde sie ihr Lehrerinnenseminar abgeschlossen haben und nach den Sommerferien eine Vertretungsstelle an einer Grundschule übernehmen. Danach wollte sie sehen, was das Leben an Überraschungen und Abenteuern für sie bereithielt.

Sie erzählte lebhaft und mit Begeisterung, besaß Charme und Humor, und während er neben ihr lief und ihr lauschte, fragte Berthold sich, ob er sich vorstellen konnte, ein Leben zu führen, das ihm erlaubte, mit ihr einen Haushalt zu bilden, eine Familie zu gründen.

Die ehrliche Antwort war: nein. Sosehr er ihre Gegenwart genoss, aber ein Blick in eine gemeinsame Zukunft war ihm nicht vergönnt. Es gelang ihm nicht, sich ein Leben vorzustellen, das er schon einmal geführt hatte und das auf so tragische Weise zu Ende gegangen war.

Schaute Berthold Rheydt in seine Zukunft, blickte er in einen Abgrund, in dem er niemanden mit hinabreißen wollte. Das hatte Helene nicht verdient.

Sie erreichten die prunkvolle Bürgervilla und blieben vor dem Gartentor stehen.

»Ich danke Ihnen für die wundervollen Stunden, die Sie mir beschert haben«, sagte Berthold und meinte es genauso.

»Ich danke Ihnen«, gab Helene zurück, sah ihn an und wurde rot – das war sogar beim gelblichen Schein der Gaslampe zu sehen.

»Oh, wie furchtbar, ich werde rot!«, rief sie aus und lachte. »Sie sind ein schrecklicher Mann, Berthold, Sie bringen mich in Verlegenheit.«

»Das liegt nicht in meiner Absicht, verzeihen Sie.« Er hatte einen Kloß im Hals. »Auf Wiedersehen! Und gute Nacht!«

»So wollen Sie gehen? Sie schicken mich ins Bett ohne Hoffnung auf ein nächstes Treffen?«

Berthold sah Helene an und musste lächeln. Sie war so anders als die meisten Frauen, sie war nicht auf den Mund gefallen und auch nicht auf den Kopf, sie dachte ebenso schnell, wie sie sprach, und sie nahm wahrlich kein Blatt vor den Mund. Frech ein Wiederholungstreffen einzufordern, anstatt sittsam zu warten, bis er sie darum fragte, war typisch für sie, und es gefiel ihm.

»Ich glaube, das wäre nicht ratsam«, antwortete er, und als er die Enttäuschung in ihren Augen sah, fügte er hinzu: »Es liegt nicht an Ihnen, Helene! Auch nicht daran, dass ich unseren Nachmittag nicht genossen hätte. Ganz im Gegenteil. Es war wunderschön.« Er fasste erneut nach ihrer Hand. »Sie sind eine wundervolle Frau, Helene. Sie haben Besseres verdient als mich.«

Die junge Frau entzog ihm ihre Hand. »Wollen Sie mich ernsthaft beleidigen, Herr Kommissar?«

Sie trat sogar einen Schritt von ihm zurück, offenbar hatte er sie verärgert, aber Berthold verstand nicht, wodurch.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie vor den Kopf gestoßen habe, Helene. Das war nicht meine Absicht, bitte verstehen Sie …«

»Nein«, unterbrach sie ihn brüsk. »Sie müssen verstehen. Ich habe einen Kopf, und ich habe ein Herz. Und ich entscheide eigenständig, was ich denke und fühle.«

Damit wollte sie ihn stehen lassen, drehte sich um und öffnete das Gartentor. Im letzten Moment fasste er sie am Arm – vorsichtig, sie sollte nicht den Eindruck haben, er wolle sie daran hindern, ins Haus zu gelangen.

»Ich war schon einmal verheiratet«, sagte er, und kaum waren die Worte seinem Mund entwichen, wollte er sie ungeschehen machen. Aber jetzt gab es kein Zurück.

»Gehen wir noch ein wenig«, schlug Helene vor, nachdem sie einige Sekunden gebraucht hatte, um sich zu sammeln.

Erneut bot Berthold ihr seinen Arm, und zu seiner Erleichterung hakte sie sich unter. Er hatte es also noch nicht gänzlich vermasselt.

Er erzählte. Von Föhr und von seiner Frau Elisabeth. Wie es war, als sein Sohn Willem geboren wurde. Von ihrer Ehe, seiner Familie – und dem furchtbaren Ende. Er hatte beide im Watt verloren. Es überraschte ihn, wie leicht er die Worte über die Lippen brachte, noch niemals zuvor hatte er einem anderen Menschen von der Tragödie seines Lebens erzählt. Helene fragte nicht. Sie hörte zu, gefasst, aber als das Ende kam, drückte sie sich enger an ihn. Unversehens hatten sie ihre Schritte wieder zur Alster gelenkt, sie standen nun an der Fernsicht, blickten zu Bellevue und den gegenüberliegenden Sophienterrassen. Dort, wo Anne Fitzpatrick gelegen hatte, erinnerte sich Berthold, in ihrem goldenen Abendkleid, zum Sterben dort abgelegt. In dieser Nacht im November hatte er zum ersten Mal gespürt, dass er Gefühle für Helene Curtius hatte, Gefühle, die er seitdem unterdrückt hatte.

Sie schwiegen, nun, da er seine Geschichte beendet hatte. Berthold war dankbar dafür. Die Frau neben ihm war klug und einfühlsam, sie fragte nicht, drang nicht in ihn, wollte keine peinigenden Details. Und sie verschonte ihn mit Mitleid.

»Wie lange ist das her?«, brach Helene schließlich das Schweigen.

»Fünf Jahre«, gab er zurück.

Sie nickte, dann fuhr sie herum und sah ihn an. »Und Sie denken, dass Ihnen kein Leben mehr vergönnt ist? Sie sind zweiunddreißig, Berthold. So viele Jahre liegen vor Ihnen. Wollen Sie diese in Trauer und Einsamkeit verbringen?«

Berthold zog es vor, darauf nicht zu antworten. Stattdessen lenkte er seine Schritte, mit Helene an seiner Seite, wieder zurück in Richtung ihres Elternhauses.

»Ich treffe selbst eine Wahl, Berthold Rheydt«, sagte Helene Curtius, als sie vor der Villa der Familie angekommen waren. »Und die ist nun mal auf Sie gefallen.«

Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und lief die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf. Dort drehte sie sich um, warf ihm einen langen Blick zu und lächelte. Und verschwand sodann hinter der Tür.

Geschickt hatte sie ihm das Ruder aus der Hand genommen. Nun musste er sehen, wie er damit umging.

Nachdenklich, aber nicht nur das, auch tief bewegt und ja, mit leichtem Herzen lief Berthold zurück in die Stadt.

»Sind Sie gar nicht im Hafen?«, wurde Berthold Rheydt auf der Wache im Präsidium begrüßt.

Eigentlich hatte er vorgehabt, sich direkt zu einer Trambahn zu begeben und damit nach Hause zu fahren, in die schöne Villa an der Flottbeker Chaussee, in welcher er das obere Geschoss gemietet hatte. Aber nicht immer gehorchten seine Füße seinem Kopf, und so kam es, dass er am Stadthaus vorbeilief. Ein Blick hinüber, dorthin, wo seine Kollegen nächtliche Wache schoben, und der Kommissar kam nicht umhin, einen kleinen Schlenker ins Präsidium zu machen. Nur mal nach dem Rechten sehen, sagte er sich.

Der Wachhabende blickte ihn jetzt überrascht an. »Alle sind jetzt unten. Brenner hat Inspektor Paulmann verständigt, als die Meldung reinkam.«

»Welche Meldung?« Als hätte er eine Ahnung gehabt, sagte sich Berthold. Vielleicht war es doch kein Zufall gewesen, dass er hier aufgeschlagen war.

»Leichenfund.«

»Wo genau?«

»Kaispeicher A.«

Kommissar Berthold Rheydt drehte auf dem Absatz um und verließ das Präsidium. Was scherte ihn ein freier Abend, wenn es Arbeit gab? Die überaus willkommene Ablenkung von seinen Gedanken um Helene und wie er sich ihr gegenüber weiterhin verhalten solle. Im Laufschritt passierte er die Altstadt und hatte keine zehn Minuten später die Niederbaumbrücke erreicht.

Er war am Hafen.

An keinem anderen Ort fühlte Berthold Rheydt die Sehnsucht, wieder zur See zu fahren, so stark wie hier. Der Hamburger Hafen war der viertgrößte der Welt, und konnte man in den engen Gassen des Verbrecherviertels oder in den Alleen Harvestehudes noch glauben, man befinde sich in der Enge einer Kleinstadt, so musste man diese Vorstellung angesichts des stetig wachsenden Hafenmolochs über Bord werfen. Der Hafen glich einem pulsierenden und alles verschlingenden Organismus. Seine unzähligen Kais und Kanäle, das Labyrinth der Brücken und Schuppen, der Werften und Speicher, die Verschiedenheit der Schiffe, die hier vertäut lagen – vom imposanten Viermaster über die Transatlantikdampfer bis zum Fischkutter und der nussschalengleichen Barkasse, gab es jede Form von Schiffen zu bewundern. Jachten, Segler, alte Teeklipper, flache Lastkähne – alle fanden sie hier ein Zuhause.

Der Hafen schlief nie, auch jetzt um diese späte Stunde konnte der Kommissar die Schläge von Eisen auf Eisen von den fernen Werften vernehmen. Das Ächzen der hölzernen Kräne, deren Arme von Schiff zu Kai schwenkten. Die Lieder der Seemänner und Arbeiter aus aller Welt, die Ladungen löschten oder Schiffe zum Auslaufen klarmachten, die betrunken an den Prostituierten am Sandtorkai vorbeitorkelten, um sich die zu suchen, die dem Bild ihrer geliebten Frau zu Hause am meisten entsprach.

Und erst die Gerüche! Taue und Seile, die rochen wie feuchtes, muffiges Gras. Pech und Werg, mit dem die Nähte in den Planken der Decks geflickt wurden, stachen ebenso in der Nase wie der brenzlige Geruch, der vom Köhlbrand herüberwehte. Nordwestwind brachte frische Seeluft; kam die Brise von Land, stank sie nach fauligem Wasser und den vermieften Gassen der Altstadt.

Aber auch die Düfte der Waren, die hier umgeschlagen wurden, mischten sich in das Parfüm des Hafens. Der Duft süßer und halb vergorener Früchte. Tee, Kakao, Kaffee und Leder. Kühe, Ziegen und Schweine hinterließen ihre olfaktorische Spur ebenso wie das Bouquet der Blumen, deren Kelche sich am Morgen auf dem Markt öffnen würden.

All das hörte, sah und roch Berthold Rheydt jetzt, am späten Abend, während er sich auf die Suche nach einem Boot der Hafenpolizei machte, das ihn von der Kehrwiederspitze zum Kaiserhöft übersetzen würde.

Der Kaispeicher A – auch Kaiserspeicher genannt – war das mächtigste Gebäude des Hafens, sein Wahrzeichen und nautischer sowie mit seinem Zeitball auf der Turmspitze auch chronometrischer Orientierungspunkt aller Schiffe, die hier einliefen. Gleichzeitig beherbergte der Kaispeicher auf seinen Etagen Kostbarkeiten aus aller Welt. Ob es Teppiche oder Gewürze, Wein oder Stoffe waren – hier lagerte der Reichtum der Hamburger Geschäftsleute. Wenn im Kaispeicher eine Leiche gefunden wurde, war der Polizei die Aufmerksamkeit der Stadt gewiss. Sicher war auch dies ein Grund für Willy Brenner gewesen, den Vorgesetzten von Berthold Rheydt zu alarmieren. Christian Paulmann, der Inspektor, hatte es eigentlich nicht mehr nötig, sich am Abend oder am Wochenende zu einem Tatort zu begeben, dafür hatte er seine Kommissare wie Berthold.

Der flache Kahn der Hafenpolizei kam in Sicht, Berthold machte sich bemerkbar.

»Ihre Leute sind alle schon vor Ort«, informierte ihn einer der beiden Hafenpolizisten. »Ein toter Chinese. Mal wieder.«

Berthold verkniff sich einen Kommentar über den Tonfall des Kollegen. Ein toter Chinese war für ihn ebenso viel wert wie jeder andere tote Mensch. Die landläufige Auffassung schien dies aber nicht zu sein, besonders hier, im Hafen. Die Chinesen, von denen in den letzten Jahren mehr und mehr nach Hamburg kamen, waren für die meisten Hamburger Menschen zweiter Klasse. Arbeitsvieh. Einer wie der andere. Ihre Bordelle und Spielhöhlen allerdings besuchten sie trotzdem gerne.

Tatsächlich waren unter den Verletzten und Toten der vergangenen Monate immer wieder Chinesen, das lag nach Meinung der Kriminalpolizei jedoch daran, dass es immer mehr von ihnen in die Hansestadt zog, und so, wie sie im Straßenbild häufiger auftauchten, kamen sie nun auch in den Opferzahlen vor.

Die Hamburger Reeder trugen die Verantwortung für die »Schlitzaugen«, wie sie häufig respektlos genannt wurden, die es von den chinesischen Provinzen in die Hansestadt zog, denn diese hatten geschäftstüchtig festgestellt, dass die Männer noch weit leidensfähiger und anspruchsloser als deutsche Arbeiter waren. Auf ihren Schiffen setzten sie sie vor allem für die körperlich besonders belastenden Arbeiten ein, als Heizer oder Kohlenzieher.

Sie hatten Kaiserhöft erreicht, und Berthold sprang mit einem Satz an den Kai. Ein Eingang des riesigen Speichers war hell erleuchtet, er erkannte an der Silhouette mit der Pickelhaube, dass ein Kollege dort Wache schob.

»Vierte Etage«, gab ihm dieser knapp zu verstehen, als der Kommissar vor ihm stand.

Das Innere des Speichers war nur spärlich beleuchtet, wenige Petroleumlampen wiesen Berthold den Weg. Im Schatten der hohen Halle im Erdgeschoss erkannte er die Umrisse langer Regalreihen, Regale, die mehrere Meter hoch an die Decke ragten. Darauf lagerten Säcke und Kisten, inmitten der Gänge erkannte er Tische und Waagen für den Warenumschlag. Es roch nach Kaffee, Kakao und Papier. Am Ende der großen Halle führten Treppen in die vier weiteren Etagen, und Berthold hätte sich niemals in dem Gewirr der Gänge und Waren zurechtgefunden, wenn ihm der Schupo nicht den Weg genau beschrieben hätte.

Als er die dritte Etage erreicht hatte, hörte er bereits das Gewirr von Stimmen, auch leuchtete von oben helleres Licht.

Die Szenerie, die ihn erwartete, erinnerte Berthold an Bilder, wie Rembrandt sie gemalt hatte. Die Decke des vierten und obersten Geschosses war weniger hoch als die der Halle unten, doch auch hier bestimmten hohe Regale, vollgepackt mit Waren aller Art, den düsteren Anblick. Inmitten eines der Gänge jedoch, umgeben von dunklen Holzfässern, war es beinahe taghell. Schon von Weitem erkannte der Kommissar das Leiterstativ des Polizeifotografen Schultheiß, dessen Magnesiumblitz in der Sekunde die Umgebung taghell erleuchtete. Bäuerlein, der Physicus, war ebenso anwesend wie Willy Brenner, der junge Schupo, der zum Team Bertholds gehörte. Ein paar weitere Männer, die Berthold nicht kannte, aber mittendrin schob sich unverkennbar die kugelrunde Gestalt des Inspektors Christian Paulmann, der Schneemann genannt, ins Bild. Er stand neben einem Fass – und daneben auf dem Boden lag ein Bündel, über das sich Bäuerlein beugte.

Der Inspektor blickte kurz auf, als Berthold in den Lichtschein der Karbidlampen trat, die man aufgestellt hatte, um den Fundort auszuleuchten.

»Rheydt, wie gut, dass man Sie erwischt hat.« Paulmann zeigte auf das Bündel am Boden. Berthold unterließ es, darauf hinzuweisen, dass er nur durch Zufall an seinem freien Abend den Weg hierher gefunden hatte, sondern richtete seinen Blick stattdessen auf den leblosen Menschen am Boden.

Ein Chinese, der Hafenpolizist sollte recht behalten. Der Tote bot einen grauenhaften Anblick. Er war dürr wie ein Skelett, seine Figur unnatürlich zusammengekrümmt, und es wirkte, als wäre er schon so lange tot, dass er aussah wie mumifiziert.

»Er war dort drin«, erklärte Paulmann und klopfte gegen das Holzfass. »Die beiden hier haben ihn gefunden.«

Berthold blickte auf. Zwei Arbeiter standen wenige Meter abseits und blickten verstört auf das, was um sie herum geschah.