Die Hebamme - Kerstin Cantz - E-Book

Die Hebamme E-Book

Kerstin Cantz

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Beschreibung

Die Macht der Medizin gegen das geheime Wissen der Hebamme

Marburg, 1799: Seit Ärzte die Geburtshilfe zum akademischen Fach erheben, finden Entbindungen im Gebärhaus statt – unter menschenunwürdigen Bedingungen, wie die Hebammenschülerin Gesa bald herausfindet. Deshalb vertrauen sich die Marburgerinnen lieber der geheimnisvollen Elgin an, auch wenn die Obrigkeiten das Wirken der erfahrenen Hebamme als Pfuscherei abtun. Als die selbstbewusste Elgin sich weigert, mit dem Gebärhaus zusammenzuarbeiten, kommt es zu einem folgenschweren Machtkampf …

Ein spannungsgeladener historischer Roman mit kriminalistischen Elementen.

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Seitenzahl: 553

Veröffentlichungsjahr: 2009

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Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Die Autorin
Widmung
Lob
 
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
 
Epilog
Literaturauswahl
Danksagung
Copyright
Das Buch
Als die junge Landhebamme Gesa ihre Ausbildung im Marburger Gebärhaus antritt, hofft sie, den unverheirateten Schwangeren helfen zu können. Die Methoden und Werkzeuge der modernen Geburtsmedizin, die entwürdigende Zurschaustellung der Gebärenden im Hörsaal verstören Gesa allerdings zutiefst. Dagegen bewundert sie die geheimnisvolle Stadthebamme Elgin, die sich nicht von Professor Kilian, dem Leiter des Gebärhauses, für seine ehrgeizigen Pläne einnehmen lassen will. Doch der Drang nach Unabhängigkeit wird für Elgin verhängnisvolle Konsequenzen haben, die auch Gesa nicht aufhalten kann.
 
Ein spannungsgeladener historischer Roman über zwei ungewöhnliche Frauen, die ihre Freiheit verteidigen.

Pressestimmen

»Spannung mit Tiefgang.« Oberhessische Presse
Die Autorin
Kerstin Cantz wurde 1958 in Potsdam geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach dem Publizistik-Studium arbeitete sie als freie Journalistin, war Redakteurin bei einem privaten Fernsehsender und schrieb Drehbücher. »Die Hebamme« ist ihr erster historischer Roman. Heute lebt sie mit ihrer Familie in München.
Meiner Mutterund Günter in Liebe
- aber das Traurigste wird sein, dass ich mit dem Fluch der Sünde belasten werde, was keine ist, wie sie es alle machen – und mir wird Recht dafür geschehen.
 
BETTINA VON ARNIM
Eins
MARBURG, MÄRZ 1799
Sie hatte nicht erwartet, dass der Schmerz aus der Mitte des Rückens kommen würde, und nun zerrte er an ihr, als wollte er sie in Stücke reißen. Wenn er ihr eine Ruhepause gönnte, dann nur, um danach noch zorniger zu werden.
Feine Schneeflocken schwebten an ihr vorüber, berührten sie kaum, schienen nur die Nacht ein wenig heller zu machen, und kälter. Der Winter war noch einmal zurückgekehrt, als hätte er in den Wäldern vor den Toren der Stadt nur darauf gewartet, sie in dieser Nacht hier anzutreffen und ihr alles noch schwerer zu machen.
Alle waren gegen sie, davon war sie inzwischen überzeugt. Alle, die in den Häusern der Oberstadt schliefen. Denen es nicht passieren konnte wie ihr, schnurstracks in die Hölle zu geraten für etwas, das ohne jedes Versprechen über sie gekommen war. Das reichte, um gegen sie zu sein. Sie konnte nicht anders, als zu glauben, dass sie es verdiente. Etwas anderes hatte man ihr nicht beigebracht.
Sie lief, so schnell sie konnte, und kam doch kaum voran auf der alten Pilgerstraße, die unten an der Stadt entlangführte. Ihre Füße fühlte sie nicht mehr, sie hatten in der Kälte jede Beweglichkeit verloren, fanden keinen Halt auf dem steinigen Weg.
Sie hatte es nicht gewagt, ihre Holzschuhe mitzunehmen, denn sie musste auf ihrer Flucht jedes Geräusch vermeiden. Heute Nacht war sie das erste Mal froh gewesen über das Schnarchen der alten Textor, deren schlechter Atem ihr mehrfach ins Gesicht geschlagen war. Dann, wenn sie nach ihren Wehen gefragt hatte.
Keine der anderen Frauen hatte sie aufgehalten, und sie hatte nicht darauf geachtet, ob sie schliefen oder vielleicht wach lagen in den harten, mit muffigem Stroh gestopften Betten. In wenigen Stunden würde eine von ihnen wieder hinter die Flügel jener Tür geführt werden. Im Fortgehen hatte sie es vermieden, dort hinzuschauen, als könnten sie sich plötzlich öffnen und sie für alle Ewigkeit verschlucken.
Draußen hatte sie den Fluss gerochen und für einen Moment in Erwägung gezogen, allem ein Ende zu setzen. Doch dann war der Schmerz zurückgekommen, in einer mächtigen Welle, um sie von dem Haus nahe der Brücke fortzutreiben. Dieser Schmerz, den sie gefürchtet und den sie seit Einsetzen der Dunkelheit belauscht hatte. Sie durfte sich doch nicht verraten, denn was sie dort erwartet hätte, wäre noch schlimmer gewesen als alles, was sie bisher über sich ergehen lassen musste.
Das hatte sie begriffen in den Tagen, die mit Angst begannen, noch bevor man sie rief und die Scham sie durchflutete.
Wenn die Hände der Alten sie mit rohen Griffen auf den Tisch hievten, vor die wartenden Männer. Wenn dieses Zittern durch ihren Körper lief, das sie nicht beherrschen konnte. Immer hielt sie den Blick gesenkt, sie wollte sich schützen, nur ein Versuch.
Hände hatten ihren Leib betastet, waren in sie eingedrungen, als suchten sie in ihr nach einem düsteren Geheimnis. Worte, deren Bedeutung sie nicht verstand und die nie an sie gerichtet waren, sprachen sie schuldig, immer wieder, jeden Tag.
Sie wusste von Werkzeugen, mit denen sie das Leben aus ihr herauszerren würden. Sie hatte die Schreie einer Frau gehört und den barschen Ton der Alten, der diese zu einem Wimmern erstickte.
Ein leichter Wind fuhr durch die Bäume des verwilderten Parks, an dem sie vorbeimusste. Sie hörte Äste knarren und zog das Schultertuch enger um sich. Sie versuchte, ihre Schritte zu beschleunigen, und plötzlich, ohne dass erneuter Schmerz sie gewarnt hätte, spürte sie einen heißen Schwall zwischen den Beinen hervorbrechen. Sie suchte Halt, und für einen Moment spürte sie die zerfurchte Rinde eines Baumriesen so hoffnungsvoll wie eine menschliche Berührung. Ein Schluchzen stieg in ihr hoch, sie schlug die Hand vor den Mund, um es nicht herauszulassen. Mit der anderen umschlang sie ihren Bauch, der hart war und sie nach unten zog, sodass sie ihm am liebsten nachgegeben hätte. Sie wollte auf die Knie fallen, sich auf die Hände stützen, das Gewicht von ihren steifen Beinen nehmen, von den wunden Füßen. Sie wollte ihren Rücken lehnen an etwas, das sie wärmend stützte, und alles geschehen lassen, auch die Schmerzen. Sie wollte schreien.
Stattdessen setzte sie ihren Weg fort und lief weiter auf der dunklen Straße, ohne jemandes Schlaf zu stören.
Sie hatte es nicht mehr weit bis zum Haus des Töpfers, dort, wo sie als Magd verdingt gewesen war, und wo man sie weggeschickt hatte. Die Dienstherrin hatte gesagt, es sei zu ihrem Besten, aber sie wusste doch nicht, wovon sie redete, als sie ihr versprach, sie würden ihr helfen in jenem Haus. Sie hatte vielleicht noch nie gehört, was die Leute erzählten. Oder doch?
Im Laufen schlangen sich die Röcke um ihre Beine, durchnässt und schwer, als wäre sie durch Schlamm gewatet. Sie stellte sich die Stiege vor und zählte im Stillen die Stufen, die außen am Haus zur Öffnung des Dachstuhls führten, wo sie das Stroh lagerten. Sie würde der Versuchung widerstehen müssen, sich unten in der Werkstatt am Brennofen aufzuwärmen, denn er wurde bewacht.
Und sie würde alle Kraft brauchen, unbemerkt hinaufzukommen. Sie würde alle Kraft brauchen, ihr Kind zu gebären. Ohne einen Laut.
Der Himmel riss auf, und in der Märzsonne konnte Gesa Langwasser sehen, wie hässlich das Haus war. Es stand in keinem guten Ruf, das hatte sie gleich bemerkt, als sie am Barfüßertor das erste Mal nach dem Weg fragte, und noch hatte sie keine Ahnung, warum das so war.
»Das Haus Am Grün?«
Keiner ließ es sich nehmen, den Worten einen ganz besonderen Klang zu geben, und stets waren diese begleitet von einem Blick auf ihre Körpermitte.
Die Leute hatten ihr kaum ins Gesicht geschaut. Die Leute sahen das, was sie immer sahen, wenn nach dem Haus Am Grün gefragt wurde: eine Frau in Schwierigkeiten. Man hörte Dinge und erzählte sie gern weiter, denn man konnte sicher sein, damit jederzeit Zuhörer zu finden. Diese Frau schien nun gar nicht zu wissen, was sie erwartete. Dafür hatte sie sich zu viel Mühe gegeben, anständig zu erscheinen. Ihr blondes Haar war aus dem jungen Gesicht zu einem straffen Knoten gezurrt und von einer bestickten Kappe bedeckt, deren Bänder sie sorgfältig unter dem Kinn verschlossen hatte.
Die Blicke der Leute hatten sich an nichts länger aufgehalten als am Bund ihrer Röcke, von denen sie drei übereinander trug, wie es auf den Dörfern üblich war. Sogar Lederschuhe hatte sie an. Wenn man es so betrachtete, waren ihr die Schwierigkeiten nicht anzusehen.
Die Bemühungen, ihr den Weg zu erklären, fielen nicht sonderlich gründlich aus. Gesa musste sich mit vagen Richtungsangaben zufrieden geben und mit Straßennamen, die ihr hingeworfen wurden, gleichgültig, ob sie etwas damit anfangen konnte.
Sie hätte meinen können, man schickte sie mit einer gewissen Absicht kreuz und quer durch Marburg. Doch für Gesa gab es keinen Grund, so etwas anzunehmen. Alles Fremde war an ihr vorübergeglitten, es war so vieles, und sie hatte es zu eilig, als dass sie es fassen konnte. Nur der Gestank und der Dreck in den Gassen sagten ihr, dass manches in der Stadt nicht anders war als zu Hause.
Erst als eine der Frauen, die sie nach dem Haus fragte, den Kopf geschüttelt und Gesa ein armes Kind genannt hatte, war sie ungeduldig geworden. Fast hatte sie alles erklären wollen: dass sie nach Marburg gekommen war, weil es neue Gesetze gab, die von allen Hebammen verlangten, sich einer Prüfung durch Ärzte zu unterziehen; dass es der Dorfschulze damit sehr ernst nahm und ihm das Wort der Frauen nicht reichte. Gesa hätte erklären können, wie stolz sie darauf war, dass sie von ihnen einstimmig gewählt worden war und der Schulze auf einer Prüfung bestand. Doch sie erklärte nichts und fragte niemanden mehr.
Sie stand am unteren Ende der Stadt vor dem Haus mit der fleckigen Fassade und war nicht einmal enttäuscht. Sie hatte sich beim besten Willen nicht vorstellen können, was ein Gebärhaus war, und darüber, wie es aussehen könnte, hatte sie sich erst recht keine Gedanken gemacht.
Bis heute kannte Gesa nur wenig mehr als ihr Dorf, das in einer Senke lag, zwei Tagesmärsche von Marburg entfernt. Dort hatte sie gelebt, seit sie denken konnte. Sie wusste, dass sie dort zwar nicht geboren, aber mit Tante Bele in einer Zeit dort angekommen war, an die sie keine Erinnerung hatte. Gesa kannte kaum mehr als die abgelegenen Höfe, zu denen sie oft mit ihr gelaufen war. So wie in der frostigen Nacht, die Bele mit dem Leben bezahlen musste, nachdem sie zusammen noch ein anderes auf die Welt geholt hatten.
Gesa blinzelte hinüber zum Fluss, auf dem in der späten Sonne Lichter tanzten. Einige Trauerweiden neigten sich dem Wasser zu, und die Uferwiesen waren noch braun vom Winter. Sie dachte an ihren Garten, der jetzt am Hang vor dem kleinen Haus schmucklos dalag. Wäre alles so geblieben, wie es war, dann hätten sie bald in den ersten Apriltagen die Beete für die Aussaat vorbereitet.
Aber nichts war so geblieben, wie es war. Vielleicht würde jemand ihren Garten bepflanzen, damit sie Gemüse für den Winter hatte, denn man wartete schließlich auf ihre Rückkehr. Sie hörte die Räder eines Fuhrwerks über eine Brücke rumpeln und wollte ihm nachlaufen. Sie tat es nicht, denn fürs Erste war sie am Ziel.
 
Ein Fenster wurde über ihr aufgestoßen. Nacheinander klappten im ersten Stockwerk die Flügel aller Fenster auf, ohne dass Gesa einen Menschen entdecken konnte. Eine ungeduldige Männerstimme brachte eine andere zum Schweigen und verlor sich dann.
»Willst wohl da draußen festwachsen«, sagte jemand.
Nur schwer konnte Gesa die Züge der Frau erkennen, die ihr die Tür geöffnet hatte. Alles an ihr schien grau zu sein, als sei sie ein massiger Schatten. Sie trug ein dunkles, hochgeschlossenes Kleid und eine lange, helle Schürze, die einige Flecken erkennen ließ.
»Hättest dir ruhig noch ein paar Wochen Zeit lassen können, wie ich das sehe. Wir sind nicht dazu da, dich durchzufüttern.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Gesa und fasste ihr Bündel fester. »Ich heiße Gesa Langwasser, und ich bin hier, um die Prüfung zu machen.«
»Ach was.«
Die Frau trat einen Schritt vor. Eine weiße Haube bedeckte ihren großen Kopf und das Haar, sofern sie welches hatte. Man konnte Zweifel daran haben, weil das Gesicht so vollkommen nackt aussah. Ihre Augen, die Gesa weiterhin regungslos musterten, lagen darin wie flache Steine.
»Eine neue Schülerin also.«
Es war eindeutig Branntwein, den Gesa roch, als sie so dicht vor ihr stand, was unangenehm genug war, und er mischte sich mit einem süßlichen Geruch, der es keinesfalls besser machte.
»Na los, dann komm mit«, sagte die Frau. »Aber glaub nicht, dass du jetzt eine Hausführung kriegst. Die macht der Herr Professor gern selbst, er legt sogar allergrößten Wert drauf. Dann kann er nämlich seine Regeln mitteilen, die sind ihm sehr wichtig, seine Regeln.«
Gesa musste dicht bei ihr bleiben, um zu verstehen, was sie sagte. Und sie wollte es verstehen, obwohl sie nicht mehr damit rechnete, dass es sich um etwas Freundliches handeln könnte.
Das Einzige, was Gesa erkennen konnte, während sie der Frau durch den unteren Teil des Hauses nachlief, war die Küche. Die Wärme des Herdfeuers flog viel zu schnell an ihr vorbei, und sie bemerkte, dass sie hungrig war. Zuletzt hatte sie mittags etwas gepökeltes Fleisch gegessen, ein letztes Stück, das sie in der Speisekammer hatte finden können, bevor sie sich auf den Weg gemacht hatte. Ihre Vorräte waren in diesem Jahr früher aufgebraucht als sonst. Sie hatte Tante Bele zum Schluss jeden Tag eine Fleischbrühe gekocht, jeden Tag, bis zum letzten.
Über eine dunkle Treppe erreichten sie den ersten Stock. Hinter leicht geöffneten hohen Türen nahm Gesa eine Bewegung wahr. Sie vermutete, dass es ein großer Raum war, der dahinter lag, und plötzlich konnte sie wieder die Neugierde spüren, die in den letzten Wochen stetig in ihr gewachsen war.
Gesa folgte der Alten durch einen lichtlosen Gang, in dem es kälter war als unten. Hier lagen weitere, wohl kleinere Zimmer nebeneinander, in denen sie gedämpfte Stimmen ausmachen konnte, die verstummten, sobald ihre Schritte sich näherten.
»Das Lüften ist hier im Hause eine der wichtigsten Regeln, damit du das weißt. Ständig werden die Fenster aufgerissen, und wenn du mich fragst, ist es für nichts gut, als sich gründlich den Hintern abzufrieren. Aber der Herr Professor wird dir seine gelehrte Meinung dazu verkünden, und du wirst tun, was er will. Trotzdem wirst du zuallererst das tun, was ich von dir will.«
Die Frau öffnete die Tür am Ende des Flurs und wandte sich zu Gesa um.
»Ich bin die Haushebamme Textor.«
Mit ihr betrat Gesa eine kleine Schreibstube, in der selbst das wenige schlichte Mobiliar kaum Platz hatte.
»Und Sie unterrichten uns?« Gern hätte Gesa darum gebeten, sich auf den Stuhl neben der Tür setzen zu dürfen. Ihr taten die Füße weh in Beles Schuhen.
»Das fehlte noch!« Die Frau lachte freudlos.
Während ihre Finger unter die Schürze griffen und einen Schlüsselbund hervorzogen, zwängte sie sich an dem Tisch vorbei zum Schrank, und ihre Versuche, das Schlüsselloch zu treffen, misslangen mehrfach.
»Frau Textor?«
Die Stimme kam vom Flur, und Gesa fragte sich, ob der Mann, der jetzt im Türrahmen auftauchte, sich genähert hatte, ohne den Boden zu berühren. Seine Gestalt wirkte groß und dunkel in dem kleinen Raum, doch das mochte an dem schwarzen Gehrock liegen und den schmalen Hosen.
Die Alte fuhr auf, und ihr überraschtes Prusten hatte einen aufsässigen Unterton. Sie holte etwas unter der Schürze hervor, steckte es sich in den Mund und schob es, was auch immer es war, darin herum.
»Aus Ihrer Frage schließe ich, dass Sie eine unserer Hebammenschülerinnen sind …«, sagte der Mann mit einem flüchtigen Lächeln. »Nun, ich kann Ihnen dazu sagen, dass Sie von Professor Kilian unterrichtet werden, einem angesehenen Geburtshelfer und Gelehrten. Und in unwesentlicheren Anteilen von mir.«
Sie war sich selber fremd unter dem Blick dieses Mannes, der vermutlich ein Doktor der Medizin war und jünger, als man das von so jemandem denken würde.
Er musste sie für unhöflich halten, weil sie immer noch keinen Ton herausgebracht hatte. Fahrig strich er seine Haare aus der Stirn, und entweder hatte er vergessen, seinen Namen zu nennen, oder fand möglicherweise, Gesa müsste sich zuerst vorstellen. Die Stille rauschte in ihren Ohren, und sie fühlte sich unbehaglich.
»Wie auch immer …«, fuhr der Mann fort, »… Frau Textor, ich möchte Sie daran erinnern, dass wir von nun an in der Nacht das Haus verschließen, wenn Sie das bitte nicht vergessen möchten. Der Professor bat darum, es Ihnen noch einmal zu sagen. Das tue ich hiermit und empfehle mich.«
Er nickte kurz und verschwand. Gesa lauschte auf seine Schritte, die sich rasch entfernten.
»Vergessen!«, sagte die Hebamme und verzog ihr dickes Gesicht. »Wie soll ich das vergessen nach dem Affentheater heut früh.«
Sie nahm ein großes Buch aus dem Schrank. Dann klappte sie das Tintenfass auf und begutachtete die Spitze der Schreibfeder.
»Das war der Herr Doktor Heuser. Wenn du ihm schöne Augen machen willst, dann kannst du dir die Mühe sparen. Das Einzige, was der mit Weibern anfängt, ist nämlich, sie zu vermessen. Hast du das Geld?«
Gesa stellte ihren Korb ab und begann ihr Bündel aufzuknüpfen.
Sie zählte der Alten das Geld auf den Tisch, laut, so wie es der Dorfschulze getan hatte, feierlich, jeden Taler einzeln. Es beruhigte sie, ihre eigene Stimme zu hören. Das hatte ihr schon geholfen, als sie noch ein Kind war und Bele sie in den Nächten allein ließ.
Es gab noch etwas, das Gesa beruhigte, nämlich mit nackten Füßen den Boden zu berühren. Dabei war es gleichgültig, ob es die feuchte Erde einer Wiese war, die harten Furchen eines Feldes oder die Kiesel am Grund des Alten Wassers, eines Weihers, in den sie jeden Herbst den Flachs zum Weichen gelegt hatte. Es war gleichgültig, ob es der Lehmboden zu Hause war, den sie fegen, befeuchten und festtreten musste, oder ein Holzboden, wie sie ihn von den größeren Höfen kannte und wie sie ihn jetzt hier unter den Füßen hatte, in dem Zimmer mit vier leeren Betten.
Die Haushebamme hatte sie hier heraufgeführt, nachdem sie umständlich Gesas Namen in das Buch eingetragen hatte, ihre Konfession, den Tag ihrer Geburt und den Tag ihrer Ankunft im Gebärhaus zu Marburg. Gesa hatte versucht, weitere Eintragungen auf der Seite zu entdecken. Doch die Hebamme schrieb mit dicht über das Papier gebeugtem Kopf, und Gesa hatte nicht gewagt, ihr zum Entzünden der Kerze zu raten.
Sie wagte auch nicht, nach etwas zu essen zu fragen, und so bekam sie auch nichts.
Aus einer Kammer im oberen Flur hatte sie Leinzeug erhalten und etwas, das eine Schürze sein mochte, wie jene, die Frau Textor trug. Nun blickte Gesa auf ihre Füße hinab, auf denen die dicken Wollstrümpfe ein Muster hinterlassen hatten, und bewegte sie. Die Dielen schienen wärmer zu sein als die abgestandene Luft in dem Zimmer. Hier legte man offenbar nicht so viel Wert auf das Lüften. Über sich hörte sie ein Geräusch, als würde ein Stuhl verschoben, und nebenan öffnete sich eine Tür.
Gesa setzte einen großen Zeh auf und zog einen Halbkreis in die dünne Staubschicht, die den Boden so gleichmäßig bedeckte, als hätte ihn lange niemand betreten. Sie breitete die Arme aus und drehte sich weiter, bis sie mit der Zehenspitze den Kreis schließen konnte. Ihr Blick war auf den Boden geheftet, und Gesa war überrascht, als ihr dort wenige Schritte entfernt ein zweites Paar nackter Füße begegnete, über dem sich der Saum eines dunkelblauen Kleides bewegte.
In der Tür stand eine junge Frau und sah ihr zu.
»Wenn man bedenkt, dass ich erst heute die heilige Elisabeth angefleht hab, mich hier nicht länger allein zu lassen … Und jetzt kommst du, na so was«, sagte sie. »Ich bin Lotte Seiler. Und du? Du bist doch die Neue?«
»Ja. Ich bin Gesa Langwasser.«
»Du bist noch jung, um eine Hebamme zu sein oder auch nur eine zu werden. Wie alt bist du?«
»Neunzehn.«
»Na so was«, sagte Lotte wieder und kam auf sie zu. Sie neigte ihren Kopf zur Seite und begutachtete Gesa. Ihre flinken Augen huschten über alles, was sie interessierte. Mit ihrem leicht gedrungenen Körper und den kurzen Schritten wirkte sie wie eine Henne, die ihr Gelege abschreitet, und sogar ihre Haare erinnerten an das Gefieder brauner Hühner.
»Und noch nicht verheiratet?«
»Woher willst du das wissen?«
Lotte blieb stehen und schaute Gesa weiter an.
»Die Farben deiner Haubenbänder. Hellblau unverheiratet, weiß für die Witwen, blau für den Rest – das Dorf sieht alles, das muss ich dir doch nicht sagen. Sie haben doch bestimmt einen langen Hals gemacht, die Kerle – du bist hübsch. Also, wie hast du sie dir vom Leib gehalten? Hast du Waffen unter deinen Röcken versteckt? Die trägt man hier übrigens länger, hast du das gesehen?«
Gesa lachte. Es war das erste Mal seit vielen Wochen, dass sie das konnte.
»Willst du nicht mit mir rüberkommen?«, fragte Lotte und senkte ihre Stimme ein wenig. »Warum soll jede für sich sein? Nur, weil sie die Betten nicht voll kriegen. Nicht bei uns hier oben und bei den Schwangeren auch nicht. Heute Nacht ist ihnen eine entkommen. Der Professor war außer sich, den ganzen Tag hat er sich nicht beruhigt.«
Entkommen?, dachte Gesa und fragte: »War die Hebamme deshalb so schlechter Dinge?«
»Du wirst feststellen, dass sie keinen besonderen Grund braucht, um schlechter Dinge zu sein.«
Sie folgte Lotte hinüber in das andere Zimmer, das sich in nichts von dem anderen unterschied. Dass es von Lotte bewohnt war, reichte Gesa, um sich dort besser zu fühlen. Sie überließ sich dieser jungen Frau wie ein Kind, folgte ihrem Rat, das klumpige Bett aufzuschütteln, nahm aus ihrer Hand das Leinzeug entgegen, um es zu beziehen und sich darauf niederzulassen.
Sie ließ den Schmerz dieses Tages aus dem Körper gehen und musste nicht daran denken, dass noch ein anderer auf sie wartete. Sie konnte das vergessen, weil sie Lotte zuhörte, die ihr erzählte, dass sie verheiratet war und zwei Kinder geboren hatte, von denen eines nur ein Jahr alt geworden war. Sie sprach von ihrem Mann, der Schmied war und dem im vergangenen Sommer ein Ackergaul vor den Schädel getreten hatte. Sie erzählte, dass er seit dem Tritt nicht mehr richtig arbeiten konnte und dass sie ihn deshalb rumgekriegt hatte, sie etwas dazuverdienen zu lassen. Ihr Dorf in der Schwalm brauchte eine Hebamme, weil die alte wegen ihrer gichtigen Finger nicht mehr recht hinlangen konnte.
»Jedenfalls«, sagte Lotte, »schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. In diesem Jahr krieg ich selber kein Kind mehr, weil ich hier bin und weg von zu Hause. Nämlich eins sag ich dir: So geschwächt ist mein lieber Mann nun auch wieder nicht, dass er damit aufhören wollte, mir immer wieder ans Hemd zu gehen.«
»Wie lange bist du denn schon hier?«, fragte Gesa schläfrig.
»Drei Wochen.«
»Wie ist es?«
»Ach«, sagte Lotte. »Das wirst du morgen selber sehen.«
Marietta war nervös, seit sie nach der Gottschalkin geschickt hatte. Sie öffnete den schweren Deckel der Truhe und ärgerte sich über den Staub, der selbst in dem matten Licht zu sehen war, das durch die kleinen Fenster in die Stube fiel.
Sie war Herrin eines gut geführten Haushalts, die Frau des Töpfermeisters, und sie war es nicht gewohnt, ihr Handeln infrage zu stellen. In Wirklichkeit ärgerte sie sich maßlos über dieses dumme Ding, das im anderen Teil ihres Hauses auf dem Heuboden lag. Und wenn Marietta noch länger darüber nachdachte, dann musste sie selbst sich fast für ehrlos halten. Man konnte ihr vorwerfen, dass sie ihrer Pflicht nicht nachgekommen war, ein unerträglicher Gedanke.
Sie zerrte eine grobe Decke hervor und schloss die Truhe mit einem Knall. Besser, sie machte alles selber. Das Gesinde würde nur herumplappern. Die neue Magd war zwar schwer von Begriff, aber an dem, was es da oben zu sehen gab, war nichts falsch zu verstehen.
Deshalb hatte Marietta den alten Mattes geschickt, der fast taub war und zu nicht viel mehr nütze, als die Wache am Brennofen zu halten. Sie hatte ihn aus der Werkstatt fortzerren und an ihn hinschreien müssen. Sie musste ihm warmes Bier versprechen und würde dafür sorgen, dass er es sofort bei seiner Rückkehr bekam. Dann konnte sie sicher sein, dass er den zahnlosen Mund hielt über das, was sie ihm aufgetragen hatte.
Zwei Stunden waren vergangen, seit sie dem unverkennbaren dünnen Ton die Stiege hinaufgefolgt war. Diesem zittrigen Laut, den sie kannte, weil er ihr schon aus so vielen Stuben entgegengekommen war. Immer dann, wenn sie als gute Nachbarin eine Wochensuppe brachte, die sie so zubereiten konnte, dass sich alle die Finger danach leckten.
Es war bekannt, dass Marietta ein schwarzes Huhn schlachten ließ, wenn es in der Nachbarschaft eine Geburt gegeben hatte, denn das konnte sich hier wahrhaftig nicht jeder leisten. In der Stadt nahm das Elend täglich zu, die Töpfer aber hatten im Gegensatz zu anderen Handwerksbetrieben in diesen Tagen ein gutes Auskommen. Viele konnten ihre Waren kaum losschlagen, die Auftragslage der Euler jedoch stieg. Und seitdem sie nicht mehr nur Dachsteine brannten, sondern man plötzlich nach Töpfen, Krügen und Geschirr verlangte, die bis nach Frankfurt geliefert wurden, kam das Geschäft erst richtig in Schwung.
Deshalb gefiel es Marietta, die Frau von Eugen Schricker, dem Töpfermeister, zu sein. Und sie wollte es bleiben. Dafür musste sie sich anstrengen, sie wusste es, obwohl er nicht darüber sprach. Bis jetzt reichte es ihm vielleicht noch, dass sie sich so bereitwillig beschlafen ließ.
Seine Mutter dagegen hatte begonnen, ihr unverhohlen auf den Leib zu starren, sobald die Zeit reif gewesen war nach der Hochzeit. Schlimm genug, dass sie jeden Handstreich, den sie im Haus tat, kontrolliert hatte, die alte Vettel. Ob die Suppe, die sie für die Gesellen auf den Tisch brachte, nicht zu fett und das Brot nicht zu dick geschnitten war. Sie schien über alles Bescheid zu wissen, was sich unter dem Dach des Hauses tat.
Jedes Mal, wenn Eugen die schweren Leinenvorhänge des Bettes mit der einen Hand schloss, während die andere schon ihr Hemd hochschob, fürchtete Marietta, die alte Schrickerin hätte ihr Ohr an der Wand, denn ihre Schlafkammer war nebenan. Und so hatte sie regungslos dagelegen und geschehen lassen, was immer auf gleiche Weise geschah, wenn sie Eugens Hände auf ihren Schenkeln spürte. Sein Verlangen befriedigte er mit schnellen Stößen. Nach ihrem fragte er nicht.
Die Alte hatte sich nicht entblödet, ihr an einem frühen Morgen, während sie ihre Sauermilch schlürfte, zu sagen, dass sie sich in der Nacht ein Kissen unter den Hintern legen sollte. Das würde Wunder wirken.
Nie vergaß Marietta die Scham, die sie empfunden hatte, und sie hatte es ihr nie verziehen. Im zweiten Jahr ihrer Ehe, kurz vor Michaeli, war die Alte gestorben. In diesem Punkt war Gott Marietta gnädig gewesen.
Seitdem ließ er sie warten.
Marietta spürte die vertraute Wut kommen und lief ihr davon. Verließ das Zimmer. Fand auf dem kühlen Flur ihre Beherrschung wieder. Sie musste unten in der Küche nachschauen, ob Wasser auf dem Feuer war. Sie würden wohl Wasser brauchen – war es nicht immer so? Die Gottschalkin würde danach verlangen, und sie wollte nicht unvorbereitet sein.
 
Erst hatte Marietta geglaubt, sie habe sich doch getäuscht, so still war es dort oben gewesen. Der Geruch des trockenen Strohs war ihr in die Nase gestiegen, und sie hatte niesen müssen. Im Halbdunkel sah sie zunächst nur die ängstlichen Augen des Mädchens und erst dann das dünne weiße Ärmchen, das sich in einer zitternden Bewegung aus dem Wolltuch wand. Mit einer Hand bedeckte das Mädchen das Gesicht des Kindes.
»Bei Gott, willst du es umbringen?«
Sie war auf sie zugestürzt, hatte die Hand weggerissen. Im ersten Moment wusste Marietta kaum zu unterscheiden zwischen dem Wimmern des Neugeborenen und dem des Mädchens – es klang wie ein einziger klagender Laut.
»Ich will Euch keine Schande machen.«
Sie hatte Mühe, die Worte zu verstehen, und der Widerwille, ihr überhaupt zuzuhören, bereitete Marietta Kopfschmerzen.
»Ich gehe fort, heute noch. Ich konnte dort nicht bleiben. Bitte seid nicht böse, bitte …«
Das Gestammel hatte sie wahnsinnig gemacht.
»Sei still!«
Ihre Augen mussten sich an das Zwielicht gewöhnen, und dann hatte sie das Blut entdeckt. Sie kniete darin, und es besudelte ihren Rock ebenso, wie es an den Beinen des Mädchens klebte, bis hinunter zu den verdreckten Füßen.
Marietta war aufgesprungen und hatte versucht, ihre Gedanken zu ordnen.
Eugen war mit einer großen Warenlieferung unterwegs, die er bei einem vielversprechenden Kunden persönlich abliefern wollte. Er würde erst in zwei Tagen wieder zurück sein. Auf keinen Fall wollte sie, dass Eugen erfuhr, dass unter seinem Dach ein Kind geboren worden war.
Aber was, wenn ein Kind starb in diesem Haus, auch wenn es nur der Bastard einer Magd war? Noch immer verstand sie nicht, welche Schuld sie auf sich geladen hatte, dass Gott sie so hart strafte. Damit er ihr gnädig war, musste sie jetzt das Richtige tun.
Als sie das Mädchen verlassen hatte, um nach der Hebamme zu schicken, begann es, das Kind zu wiegen und ein Schlaflied zu summen. Marietta waren Tränen in die Augen geschossen. Sie hatte nichts dagegen tun können.
Sie hasste das Mädchen dafür.
Elgin Gottschalk trug einen Vornamen, der das Erste einer Reihe von Rätseln war, das ihre Person anderen über sie aufgab. Irgendwann in Marburg aufgetaucht, scheinbar aus dem Nichts, war sie nach der Vorstellung beim Stadtphysicus als Hebamme anerkannt worden. Eine Verpflichtung in städtische Dienste hatte sie höflich abgelehnt. Ihr genaues Alter wussten nur die wenigen, die direkt danach gefragt hatten. Sie war nicht verheiratet und daher kinderlos, was für eine Frau ihres Berufsstandes nicht ausgeschlossen, aber dennoch ungewöhnlich war.
Nichts hatte aber verhindern können, dass Elgin mit den Jahren in ihrem Wissen und Tun außerordentlich geschätzt wurde. Selten kam es vor, dass man sie hinzuzog, wenn sich die Dinge so zugetragen hatten wie hier. Wenn es vorkam, war es meistens ein Zufall. Was es heute war, wusste Elgin Gottschalk nicht zu deuten, ebenso wenig wie das widersprüchliche Verhalten der Töpferin.
Beinahe schüchtern hatte ihr die junge Hausherrin zur Begrüßung die Hand gereicht. Ihr zunächst offener Blick war der eines neugierigen Kindes. Eine hübsche Person, ohne Zweifel, wäre da nicht diese Unzufriedenheit in ihrem Gesicht. Sie hatte dem alten Knecht sein warmes Bier auf die Ofenbank in der Küche gestellt und eilfertig die Tür hinter ihm geschlossen.
Draußen hatte sie die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, sie durch einen dunklen Flur hinaus zur Rückseite des lang gestreckten Fachwerkhauses geführt. Fast war es Elgin Gottschalk vorgekommen, als sei die Frau auf Zehenspitzen gegangen, um bloß nicht das Federvieh im Hof aufzuscheuchen. Eigenhändig hatte sie einen Holzzuber mit dampfendem Wasser die Stiege hinaufgetragen, um dann dazustehen wie Lots Weib. Elgin konnte hören, wie sie den Atem ausstieß.
Das Neugeborene dagegen atmete flach und mühevoll.
Die Nabelschnur war mit einem groben Flachsfaden unterbunden worden und hatte nachgeblutet, weshalb Elgin Gottschalk sie erneut abbinden musste, bevor sie den Strang durchschnitt und die Enden mit ölgetränkten Leinenläppchen versorgte.
Der Lichtkegel über ihr war mehrfach ins Wanken geraten, und das hatte bei den ersten Handgriffen Zeit gekostet. Sie hatte die Hausherrin ermahnen müssen, die Lampe ruhig zu halten. Es schien ihr schwer zu fallen, und als Elgin einige Halme von der Nachgeburt zupfte, die das Mädchen neben sich unter das Stroh geschoben hatte, war es plötzlich dunkel geworden. Elgin musste sich auf ihren Tastsinn verlassen, um das kalte Gewebe auf seine Vollständigkeit zu überprüfen.
Schließlich nahm sie Marietta Schricker die Lampe aus der Hand und versuchte nicht weiter, ihre Anweisungen wie Bitten klingen zu lassen. Die Frau hatte den Atem angehalten. Erst als Elgin ihre Worte mit einem Lächeln entschärfte, wandte sie sich ab. Sie war gegangen, als hätte sie jemand an einem starken Seil herumgerissen.
 
Es zog durch alle Ritzen, immer wieder wirbelte trockene Spreu auf. Die Wärme flog in flüchtigen Schwaden über dem Holzbottich davon. Das kurze Bad hatte der Haut des Kindes etwas Farbe gegeben, und mit festem Druck strich Elgin über seine dünnen Glieder. Sie wickelte es in einen Lappen, den die Hausherrin benutzt hatte, um den Bottich zu tragen, und begegnete den Augen des Mädchens. Es hatte seinen Namen geflüstert, als sie danach fragte, und war sofort wieder verstummt.
Lene hieß sie also, und sie zitterte vor Schwäche. Elgin Gottschalk hob die Wolldecke an und schob ihr das Kind in die Arme.
»Leg ihn an die Brust. Da, an deiner linken kann er deinen Herzschlag hören.«
Lene löste sich aus ihrer Starre. Zum ersten Mal war in dem jungen Gesicht etwas anderes zu sehen als Angst. Es war Verwunderung.
Etwas, das so schwach war, nahm ungefragt einen Platz in der Welt ein. Etwas, das viel schwächer war als sie selbst.
Wenn Marietta sich einer Sache widmete, dann konnte sie eine Kraft entwickeln, die die Luft um sie herum zu verdichten schien. Sie schottete sie ab von anderen Menschen und ließ sie als unwirkliche Wesen hinter einer Nebelwand zurück, mit denen sie sich nicht befassen musste. Heute hatte ihr diese Fähigkeit sehr geholfen, und mit allem hatte sie das Gefühl gehabt, auf ein Ziel hinzuarbeiten. Sie hatte das Gefühl, dass etwas Bedeutungsvolles geschah.
In die Brühe, die seit dem frühen Morgen über dem Feuer köchelte, hatte sie Kartoffeln und Kraut geschnitten. Sie arbeitete zügig im Licht des Herdfeuers, während Mattes mit offenem Mund vor sich hinschnarchte und seine schlaffen Lippen ein Geräusch machten, das wie schnelles Flügelschlagen klang.
Sie gab Speck an die Suppe, obwohl kein Samstag war, aber sie schnitt ihn dünn wie immer. Möglicherweise würde es die Bediensteten wundern, und wahrscheinlich würden sie es schweigend zur Kenntnis nehmen, zumindest in Anwesenheit der Hausherrin. Doch Marietta hatte nicht vor, anwesend zu sein. Sie musste etwas erledigen, und es schien ihr wichtig, alles genau so zu machen, wie sie es jetzt tat.
Das Ding lag im Flur unter der Treppe, die zu den Zimmern im ersten Stock führte. Sie hatte es in die Schürze eingewickelt und sich eine saubere umgebunden, die aus blauem Leinen, der Farbe, die ihre Augen zum Leuchten brachte. Aber das taten sie ohnehin. Seit sie wusste, was zu tun war, besaßen Mariettas Augen den stillen Glanz eines Gewässers, das sich nach einem heftigen Regen wieder glättet.
Sie hatte die neue Magd die anderen rufen lassen, während sie den schweren Topf auf den gescheuerten Tisch brachte. Sie legte die Löffel aus und stellte fünf tiefe Teller hin, für den Gesellen, die beiden Lehrlinge, Mattes und die Neue. Sie schnitt das Brot. Die Fresserei aus einem Topf hatte sie nach dem Tod der Alten sofort abgeschafft. Es widerte sie an, dieses Geschlabber, und sie hatte oft nichts essen können bei dem Gedanken, den Speichel der anderen auf dem Löffel zu haben oder Spuren des Auswurfs, den die Alte stets geräuschvoll in den Rachen hochzog.
Sie hörte die Stimmen auf dem Flur und streckte den Rücken durch. Niemand hielt inne oder unterbrach sein Geplapper.
Die Küche lag jetzt fast im Dunkel. Das schwindende Tageslicht erreichte das Innere des Hauses nicht mehr, und Marietta hätte sich ein wenig herabbeugen müssen, um durch das Fenster noch etwas davon zu sehen. Sie hätte bei dieser Gelegenheit den Karren des Hausierers entdecken können, der neben dem Durchgang zum Hofinneren abgestellt war. In wütender Hoffnung wartete sie auf ihn, Monat für Monat.
Aber sie sah ihn nicht, und sie hatte auch völlig vergessen, auf ihn zu warten.
Sobald die Leute am Tisch saßen, verließ Marietta die Küche. Hinter der Tür erhob sich aus dem Murmeln der Stimmen ein zaghaftes Kichern, das sie unter der Treppe innehalten ließ. Dann griff sie nach dem Bündel und eilte hinüber zur Werkstatt.
Marietta öffnete die schwere Tür nur einen Spalt breit, denn sie kannte die Stelle, an der die Scharniere zu knarzen beginnen würden. Ihre schlanke Gestalt hatte keine Mühe hindurchzuschlüpfen, und leise drückte sie die Tür ins Schloss. Niemand hatte sie gehört, da war sie sicher.
Sie öffnete die Ofentür und wich vor der Hitze des Feuers zurück. Jeder Schlag ihres Herzens schien plötzlich laut im Kopf zu dröhnen, presste ihr den Brustkorb zusammen und machte das Atmen schwer. Die Handflächen wurden feucht von Schweiß und gaben ihr das Gefühl, sie hielte etwas Lebendiges fest. Hastig trat sie einen Schritt vor und warf das Bündel hinein.
Was musste sie jetzt tun? Beten? Die Augen schließen und ihren Wunsch in sich hineinsprechen, so wie man es tat, wenn ein Stern vom Himmel fiel?
»Ich nehme an, Sie sollten das erledigen«, hatte die Gottschalkin gesagt. »Sie wissen, wie damit zu verfahren ist?« Ihr Blick war so freundlich gewesen. Er war ohne jede Warnung in Mariettas Innerstes gedrungen und dort auf ihren Kummer gestoßen.
Natürlich wusste Marietta, was mit einer Nachgeburt zu geschehen hatte. Sie wurde im Keller vergraben oder an einem anderen Ort, sofern er sich unter dem Dach des Hauses befand. Die Nachgeburt durfte das Haus, in dem ein Kind geboren war, nicht verlassen. Das wusste Marietta.
»Sie können sie auch verbrennen«, hatte die Gottschalkin gesagt. »Wenn Sie das lieber tun möchten, ist nichts Falsches daran.«
Marietta musste wegschauen, als die Hebamme es in Stroh und ein Leintuch wickelte, das sie aus ihrer schwarzen Ledertasche nahm. Die Gottschalkin hatte sich vom Boden erhoben mit einem kleinen Ächzen, für das sie zu jung war. In allem war sie anders, als sie sich vorgestellt hatte.
Ihr Griff war fest gewesen und bestimmend, als sie Marietta das Bündel übergeben hatte.
»Nur tun sollten Sie es.«
Und dann hatte sie gelächelt. Das Lächeln hatte sie schön gemacht. Vielleicht war es Marietta auch nur so vorgekommen.
Die Flammen waren blau, fast violett. Unter einer weißen Schicht fiel das Ding in sich zusammen. Es brannte lange, bis es verschwand.
Mariettas Hände glitten unter die Schürze. Durch die Falten des Kleides konnte sie die Hitze auf ihrem flachen Bauch spüren. Erst als sie die Augen schloss, drang der Geruch in ihre Nase. Sie wunderte sich, dass der Gestank nach verbranntem Fleisch ihr gar nichts ausmachte.
Das Mädchen lag auf der Seite, das Kind dicht bei sich. Sie hatte die Beine angezogen, und ihr eingerollter Körper umschloss den kleineren.
Sie suchte Trost, und das war etwas, das Elgin Gottschalk nicht zu bieten hatte. Und Mitleid, fand sie, war wie ein Verbündeter der Ohnmacht. Deshalb mochte sie es nicht.
Es gab kaum etwas, was sie dem Mädchen raten konnte. Das Kind in Kost zu geben hieße, es dem Tod auszuliefern. Bei einer der Frauen, die selbst nichts hatten, die den Säugling mit unverdünnter Kuhmilch fütterten oder mit gequetschten Kartoffeln. Die ihm ein Lutschbeutelchen mit Mohn in den Mund steckten, wenn er schreien würde vor Hunger, damit er endlich damit aufhörte. Elgin wusste sehr wohl, dass nicht jene Pflegemütter in gutem Ruf standen, bei denen die Kinder gediehen, sondern jene, bei denen sie schnell starben. Was also hatte sie dem Mädchen zu sagen?
»Bevor ich aus Marburg weggehe, möchte ich ihm einen Namen geben.« Zuerst war es nur ein Flüstern, dann festigte sich Lenes Stimme mit jedem hastig hervorgestoßenen Satz. »Ich weiß, dass eine Wehemutter das tun darf, ich war selbst dabei. Ich weiß, dass ein Kind schnell getauft sein muss, wenn es schwach ist. Und es ist doch schwach, nicht?« Sie hatte sich aufgerichtet, sie wiegte und schuckelte das Neugeborene, als habe sie darin bereits Erfahrung.
Lene schaute Elgin mit Augen an, die so dunkel waren, dass sie keine Farbe in ihnen erkennen konnte. Die Haare fielen ihr strähnig ins Gesicht, in dem Tränen und Schmutz ein wirres Muster hinterlassen hatten. Sie hatte sich geweigert, es reinigen zu lassen, sie hatte den Kopf abgewandt und sich ins Stroh gepresst, vorhin, als ihre Dienstherrin sie beschimpfte.
Elgin hatte die Frau zum Schweigen bringen müssen.
Dann erst hatte sie die Röcke des Mädchens zurückgeschlagen und mit dem Schwamm, den sie ihrer Tasche entnommen und mit warmem Wasser getränkt hatte, das Blut von den Beinen gewaschen. Sie war unter ihrer Berührung zurückgezuckt und dann wie in einem Krampf erstarrt.
Lene hatte sich nicht gerührt, gab keinen Laut von sich, auch nicht, als der Schwamm ihr gedehntes Geschlecht berührte. Elgins warme Finger waren vorsichtig gewesen, um zu ertasten, was wichtig war. Der Körper des Mädchens war unter ihren Händen wie ein gespannter Bogen, und nicht das sanfteste Wort hatte sie erreichen können. Als Elgin die Schließe ihres Umhangs löste, ihn von den Schultern nahm und über sie breitete, als die weiche Wolle die Wange des Mädchens berührte, hatte es die zusammengekniffenen Augen geöffnet, und das Stroh hatte knisternd unter ihr nachgegeben.
Es musste eine gute Stunde vergangen sein seitdem, und sie fragte sich, ob die Hausherrin ihre stummen Zusagen einhalten würde.
»Wo willst du denn hingehen mit deinem Sohn?«
Elgin strich dem Kind über die Wangen. Es zuckte in dem kleinen Gesicht, als träumte es von dunklen Dingen, der Mund öffnete sich und ließ auf den Schrei warten.
»Weg. Ich werd schon einen Platz finden, wo ich mit ihm bleiben kann.«
»Was ist mit deinen Leuten?«
»Sie werden mich nicht wollen, wo sie mich doch gerade erst losgeworden sind. Da sind noch sieben Geschwister.« Sie drückte das Kind an ihre weiche, nackte Brust. »Sieben, wenn alle über den Winter gekommen sind. Bitte, ich will ihn Felix nennen. Ich hab mal sagen hören, dass heißt etwas Gutes.« Ihre Hand krallte sich in Elgins Ärmel.
»Es bedeutet der Glückliche. Ein schöner Name«, sagte Elgin. »Aber du solltest noch nicht fortgehen, solange du keine Milch hast. Du wirst zu essen bekommen und gestärkt sein. Es ist für euch beide besser.«
»Nein.« Lene ging auf die Knie, hielt sich weiter an ihr fest. Das Mädchen konnte ihr Kind nicht ungestraft zur Taufe tragen. Dem Pfarrer würde es nicht genügen, sie des unehelichen Beischlafs zu bezichtigen und vom Abendmahl auszuschließen, denn die Kirche führte den Kampf gegen die Unsittlichkeit Hand in Hand mit den landesherrlichen Obrigkeiten. Er konnte sie anzeigen, um ihr zusätzlich eine weltliche Geld- oder Leibesstrafe auferlegen zu lassen. Für Lene bedeutete dies, einen Jahreslohn zu entrichten, über den sie nicht verfügte, oder mehrere Monate Kerker.
»Wenn Ihr meinem Kind diesen Namen gebt, dann weiß ich, dass er uns Glück bringt. Auch wenn es schwach ist.« Lene schob das Kind in Elgins Arme. »Und es ist doch schwach, nicht?«, wiederholte sie flüsternd. Sie faltete die Hände. Sie senkte den Blick, sobald die ruhige, dunkle Stimme der Hebamme anhob, das Gebet zu sprechen.
Elgin Gottschalk benetzte die Stirn des neugeborenen Jungen mit dem Wasser aus einem silbernen Klistier, das sie für den Fall einer Nottaufe immer bei sich trug, und segnete das ungewöhnlich stille Kind. Es öffnete die Augen, kaum dass es seinen Namen erhalten hatte.
Konrad kam es vor, als hätte es den Ärger, der noch vor wenigen Momenten an ihm gefressen hatte, nie gegeben. Leise zog er sich zurück. Der dürre Körper des Hausierers juckte vor Aufregung, bis hinauf zum Kopf, und dass ein paar Läusenester in seinen verfilzten Haaren ihren Anteil daran hatten, kümmerte ihn nicht.
Das eingebildete Weib hatte ihn angefaucht, obwohl er im dunklen Flur auf sie gewartet hatte, sodass ihn niemand sah. Nach einer Weile war das ihre Abmachung gewesen, Konrad hatte sich stets daran gehalten, nicht nur weil sie gut zahlte.
Die Geheimnistuerei war Teil des Geschäfts, wenn er ihr die Mittel brachte. Sie wollte es so, weil sie vor nichts mehr Angst hatte, als sich dem allgemeinen Spott preiszugeben. So gut kannte er sie. Er hatte nicht geahnt, dass sie ihn dafür hassen würde.
Solche Sachen passten nicht in seinen sturen Schädel; da gab es genug, mit dem er sich zu befassen hatte. Er musste sehen, wo er seine Waren billig kriegte oder anders herschaffen konnte. Die Eisenwaren, Sensen, Sicheln und Futterklingen. Konrad sammelte außerdem Lumpen oder ließ sich damit bezahlen, wenn einer nichts hatte. Bei den Papiermühlen konnte er noch immer einen Gewinn damit machen. Wenn man ihn darum fragte, trieb er auch magische Mittel auf, für die er meist einen guten Preis erzielte, weil er sie unter der Hand verkaufte. Er konnte sich was drauf einbilden, wie gut er wusste, was die Dörfler brauchten und was er den Städtern bieten musste.
Und dann musste er noch seinen Bruder im Zaum halten, Frieder, der Kräfte hatte, die seine weit überstiegen. Aber nur in Armen und Beinen, deshalb ließ er ihn den Karren ziehen. Ein Mordskerl, im Kopf zappenduster. Doch es hatte sein Gutes, denn er tat, was man ihm sagte. Er wartete auch an der Kirche, wenn er hier im Haus des Töpfers zu tun hatte oder sonstwo unterwegs war. Frieder mochte die heilige Elisabeth, er fand sie schön und glotzte sie gern an. Niemand konnte was dagegen haben.
Aber sie, dieses hochnäsige, blöde Weib hatte was gegen Frieder. Sie konnte ihn nicht aushalten und fand, dass er stank. Herrgott, er selbst stank schlimmer, aber ihm traute sie sich das nicht zu sagen, denn er brachte ihr die Mittel.
Bis heute. Konrad hatte sich die Mühe gemacht, eine echte Alraunwurzel aufzutreiben, ein haariges Ding, von dem man sich erzählte, es würde vor Schmerzen schreien, wenn man es aus der Erde zog. Das hatte Eindruck auf sie gemacht. Er kriegte sie immer mit diesen Geschichten, selbst wenn er schon manches Mal gedacht hatte, sie glaubte ihm nicht mehr. Aber sie musste. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Bis heute.
Sie hatte ihn angefaucht wie ein Frettchen, wenn man es am Wickel hatte. Er solle sich nie wieder hier blicken lassen.
Als er sein Geld verlangte, hatte sie mit den Polizeiknechten gedroht. Er war klug genug, zu verschwinden. Aber die Wut war durch ihn hindurchgerast, dass er wünschte, Frieder wäre hier.
Doch dann, draußen hinter dem Haus, war er froh, dass Frieder nicht da war. Er hätte nie so leise sein können wie er.
Niemals hätte er dann erfahren, dass etwas auf ihn wartete. Es hatte sich gelohnt, an der Ketzerbach die Ohren offen zu halten. Jetzt würde er mit ganz anderen Leuten ins Geschäft kommen.
Nur kurz, als sie sich aufrichtete, mitten in der Bewegung, spürte Elgin den kleinen, bekannten Schmerz. Er pflegte mit gezielter Heftigkeit vom letzten Wirbelknochen nach innen zu zucken, um dort schlagartig zu verschwinden, und sie hatte gelernt, ihn sofort wieder zu vergessen.
Lene schlief. Elgin hatte dafür gesorgt, dass sie ihren Sohn noch einmal anlegte, und nachdem er einige Male an der Brust gesaugt hatte, schien er tatsächlich ein glückliches Kind zu sein.
Sie schliefen beide, nichts schien sie wecken zu können, nicht das kleinste Geräusch.
Endlich hatte wohl jemand unten an der Stiege die Suppe abgestellt, nach der sie für Lene verlangt hatte. Sie hoffte auf die heißen Steine und Decken, auf Lappen, wenigstens ein paar saubere Lumpen, um das Kind zu wickeln.
Es wurde tatsächlich Zeit.
Im Auditorium nahm Doktor Clemens Heuser seine Position neben dem Professor ein. Während sich die ersten Studenten einfanden – wobei insgesamt nicht mehr als sieben junge Herren zu erwarten waren -, beobachtete Clemens die neue Schülerin. Kilian hatte die junge Frau zum größeren der beiden Instrumentenschränke auf der Stirnseite des Raumes geführt.
Die andere, Lotte Seiler, hielt ihren Blick gesenkt und wendete sich ein wenig ab, denn sie wusste bereits, was dort zu sehen war.
In dem Gesicht der neuen Schülerin dagegen waren vor allem Aufmerksamkeit und Konzentration zu sehen. Sie hob die Brauen und nickte, wenn Kilian ihr Pflichten und Aufgaben erläuterte, und ihr Gesicht wirkte immer offen. Sie schien bereit und willens, jedes Wort aufzunehmen, um es nicht mehr zu vergessen. Sie runzelte die Stirn, wenn sie Begrifflichkeiten nicht verstand, eine flüchtige Kontraktion der Muskulatur, kaum zu bemerken, fast wie eine nervöse Zuckung. Clemens hatte schon des Öfteren gefunden, der Professor könnte sich einer schlichteren Ausdrucksweise bedienen. Dies betraf vor allem die Unterweisung der Hebammenschülerinnen, von denen es seit der Eröffnung der Gebäranstalt ohnehin erst drei gegeben hatte. Doch darüber zu diskutieren lehnte Kilian ab, und das wusste Clemens auch.
Manchmal hatte er durchaus den Verdacht, dass der Gelehrte ein kleines Pläsier daraus zog, die Unwissenheit im Gesicht seines Gegenübers aufscheinen zu sehen. So, wie er auch jetzt die Augen zusammenkniff, um ein berechenbares Erschrecken im Gesicht der Neuen nicht zu verpassen, oder möglicherweise einen winzigen Laut des Entsetzens.
Was sie wohl dachte?
Gesa richtete sich auf und sah dem Professor in das nahezu faltenlose Gesicht. Er musste alt sein, das legte sein weißes Haar nahe, und seine rundliche Statur ließ ihn freundlich wirken. Bislang war er auch so aufgetreten, und in diesem Moment sah der Professor aus, als hätte er eine Frage an sie. Dabei war sie es doch, die verstehen musste, was sie da vor sich hatte.
Hinter der Schranktür hockten tote Wesen, zusammengekrümmt, dass man die Knöchelchen der kleinen Rücken zählen konnte. Manche von ihnen waren auf eine Weise verwachsen, als seien sie aus schlimmen Träumen in diese Gläser gekrochen. Sie hielten die Hände vor den geschlossenen Augen, als wollten sie sich vor den Blicken der Lebenden schützen. Das Wasser, oder was auch immer sie umgeben mochte, hatte ihre Haut sehr weiß gemacht.
»Welchem Zweck dienen diese … Kinder?«, fragte sie.
Gesa hörte den Widerhall ihrer Stimme in dem großen Raum, denn sie hatte sich bemüht, laut zu sprechen. Sie hörte vereinzeltes Gelächter, das von den Bänken kam, wo die jungen Männer in ihren schwarzen Anzügen saßen.
Nichts von allem, mit dem sie heute bekannt gemacht worden war, hatte in ihr bislang die Befürchtung geweckt, sie würde es nicht bewältigen. Man hatte ihr die Wirtschaftsräume gezeigt und die Arbeitsstuben der Schwangeren, in denen kein Mensch zu sehen war, nur Spinnzeug und einige Bündel Flachs. Schon am frühen Morgen, als sie mit Lotte die Milchsuppe kochte, hatte sie erfahren, dass die übliche Hausarbeit einen Großteil ihrer Zeit einnehmen würde, und sie war sich nicht zu schade dafür. Man hatte sie durch das Haus geführt, sie mit dem jungen Hausknecht bekannt gemacht, dessen schlechte Haut ihr deutlicher in Erinnerung geblieben war als sein Name, und man hatte ihr eingeschärft, dass der Junge nach den Studenten zu schicken war, sobald eine der Frauen anfing zu kreißen. Sie wunderte sich nur, warum sie noch keine der Schwangeren zu Gesicht bekommen hatte, und jetzt hoffte Gesa, dass keine von ihnen das hier je sehen musste.
»Diese Embryonen, junge Dame, zeigen uns nichts als das menschliche Antlitz. Und dieses ist mitunter schwer zu ertragen, nicht wahr?«
Der Professor neigte den Kopf. Einige seiner Haare hatten sich zu Kringeln gedreht, und sein Blick ruhte auf den Ausstellungsstücken. Das Gesicht des Mannes spiegelte sich wie ein Mond im Glas der Schranktür. Gesa beeilte sich, ihre zitternden Hände in der Schürze zu verstecken, die sie seit heute morgen über ihren Röcken trug, wie Lotte und wie die Hebamme Textor, die ihnen nicht ins Auditorium gefolgt war.
»Dies ist der kleine Teil einer anatomischen Sammlung. Diese Wesen sind von Menschen geboren, und wir haben die Aufgabe zu fragen, warum sie diese Gestalt annahmen. Andere hier ausgestellte Präparate sind Totgeborene, die der Wissenschaft in einer vorzüglichen Weise dienen. Das werden Sie noch erfahren.«
Er bedeutete Gesa, ihm zu folgen und einen Gegenstand zu betrachten, der auf einem gepolsterten Stuhl platziert war. Es war ein plumpes Etwas, mit zwei gespreizten Stümpfen, das aussah, als hätte man es von einem Körper getrennt und sorgfältig vernäht.
»Das Accouchieren üben die Praktikanten zunächst an unserem geburtshilflichen Phantom. Und Sie selbstverständlich ebenso.«
»Accouchieren?«, sagte Gesa. »Was bedeutet das?«
Sie sah die Studenten grinsen und Lotte die Backen aufblasen, doch sie dachte nicht daran, zu schweigen. Nur Dinge, die du nicht begreifst, können dir Angst machen, hatte Tante Bele gesagt. Angst lässt dich Fehler machen. Also stell Fragen.
»Ist dies ein Gerät zum Üben von Griffen unter der Geburt?«
»Ach, hat sie Erfahrung, die Jungfer?« Der Professor lächelte.
»Meine Tante war Hebamme und ich ihre Lehrtochter«, sagte Gesa. »Fünf Jahre habe ich sie zu den Frauen begleitet.«
Kilian wandte sich seinen Studenten zu und überprüfte den Sitz seines Halstuchs, als gäbe es Zweifel daran, dass es anders als makellos gebunden sein könnte.
»Diese Maschine hier hat in ihrem Inneren ein natürliches Frauengerippe. Es ist gänzlich ausgestopft und mit Leder bezogen, wir nennen sie auch unsere lederne Mutter«, sagte er, und seine Hand tätschelte den Gegenstand wie den Hintern eines Pferdes. »Sie gestattet mir, alle Arten widernatürlicher und schwerer Geburten darzustellen«, fuhr er fort. Dabei schienen seine Worte weiterhin an niemanden Bestimmten gerichtet zu sein. Sein Lächeln war längst erloschen. »Und ich möchte betonen, sie gestattet es mir, so wie ich es meinen Studenten und Schülerinnen nach einer angemessenen Anzahl von Touchierübungen erlaube, diese an dem Körper eines schwangeren Weibes zur Vervollkommnung meines Unterrichts fortzusetzen.«
Clemens sah zu, wie die beiden Schülerinnen ihre angewiesenen Plätze am Rand des Auditoriums einnahmen, nachdem sie den Instrumentenschrank passiert hatten. Er vermutete, dass die Ältere unter der Bank nun wohl der Jüngeren die Hand drückte.
»Ihre Aufgabe wird es vor allem sein, Vorurteile und Aberglauben abzulegen und mit Vernunft auf die Wöchnerinnen einwirken, die Ihnen anvertraut sind. Es liegt in Ihren Händen, das will ich betonen, dass keine von ihnen mehr glauben muss, es sei besser, sich unserer Hilfe zu entziehen«, hörte er Kilian sagen.
Der junge Doktor sah den Blick der Neuen auf den Instrumenten haften, den Perforationsbestecken, Haken und Zangen. Sie gab sich offensichtlich Mühe, keine Gefühlsregung erkennen zu lassen, und für einen Moment hatte er den flüchtigen Wunsch, ihr die Instrumente zu erläutern.
Kilian würde jetzt den Teil seines Vortrags beginnen, der ihm besonders wichtig war, das konnte er daran erkennen, wie er seine Hände betrachtete und dann ruckartig den Kopf hob.
»Erfahrung allein ist nichts, worauf man sich berufen sollte. Es liegt eine gewisse Anmaßung darin, und es erklärt uns, meine Herren, warum Hebammen in den zwei Jahrtausenden, in denen die Geburtshilfe fast ausschließlich ihr Geschäft war, es nicht verstanden, ihr Fach zu einer Wissenschaft zu entwickeln.« Zu Gesa gewandt sagte er: »Von den Instrumenten der modernen Geburtsmedizin werden Sie durch die gute Tante womöglich noch keine Kenntnis erhalten haben, darf ich annehmen?«
Jetzt muss sie uns bereits für Monstren halten, dachte Clemens. Dabei wird das, was nun kommt, noch schwerer für sie verständlich sein. Selbst ihm war es zu Beginn seines Studiums in Kassel so gegangen, als er vor einem Tuch aus schwarzer Wolle in die Knie ging, hinter dem in den Übungsstunden eine schwangere Frau verborgen stand. Nie würde er das Unbehagen vergessen, mit dem er sich durch die Öffnung in dem Vorhang getastet hatte und seine Hände die nackten Schenkel jener fremden Frau streiften, die man dazu angehalten hatte, ihre Röcke zu heben. Ihn hatte man auffordern müssen, nun endlich die Finger in die Genitalien einzuführen und dem Protokollanten den Befund eines Körperteils zu referieren, dem er auf diese Weise zum ersten Mal begegnete.
Hier in Marburg sah man von derlei Vorgehensweisen bei den Untersuchungen ab, aber zuweilen war er nicht sicher, ob dies eine glückliche Entscheidung war. Doch er durfte nicht immer wieder zweifeln, das brachte ihn nicht weiter.
 
Sie schreckte hoch, als sich die Tür öffnete. Frau Textor betrat mit einer der Schwangeren das Auditorium, und wieder hielt sie die Frau am Arm gepackt wie eine Gefangene, obwohl er die Institutshebamme schon unzählige Male um eine sanftere Verfahrensweise gebeten hatte. Wie immer hatte Frau Textor eine ruppige Art, die Schwangere auf dem Untersuchungstisch zu entblößen.
Erst später fand Clemens Gelegenheit, sich dafür zu schämen, dass er nicht damit aufhören konnte, die Jungfer Langwasser zu beobachten. Dabei bereitete es ihm keinerlei Vergnügen, sich vorzustellen, was das Geschehen bei ihr auslösen musste.
Er sah, dass die junge Schülerin den Blick der Frau auf dem Tisch suchte und ihn festhielt, bis diese unter den ersten Berührungen die Augen schloss.
Sie wünschte sich, Tante Beles Röcke zu hören, eine leise Bewegung, die sie stets dazu bewogen hatte, so zu tun, als würde sie schlafen. Denn manchmal war sie wach geworden, wenn Bele nachts an ihr Bett getreten war, und immer hatte sie dann spüren können, wie sie auf sie herabsah. So hatte sie es oft getan und dachte wohl, Gesa wüsste es nicht.
Tante Bele hatte die Welt mit einem Husten verlassen, und ihr letzter Atemzug klang empört, so als hätte sie nach Luft geschnappt. Es passte zu ihr. Wenn sie es schon nicht verhindern konnte, an einer Lungenentzündung zu sterben, dann verschied sie eben unter Protest. Gesa hatte die Totenwäscherin fortgeschickt und zunächst auch die anderen Dorffrauen, die sie aufsuchten. Alle wollten Bele sehen, als könnten sie es nicht glauben, dass die Hebamme gestorben war.
Sie verschloss die Tür des kleinen Hauses und hätte es gern mit Blumen geschmückt, doch die waren im Februar nicht zu haben. Sie entzündete Kerzen und stellte den Kienspanleuchter neben das Bett, um Tante Bele endlich so lange zu betrachten, wie sie wollte, und um sie zu weinen, ohne dass sie es ihr verbieten konnte.
Auf dem Feuer wärmte sie Wasser und gab etwas getrocknete Minze dazu, die Bele geschätzt hatte. Als Gesa es endlich wagte, ihr das Hemd auszuziehen, um sie zu waschen, war sie überrascht. Was sie sah, war der Körper einer jungen Frau. Feste Brüste, ein flacher Bauch und eine glatte Haut, die an keiner Stelle einen Riss aufwies. Beles siebenundvierzigjähriger Körper lag vor Gesa wie ein lang versteckter Schatz, den zu finden sich niemand die Mühe gemacht hatte. Oder den sie einfach für sich hatte behalten wollen. Sie hüllte ihn in eines von Beles schwarzen Kleidern und bedauerte zum letzten Mal, dass sie kein farbiges besaß.
Beles Hände rieb sie mit Öl ein, so wie sie es selbst immer getan hatte, wenn sie zu einer Frau gerufen wurde. Und dann küsste sie die Frau, mit der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, bis auf zwei Jahre, die fast im Dunkeln lagen. Sie streichelte ihr wächsernes Gesicht so lange sie wollte, und das dauerte einen ganzen Tag, bis die Männer kamen, um sie in den Sarg zu legen.
Im Leben hätte Tante Bele dergleichen niemals zugelassen.
Vor vielen Jahren hatte es Nächte gegeben, in denen Gesa sich vorstellte, Tante Bele sei verzaubert. Das hatte mit den Märchen zu tun, die sie in den Spinnstuben hörte und von denen sie jedes glaubte. Demnach musste es Elfen geben, die am Vogelsberg durch den Nebel tanzten, und von denen es hieß, sie hinterließen winzige Fußspuren auf den Wiesen. Gesa hatte nach ihnen gesucht, ohne je etwas anderes zu entdecken als Käfer, Schnecken und Steine. Doch es hielt sie nicht davon ab, eine Zeit lang zu glauben, Tante Bele sei auf ihren nächtlichen Wegen in einen Elfenreigen geraten und hätte seitdem vielleicht eine Haut aus Glas, die man nicht berühren durfte. Wenn man es tat, zersprang sie in tausend Stücke.
Dabei war es nicht so, dass Tante Bele sie niemals angefasst hätte. Sie tat es allerdings nur, wenn es nötig war, doch dann war ihre Berührung fest und warm. Die Frauen fasste sie auf eine Weise an, dass sie ruhig wurden. Die Frauen hatten Tante Beles Hände gern gehabt.
Gesa lauschte den Geräuschen des Hauses nach und dachte an die Schwangeren unten. Sie tastete nach der Leinentasche, die sie einmal für Bele genäht hatte, und drückte sie an sich wie eine alte Puppe. Sie hoffte, es würde sie beruhigen und sie könnte endlich schlafen, wie Lotte es im Bett gegenüber schon seit langem tat.
Zwei
FRÜHLINGSMOND
Als Elgin das Bett verließ, spürte sie die Bewegung ihrer gelösten Haare auf der bloßen Haut, bis hinunter zu den Hüften.
Die Kerzen waren längst heruntergebrannt, und sie musste mit dem verblassenden Mondlicht auskommen. Sie setzte die Füße vorsichtig auf, obwohl sie wusste, dass die dicken Eichendielen ihre Schritte schlucken würden.
Dunkle Möbel umgaben sie wie ein Kreis alter Freunde, wobei zu bemerken war, dass es in ihrem Leben kaum Menschen gab, deren Nähe sie zuließ. Das Haus in der Hofstatt war die Hinterlassenschaft ihrer Mutter, mit der sich fortsetzte, was durch die ungewöhnliche Erziehung ihres Vater geprägt worden war: ein Leben, das sich von keinem anderen abhängig machen musste. Als Elgin das kleine Haus vor Jahren übernahm, hatte sie es nur mit dem Nötigsten versehen. Der einzige Luxus, den sie sich gestattete, waren Vorhänge aus weißem Musselin. Wenn sie sich – anders als heute – nachts bei geöffneten Fenstern aufbauschten, konnte es ihr scheinen, als wäre jemand mit ihr wach.
In den Nächten, die sie nicht am Bett einer Frau verbrachte, hätte sie nackte Fenster empfunden wie blicklose Augen, die etwas von ihr fortnahmen und im Nichts verschwinden ließen. Diese dunkle Leere bot verzagten Gedanken Platz, mit denen sich zu befassen Elgin als Zeitverschwendung betrachtete.
Aus einem ähnlichen Grund hatte sie einen wuchtigen Spiegel entfernen lassen, den sie bei ihrem Einzug in diesem Zimmer vorfand. Sie ersetzte ihn durch einen Tisch, an dem sie ihre Bücher ausbreiten konnte.