Die Hafenärztin. Band 1-3 als exklusive Sonderausgabe - Henrike Engel - E-Book
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Die Hafenärztin. Band 1-3 als exklusive Sonderausgabe E-Book

Henrike Engel

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Beschreibung

Die ersten drei Hafenärztin-Bände der Spiegel-Bestsellerautorin Henrike Engel in einem E-Bundle zum attraktiven Sonderpreis. Band 1 - Die Hafenärztin kämpft gegen alle Widerstände für die Rechte der Frauen Hamburger Hafen, 1910: Anne Fitzpatrick ist voller Hoffnung. Als eine der ersten Ärztinnen Deutschlands hat sie gerade ein Frauenhaus eröffnet. Ihre Mission ist es, Frauen zu helfen, denen Leid zugefügt wurde. Als die couragierte Pastorentochter Helene bei ihr auftaucht und mitarbeiten will, unterstützt Anne die junge Frau in ihrem Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun. Da werden neben dem Frauenhaus im Hafenbecken zwei Leichen entdeckt. Anne ist erschüttert. Die Opfer hatten Kontakt zur neuen Frauenbewegung, so wie Anne selbst auch. Die Polizei spielt den Vorfall jedoch als Mord im Milieu herunter. Aber warum ermittelt der wortkarge Kommissar Berthold Rheydt trotzdem weiter? Zusammen mit Helene sucht Anne nach Antworten und gerät dabei in immer größere Gefahr. Band 2 - Die Hafenärztin wacht über die Kinder am Hamburger Hafen Hamburg, 1911: In Deutschlands größtem Auswandererhafen kümmern sich die Ärztin Anne Fitzpatrick und die angehende Pädagogin Helene Curtius um Familien. Anne und Helene sorgen sich vor allem um die Kinder, von denen viele traumatische Erfahrungen gemacht haben. Plötzlich häufen sich unter den Ärmsten unerklärliche Todesfälle. Kommissar Berthold Rheydt sieht sich die Sache genauer an und stellt fest: Die Opfer wurden vergiftet. Wer hat ein Interesse daran, die Menschen scheinbar wahllos zu töten? Als die drei auf ein toxisches Interessensgeflecht stoßen, begreifen sie: An dem Geschäft mit den Auswanderern lässt sich eine Menge Geld verdienen … Band 3 - Die Hafenärztin setzt sich für unterdrückte Arbeiterinnen aus den Kolonien ein Hamburger Hafen, 1911: Anne Fitzpatrick behandelt in ihrer Arztpraxis am Hafen immer häufiger chinesische Frauen, die in den Kolonien als Arbeitskräfte angeworben wurden. Als eine der Frauen vor Annes Augen stirbt, schwört die Hafenärztin, die Verantwortlichen zu finden. Zusammen mit Kommissar Berthold Rheydt fängt sie an, im Chinesenviertel auf Sankt Pauli nachzuforschen. Der Kommissar glaubt, die mörderische Handschrift eines Erzfeindes zu erkennen. Sein Herz jedoch ist nicht ganz bei der Sache – er hat Helene Curtius seine Liebe erklärt. Doch auch Helene kämpft an mehreren Fronten um das Heil misshandelter Frauen. Während Anne sich zunehmend in große Gefahr begibt, macht Rheydt einen Schritt, der sein Leben und das von Helene für immer verändert. Lassen Sie den Alltag hinter sich und tauchen Sie ein in die Kaiserzeit Hamburgs und in das Leben einer außergewöhnlichen Frau. Die ganze Serie um die Hamburger Hafenärztin: Band 1: Die Hafenärztin. Ein Leben für Freiheit der Frauen Band 2: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Lachen der Kinder Band 3: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe Band 4: Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen

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Die Hafenärztin. Band 1-3 als exklusive Sonderausgabe

Henrike Engel pendelte in ihrem Leben ständig zwischen Berlin und München, mit beiden Städten verbindet sie eine komplizierte Liebesbeziehung. Eines aber ist konstant geblieben: ihre Liebe zu Hamburg! Manche Träume jedoch müssen unerfüllt bleiben, und so hat die ehemalige Drehbuchautorin nicht ihren Wohnort in die Hafenstadt verlegt, sondern träumt sich lieber schreibend dorthin.

Die ersten drei Hafenärztin-Bände der Spiegel-Bestsellerautorin Henrike Engel in einem E-Bundle zum attraktiven Sonderpreis.

Band 1 - Die Hafenärztin kämpft gegen alle Widerstände für die Rechte der Frauen

Hamburger Hafen, 1910: Anne Fitzpatrick ist voller Hoffnung. Als eine der ersten Ärztinnen Deutschlands hat sie gerade ein Frauenhaus eröffnet. Ihre Mission ist es, Frauen zu helfen, denen Leid zugefügt wurde. Als die couragierte Pastorentochter Helene bei ihr auftaucht und mitarbeiten will, unterstützt Anne die junge Frau in ihrem Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun. Da werden neben dem Frauenhaus im Hafenbecken zwei Leichen entdeckt. Anne ist erschüttert. Die Opfer hatten Kontakt zur neuen Frauenbewegung, so wie Anne selbst auch. Die Polizei spielt den Vorfall jedoch als Mord im Milieu herunter. Aber warum ermittelt der wortkarge Kommissar Berthold Rheydt trotzdem weiter? Zusammen mit Helene sucht Anne nach Antworten und gerät dabei in immer größere Gefahr.

Band 2 - Die Hafenärztin wacht über die Kinder am Hamburger Hafen

Hamburg, 1911: In Deutschlands größtem Auswandererhafen kümmern sich die Ärztin Anne Fitzpatrick und die angehende Pädagogin Helene Curtius um Familien. Anne und Helene sorgen sich vor allem um die Kinder, von denen viele traumatische Erfahrungen gemacht haben. Plötzlich häufen sich unter den Ärmsten unerklärliche Todesfälle. Kommissar Berthold Rheydt sieht sich die Sache genauer an und stellt fest: Die Opfer wurden vergiftet. Wer hat ein Interesse daran, die Menschen scheinbar wahllos zu töten? Als die drei auf ein toxisches Interessensgeflecht stoßen, begreifen sie: An dem Geschäft mit den Auswanderern lässt sich eine Menge Geld verdienen …

Band 3 - Die Hafenärztin setzt sich für unterdrückte Arbeiterinnen aus den Kolonien ein

Hamburger Hafen, 1911: Anne Fitzpatrick behandelt in ihrer Arztpraxis am Hafen immer häufiger chinesische Frauen, die in den Kolonien als Arbeitskräfte angeworben wurden. Als eine der Frauen vor Annes Augen stirbt, schwört die Hafenärztin, die Verantwortlichen zu finden. Zusammen mit Kommissar Berthold Rheydt fängt sie an, im Chinesenviertel auf Sankt Pauli nachzuforschen. Der Kommissar glaubt, die mörderische Handschrift eines Erzfeindes zu erkennen. Sein Herz jedoch ist nicht ganz bei der Sache – er hat Helene Curtius seine Liebe erklärt. Doch auch Helene kämpft an mehreren Fronten um das Heil misshandelter Frauen. Während Anne sich zunehmend in große Gefahr begibt, macht Rheydt einen Schritt, der sein Leben und das von Helene für immer verändert.

Lassen Sie den Alltag hinter sich und tauchen Sie ein in die Kaiserzeit Hamburgs und in das Leben einer außergewöhnlichen Frau.

Die ganze Serie um die Hamburger Hafenärztin:

Band 1: Die Hafenärztin. Ein Leben für Freiheit der Frauen

Band 2: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Lachen der Kinder

Band 3: Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe

Band 4: Die Hafenärztin. Ein Leben für die Hoffnung der Menschen

Henrike Engel

Die Hafenärztin. Band 1-3 als exklusive Sonderausgabe

Ullstein

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Sonderausgabe im Ullstein Taschenbuch Dezember 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023

Die Hafenärztin. Ein Leben für die Freiheit der Frauen: 

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Arcangel Images/Ildiko Neer © Ildiko Neer (Frau); akg-images (Hamburg)

 Ein Leben für das Glück der Kinder:

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Arcangel Images/Ildiko Neer © Ildiko Neer (Frau); akg-images (Hamburg)

Ein Leben für das Recht auf Liebe:

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: ©Richard Jenkins (Frau);  akg-images (Hamburg)

Autorinnenfoto: © Quirin LeppertE-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3200-0

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Die Hafenärztin. Ein Leben für die Freiheit der Frauen

Neues Jahr, neues Glück

Zwei Schritte voran – einer zurück

1.

2.

3.

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35.

Neues Leben, erste Schritte

Die Hafenärztin. Ein Leben für das Glück der Kinder

Was auf den Winter folgt

1.

2.

3.

4.

5.

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33.

34.

35.

36.

37.

Der Himmel klart auf

Und noch ein Wort

Die Hafenärztin. Ein Leben für das Recht auf Liebe

Chinesisches Meer

Ende und Anfang, Abschied und Aufbruch

1.

Frühling lässt sein blaues Band …

2.

3.

In der Hitze des Sommers

4.

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6.

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34.

35.

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37.

38.

39.

40.

41.

Im Licht der Wahrheit

43.

Nachbemerkung

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Die Hafenärztin. Ein Leben für die Freiheit der Frauen

Die Hafenärztin. Ein Leben für die Freiheit der Frauen

Neues Jahr, neues Glück

Am frühen Morgen des 2. Januar 1910 auf der Elbe

Ihre Finger umschlossen die Reling, krampften sich mehr und mehr um das Holz, je näher sie dem Hafen kamen. Anne kannte jede Biegung der Elbmündung, wie oft war sie hier mit ihrem Vater gesegelt, als sie noch ein Kind war. Glückstadt, die Elbinseln Schwarztonnensand, Pagensand und Bishorster Sand, schließlich Wedel und Neßsand. Erkennen konnte sie davon kaum etwas, der dichte Morgennebel offenbarte die Uferlandschaften nur schemenhaft. Gerade passierte der Großsegler die Insel Finkenwerder, Anne erkannte die Silhouette der Sommerhäuschen, die sich vage abzeichnete wie ein Schattenspiel hinter Gaze. Der Nebel nahm nicht nur die Sicht, er verschluckte auch alle Geräusche, lediglich die Wellen, die an den Bug des Schiffes rollten, das Knarren der Rahen und vereinzeltes leises Klirren frostgefrorener Taue gegen den Schiffsmast waren zu hören. Wie auf einem Geisterschiff glitten sie nahezu lautlos und unsichtbar durch den Nebel und näherten sich Hamburg.

Anne löste sich aus der Erstarrung, wollte die Hände von der Reling nehmen, doch ihre hauchdünnen Lederhandschuhe hingen am Eis, das das polierte Holz überzog, an der rechten Hand blieb ein Loch zurück. Auf ihren Lippen lag ein Fluch, aber sie kontrollierte sich und unterdrückte ihn, obwohl kein Mensch an Deck zu sehen war. Denn der Eindruck trog, die anderen waren ebenso unsichtbar wie sie, vom Morgennebel verschluckt. Gestern Abend war die Dreimastbark in London ausgelaufen, mit Fracht aus den Kolonien, nicht mit Reisenden, Annes Vater hatte jedoch dafür gesorgt, dass man ihr eine der wenigen Kabinen zur Verfügung, aber keine Fragen gestellt hatte.

Der Hamburger Hafen, das Tor zur Welt, empfing sie nicht mit offenen Armen; seit das Schiff von der offenen See in die Elbmündung gelaufen war, gab es die Welt außerhalb des Schiffes nicht mehr, das Dunkel der Nacht hatte sich verflüchtigt und dem Morgennebel der Marschlande Platz gemacht. Wie Diebe schlichen sie sich an, dachte Anne, wie Mörder. Ihr war es nur recht. Sie fühlte sich geborgen, vor neugierigen Blicken geschützt, ihr war, als packten die Schwaden sie in Watte und führten sie heimlich, leise und unerkannt in die Stadt. In ihre alte Heimat, von der sie nicht gedacht hatte, dass sie sie jemals wiedersehen würde.

Sie kam nicht aus freien Stücken. Vor allem aber hatte sie London nicht aus freien Stücken verlassen.

Steinwerder kam in Sicht, die schwimmenden Docks, und nun, als hätte jemand den Schleier fortgezogen, durchdrangen müde Sonnenstrahlen den eisigen Januarmorgen und gaben den Blick auf den Hafen frei. Auch zu dieser frühen Zeit herrschte im Hafenbecken rege Betriebsamkeit. Schiffe aller Art querten den Fluss, liefen die unzähligen Quais an, je nachdem, mit welcher Ladung sie kamen und zu welcher der großen Reedereien sie gehörten.

Zwölf Jahre war Anne fort gewesen, und in diesen Jahren hatte sich der Hafen so grundlegend verändert, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Neugierig betrachtete sie die St. Pauli-Landungsbrücken, wo die imponierenden Dampfer der HAPAG vor Anker lagen. Diese Reisetempel atmeten den Duft der großen Welt, jeder, der sie ansah, wusste, dass die Schiffe von weit her kamen und dorthin auch wieder aufbrachen, nach Afrika oder Indien, Grönland oder Südamerika.

Direkt vor den Landungsbrücken wurde gebaut, das mussten die Arbeiten an dem neuen Tunnel sein, der das nördliche Elbufer mit dem südlichen verbinden würde. Die Arbeiten daran waren bereits weit vorangeschritten, man konnte darüber sogar in den Londoner Zeitungen lesen. Ein verrücktes Unterfangen, Anne war kaum imstande, sich vorzustellen, dass man die Elbe, den breiten Fluss, tatsächlich eines Tages unterqueren würde!

Und noch etwas war neu und nicht zu übersehen: Hinter den Landungsbrücken erhob sich groß und mächtig eine Statue. Bismarck, mit kahlem Haupt, aber in Uniform und auf ein Ehrfurcht gebietendes Schwert gestützt, wachte grimmig über die Hansestadt, es wirkte beinahe, als entschied er, wer die Stadt betreten durfte und wer nicht. Dem massiven Steinblock mangelte es vollkommen an Eleganz, fand Anne, nichts von der Erhabenheit der Freiheitsstatue, die sie beim Einlaufen in New York gesehen hatte. Der mächtige Reichskanzler in Stein war kein Gruß an die Ankömmlinge, sondern eine Warnung für alle, die auf dem Seeweg kamen. Leg dich bloß nicht mit uns an, drückte das Denkmal aus, es wird dir nicht bekommen. Wir wissen uns zu wehren.

Keine Sorge, entgegnete Anne im Geiste, ich will keineswegs Ärger haben, vielmehr habe ich vor, unterzutauchen, mich unsichtbar zu machen, du wirst mich nicht bemerken.

Der Segler hielt nun auf den Kaiserspeicher auf dem Großen Grasbrook zu, dem Wahrzeichen des Hamburger Hafens, der sich majestätisch wie eh und je über alle Lagerhäuser und Werften erhob, er teilte die Elbe wie ein spitzer Keil. Der dunkelrote Glockenturm mit dem Zeitball erinnerte Anne an das Royal Observatory in Greenwich, und schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie dieses Wahrzeichen Londons wohl nie wiedersehen würde. Ja, dass sie nie mehr in die Stadt, die ihr Heimat geworden war, zurückkehren konnte.

Ein neues Jahrzehnt war angebrochen, aber für sie war es viel mehr als das. Noch vor achtundvierzig Stunden hatte sie auf einer Party gelacht, getrunken und getanzt. Stets ein gefülltes Glas Champagner in der Hand, ausgelassen hatte sie mit ihren Freunden auf die neue Zeit angestoßen. Niemals hatte sie geahnt, was ihr der nächste Morgen bringen würde. In allerletzter Minute hatte man sie gewarnt, hastig hatte sie das Nötigste zusammengepackt und war geflüchtet.

»Ma’am?« Einer der Schiffsjungen stand neben ihr und riss sie aus ihren Gedanken. Er hatte ihre beiden Reisetaschen und den Koffer an Deck geschleppt und sah sie nun fragend an.

Anne zog ihre Börse aus ihrer Tasche, kramte einige Pfundnoten heraus und gab sie dem Jungen, zusammen mit der Anweisung, das Gepäck per Droschke ins »Hotel Atlantic« bringen zu lassen. Sie selbst wollte den Weg zu Fuß zurücklegen. Eine erste Annäherung an ihre Geburtsstadt.

Das Schiff war mittlerweile am Dalmannquai angelandet und wurde von Schleppern in die richtige Position manövriert. Gegenüber am Sandtorquai wurde die »PREUSSEN« gelöscht, ein riesiges Fünfmast-Vollschiff des Reeders Laeisz, einer der beiden größten Konkurrenten ihres Vaters. Ein wunderschönes, imposantes Schiff, nicht zu vergleichen mit dem Dreimaster, an dessen Deck sie stand. Die Faszination für Schiffe und die Seefahrt waren ihr in die Wiege gelegt worden, Anne liebte das Wasser, es wäre undenkbar für sie, in einer Stadt zu leben, in der es keinen Fluss, keine Kanäle, Brücken und eben keinen Hafen gab. Während sie nach einem kurzen Gruß zum Kapitän, der sichtlich erleichtert war, dass sie sein Schiff verließ, über die Gangway an Land ging, überkam sie schließlich doch ein Hochgefühl. Mochte es an den kreischenden Möwen liegen, die ihr einen vertrauten Willkommensgruß entboten, an der kühlen Hamburger Winterluft, die so ganz anders roch als die Luft an den Docks in London, wo sie bei Nacht und Nebel Abschied von der Insel genommen hatte, oder an dem Anblick der Stadt, die sich vor ihren Augen ausbreitete und ihr bei aller Veränderung doch immer noch vertraut erschien.

Kaum hatte sie einen Fuß auf den Quai gesetzt, liefen auch schon drei zerlumpte Jungen auf sie zu, hielten ihr die schmutzigen Hände vor die Nase und bettelten um Groschen. Aus dem Hafenbecken stieg der Gestank von brackigem Wasser, und Anne fragte sich, was schlimmer war, die Hafenbrühe oder die dreckstarren Kinder. Halb verhungert, ungewaschen, viel zu dünn gekleidet für die Jahreszeit. Sie gab jedem von ihnen eine Münze in die Hand, Pennys, und die drei guckten ratlos.

Anne zuckte mit den Achseln. »Etwas anderes habe ich nicht. Ihr könnt es sicher bei den Matrosen eintauschen.«

Die drei kleinen Kerle murrten und verloren an ihr das Interesse, als ihnen klar wurde, dass es bei der eleganten Frau nichts zu holen gab.

Anne setzte ihren Weg über den Quai fort, beobachtete die Schauerleute, wie sie Pferdekarren entluden, schwere Säcke aus den Schuten hoben oder flache Lastkähne mit Bergen von Kohle durch den Kanal stakten. Die meisten von ihnen sahen nicht anders aus als die drei kleinen Bettler. Schlecht ernährt und noch schlechter gekleidet. Es wurde Zeit, dass sich etwas änderte, dachte Anne und setzte ihren Weg mit entschlosseneren Schritten fort. In den nächsten Tagen würde sie den Verein aufsuchen, sie hatte keinesfalls vor, in Hamburg die Hände in den Schoß zu legen.

Sie überquerte die breite Brooktorbrücke und marschierte direkt auf die Backsteinfront der Speicherstadt zu. An dieser Stelle hatten noch vor wenigen Jahren die ärmlichen Häuser und Baracken der Arbeiterfamilien gestanden, das wusste sie von ihrem Vater, dem die Elendsquartiere stets ein Dorn im Auge gewesen waren. Sie stellten eine Beleidigung für den mächtigen Reeder dar, der gerne ausblenden wollte, dass die Menschen, die Tag und Nacht für ihn schufteten und ihr Leben ruinierten, das gleiche Recht zu existieren hatten wie er. In der gleichen Stadt, an den gleichen Plätzen. Schließlich hatte die Cholera den reichen Bürgern der Stadt geholfen, einen Teil dieser Menschen zu vertreiben, die nun außerhalb des Centrums lebten, dort, wo sie niemandes Auge mehr beleidigten.

Anne lief in die Catharinenstraße hinein, überquerte von dort die Reimersbrücke, blieb in ihrer Mitte stehen und blickte auf das Nicolaifleet. Auf die Speicherhäuser, dicht an dicht, die davor dümpelnden Schuten und Kähne, Ruderboote und die hoch aus dem Wasser ragenden Holzbohlen, an denen sie vertäut waren. Dichter Rauch stieg über manchen der Kontorhäuser empor, in Annes Rücken rumpelten die Pferdefuhrwerke über das Kopfsteinpflaster, zwei Arbeiterfrauen mit einfachen Baumwollkleidern und gewalkten Joppen liefen an ihr vorbei, auf dem Rücken große Säcke mit Wäsche. An einem Kolonialwarenladen wurden die Rollläden hochgezogen, ein Schupo ließ sein wachsames Auge über den Verkehr rund um Sankt Nicolai gleiten, und ein Zeitungsjunge verkündete laut rufend die Neuigkeiten des Tages.

Die Stadt erwachte, der Morgen klarte auf, auch der letzte Nebelschleier hatte sich verflüchtigt, hell stieg die Wintersonne in den Hamburger Himmel.

Anne umrundete die Nicolaikirche auf der westlichen Seite, bog aber erneut ab und überquerte die Trostbrücke. Sie schlug Haken wie ein Hase auf der Flucht, obwohl sie in Hamburg bestimmt sicher war; niemand hier wusste, was sie getan hatte. Der Grund für ihren Weg kreuz und quer durch die Altstadt war eher, dass sie die Stadt in sich aufnehmen wollte, sich vertraut machen, sehen, was sich verändert hatte und was geblieben war. Börse und Rathaus standen an sich unverändert, doch auch hier wurde kräftig gebaut, rund um das Kaiserdenkmal behinderten Absperrungen und tiefe Schächte den Verkehr, Straßenbahnen rauschten dicht an Passanten, Droschken und Fuhrwerken vorbei, ein lebhafter Verkehr, der Anne vom Piccadilly Circus sehr vertraut war. Sie schaffte es, den Rathausmarkt unfallfrei bis zum Jungfernstieg zu überqueren und erreichte die Binnenalster. Keine zwanzig Minuten war sie vom Hafen hierhergelaufen, und doch schien es ihr, als hätte sie eine andere Welt betreten. Das gesamte Ambiente rund um die Binnenalster war nichts anderes als: mondän. Dies hier war die Welt ihrer Familie, dachte Anne mit einer Mischung aus Wehmut und Wut. Hier waren sie sonntags flaniert, unter den Bäumen am Alsterdamm, hatten die Auslagen der eleganten Geschäfte bewundert, waren im Alsterpavillon zum Souper gewesen, oder der Vater hatte sie eingeladen, eine kleine Ruderpartie zu unternehmen – selbstverständlich hatte er sich dazu nicht selbst in die Riemen gehängt.

Hier ging es weniger geschäftig zu als noch wenige Meter entfernt in der Speicherstadt oder am Hafen. Zwar rauschte auch hier der Verkehr rasant um das idyllische Gewässer, und einige wenige Menschen waren bereits zu Fuß oder sogar auf dem Fahrrad unterwegs, auf dem Weg zur Arbeit, wie es schien, aber von Arbeitern, Wäscherinnen oder bettelnden Kindern fand sich keine Spur.

Dies war die Welt, in die sie hineingeboren worden war, dachte Anne und spürte einen Anflug von Scham. Ihr Leben hatte einen vollkommen anderen Verlauf genommen, von der Reederstochter, die sie einmal gewesen war, war sie denkbar weit entfernt.

Einmal noch würde sie in die Welt des Geldes und der Privilegien eintauchen, hatte sie beschlossen, einmal noch sich erinnern, wie sich ein sorgenfreies Leben anfühlte. Sie fand, dass sie es sich verdient hatte, sich von der nächtlichen Flucht über die Nordsee zu erholen, es war eine Entschädigung dafür, dass sie nun ganz und gar auf sich allein gestellt und inkognito in Hamburg zurechtkommen musste. Ein großes Luftholen, bevor sie auch hier wieder die Arbeit aufnehmen würde, die sie in England begonnen hatte.

Zwei Nächte im »Hotel Atlantic«, dem ersten Haus am Platz, gönnte sie sich, und dann würde sie erneut alles da­ransetzen, die Welt zu einer besseren zu machen.

Der weiße fünfgeschossige Bau nahm sich vergleichsweise bescheiden aus, fand Anne, als sie auf den an der Außenalster gelegenen Komplex zusteuerte. Typisch hanseatisches Understatement, lediglich die Weltkugel auf dem Dach zeugte vom imperialen Anspruch Alfred Ballins, auch er ein ehemaliger Freund und Konkurrent ihres Vaters. Dass sie hier abstieg, beim Rivalen, würde ihrem Vater, wenn er es denn je erfuhr, eine tiefe Verletzung zufügen, vielleicht war ihre Wahl gerade deshalb auf dieses Hotel gefallen.

Der Portier mit der goldbetressten Uniform hielt ihr die Tür schon auf, noch bevor sie die Treppe zum Eingang emporgestiegen war.

»Mein Gepäck wurde bereits geliefert«, gab Anne ihm auf seinen fragenden Blick zu verstehen. Während sie die Drehtür passierte, blickte sie für einen kurzen Moment in ihr Spiegelbild und erschrak. Diese elegante junge Frau mit weißem Teint, hochgesteckten dunklen Haaren unter dem Hut mit der grünen Feder, in langem Mantel mit üppigem Pelzkragen und passendem Muff – war das wirklich sie? Es schien, als beträte eine Fremde das Hotel.

Es gelang Anne, sich schnell wieder zu fassen, und mit strahlendem Lächeln ging sie auf den Mann am Empfang zu.

»Ich habe telegrafiert«, sagte sie, »ein Zimmer für zwei Nächte.«

Der Mann hinter dem dunkel getäfelten Empfangstresen deutete eine winzige Verbeugung an. »Herzlich willkommen bei uns im »Hotel Atlantic«, gab er zurück. »Darf ich fragen, auf welchen Namen Sie reserviert haben, gnädige Frau?«

Anne öffnete den Mund, um zu antworten, stockte dann aber. Wie war ihr neuer Name? Sie zögerte einen winzigen Moment mit der Antwort, doch dann fiel ihr der Name wieder ein.

»Fitzpatrick«, antwortete sie. »Miss Anne Fitzpatrick.«

Sie sollte sich besser daran gewöhnen, dass sie von nun an immer so heißen würde, denn ihr alter Name war ein für alle Mal verbrannt.

Zwei Schritte voran – einer zurück

Zehn Monate später, noch immer Hamburg.Novemberwetter.

1.

»Sechs Monate. Mein letztes Wort.«

Helene musste den Kopf senken, damit ihr Vater das Grinsen nicht bemerkte, das sich auf ihr Gesicht geschlichen hatte. Sie hörte das Beben in seiner Stimme, wusste ganz genau, wie schwer ihm dieser Satz über die Lippen gekommen war. Wäre es wie früher nur nach ihrem Vater gegangen, hätte er sie ohne Widerrede auf ihr Zimmer geschickt. Aber seit Klaus die Familie verlassen hatte, war im Hause Curtius nichts mehr, wie es gewesen war. Das hatte sie ausgenutzt und eine Diskussion begonnen, für die sie noch vor einem halben Jahr niemals den Mut aufgebracht hätte.

»Ein Jahr«, entgegnete Helene. Sie konnte es nicht lassen! Dabei war ihr vollkommen klar, dass ihr Vater sich niemals darauf einlassen würde, aber die Lust an der Provokation siegte über ihren Verstand.

»Überspann den Bogen nicht!«

In der Stimme ihres Vaters schwang unüberhörbar mit, dass er sich ärgerte. Über seine Tochter, die sich ihm einfach nicht widerspruchslos fügen wollte, und über sich selbst, weil er ihr kaum einen Wunsch abzuschlagen vermochte.

Helene blickte auf und fixierte seine Augen mit ihrem Blick.

Die dichten Brauen des Pastors Engelbert Curtius zogen sich missbilligend zusammen.

Seine Frau legte rasch ihre Hand auf die Helenes. »Lass gut sein.«

Vielleicht hätte Helene sich gefügt, wenn diese Geste ihrer Mutter nicht gewesen wäre. Dieser zarte, kleine und vergebliche Beschwichtigungsversuch war es, der sie aufbrachte. Mehr noch als der Blick ihres Vaters, mit dem er versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. Sie hatte es so satt, dass die Mutter ständig zu vermitteln trachtete, dass sie alles daransetzte, Helene dazu zu bringen, sich genauso zu verhalten, wie sie es ihrem Mann gegenüber tat: still, devot, aufopfernd. Nein, dachte Helene, wäre Klaus jetzt hier, säße er ihr gegenüber wie noch vor einem halben Jahr, dann wäre er ihr beigesprungen. Ihr Bruder hätte ihr Beistand geleistet und sie geradezu aufgefordert, nicht nachzugeben.

»Sechs Monate, und danach verhandeln wir erneut.« Helene wich dem Blick ihres Vaters nicht aus.

Dieser legte betont vorsichtig sein Besteck auf den Teller, als wäre es aus dem gleichen Kristall wie das Weinglas vor ihm. Nahezu lautlos, was der Geste exakt die Bedrohlichkeit verlieh, die er beabsichtigt hatte. Der Patriarch nahm die gestärkte Serviette aus dem Kragen und tupfte sich sorgfältig den Mund ab.

Helene seufzte und sah aus dem Fenster. Die Anspannung im Raum war zum Greifen – ihre Mutter, die betete, dass es nicht zu einem Streit kam, hoffte, dass ihr Mann doch bitte das Kind verschonen und nicht anfangen würde zu brüllen.

Der Vater, der seine Autorität um jeden Preis wahren wollte, aber der auch wusste, was geschehen konnte, wenn er sich über die Wünsche und Forderungen seiner Kinder hinwegsetzte. Er hatte es mit Klaus ja erlebt. Dem war das Gebaren des Vaters zu viel geworden, und nun war er weg. Viele Tausend Kilometer weit weg. Außer Helene wusste niemand, wo er sich befand und ob er noch lebte. Sie war nun das einzige Kind, und diesen Trumpf wollte sie für ihre Zwecke ausnutzen.

Scheinbar in aller Ruhe beobachtete sie das Wildgans-Pärchen auf ihrer Wiese. In ihr brodelten die Gefühle, sie hätte am liebsten aufstehen und schreien mögen, das Geschirr vor sich mit einer dramatischen Geste vom Tisch fegen. Aber sie hatte gelernt, sich zu beherrschen. Sie war zwanzig Jahre alt, keine sechzehn. Und so blickte sie weiterhin in den Garten, auf das Wasser, die Gänse, den Steg.

Das Grundstück der Familie Curtius lag am Langen Zug, einem Querarm der Außenalster. Linker Hand die Mühlenkampbrücke, am Ufer gegenüber der Germania Ruderklub, ihr Klub, in welchem Klaus und sie jahrelang trainiert hatten. Nun war es nur noch ihr Klub, dachte Helene wehmütig. Rechter Hand zog die Alster unter hängenden Weiden am Bellevue zur Krugkoppel. Diesiges Novemberlicht lag heute über dem Wasser, es war ein Tag, der nicht richtig hell werden wollte. Die braunen Dolden des Schilfgrases standen starr, keine Brise zog den milchigen Schleier von der Wasseroberfläche, nur die Gänse waren in Bewegung, pickten Löcher ins Gras, auf der Suche nach letzten Schnecken oder Regenwürmern. Herrlich ruhig war es dort draußen vor dem Fenster, eine friedliche Idylle, Helene liebte den Blick auf das Wasser zu jeder Jahreszeit. Hier drinnen, im Esszimmer, braute sich ein Gewitter zusammen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

»Sechs Monate«, sagte ihr Vater und erhob sich.

Helene wusste, ohne hinzusehen, dass ihre Mutter jetzt zu ihrem Mann aufsah und lächelte. Es war die Aufgabe, die ihr zuteilgeworden war: den Löwen zu besänftigen. Diese Kunst beherrschte sie perfekt. Die Kunst der schönen Fassade.

Diesen Weg würde Helene nicht gehen, niemals. Sie liebte ihre Mutter über alles – aber ein Vorbild, das war sie ihr nicht. Nicht mehr. Genau genommen war sogar ihr Vater schuld daran. Daran, dass Helene einen anderen Blick auf Fanny Curtius hatte. Auf alle Frauen in ihrer Umgebung.

Vor vier Jahren hatte er sich über einen Zeitungsartikel echauffiert, in dem darüber berichtet wurde, dass sich ein neuer Verein in Hamburg gegründet hatte. Ein Verein, der sich die völlige Gleichberechtigung der Frau auf allen Gebieten zum Ziel gesetzt hatte. Auf allen Gebieten! Pastor Curtius war außer sich gewesen. Er hatte am Tisch den gesamten Artikel vorgelesen, in welchem über Lida Gustava Heymann berichtet worden war, die sich im Streit mit der Bonfort vom Frauenverein überworfen hatte. Bereits einige Jahre zuvor hatte sie ein Haus in der Paulstraße gekauft, in dem es einen Mittagstisch gab und einen Hort für die Kinder der Dienstmädchen. Wannen und Brausen für die Frauen, die sonst keinen Zugang zu so etwas hatten. Helene hatte atemlos gelauscht, als ihr Vater den Artikel vorgelesen hatte, der von einer Welt erzählte, die so weit entfernt von ihrer war. Und gleichzeitig nur wenige Kilometer Luftlinie von ihrem Elternhaus lag!

Die Heymann war Helenes Vater von jeher ein Dorn im Auge, und mit den Jahren wurde es immer schlimmer – obwohl sie Hamburg längst verlassen hatte. »Dieses Weibsstück« hieß die Frauenrechtlerin im Hause Curtius nur noch, und der Pastor zitierte Spruch um Spruch aus der Bibel, als würde er nur so dieses Teufelsweib aus der Tür des ehrenwerten Hauses hinaus auf die Körnerstraße spülen können.

Als ihr Vater damals aus dem Zeitungsartikel vorgelesen hatte, hatte Klaus Helene unter dem Tisch angestoßen. Ein Blick unter den Geschwistern, und sie waren sich einig gewesen: Wenn die Meldung ihren autoritären Vater derart auf die Palme brachte, verbarg sich dahinter etwas, das genauerer Betrachtung wert war.

Klaus, fünf Jahre älter als Helene, war bereits besser im Bilde als seine Schwester. Er hatte ein enges Verhältnis zu Julie, dem Dienstmädchen, und Helene war der Überzeugung, dass es nicht das erste Dienstmädchen war, mit dem ihren Bruder eine »innige Freundschaft«, wie er es nannte, verband. Sein Hang zum weiblichen Dienstpersonal ging Hand in Hand mit einer Faszination für die Arbeiterschaft ganz allgemein; Klaus verhehlte nicht, dass er im Grunde seines Herzens ein Sozi – wenn nicht gar ein Kommunist war.

Und damit hatte es angefangen. Zuerst war Helene einfach nur neugierig gewesen, später regelrecht besessen. Heimlich las sie in den Zeitungen ihres Vaters alles, was sie über die neue Frauenbewegung erfahren konnte. Sah die Anzeigen und das Vortragsprogramm. Frauen sollten wählen – Ja!, dachte Helene, ihre stumme und ergebene Mutter stets vor Augen, ja! –, es gab sogar einen kinematografischen Klub, in welchem die Frauen gemeinsam Filme ansahen! Kino, das hatte Pastor Engelbert Curtius seinen Kindern allerstrengstens verboten, der Gipfel erlaubter Unterhaltung war in Kinderjahren der Besuch einer Zirkusvorstellung gewesen. Aber schon die spektakulären Wasserspiele des Paul Busch galten dem Puritaner als zu anzüglich, weshalb Helene und Klaus nicht mitreden konnten, wenn ihre Freunde und Klassenkameradinnen mit strahlenden Augen von den gigantischen Spektakeln erzählten.

Wenn der Vater wüsste, dass Helene letztens erst mit ihrer Freundin Paulina im Kino gewesen war! Arsène Lupin contra Sherlock Holmes wurde gegeben, die Spannung hatte sie förmlich von den Stühlen gerissen.

Helene wollte nichts sehnlicher, als Teil all dessen werden. Wollte an den Debattierabenden im Frauenklub teilnehmen, sich für das Wahlrecht einsetzen, Vorträge wie »Die Stellung der Frau im öffentlichen Leben« anhören, und sie wollte sich vor allem, da ließ sich ihre christliche Erziehung nicht verleugnen, für all jene Frauen einsetzen, die es weniger gut hatten als sie.

Vor allem aber wollte sie nie und nimmer eine treusorgende Ehefrau und Mutter werden, deren einzige Aufgabe es war, zu ihrem Mann aufzusehen.

»Darf ich abräumen?«

Das Dienstmädchen holte Helene in die Realität zurück. Sie blickte hoch, direkt in die strahlend blauen Augen Julies. Diese zwinkerte kurz, das verabredete Zeichen, dass sie sich im Souterrain treffen würden.

»Ich lege mich ein wenig hin, Liebes«, sagte ihre Mutter und erhob sich ebenfalls vom Esstisch. Matt sah sie aus und blass. Helene wusste, dass ihre Mutter eine labile Gesundheit hatte. Wie oft hielt sich Fanny Curtius die Hand an die Stirn, stöhnte leise, musste sich hinlegen, war erschöpft, anämisch. Der Kopf, der Kreislauf, das Herz – immer wurde ein anderer Schuldiger ausgemacht. Wahrscheinlich mangelte es ihrer Mutter schlicht und einfach an Bewegung, dachte Helene. Seit sie selbst erwachsen war, oder zumindest auf dem Weg dahin, hatte sich ihr Mitleid für die schwache Mutter verflüchtigt. Stattdessen glaubte sie besser zu wissen, was ihrer Mutter fehlte: Sie sollte mehr Obst essen, auf Fleisch verzichten, kalte Güsse nehmen oder kneippen. Für Letzteres, die Medizin des »Wasserdoktors«, hatte ihr Vater allerdings nur Verachtung übrig. Und so würde ihre Mutter das tun, was sie immer tat: sich in ihr Zimmer zurückziehen, die schweren Vorhänge schließen und dösen.

Helene dagegen musste raus. Raus an die frische Luft, raus aus dem Gefängnis ihres Elternhauses. Sie knüllte ihre Serviette zusammen, schob den Stuhl zurück, was ihrer Mutter ein angestrengtes Stöhnen entlockte, und verließ eilig den Salon. Rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer, zwei Stufen auf einmal. Sieg!, dachte sie, Sieg auf ganzer Linie! Na ja, auf halber. Ihr Vater hatte sich nicht zu hundert Prozent breitschlagen lassen, aber sechs Monate Arbeit in der Wohlfahrt hatte sie ihm aus dem Kreuz geleiert. So lange musste sie nicht in die Hauswirtschaftsschule! Es wäre ihr Tod gewesen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Insgeheim hatte Helene schon den Plan geschmiedet, abzuhauen. Hätte ihr Vater darauf bestanden, dass sie dorthin gehen musste, dann hätte sie ihren Bruder bekniet, dass er sie zu sich holte. Südamerika!

Rasch zog sie das enge Überkleid aus, tauschte die bauschigen Unterröcke gegen lange Unterhosen, schlüpfte in das wollene Reformkleid, schnappte Schal, Handschuhe, Mantel und die Ohrenwärmer aus Kaninchenfell und rannte die Treppe ebenso schnell hinunter, wie sie sie emporgehastet war. Stoppte nicht im Erdgeschoss, sondern öffnete die Tür zum Souterrain, wo Julie bereits auf sie wartete. Dort, im Untergeschoss des mächtigen Bürgerhauses, befanden sich nicht nur die Gesinderäume, Küche und Waschraum, sondern auch der Rauchsalon, wie die Mädchen es nannten. Tatsächlich handelte es sich hierbei um einen Windfang am Ende des langen Flurs, von wo aus ein Weg ebenerdig in den Garten führte. Hier trafen sie sich, um gemeinsam zu rauchen und Informationen auszutauschen.

»Hast du gehört?« Atemlos strahlte Helene Julie an, während sie ihr aus der kleinen Blechdose eine Salem anbot. Dieses Laster hatte Klaus ihr vererbt – er war es gewesen, der ihr seine Dose mit den Zigaretten hinterlassen und gesagt hatte, dass dies der Eintritt zu Klatsch und Tratsch aus dem Dienstbotentrakt sei. »Biete ihnen eine Zigarette an, und sie erzählen dir, was immer du wissen willst«, hatte er ihr anvertraut. Seitdem also rauchte Helene, und seitdem traf sie sich regelmäßig mit Julie hier unten.

»Was gehört?« Julie inhalierte tief und blies den Rauch hinaus in die feuchtkalte Novemberluft.

»Ich bekomme ein halbes Jahr Aufschub«, gab Helene zurück und tat es ihrer Freundin gleich. Das Nikotin schoss ihr ins Blut, sie spürte, wie ihre Knie weich wurden und die Lungen brannten. »Ein halbes Jahr darf ich mich in der Armenspeisung betätigen, erst danach muss ich auf die Schule.« Helene zupfte sich einen Tabakkrümel von der Lippe. »Was ich natürlich nicht machen werde, aber das muss mein Vater ja nicht wissen.«

Julie lachte auf, ein bisschen spöttisch. »Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der sich darüber freut, dass er sich mit dem lausigen Gesindel abgeben darf.«

»Du sollst nicht so reden. Jeder Mensch kann unverschuldet in eine Notlage geraten.«

»Ach ja, vielen Dank für die Belehrung. Das hätte ich sonst nicht gewusst.«

Helene gefiel nicht, welche Richtung ihr Gespräch nahm, sie hatte gehofft, ihre Freundin würde sie beglückwünschen.

»Warum heiratest du nicht einfach? Dann musst du niemals arbeiten!«

»So wie meine Mutter?« Helene stieß den Rauch mit aller Verachtung aus, »im Leben nicht! Lieber sterbe ich.«

»Ich tausche gerne mit dir.« Julie grinste jetzt und lenkte etwas ein. »Außerdem Armenspeisung – ich denke, du willst zum Frauenhaus?«

»Das muss aber mein Vater nicht wissen.« Helene ließ ihre Zigarette auf den Boden fallen und drückte diese entschlossen mit dem Fuß aus und umarmte Julie einmal fest. »Ich berichte!«

Dann eilte sie den Flur entlang nach draußen, auf den Hof in Richtung Körnerstraße.

Julie sah ihr nach, bückte sich und hob die Zigarettenkippe auf.

Das Fahrrad stand in der Einfahrt, ein Hammonia, auch dies eine Hinterlassenschaft ihres Bruders. Ein weiterer Stachel im Fleisch ihres Vaters.

Rad fahren – das war beinahe noch besser als rudern. Sie war so schnell, schneller noch als manche Droschke, sie raste an Fußgängern und Fuhrwerken vorbei. Zunächst überquerte Helene von der Körnerstraße aus den Kanal am Mühlenkamp, bog sogleich wieder rechts in den Langen Zug, der in die Adolphstraße mündete. Einfach geradeaus, ihre Rennstrecke. Sie trat so engagiert in die Pedale, dass sie trotz der beißenden Kälte unter ihrem Wollmantel schwitzte. Hatte wenige Minuten später Schwanenwik erreicht und hielt sich bis zum Bahnhof an der Außenalster. Überquerte den Glockengießerwall, wo sie um ein Haar mit der Tram kollidiert wäre, die schneller von links kam, als Helene geglaubt hatte. Schrilles Gebimmel folgte ihr bis in die Lilienstraße, wo sie halsbrecherisch links abbog. Nun schlängelte sie sich durch die schmalen Gassen, über das holprige Pflaster, Sankt Jacobi zur Rechten, bis sie vollkommen außer Atem und verschwitzt den Hafen am Dovenfleet erreicht hatte.

Helene stieg vom Rad. Erst einmal Luft holen. Sie musste sich sortieren, sich überlegen, was sie sagen, wen sie ansprechen und wie sie auftreten sollte. Sie entschloss sich, das Fahrrad an der Wandrahmbrücke stehen zu lassen und den weiteren Weg zu Fuß fortzusetzen.

Ihr Ziel lag am Magdeburger Hafen, so viel wusste sie dank des Zeitungsausschnitts, der in ihrer Manteltasche knisterte. Allerdings hatte Helene nicht die geringste Ahnung, wo dieser Magdeburger Hafen sich befand, sie war noch nie hier gewesen. Sie kannte den Hamburger Hafen lediglich von seiner freundlichen Seite, von den gerade erst eröffneten Landungsbrücken, dort, wo auch die Ausflugsdampfer anlegten. Aber hierher, wo sie jetzt stand, hatte sie sich noch nie gewagt. Und sie hatte hier auch nichts verloren, das wurde ihr auf den ersten Blick klar.

Weit und breit keine andere Frau.

Hier gab es nur Schiffe und Männer. Arbeiter. Helene sah sich um, ihr wurde flau. War sie hier richtig? Sie kramte den Artikel hervor, den sie wieder und wieder gelesen hatte. »Feierliche Eröffnung eines weiteren Hauses für Frauen am Magdeburgquai«, las sie, obschon sie die Zeilen auswendig herbeten konnte. Darunter wurde das interessierte Publikum herzlich eingeladen, dem Festakt beizuwohnen, es sollte Musik geben, eine Tombola, und Frauenrechtlerin Minna Cauer wollte eine Rede halten. Um 15.00 Uhr.

Helene ließ den Ausschnitt sinken. Vor ihr breitete sich das Hafenbecken aus, dunkles Wasser, in dem Schuten und Barkassen dicht an dicht dümpelten. In einigen saßen Männer und waren mit den verschiedensten Tätigkeiten beschäftigt. Sie beluden Barkassen mit Ware, andere flickten Netze oder standen in den Schuten und stakten diese langsam durch das Hafenbecken. Am Ufer befanden sich in regelmäßigen Abständen kleine runde Lastkräne, deren Arme mit Ladung hin und her schwenkten. Etwas weiter entfernt, hinter dem Brooktor-Hafen, ragten unzählige Masten von Clippern, Schonern und Windjammern jeder Größe in den grau milchigen Novemberdunst. Schiff an Schiff lagen sie eng vertäut, die Luft erfüllt von scharfen Gerüchen. Brackiges Wasser, Teer, alter Fisch, Rauch, der Helene in die Nase biss, Verrottetes und Vergorenes, aber auch Holz und feuchte Wolle. Die dicke Luft dämpfte die Geräusche, lediglich in der Ferne konnte man schrille Töne vernehmen, als würde Holz gesägt. Helene wusste, dass sich hinten am Baaken die Werften befanden, wahrscheinlich kamen die Geräusche von dort. Das Wasser im Hafen gluckerte, Möwen flogen tief über ihrem Kopf, ihr Schreien zerriss die Luft. Ab und an vermischten sich die gedämpften Rufe der Arbeiter mit dem Signalhorn ein- oder auslaufender Schiffe.

Jemand rief Helene etwas zu, was sie nicht verstand. Sie war darauf konzentriert, im Kopf den Plan des Hafens abzurufen, den sie sich wieder und wieder auf dem Stadtplan angesehen hatte. Sie musste geradeaus, über die beiden Poggenmühlbrücken, rechts abbiegen und vor dem nächsten Hafenbecken wieder links. Das sollte dann der Magdeburgquai sein, und sie hoffte, dass sie die Feierlichkeiten dort auch finden würde. Allerdings sah es ganz und gar nicht aus, als könnte sie einfach so herumspazieren, das war keine Flaniermeile, hier wurde gearbeitet. Schienen, Pferdefuhrwerke, Lastkräne, Holzkisten, riesige Taue und überall: arbeitende Männer. Helene holte tief Luft und lief los. Nur nicht bange machen lassen. Je zielstrebiger sie ging, desto weniger lief sie Gefahr, aufgehalten zu werden. Sie hatte noch keine drei Schritte gemacht, da kam ihr der Zufall zu Hilfe. Zwei junge Männer, gut gekleidet und ähnlich fehl am Platz wie sie, überquerten neben ihr die Brücke. Der eine von ihnen schleppte schwer an einem Fotoapparat – die Herren mussten von der Presse sein! Helene beschloss kurzerhand, den beiden zu folgen, denn es schien ganz so, als hätten die Männer das gleiche Ziel wie sie.

Den Blick fest auf die beiden Herren von der Presse geheftet, stolperte Helene über das unebene Kopfsteinpflaster und war mehr als erleichtert, als sie erste Fetzen von Akkordeonmusik vernahm. Also doch! Sie atmete auf, in Erwartung einer feierlich gestimmten Menschenmenge, in der sie weniger auffallen und sich hoffentlich auch nicht mehr wie Falschgeld fühlen würde.

Als das Haus, in dem offensichtlich der Verein »Frauenwohl« ein weiteres Zentrum eingerichtet hatte, in ihr Blickfeld geriet, verlangsamten sich ihre Schritte. Das war nicht das Fest, das sie aufgrund der Zeitungsanzeige erwartet hatte. Ein kleines Grüppchen Frauen, vielleicht sieben oder acht, standen vor einem windschiefen grünen Haus, das den Namen nicht verdiente, vielmehr ein Schuppen war, über dem eine schwache Laterne baumelte. Eine der Frauen spielte Ziehharmonika, eine andere sang. In einiger Entfernung glotzten ein paar abgerissene Gestalten, die sich allem Anschein nach ebenso wenig wie sie – wenn auch aus anderen Gründen – näher zu kommen trauten.

Das Haus lag am Ende einer engen Gasse, durch die nun die beiden Journalisten hindurchgingen. Helene brauchte noch einen Moment, um Mut zu fassen, und zögerte zunächst, ihnen zu folgen. Stattdessen verbarg sie sich hinter einem Stapel verkohlter Bohlen. Zu ihrer Rechten lag hinter dem Magdeburger Hafen der Grasbrook; noch immer standen dort die Trümmer des vor einem Jahr explodierten Gasometers und gaben hinter den Nebelschleiern und dem Dunst, der aus dem Hafenbecken emporstieg, eine furchterregende Spukkulisse ab.

Vergessene Kähne mit zerrissenen Persennings waren hier vertäut, manche lagen tief im Wasser, halb vollgelaufen. Die ganze Umgebung war zum Fürchten, Helene verfluchte ihre Naivität. Was hatte sie denn geglaubt, was sie erwartete? Lichter und Girlanden, Pomp und Kinderlachen? Fröhliche Menschen, die gut gelaunt Torte verspeisten und Bowle tranken? Das waren die Feste und Feierlichkeiten, die sie kannte, das Uhlenhorster Mädchen. Aber ein Haus am Hafen, eine Anlaufstelle für misshandelte und gefallene Frauen – natürlich war das keine unbeschwerte Angelegenheit und vollkommen anders als die Welt, in der sie lebte.

Unwillkürlich war sie einen Schritt zurückgewichen, und ihr Fuß glitt an der Hafenkante ab. In letzter Sekunde fand Helene Halt an den Balken, dann sah sie hinter sich, hinab ins dunkle Wasser, in das sie um ein Haar gestürzt wäre. Gestank stieg von dort auf, eine Wasserratte flitzte über die dunkelgraue Persenning der Schute unter ihr.

Und sie sah noch etwas.

War das nicht ein Schuh, der aus dem flachen Boot ragte?

Und nicht nur ein Schuh, war das nicht der Teil eines Beins, ein Unterschenkel in löchrigem Strumpf?

Wider besseres Wissen griff sich Helene einen Bootshaken.

Sie wusste, es war ein Fehler, sie wusste es in dem Moment, als sie mit der metallenen Spitze die Persenning der Schute zur Seite schob und der bestialische Gestank sie fast in Ohnmacht fallen ließ. Aber sie konnte nicht mehr zurück, und als es zu spät war und Helene am Hut erkannte, dass sie die Leiche einer Frau vor sich hatte, fuhr sie zurück und erbrach sich auf den Hafenquai.

2.

Seine Lungen wollten platzen, der Atem pfiff wie bei einem Tuberkulosekranken, und die Muskeln brannten höllisch, aber Berthold sah nur das Tor, und er sah vor allem, dass Knäppke sich vor ihm gleich in die Hosen machte. Das war die Chance zum Ausgleich, und verdammt wollte er sein, wenn er das Leder jetzt nicht versenkte! Leuters kam von links und machte einen zaghaften Versuch, ihm in die Beine zu grätschen, aber Berthold »Die Maschine« Rheydt ließ sich nicht beirren. Er rannte und rannte, der Ball klebte förmlich an seiner Schuhspitze, das war ein göttlicher Lauf, er legte noch einmal einen Zacken zu, Knäppke blieb nach vorne gebeugt im Tor stehen, die Arme zu beiden Seiten ausgebreitet, die Augen panisch auf den Mann gerichtet, der schnaubend auf ihn zustürmte, als wollte er ihn mit einem gezielten Schuss ins Jenseits befördern.

Berthold nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass die Nummer acht, der Neue, aufgeregt mit den Armen wedelte, aber er war kurz vorm Ziel, fixierte die linke obere Ecke, stoppte ab, holte aus und schoss. Der Schwung seines rechten Beines riss ihn mit, er knallte mit voller Wucht auf den Rücken, Rasensoden flogen in die Luft, und der Ball segelte in einem perfekten Bogen ins Tor. Tor! Tor! Tor!

Knäppke hechtete natürlich in die falsche Ecke, Berthold riss triumphierend beide Arme nach oben, die Hände zu Fäusten geballt, stieß einen Jubelschrei aus – und merkte erst dann, dass niemand mit einfiel. Seine Mannschaftskollegen standen auf dem Spielfeld, erschöpft, außer Atem, aber von Siegesgeheul keine Spur. Stattdessen erschien Napfmann, der Trainer, in Bertholds Blickfeld und hielt ihm die Hand hin.

»Schöner Schuss, Rheydt.«

»Ja, und?« Berthold schlug ein, ließ sich hochziehen und sah sich um. Kein Jubel, kein Triumph.

»Abseits. Ich hab gepfiffen, aber du hörst ja nichts.«

»Ach, verflucht!«

Verdammtes Abseits! Verdammte Regeln!

Napfmann klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter und lachte.

»Du bist mein bester Stürmer, Rheydt, aber an die Regeln musst du dich schon halten. Sonst wird das nichts mit der ersten.«

Berthold schüttelte bloß den Kopf. Er war verdammt wütend. Auf sich selbst. Beim Fußball gingen die Gäule mit ihm durch, es war nicht das erste Mal. Foul, Handspiel, Abseits – wenn er so weitermachte, konnte er sich den Wechsel in die erste Mannschaft abschminken. Verflucht! Seine zweite war ein lahmer Haufen, die hatten keinen Biss. Elf Tore im Rückstand gegen Eimsbüttel! Das legendäre Spiel hatte im Februar stattgefunden, aber noch immer schämte er sich in Grund und Boden, vor allem für Eugen Knäppke, ihren Tormann. Eine Lusche. Der Kerl war verweichlicht, kein Wunder, ein Winkeladvokat. Napfmann hatte ihn ins Tor gestellt, weil er auf dem Platz nichts taugte, der Junge brach zusammen, wenn er hundert Meter sprinten sollte. Gehörte ausgetauscht, der Kerl. Mensch, im Tor, da brauchten sie einen, der auf Zack war! Berthold hatte auf seiner Wache eine Handvoll junger Schutzpolizisten, von denen jeder mehr Biss im kleinen Zeh hatte als die Pfeifen in seiner Mannschaft im ganzen Fuß. Aber im Verein trugen sie immer noch die Nase hoch, Fußball war nur was für die Snobs, die ehrbaren Bürger der Stadt. Insbesondere, seit sie nun endlich ein eingetragener Verein waren, FC St. Pauli 1910, und nicht mehr länger nur die Fußballabteilung des Turnvereins. Dass er selbst als einfacher Kommissar in die Mannschaft aufgenommen worden war, verdankte er seinen Meriten bei der kaiserlichen Marine, trotzdem musste er sich von den anderen anhören, dass er nur ein Bauer war. Wenn er Fehler machte! War er gut, schoss er ein Tor, dann galt er was, dann war er wieder Leutnant oder Herr Kommissar.

Berthold hätte es lieber gesehen, wenn es im Verein künftig mehr um die Leistung und Sportlichkeit als um den gesellschaftlichen Stand ging. Dann könnte der FC St. Pauli vielleicht auch einmal ganz vorne mitspielen. Immerhin waren sie in dieser Saison im Norddeutschen Fußball-Verband, von Länderspielen durften sie vorerst nur träumen. An der Victoria Hamburg kamen sie noch lange nicht vorbei.

Das Spiel wurde fortgesetzt, aber Berthold war nicht mehr bei der Sache. Es war ohnehin nur ein Trainingsspiel, Napfmann experimentierte bei der Aufstellung herum, weil er ihre zweite Mannschaft in eine bessere Liga katapultieren wollte. Eimsbüttel und Altona hatten noch immer die Nase vorn, es wurde Zeit für den FC aufzuholen.

Lustlos kickte er sich durch die zweite Halbzeit, bemühte sich aber, den Trainer nicht zu enttäuschen. Er wusste sehr wohl, dass er das Zeug hatte, in die erste zu wechseln. Zweimal hatte er immerhin schon auf der Ersatzbank sitzen dürfen, war allerdings nicht zum Zug gekommen. Es war Zeit, dass Napfmann ihn nicht mehr zappeln ließ. Berthold hatte Biss, er war bereit, alles zu geben. Der Fußballsport war sein Leben, viel mehr gab es nicht. Nicht mehr jedenfalls. Sein Beruf hätte ihn vielleicht ebenso begeistern können, aber auch bei der Polizei spielte er die zweite Geige, blieb ständig hinter Paulmann, dem Inspektor, zurück. Zweiunddreißig Jahre war er alt und hatte immer noch nicht das Gefühl, dass seine Zeit gekommen war.

Napfmann pfiff das Spiel ab, und sie trotteten erschöpft vom Spielfeld. Martin trabte neben ihn und knuffte ihn in die Seite.

»Kommst du mit? Wir gehen auf ein Bier. Oder zwei oder drei. Haben ja eine Menge Flüssigkeit verloren.«

Er wollte ablehnen, aber dann sah er sie. Direkt am Spielfeldrand, den Jungen hatte sie fest an der Hand. Schön sah sie aus in ihrer Tracht, mit dem dunkelblauen Kopftuch über ihren geflochtenen Zöpfen. Sie hatte den Brustschmuck mit den zwölf Silberknöpfen angelegt und trug keine weiße Schürze über dem dunkelblauen Rock. Ihre Sonntagstracht, auch der Junge hatte Kniebundhosen, die gewalkte rote Joppe und ein weißes Hemd an. Feierlich sahen sie aus, einzig ihre traurigen Gesichter trübten das Bild.

»Ich bin dabei«, gab Berthold seinem Freund zur Antwort, denn er wusste: Alkohol vertrieb die Gespenster. Er wandte seinen Blick von den beiden Gestalten ab und folgte Martin ins Vereinsheim. Bevor er den Bau betrat, schaute er doch noch einmal zurück, aber sie waren verschwunden. Sie erschienen ihm immer nur kurz, verweilten nie, lösten sich innerhalb von Sekunden in Luft auf. Schade, dachte er, ich hätte meinem Sohn heute gerne einen besseren Vater gezeigt.

Im Umkleideraum roch es nach Raubtier, der Geruch von zwanzig durchgeschwitzten Männern, feuchter Wolle und nassem Leder vermischte sich mit dem Wasserdampf aus den Duschen. Berthold genoss den Strahl, der ihm auf die Schultern prasselte, und sehnte sich nach einem kühlen Bier und einem scharfen Schnaps. Er wusste, er würde nicht nur eine Runde brauchen, um später in den Schlaf zu finden, die körperliche Erschöpfung durch den Sport half ihm zu vergessen, betäubte ihn allerdings nicht in ausreichendem Maß.

Er seifte sich ein, stellte die Brause auf kalt und schrie einmal laut vor Schmerz und Schreck, als die eisigen Wassermassen auf seinen erhitzten Körper trafen. Aber der Schrei blieb ihm im Halse stecken, durch die Dampfschwaden erkannte er eine Uniform. Ein Schupo stand inmitten der nackten Männer, den Helm unter den Arm geklemmt, mit der freien Hand wedelte er sich vor dem Gesicht herum, um bessere Sicht auf die Sportler zu bekommen. Kalweit, einer seiner Männer, wunderte sich Berthold. Auch seine Mannschaftskollegen nahmen nun den so unpassend Gekleideten wahr, einige, wie auch Berthold, drehten das Wasser ab, und augenblicklich war es totenstill. Der junge Polizist sah sich suchend um, seine Augen fanden den Kommissar, und als er sich dessen Blöße bewusst wurde, senkte er errötend den Blick. Der dampfige Nebel in dem gekachelten Raum legte sich, und jeder konnte hören, warum der Schupo Berthold Rheydt hier aufgesucht hatte.

»Melde gehorsamst, Herr Kommissar, weibliche Leiche am Hafen aufgefunden. Ein Gewaltdelikt, natürliche Todesursache ausgeschlossen.«

Der Kommissar hätte gerne seine Blöße bedeckt, vor allem, weil er instinktiv Haltung angenommen hatte, was inmitten der nackten Kollegen weniger zackig denn lächerlich wirkte, aber sein Handtuch befand sich nicht in Reichweite, also legte Berthold lediglich seine Hände vors Gemächt. Er räusperte sich.

»Ist der Inspektor schon vor Ort?«

Der Schupo schüttelte den Kopf. Er hatte den Blick wieder gehoben und versuchte, seinem Vorgesetzten um jeden Preis in die Augen zu blicken, was ihm offensichtlich schwerfiel.

»Nein, Herr Kommissar. Der Inspektor hat befehligt, dass es Ihr Fall ist. Mit Verlaub.«

Sein Fall! Sein erster eigener Fall! Wäre seine augenblickliche Lage weniger despektierlich, Rheydt hätte sich einen kleinen Ausdruck der Euphorie darüber erlaubt, so aber schnauzte er lieber seinen Untergebenen an, um sich wenigstens durch den Tonfall etwas mehr Respekt zu verschaffen.

»Reden Sie nicht so geschraubt, Kalweit. Warten Sie draußen, ich brauche keine fünf Minuten, dann bin ich bei Ihnen.«

Der so Angesprochene nickte, drehte sich zackig um – hatte der Kerl tatsächlich die Hacken zusammengeschlagen? In der Dusche?, fragte sich Berthold amüsiert und folgte ihm in den Umkleideraum.

Während er sich hastig anzog, hatte er alle Mühe, seine perverse Freude über die getötete Frau zu verbergen.

3.

Den ersten Schock hatte sie verkraftet, aber das Unbehagen blieb. Helene saß auf dem ausladenden Sofa inmitten des Raumes und sah sich um. Die Decken waren niedrig, durch die windschiefen Fenster fiel weniger Licht als kalte Luft, die einfachen Holztische und Stühle waren ebenso altersschwach wie die Polstermöbel mit ihren abgewetzten Bezügen. In einer Ecke des großen Zimmers bollerte ein Holzofen, der beißenden Rauch, aber auch Wärme verströmte und zusammen mit den kleinen Gestecken auf jedem Tisch – Zapfen und Tannenzweige – eine Ahnung von Gemütlichkeit zu schaffen versuchte. Aber gegen das elende Ambiente kam er nicht an. Die niedrigen Decken drückten auf den dämmrigen Raum. Die Wände waren wohl frisch gestrichen, doch konnte man darunter das marode Mauerwerk ahnen. Es roch modrig.

Helene fühlte sich fremd, die Atmosphäre, die sie hier umgab, war so ganz anders als alles, was sie in ihrem bisherigen Leben kennengelernt hatte. Eigentlich, so hatte es ihr die Frau, die ihr nun gegenübersaß, erklärt, sollten sich hier diejenigen wohlfühlen, für die das Haus heute eröffnet werden sollte: Frauen, die Zuflucht suchten. Sei es, weil sie Hunger hatten, kein Dach über dem Kopf oder niemanden, der sich um ihre Kinder kümmerte, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen mussten. Frauen in Not, Frauen, die Hilfe brauchten und sonst nirgends bekamen. Nichts von alledem traf auf Helene zu, sie sollte nicht hier sitzen, und am liebsten wäre sie so schnell wie möglich zu ihrem Fahrrad und zurück in die Behaglichkeit ihres Lebens geflüchtet. Aber die Frau vis-à-vis fixierte sie unnachgiebig mit ihrem Blick.

»Geht es wieder?«, erkundigte sie sich, nachdem sie Helene mit heißem Tee versorgt hatte. Das Gebräu war stark, süß und schmeckte ordentlich nach Rum. Also wunderbar. Vor allem aber: Es half. Helenes Magen hatte sich beruhigt, ebenso wie ihre Nerven.

Helene nickte. »Viel besser.«

Sie sah durch das Fenster, hinaus auf den Quai, wo sich mittlerweile eine Handvoll Polizisten tummelte. Die Männer in Uniform hatten den Zugang zu diesem Teil des Hafens abgesperrt und alle, die sich hier wegen der Eröffnung des Frauenhauses befunden hatten, gebeten, sich ins Haus zurückzuziehen. Die Feierlichkeiten waren ohnehin beendet worden, noch bevor sie beginnen konnten. Die beiden jungen Männer von der Presse hatten an einem Fenster Position bezogen, der eine seinen Fotoapparat so ausgerichtet, dass er möglichst viel vom Geschehen auf dem Quai auf Platte bannen konnte, der andere schrieb hastig auf seinen Notizblock und registrierte jede Bewegung der Polizisten aufs genaueste.

Die beiden hatten sich nicht gerade vor Hilfsbereitschaft überschlagen, als Helene nach der grausigen Entdeckung auf dem Quai zusammengebrochen war. Zwar hatten sie am nächsten bei ihr gestanden und sich zuerst besorgt um sie gekümmert, aber kaum waren sie der Leiche im Boot gewahr geworden, hatten sie sich von Helene ab- und der Sensation zugewandt. Erst danach waren die anderen herbeigeeilt – die Frauen, die sich vor dem Frauenhaus postiert hatten. Die Elendsgestalten im Hintergrund waren urplötzlich verschwunden, als ahnten sie, dass die Aufregung an der Hafenkante nichts Gutes verhieß.

Zwei Frauen hatten Helene aufgeholfen und sie ins Haus gebracht, auf das Sofa gebettet und sich um sie gekümmert. Ohne zu fragen, wer sie war und was sie hier verloren hatte, dachte Helene beschämt und kam sich vor wie ein Dieb, weil sie mit ihrer unheilvollen Entdeckung die kleine Zeremonie gesprengt hatte. Irgendjemand musste die Polizei alarmiert haben, wahrscheinlich der Hafenmeister, aber das hatte sie nicht mitbekommen, so matt und verwirrt war sie gewesen. Jetzt aber, wo es ihr besser ging, wäre sie viel lieber dort draußen gewesen, wo die Polizei ihre Ermittlungen auf-nahm.

Sie dachte an den Kinofilm, an Sherlock Holmes. Gleich nach dem mitreißenden Erlebnis hatte sie sich die Bücher besorgt und alle Detektivgeschichten verschlungen, auch wenn ihr Vater der Meinung war, dass diese Lektüre denkbar ungeeignet für junge Mädchen war. Helene aber war zutiefst fasziniert vom Scharfsinn des britischen Detektivs – und jetzt fand ausgerechnet sie eine Leiche? Es hielt sie kaum etwas auf dem Sofa, sie wollte um jeden Preis die Arbeit der Polizisten dort draußen verfolgen. Was passierte nun – würde man die Leiche bergen? Jetzt, wo sie wusste, was sie erwartete, hätte sie gerne noch einmal einen Blick darauf geworfen. Helene war überzeugt, dass nur der Schock der Entdeckung, das so schrecklich Unerwartete, sie dazu gebracht hatte, sich zu übergeben. Nun aber, mit kühlem Kopf, würde sie den Anblick schon aushalten. Wie furchtbar die Ärmste ausgesehen hatte … Der Leichnam steckte in Frauenkleidern, der Hut auf dem Kopf wirkte wie eine schlechte Kostümierung. In der Leibmitte allerdings hatte irgendetwas nicht gestimmt. Leider erinnerte sich Helene nicht mehr genau an den Anblick, sie hatte zu schnell weggesehen und sich dann unrühmlich vor aller Augen übergeben. Wie peinlich! Und doch – sie schämte sich nur ein bisschen. Schließlich war dies das Aufregendste, das sie in ihrem ganzen Leben bisher erlebt hatte. Wenn sie das Julie erzählte! Und Klaus, natürlich, Klaus musste sie sofort einen Brief schreiben, noch heute Abend.

Die Frau legte ihr sacht eine Hand auf den Arm. »Fräulein Curtius? Alles in Ordnung?«

»Oh! Bitte verzeihen Sie.« Helene war in Gedanken gewesen, wahrscheinlich hatte die Frau etwas gefragt und wartete auf eine Antwort. »Was sagten Sie?«

»Ich habe gesagt, dass Ihr Vater benachrichtigt wurde. Er wird bald kommen und Sie abholen.«

Vater. Auch das noch. Es würde ein entsetzliches Donnerwetter geben, und Helene wusste, wo diese ganze Episode enden würde: in der Hauswirtschaftsschule. Die Frau ihr gegenüber musterte sie eindringlich, las ganz offensichtlich in ihr wie in einem offenen Buch.

»War das nicht richtig?«

»Nein, es ist nicht Ihre Schuld. Ganz und gar nicht, es ist nur …«

Helene sah die Frau an. Sah in ihr Gesicht, die tiefdunklen Augen und den lächelnden Mund. Ein Lächeln, das die Augen nicht erreichte. Der Blick war eher forschend, als wollte sie Helene durchleuchten, auf den tiefsten Punkt ihrer Seele blicken. Schön war die Frau, sehr schön und nicht viel älter als sie selbst. Helene schätzte sie auf Mitte, allerhöchstens Ende zwanzig. Ihre Haut hell, fast weiß und ihr Haar beinahe schwarz, sie trug es in einem losen Knoten. Eine außergewöhnlich elegante Erscheinung, eleganter, als es Ort und Anlass erwarten ließen. Aber etwas an der Frau blieb eigentümlich. Distanziert war sie, doppelbödig. Geheimnisvoll? Helene konnte es nicht benennen, sie war fasziniert und befremdet zugleich. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob sich die Frau ihr vorgestellt hatte, aber ihr wollte nichts einfallen, kein Name und keine Funktion.

»Wer sagten Sie, sind Sie?«

Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, wurde sie sich ihrer Unverschämtheit bewusst, nicht ihre Gastgeberin wider Willen musste sich erklären, es war doch vielmehr so, dass ihre eigene Anwesenheit hier einer Erklärung bedurfte. Aber das schien die Dame nicht zu kümmern.

»Doktor Anne Fitzpatrick«, stellte sie sich vor und lächelte – dieses Mal richtig. »Ich leite dieses Haus.« Sie lachte kurz auf. »Oder vielmehr: Ich hätte es geleitet. Wenn Sie nicht diese schockierende Entdeckung gemacht hätten.«

»Doktor?«

»Ja. Ich bin Doktor der Medizin, ich habe studiert und promoviert.«

Helene verschlug es die Sprache. »Hier in Hamburg? Ich wusste nicht, dass das möglich ist.«

Die Augenbrauen von Dr. Fitzpatrick schnellten nach oben, sie schaute spöttisch. »Ich habe in Edinburgh studiert. An der Medical School.«

»Ich möchte auch studieren.«

»Dann gehen Sie nach Zürich! Im Deutschen Reich bleibt es schwierig.« Sie musterte Helene erneut mit diesem durchdringenden, kritischen Blick, als prüfte sie, ob sie ihr trauen könne. »Ganz im Ernst, ich hoffe, dass wir auch das noch durchsetzen werden, wie so vieles, das wir uns mühsam erkämpfen müssen. Aber Sie sind ja noch sehr jung …«

»Zwanzig! Mein Vater möchte mich auf eine Hauswirtschaftsschule schicken, aber da gehe ich ein.«

Dr. Fitzpatrick nahm ihr sanft die leere Teetasse aus der Hand und stellte sie auf den benachbarten Tisch.

»Ich würde gerne wissen, was Sie hierhergeführt hat. Sie sehen aus wie eine junge Dame aus gutem Haus, nicht gerade unsere Klientel.«

»Ich habe in der Zeitung davon gelesen.«

»Ah!«

Von draußen drang nun Lärm ins Innere des Hauses, und beide Frauen drehten sich um. Männerstimmen, es klang nach einer Diskussion, und zu ihrem großen Entsetzen erkannte Helene den Bass ihres Vaters.

»Ich wollte helfen«, beeilte Helene sich, ihre Anwesenheit zu erklären.

»Nun, das ist gründlich schiefgegangen.«

Die Tür des Raumes öffnete sich, und Pastor Curtius stand auf der Schwelle. Sein Kopf schien beinahe den oberen Türrahmen zu berühren, und entweder nahm er den Hut deshalb ab, oder er zeigte tatsächlich Anstand vor der Dame – was Helene gewundert hätte. Schließlich fiel zweifellos auch Dr. Fitzpatrick in die Kategorie »Weibsstück«.

Sein Blick wanderte zwischen den Frauen hin und her und blieb an der Medizinerin, die sich erhoben hatte und ihm entgegenging, hängen.

»Ich nehme an, Sie sind der Vater dieser jungen Dame?«, sagte Dr. Fitzpatrick.

»Pastor Engelbert Curtius«, gab Helenes Vater erstaunlich brav und fast ohne Poltern in der Stimme zurück. »Vielen Dank, dass Sie sich um meine Tochter gekümmert haben, Frau …?«

»Doktor Fitzpatrick.«

Helene konnte genau beobachten, wie sich der Ausdruck in den Augen ihres Vaters veränderte und zwischen Abneigung und Faszination wechselte. Es schien ihm für einen Moment die Sprache verschlagen zu haben, denn er nickte nur und wandte sich gleich an seine Tochter.

»Helene, wir gehen.«

Helene stand auf, blieb vor Dr. Fitzpatrick stehen und bedankte sich für den Tee.

»Und es ist mir furchtbar peinlich, dass ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereitet habe! Ich wünschte, das wäre nicht passiert.«

Erneut zog Dr. Fitzpatrick ihre Augenbrauen hoch und bedachte sie mit dem gleichen spöttischen Ausdruck wie zuvor.

»Ich nehme nicht an, dass Sie den Tod der armen Frau verursacht haben, also sind Sie vollkommen unschuldig an dem unglücklichen Verlauf.«