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Die 60er Jahre in München, ein Mädchenmörder und die »Schwabinger Krawalle«: Die bekannte Drehbuch- und Roman-Autorin Kerstin Cantz mit ihrem ersten Kriminalfall für Kriminalkommissarin Elke Zeisig - einem spannenden und facettenreichen historischen Kriminalroman im München der 60er Jahre, der Fans von "Ku`damm 56" oder "Babylon Berlin" begeistern wird. München, 1962: Noch gibt es mehr Pferde als Frauen bei der Polizei, doch das hat Elke Zeisig nicht davon abgehalten, bei der WKP anzuheuern, der Weiblichen Kriminalpolizei, die sich vor allem um die Vernehmung von Frauen und Kindern kümmert. Als ein kleines Mädchen tot am Schuttberg in Sendling gefunden wird, sind die Fähigkeiten des "Kriminalfräuleins" Zeisig gefragt. Zeitgleich kommt es in der Stadt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Münchner Jugend und der Polizei. Die Münchner Leopoldstraße gleicht einem Hexenkessel, urplötzlich, mitten in der Nacht. Steine fliegen, Stühle und Flaschen - die Schwabinger Bars bieten ein grandioses Munitionsdepot. Hunderte von Radaubrüdern - Jugendliche, was sonst? - erheben sich im Kampf für die Freiheit des Straßenkonzerts. Die entfesselte Jugend tanzt Twist auf dem heißen Asphalt und legt bei ihrer Randale noch einen Zahn zu. Aufgebracht und mit gemischten Gefühlen kommentiert eine stetig anwachsende Zuschauermenge die Schlacht zwischen Polizei-Einheiten und jungen Leuten. Mittendrin: Volker, Elke Zeisigs jüngerer Bruder. Doch nach der ersten Nacht der »Schwabinger Krawalle« verschwindet Volker spurlos. Auch im Polizeipräsidium und bei der Weiblichen Kriminalpolizei sind die "Schwabinger Krawalle" Gesprächsthema Nummer 1. Kriminalkommissarin Elke Zeisig ermittelt an "zwei Fronten". In ihrem ersten Kriminalroman verknüpft Autorin Kerstin Cantz höchst erfolgreich historisches Zeitgeschehen, Lokalkolorit und Kriminalspannung.
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2019
Kerstin Cantz
Kriminalroman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
München, 1962: Noch gibt es mehr Pferde als Frauen bei der Polizei, doch das hat Elke Zeisig nicht davon abgehalten, bei der WKP anzuheuern, der Weiblichen Kriminalpolizei, die sich vor allem um die Vernehmung von Frauen und Kindern kümmert. Als ein kleines Mädchen tot am Schuttberg in Sendling gefunden wird, sind die Fähigkeiten des »Kriminalfräuleins« Zeisig gefragt.
Zeitgleich kommt es in der Stadt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Münchner Jugend und der Polizei. Die Münchner Leopoldstraße gleicht einem Hexenkessel, urplötzlich, mitten in der Nacht. Steine fliegen, Stühle und Flaschen – die Schwabinger Bars bieten ein grandioses Munitionsdepot. Hunderte von Radaubrüdern – Jugendliche, was sonst? – erheben sich im Kampf für die Freiheit des Straßenkonzerts. Die entfesselte Jugend tanzt Twist auf dem heißen Asphalt und legt bei ihrer Randale noch einen Zahn zu. Aufgebracht und mit gemischten Gefühlen kommentiert eine stetig anwachsende Zuschauermenge die Schlacht zwischen Polizei-Einheiten und jungen Leuten. Mittendrin: Volker, Elke Zeisigs jüngerer Bruder. Doch nach der ersten Nacht der »Schwabinger Krawalle« verschwindet Volker spurlos.
Auch im Polizeipräsidium und bei der Weiblichen Kriminalpolizei sind die »Schwabinger Krawalle« Gesprächsthema Nummer 1. Kriminalkommissarin Elke Zeisig ermittelt an »zwei Fronten«.
In ihrem ersten Kriminalroman verknüpft Autorin Kerstin Cantz höchst erfolgreich historisches Zeitgeschehen, Lokalkolorit und Kriminalspannung.
Widmung
Merkendorf, 17. April 1945
Donnerstag, 21. Juni 1962
Die erste Nacht
Freitag, 22. Juni 1962
Die zweite Nacht
Sonnabend, 23. Juni 1962
Die dritte Nacht
Sonntag, 24. Juni 1962
Die vierte Nacht
Montag, 25. Juni1962
Die fünfte Nacht
Die sechste Nacht
Danksagung
Für Picus
Prolog
Während sich unbeirrt der Frühling ankündigte, lag über dem Dorf kalte Angst. Strahlend blauer Himmel bot in diesen Apriltagen für Fliegerangriffe klare Sicht. Die Bahnhöfe der Umgebung waren zerstört, Züge fuhren nicht mehr. In den Nächten fluteten endlose Kolonnen von deutschen Truppen und Kriegsgefangenen die Landstraßen, während von der anderen Seite amerikanische Panzer vorrückten. Der Volkssturm bewaffnete sich und grub Schützengräben.
Jagdbomber flogen tief, Bordkanonen knatterten, Häuser gingen in Flammen auf, Schuppen und Scheunen, die Kirche. Die Frauen suchten mit den Kindern Schutz im Felsenkeller der Brauerei.
Er war gerade auf Anweisung der Mutter dabei, zwei Kisten mit Wertsachen in den Gemüsebeeten zu vergraben, als das Heulen der Sirenen vom Dorf über die weiter entfernt liegenden Höfe zog. Er wusste, dass die Mutter jetzt den Hund ins Haus rufen und in der Küche warten würde, bis es vorüber war. Wenn der Hof in Schutt und Asche gelegt wurde, sagte sie, wollte sie darunter begraben sein.
Er verließ den Garten und lief hinüber zur Scheune, um sein Fahrrad zu holen. Unter dem Leiterwagen scharrten ein paar Hühner, und als die Sirenen jetzt verstummten, konnte er das Pferd auf der Koppel wiehern hören. Kurz überlegte er anzuspannen, doch die Flieger würden gleich kommen. Er musste schnell sein. Er wollte auf freier Fläche sein, wenn sie in der Ferne am Himmel auftauchten.
Atemlos trat er in die Pedale, während das Summen der Flugzeugmotoren in der Luft anschwoll wie ein näher kommender Hornissenschwarm. Die Lenkstange vibrierte unter seinen Händen, so schnell raste er mit dem Rad über die Sandwege zwischen den braunen, für die Kohlaussaat bereiteten Äcker. Er sah die Flugzeuge am Horizont auftauchen und lärmend auf das Dorf niederstoßen. Das Knattern der Bordkanonen explodierte in seinen Ohren, und der Atem schmerzte in seinen Lungen, während die Erde um ihn unter den Einschlägen aufspritzte. Sein Kopf dröhnte. Das Blut schoss in einem heißen Strom durch seine Adern. Er brüllte vor Glück.
Dann war es vorbei. Sein Herz raste.
Inzwischen war er nicht mehr weit vom Dorf entfernt. Vor ihm ragten Panzersperren auf, die wenige Tage zuvor von den Männern des Volkssturms gebaut worden waren. Er selbst hatte mitgeholfen, die schweren Eisenträger in den Boden zu graben.
Er bremste ab, um zu wenden, als er das Mädchen sah. Es schien wie aus dem Nichts zu kommen, musste sich zwischen den Panzersperren versteckt haben. Über die staubigen Meter hinweg, die in der Stille zwischen ihnen lagen, starrten sie einander an. Es war wohl eins von den jungen Dingern aus dem Dorf. Unwichtig. Er kannte Leute nicht näher. Plötzlich wandte sich das Mädchen ab und rannte.
Warum floh es vor ihm?
Der lockere Ackerboden flog unter seinen derben Schuhen auf, als er ihr nachsetzte, reflexartig, ohne zu wissen, warum. Doch sein Herz wollte ihm aus der Brust springen vor Freude.
Noch bevor er sie einholte, stolperte sie und fiel zwischen die Furchen. Er war sofort über ihr. Er war schnell. Er fühlte ihre Schlagader gegen seine Hände pochen, während er ihr den Hals zudrückte.
Er bedauerte es, als ihr dünner Körper schlaff unter ihm wurde. Er blickte zum Himmel und lauschte dem hämmernden Pulsschlag in seinen Ohren nach.
Nicht mehr lange. Dann würde die Leere zurückkommen.
Fronleichnam
Das Kind lag mitten auf der Wiese, ausgestreckt auf einem roten Tuch, wie aufgebahrt unter der Morgensonne.
Erst als sie näher kam, konnte sie erkennen, dass es sich um einen hölzernen Klappliegestuhl handelte, auf dem das Kind sorgsam platziert war.
Hauptkommissar Manschreck stand seitlich darübergebeugt und zog hustend an seiner Filterlosen. Die Kirchenglocken von St. Margaret riefen nicht enden wollend zum Gottesdienst.
»Kommen Sie, Fräulein Zeisig«, sagte er.
Der Zigarettenqualm wölkte sich in der Windstille des frühen Morgens über seinem grauen Hut.
Er richtete sich auf.
»Nun kommen Sie schon.«
Elke Zeisig ließ den Fotografen vorbei und näherte sich dem abgesperrten Feld, unterhalb des Schuttbergs, wo Unkraut Kriegstrümmerreste begrünte. Sie ging in die Hocke, hielt ihren Rock in den Kniekehlen fest und verfluchte einmal mehr, dass es ihr verboten war, im Dienst Hosen zu tragen. Ein lächerlicher Anflug von Ärger, der sich in nichts auflöste, als sie in das Gesicht des Kindes blickte.
Es war unmöglich, sich in die Behauptung zu retten, die Kleine sähe aus, als ob sie schliefe. Ihre Lippen hatten das gleiche fahle Blau wie die Adern, die sich an den Schläfen unter der kindlich durchscheinenden Haut abzeichneten. Ein Augenlid war geöffnet, ganz leicht nur, unter dem Wimpernkranz schimmerte es milchig. Lange Zöpfe flossen über die Schultern und glänzten in der Sonne wie träge Schlangen.
Das Mädchen trug ein verwaschenes Kleid, blassblau kariert mit weißen Wäscheknöpfen, genau wie die Mutter es beschrieben hatte.
Der Rock mit dem ausgelassenen Saum lag drapiert, wie glatt gestrichen über den Beinen und endete auf den knochigen Knien, an denen es blaue Flecke gab, Kinderknie eben und Schrammen an den Waden. Einige leichte Kratzer, wie sie beim Spielen im Freien entstehen, auch an den dicht am Körper liegenden Armen. Die Handflächen waren nach innen gewandt, als wollte das Kind den Rock festhalten oder strammstehen, wenn man es ließe.
Elke Zeisig streckte die Hände aus und umschloss die kalten, steifen Füße des Mädchens.
Das anhaltende Läuten der Kirchenglocken schien noch einmal anzuschwellen, zornig und streng, bevor es dann plötzlich vorbei war.
»Keine Schuhe?«
»Nein«, sagte Manschreck. Er blies den Zigarettenqualm über das Kind hinweg. »Es wurden keine gefunden. Wir haben nichts. Falls es Spuren gegeben haben sollte, sind sie von einer Menge Leute im feuchten Gras zertrampelt worden, seit die Kleine entdeckt wurde.«
Sie zog ihre Hände zurück.
Über ihnen auf dem Hügel standen Leute, angelockt von den unten parkenden Streifenwagen. Schutzpolizisten schirmten Hauptkommissar Manschreck und das tote Kind ab, und nun auch das Fräulein Zeisig von der Weiblichen Kriminalpolizei.
Die Männer vom Erkennungsdienst verstauten die Koffer in ihrem Volkswagenbus und blickten zu ihnen herüber. Sie wechselten ein paar Worte mit dem Polizeifotografen.
Wahrscheinlich fragten sie sich, warum Manschreck die junge WKP-Beamtin zum Fundort der Leiche hatte kommen lassen.
Es war ungewöhnlich.
Gestern am frühen Abend, um 18:30 Uhr, war ein fünfjähriges Mädchen bei der Dienststelle KP Süd vermisst gemeldet worden. Elke hatte die Mutter aufgesucht, sie und die Nachbarskinder befragt, die mit Johanna am Nachmittag bei den Gärten zum Spielen gewesen waren. Die halbe Nacht hatte sie mit der Mutter in der Küche gewartet – in der Hoffnung, dass das Kind doch noch zurückkam. Vergeblich. Also hatte sie die letzte Tram zurück zum Präsidium genommen und dort noch das Protokoll getippt. Manschreck hatte es gleich angefordert, als um 6:30 Uhr die Meldung über den Fund des toten Mädchens eingegangen war.
Elke spürte, dass der Alte sie jetzt ansah, während er seine Kippe im Deckel einer zerbeulten Blechschachtel ausdrückte, die er wohl immer bei sich trug.
»Wer hat das Mädchen gefunden?«, fragte sie.
»Eine Frau mit Hund«, sagte Manschreck. »Hundebesitzer sind für dergleichen geradezu prädestiniert.« Er steckte die Schachtel weg und zog seinen Block aus der Jackentasche. Darauf hatte er den Fundort des Kindes und die Umgebung skizziert. Vom Schutthügel fiel die Wiese bis zu einem schmalen Sandweg ab, der an den Laubengärten entlangführte und wo jetzt Polizeifahrzeuge und der Leichenwagen standen. Hinter den Gärten erstreckten sich staubige, brachliegende Flächen, kostbares Bauland, unter dem Hunderte Gärten des Stadtteils Sendling begraben waren.
»Sie kam von da oben, vom Harras.«
Die Richtung, aus der die Zeugin mit ihrem Hund gekommen war, hatte Manschreck mit einer gestrichelten Linie markiert.
»Die Zeugin wohnt dort?«
Elke hatte sich erhoben und holte nun, froh, ihre Hände bewegen zu können, in denen sie noch immer die Kälte der kleinen Füße fühlte, ihren Block aus der Umhängetasche.
Manschreck nickte.
»Ich möchte, dass Sie die Frau später noch einmal vernehmen. Sie war zu aufgewühlt, um Fragen beantworten zu können.«
»Verstehe.«
Elke ließ sich von Manschreck Namen und Adresse diktieren, während sie aus den Augenwinkeln eine Fliege auf dem Gesicht des toten Kindes landen sah. Von den Streifenwagen flogen blecherne Stimmfetzen aus dem Funk zu ihnen herüber.
»Wie ist das Kind gestorben?«
»Erstickt möglicherweise. Vielleicht in der Nacht. Auf jeden Fall vor mehr als acht Stunden.«
Ein Leichenwagen rollte heran, glänzend schwarz in der Sonne, wuchtig neben den Volkswagen der Polizei.
Elke wartete darauf, dass Manschreck es aussprechen würde. Dass es das vermisste Mädchen war. Doch er tat es nicht.
Die Fliege kroch auf das leicht geöffnete Auge des Kindes zu.
»Es ist Johanna Bartl«, sagte Elke. Sie scheuchte die Fliege weg.
Manschreck schien in die Beobachtung versunken, wie die Bestatter den Sarg aus dem Wagen zogen, viel zu groß für das Kind. Ein junger Schutzpolizist, der das Funkgespräch geführt hatte, machte sich zu ihnen auf den Weg und meldete, dass die Mutter des vermissten Mädchens im Präsidium vorgesprochen hatte. Und dass sie gebeten worden war zu warten.
Elke stolperte, als sie den Bestattern Platz machte. Manschreck griff nach ihrem Arm.
»Schaffen Sie das?«
»Ja«, antwortete sie und fragte sich, was genau er meinte und vor allem, was auf sie zukommen würde.
Ludwig Maria Seitz, Kriminalreporter der Münchner Zeitung, hielt Abstand zu den starrenden Leuten, die beobachteten, wie der Sarg davongetragen wurde. Er wollte nicht hören, was sie flüsterten, wie sehr das Grauen sie gepackt hatte.
Er hasste Geschichten über Kinder, besonders über vermisste und tote. Dem nackten Gerüst dieser Geschichten gab es von seiner Seite nichts hinzuzufügen, zu viel Elend der falschen Sorte. Er wollte sich nicht fragen, warum es ihn leer ließ, und schon gar nicht, ob er sich verdorben fühlen musste deshalb.
Umflattert von seinem hellen Sommermantel, für den es schon jetzt zu warm war, lief Ludwig Maria die Wiese hinunter, Manschreck nach. Und der jungen Brünetten in dem schlecht geschnittenen Kostüm, die der Mordermittler bei sich hatte – wer immer das war. Sportliche Waden, flache Schuhe, eine Schreibkraft aus dem Polizeipräsidium vielleicht, aber nein, das passte nicht zum Alten. Er war akribisch mit seinen Notizen.
»Guten Morgen, Manschreck.«
Der Alte machte keine Anstalten, stehen zu bleiben. Nur das Fräulein wandte kurz den Kopf mit dem kinnlangen Haar und ließ ihr Profil sehen – die gerade Nase nicht eben klein, schöner Mund, wenn auch etwas verkniffen im Moment –, um dann an der Seite des Hauptkommissars weiter auf den schwarzen BMW zuzusteuern.
»Können Sie fahren?«, fragte Manschreck.
Sie schien überrascht.
»Ja.«
»Dann darf ich bitten.«
Manschreck hielt ihr die Wagenschlüssel hin, während er sich dem Reporter zuwandte. Als er sich eine weitere Zigarette zwischen die Lippen schob, hatte Ludwig Maria sein Zippo (ein Geschenk seines amerikanischen Schwagers Colonel Mitch Keagan) bereits in der Hand und gab ihm Feuer.
»Ist es das vermisste Mädchen?«
Schotter knirschte. Langsam fuhr der Leichenwagen hinter ihnen vorbei. Manschreck schaute auf seine Uhr.
»Die Pressekonferenz dürfte um sechzehn Uhr stattfinden, Seitz.«
Ludwig Maria nahm die Sonnenbrille ab und blickte zu dem Liegestuhl. Das Rot wirkte heiter wie Klatschmohn auf der Morgenwiese.
»Ob sich jemand die Mühe gemacht hat, den Liegestuhl hierherzubringen, um die Leiche der Kleinen darauf abzulegen?«
Manschreck hustete hässlich in Richtung Laubenkolonie. Natürlich würde ihm der Alte nicht antworten, nicht jetzt. Der Motor des BMW sprang an, Manschreck stieg ein. Ludwig Maria setzte die Sonnenbrille wieder auf und beugte sich zum Wagenfenster.
»Wer ist denn eigentlich sie?«, fragte er. Das Fräulein legte den ersten Gang ein und wartete.
»Wir fahren«, sagte Manschreck.
Ludwig Maria blickte dem Wagen nach und sah den Hauptkommissar in einer knappen Bewegung aus dem Fenster winken. Er würde ihn um vierzehn Uhr anrufen. So verhielt es sich zwischen ihnen.
Den Mantel über die Schulter geworfen, lief er zurück über die Wiese, vorbei an einem Polizisten, der den Liegestuhl zusammengeklappt hatte, um ihn zum Volkswagenbus des Erkennungsdienstes zu tragen.
Ludwig Maria grub in seiner Hosentasche nach den Schlüsseln des mandelhellen Karmann Ghia, der beim Schuttberg in unpassender Eleganz auf ihn wartete. Sein Anblick erfreute ihn noch immer, was unter anderem daran lag, dass er ihn quasi nagelneu von jemandem hatte kaufen können, der ihn schnell loswerden musste. Zweitausend Mark, ein Witz, der ihn glücklich machte, weil der Wagen zu ihm passte wie ein gut geschnittener Anzug. Er fühlte sich darin zu Hause, was er von der möblierten Wohnung in Schwabing, an die er unter gleichsam fragwürdigen Umständen geraten war, niemals behauptet hätte, hätte ihn jemand gefragt. Allerdings war es zu einer derartigen Intimität bislang nicht gekommen.
Ludwig Maria setzte auf dem Schotterweg zurück, bog hinter dem Schuttberg auf die Plinganserstraße und lenkte den Karmann Richtung Innenstadt.
Bis vor wenigen Tagen hatte ihn der Prozess gegen Vera Brühne beschäftigt, ihn, die Stadt, die ganze Republik. Eine Schöne, schön wie die Monroe, sagte man, eine Verruchte. Eine Mörderin aus Habgier, hatte das Landgericht München entschieden. Der Fall Brühne war eine Geschichte nach dem Geschmack aller und deshalb auch nach dem von Ludwig Maria.
Er war Teil der Meute gewesen, die nach allem gejagt hatte, was es von und über Vera B. zu finden gab, die einen reichen Münchner Arzt zu beerben gedachte. Ob sie schuldig oder unschuldig war, interessierte ihn dabei wenig. Ludwig Maria interessierte der Aufruhr, den diese Frau erregte, diese sagenhafte Unruhe, die sie auslöste und damit auch er, wenn er über sie schrieb, geschrieben hatte bis zu ihrem Haftantritt, den man sie ungeschminkt, in schwarzem Kostüm und weißem Mantel absolvieren sah, gebrochen, wie es denen gefiel, die so eine wie sie dauerhaft entfernt wissen wollten.
Ludwig Maria hielt an einer roten Ampel und drehte das Radio an. Die Neun-Uhr-Nachrichten liefen. Nichts über das tote Kind. Gut. Es gab ihm Zeit, sich mit einer anderen Geschichte zu befassen, einer im Vergleich jetzt nebensächlichen, die – so würde es Gunzmann, sein Chef, sehen – auf Seite eins ab sofort nichts mehr zu suchen hatte.
Die Sache interessierte Ludwig Maria absolut persönlich. Am Goetheplatz setzte er den Blinker. In der Pettenkoferstraße gab es ein heruntergekommenes Hotel, das Paloma. Er würde das miserable Frühstück auf sich nehmen und warten.
Im Polizeipräsidium litt Kommissariatsleiterin Irmgard Warneck unter fliegender Hitze, während sie darüber nachdachte, was Hauptkommissar Manschreck bewogen hatte, die junge Kollegin Zeisig anzufordern. Weil sie in der Nähe des Fundorts wohnte? Warum überhaupt hatte der Leitende Mordermittler eine Beamtin der WKP an den Fundort einer Leiche bestellt? Auch wenn es die eines Kindes war.
Und warum hatte er nicht sie, Warneck, die erfahrene, führende Beamtin herangezogen?
Nebenan klapperte die Schreibmaschine. Kollegin Probst tippte Ergänzungen zum gestrigen Protokoll der Kollegin Zeisig. Die Mutter der kleinen Johanna saß indessen bei ihr, andernfalls hätte sie in dem neu eingerichteten Vernehmungszimmer für Kinder warten müssen, wo Märchenbilder an den Wänden und Spielzeug für freundliche Stimmung sorgten, oder aber auf dem Gang. Nichts von beidem war der armen Person zuzumuten.
Sie hatten ihr Kaffee gebracht und eine Breze, die sie mit zitternden Fingern zerkrümelte, statt sie zu essen.
Sie hatten sie kaum beruhigen können, aber das Vertrauen der Frau gewonnen. Sie wussten ihre Fragen zu stellen, ohne dass sie sich am Pranger fühlte, und so hatte sie sich alles von der Seele geredet, was unter Umständen noch von Bedeutung sein könnte.
Die Hoffnung, die sie in ihr weckten – dass ihr Kind lebte und man es ihr wohlbehalten zurückbringen würde –, war nicht beabsichtigt. Sie hatten Frau Bartl bis jetzt mit der Nachricht über den Leichenfund verschont.
Und wenn das tote Mädchen nicht Johanna Bartl war, dann würde es das Kind einer anderen Mutter sein, die sie informieren und in die Pathologie begleiten mussten.
Für Aufgaben wie diese, Befragungen, die weibliches Einfühlungsvermögen verlangten und die Fähigkeit, Gefühlsregungen im gleichgeschlechtlichen Gegenüber richtig zu deuten, wurden sie von den anderen Kommissariaten, selbstredend alle ausschließlich männlich besetzt, herangezogen. Irmgard Warneck kannte es nicht anders, seit sie 1941 unverheiratet und auf den Führer vereidigt in den Dienst der WKP getreten war, die Entnazifizierung nach Kriegsende pflichtgemäß bewältigt hatte und mit den Jahren alle Beförderungsstufen bis zur Kriminaloberinspektorin.
Sie waren die Schattenarmee. Die Öffentlichkeit wusste so gut wie gar nichts von ihnen. Sie taten ihre Arbeit im Stillen und blieben im Hintergrund. Ihr Zuständigkeitsbereich waren Kinder und Jugendliche. Als Dienststellenleiterin legte Irmgard Warneck allergrößten Wert darauf, dass ihre Anwärterinnen aus sozialen Berufen kamen. Nur so konnten sie Verständnis aufbringen, ohne sich einwickeln zu lassen.
Bis vor wenigen Jahren waren sie noch Streife gegangen, äußerlich unauffällig, aber mit geschultem Blick für die verlorene Jugend der Nachkriegsjahre. Verwahrlost und misshandelt die einen, verroht und kriminell die anderen. Diebe, Herumtreiber, minderjährige Prostituierte. Schlüsselkinder. Im Stich gelassene Geschöpfe, die Gefahr liefen, unrettbar in das Heer der Berufsverbrecher abzusinken.
Nebenan klingelte das Telefon. Die Probst schob sich kurz darauf durch die Tür, die beide Räume verband.
»Kollegin Zeisig holt jetzt Frau Bartl ab«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Warneck wurde von einer erneuten Hitzewelle geflutet. Sie stand auf, schob ein Alpenveilchen zur Seite und öffnete das Fenster. Noch war es draußen eine Spur kühler als in ihrem stickigen Büro, wo dunkle Aktenrollschränke ihren Schreibtisch bedrängten.
Unten, im kopfsteingepflasterten Hof des Präsidiums, sah sie die junge Kollegin Zeisig auf der Fahrerseite aus dem BMW der Mordermittler steigen.
»Ach, deshalb hieß es, sie soll Frau Bartl in die Rechtsmedizin fahren«, sagte Fräulein Probst, die neben Warneck getreten war und einen langen Hals machte, während Elke Zeisig in diesem Moment zu ihnen heraufblickte.
»Stimmt, sie hat ja einen Führerschein«, sagte die Probst, »vergesse ich immer.«
Warneck befühlte die Blumenerde der Topfpflanze. Trocken.
»Soll ich Frau Bartl runterbringen?«
Die Kommissariatsleiterin wandte sich vom Fenster ab.
»Die Kollegin Zeisig wird sie schon holen«, sagte sie.
Elke trat in den Paternoster und strich sich das Haar hinter die Ohren. Sie hatte die Skepsis ihrer Vorgesetzten bis hinunter in den Hof gespürt, als würde ihr ein kalter, nasser Lappen ins Gesicht gedrückt. Doch es dämpfte ihre Erregung nicht im Geringsten.
Sie verließ den Paternoster im dritten Stock, wo die WKP sich einen Flur mit der Sitte teilte.
Der Autoschlüssel lag verwegen in ihrer Jackentasche.
Manschreck hatte sich vor dem Gebäude des Pathologischen Instituts absetzen lassen und sie weitergeschickt. Übermütiger Stolz hatte sie gepackt, als sie allein hinter dem Steuer plötzlich Teil des spärlichen Feiertagsverkehrs war. Während sie – umsichtig und souverän, wie sie fand – den BMW durch die Innenstadt gelenkt hatte, war der Schrecken dieses Morgens für kurze Zeit von ihr abgefallen. Und als sie auf den Hof des Präsidiums gefahren war, hatten die Blicke der Polizisten, die sich dort aufhielten, sie fast zum Lachen gebracht.
Das war noch nie vorgekommen.
Die Weibliche Kriminalpolizei fuhr mit der Tram. Manche der Frauen benutzten ihr eigenes Rad. Selten nahm ein Streifenwagen sie mit, wenn sie in entlegenere Stadtteile mussten. Keine von ihnen hatte je einen Wagen aus dem polizeilichen Fuhrpark chauffiert.
Die Chefin las in einer Akte, als Elke das Büro betrat. Die Tür zum Nebenzimmer, das sie mit Doris Probst teilte, war geschlossen.
»Frau Bartl ist nebenan?«, fragte Elke leise.
»Sie ist es also«, sagte die Warneck und blickte auf.
»Die Beschreibung der Kleidung passt.«
Die Chefin schien keine näheren Erläuterungen zu erwarten. Sie verlor auch kein Wort über Elkes erstaunlichen Fahrdienst. Sie wusste zu gut, dass es Wichtigeres gab. Nebenan begann die Frau zu schluchzen.
Doris Probst erschien in der Tür.
»Sie will nicht kommen.«
Warneck stemmte sich hinter ihrem Schreibtisch hervor. Im Nebenzimmer beugte sie sich zu der schmächtigen Frau, die sich an der Sitzfläche des Stuhls festkrallte, auf dem sie seit fast zwei Stunden saß.
Warneck war jetzt ganz Mutter Erde, mächtig und warm. Elke hatte einige Male erlebt, welche Wirkung sie damit erzielen konnte, so wie jetzt, als sie über die verkrampften Hände der Frau Bartl strich, ihre Finger vom Stuhl löste, den Arm um sie legte und sie an den Schultern hochzog. Die Frau sackte gegen die Oberinspektorin.
»Sie gehen jetzt mit meiner Kollegin«, sagte Warneck mit sanfter Bestimmtheit und festigte den Griff um die Schultern der Frau. Sie würde keine Gegenwehr zulassen, und Frau Bartl schien das zu begreifen.
PPMünchen/Kom.C1 20.6.1962
Vernehmungsprotokoll
über
das vermisst gemeldete Kind Bartl, Johanna, geb. 12.12.1955
Befragte: die Mutter
Hildegard Bartl
Geb. 21.2.1928
Familienstand: verwitwet
Wohnhaft: München-Sendling, Valleystr. 51
Beruf: Standlfrau, Obst und Gemüse
Frage: Die Johanna ist Ihr einziges Kind, Frau Bartl?
Antwort: Ja.
Frage: Seit wann sind Sie verwitwet?
Antwort: Johanna war noch kein Jahr alt, als mein Mann gestorben ist.
Frage: Woran ist Ihr Mann gestorben?
(Die Befragte zögert. Das Thema scheint ihr peinlich. Oder schmerzhaft? Sie antwortet erst auf Nachfrage.)
Antwort: Er hat getrunken. Wegen dem, was er im Krieg mitgemacht hat. Das waren ja noch Kinder damals. So wie ich.
Frage: Wie Sie?
Antwort: 45, meine ich. Da war ich 17.
Frage: Sie kannten sich damals schon? Ihr Mann und Sie?
(Die Befragte verneint kopfschüttelnd.)
Antwort: Ich habe den Fritz erst 54 kennengelernt. Am 1. Dezember haben wir geheiratet, weil die Johanna unterwegs war. Ein Jahr später war er dann schon tot, fast auf den Tag genau. In den Glockenbach ist er gefallen, sturzbesoffen.
Frage: Die Johanna hat ihren Vater also eigentlich gar nicht gekannt.
Antwort: Nein.
Frage: Leben Ihre Eltern noch, Frau Bartl?
Antwort: Meine Mutter ist seit zwei Jahren tot.
Frage: Gibt es Großeltern vonseiten Ihres verstorbenen Mannes?
(Die Befragte verneint kopfschüttelnd.)
Frage: Das muss schwer für Sie sein, allein mit dem Kind.
Antwort: Die Johanna macht es mir nicht schwer.
(Die Befragte weint und will wissen, ob die Polizei denn schon nach ihrer Tochter sucht, was ihr bestätigt wird.)
Frage: Wo ist denn Ihre Tochter untergebracht, wenn Sie an Ihrem Stand Obst verkaufen?
Antwort: Ich habe sie oft dabei, die Johanna. Sie hilft mir so gern. Wenn das Wetter schlecht ist, nimmt meine Nachbarin sie zu sich, Frau Lienert, die hat selbst drei Kinder, und die verstehen sich. Dafür bekommt sie von mir Ware umsonst. Also was ein bisschen angeschlagen ist, aber noch gut.
Frage: Johanna ist also im Grunde regelmäßig mit Ihnen gegangen? Könnte man das so sagen?
Antwort: Ja. Manchmal ist sie zu müde. Ich muss ja schon um fünfe in der Sortierhalle sein.
Frage: Sortierhalle.
Antwort: Im Großmarkt.
Frage: Und da ist Johanna auch oft gewesen mit Ihnen?
Antwort: Ja. Ihr gefällt es da. Die vielen Leute. Die Händler haben sie gern. Sie ist ja ein fröhliches Kind. Immer bekommt sie etwas geschenkt von den Leuten.
Frage: Mit Ihrem Obstwagen, stehen Sie da jeden Tag an der gleichen Stelle, am Sendlinger Tor?
Antwort: Ja. Links neben dem Turm, wo der Wein hochwächst.
(Die Befragte weint heftig, ist nicht zu beruhigen.)
Manschreck faltete das Protokoll der Länge nach und schob es zurück in die Innentasche seiner Anzugjacke. Es würde die Hölle werden zu ermitteln, wer alles mit der Kleinen in Kontakt gewesen war. Die vielen Leute. Ob der Täter sie beobachtet und ausgewählt hatte. Meistens war es so.
Immer bekam sie etwas geschenkt.
Ihm platzte der Schädel. Er trat aus der Pathologie hinaus in die Sommerwärme und zündete sich eine Zigarette an. Die Granatsplitter in seinem Kopf, zwei von siebzehn, die man nicht hatte entfernen können, waren eine Erinnerung an den Kessel von Charkow, 43. Üblicherweise quälten sie ihn bei Föhn. Heute hatte es ihn kalt erwischt, unten am Tisch, als Hildegard Bartl ihr Kind identifizierte.
Reglos hatte sie in der Tür gestanden, nachdem sie mit der WKP-Beamtin eingetroffen war. Eine ganze Weile. Niemand drängte sie. Niemand forderte sie auf, sie möge sich doch nun bitte zügig dem brutalsten Moment ihres Lebens stellen.
Der Geruch nach Verwesung und scharfen Desinfektionsmitteln in den Kellergewölben hatte das Fräulein Zeisig verstohlen die Hand vor die Nase heben lassen. War wohl neu für sie. Es würde Tage dauern, bis sie den Geruch los war.
Schließlich war die Frau an den Tisch getreten. Der Assistent der Rechtsmedizin, ein junger, nervöser Mensch, zog dem Kind das Tuch vom Gesicht. Die Frau hatte keinen Laut von sich gegeben. Kein Schluchzen, kein Aufstöhnen. Sie hatte genickt, als Manschreck fragte, ob dies ihre Tochter Johanna sei.
Mit beiden Händen hatte sie das Tuch gegriffen, ihr Kind zugedeckt, behutsam, ein letztes Mal.
Schon wieder läuteten irgendwo Glocken. Das würde den ganzen Tag so gehen.
Der Schmerz wütete hinter seinen Schläfen.
Erfahren zu müssen, dass die Obduktion erst am nächsten Tag würde stattfinden können, hatte ihm den Rest gegeben.
Ausgerechnet wegen eines forensischen Kongresses verloren sie kostbare Zeit.
Stotternd hatte der Assistent ihn wissen lassen, dass die Rechtsmedizin »quasi geschlossen« am frühen Morgen nach Bremen geflogen war, um zwei führende Forensiker aus den USA über neueste Methoden berichten zu hören.
Resigniert blickte Manschreck zum Wagen hinüber, der im Schatten einer Linde geparkt war. Er wünschte, er müsste nicht selbst fahren mit diesem elenden Kopfrasen. Doch die junge Kollegin hatte er vorausgeschickt. Sie begleitete die Mutter nach Hause, deren Zusammenbruch noch bevorstand. Und wenn sie den Eindruck hatte, Frau Bartl allein lassen zu können, so hatte er es Fräulein Zeisig aufgetragen, sollte sie zügig die Nachbarskinder aufsuchen.
Als Manschreck dazukam, kroch Ursel, das jüngste der drei Lienert-Kinder, unter den Esstisch und blieb fortan stumm hinter der bestickten Tischdecke verborgen. Die beiden älteren Geschwister saßen steif in Sonntagskleidern auf dem Sofa. Vermutlich kratzte der Bezug an ihren nackten Beinen.
Manschreck lehnte die angebotene Tasse Kaffee ab und bat darum, das Fenster zu öffnen.
Die gleichlautende Bitte Elkes hatte Frau Lienert eine Viertelstunde zuvor überhört, weshalb sich die abgestandene Kühle des wenig genutzten Zimmers bereits zu stickiger Wärme ausgedehnt hatte, als Manschreck eingetroffen war.
Nun stieß die Frau das Fenster mit einem energischen Ruck auf. Im Gegensatz zu Manschreck, der sich auf dem zweiten der Sessel niederließ, konnte Elke ihre Verdrossenheit sehen.
Vielleicht tat sie der Frau unrecht, und sie war auf eine ruppige Art, die offenbar ihr Wesen ausmachte, niedergeschlagen wegen des Todes des Nachbarkindes, das nahezu jeden Tag mit den ihren verbracht hatte.
»Valentin und Betti«, stellte Elke die Kinder dem Kommissar vor. »Zehn Jahre alt. Sie sind Zwillinge.«
Unter dem Tisch hinter Manschreck regte sich etwas.
»Die beiden haben noch eine unsichtbare Schwester.«
Manschreck nickte und versuchte, Milde auszustrahlen.
Die Kinder hatten eben erst erfahren, dass Johanna jetzt bei den Engeln war. Sie mussten verstört und erschrocken sein, es war schwer zu sagen, nur dass ihre runden Gesichter fahl waren unter der ersten Sommerbräune. Die Wucht einer nie gekannten Bestürzung legte ihnen dunkle Schatten unter die Augen.
»Wir sprachen gerade noch mal über den Nachmittag gestern«, sagte Elke. »Ihr habt mir erzählt, die Johanna wollte ihre Mutter abholen am Sendlinger Tor.«
»Ja genau.«
Valentin umfasste mit den Händen die Träger seiner kurzen Lederhose und sah an Elke vorbei zu Manschreck, der sich vorgebeugt hatte.
»Hat sie das öfter gemacht?«
»Sie hatte immer Zehnerl für die Tram.«
»Und ihr nicht.«
»Was?«
»Ihr hattet keine Zehnerl und habt sie nicht begleitet.«
»Das wäre ja noch schöner«, sagte Frau Lienert.
Betti blickte zum Fenster, wo ihre Mutter stand und die Hände in die Rocktaschen steckte. Betti liebte diesen grünen Rock, auf dem schwarze Figuren tanzten. Wie auf einer Wiese, dachte sie, ohne es zu wollen, denn jetzt würde die Wiese immer der Ort sein, wo Johanna ganz und gar tot gelegen hatte. Heftig wünschte sich Betti, sofort groß genug zu sein, um den Rock der Mutter zu tragen, denn dann wäre alles schon lange her und vergessen.
»War das dann mit Ihnen abgesprochen, wenn die Johanna fuhr?« Im Stillen fragte Elke sich, warum Hildegard Bartl ihr davon nichts gesagt hatte.
»Was denken Sie denn?« Frau Lienert zog die Hände aus den Rocktaschen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie durfte das, seit ihrem sechsten Geburtstag letzten Winter. Johanna darf mich abholen, wenn sie mag, hat die Hilde gesagt. Das Mädel musste mir nur Bescheid geben, wenn es fahren wollte.«
»Und Johanna hat Ihnen gestern Bescheid gesagt.«
»Hat sie nicht, hat sie nicht«, wisperte Ursel unter dem Tisch.
»Nein«, sagte ihre Mutter, »gestern wusste ich nichts davon.«
Auf dem Sofa begann Betti zu weinen.
»Hör auf!«, schrie Valentin seine schluchzende Schwester an. Fuchsteufelswild.
»Wollen Sie jetzt etwa uns die Schuld geben?«
Frau Lienert schoss ihre Frage vom Fenster aus ab, ohne sich von der Stelle zu rühren. Offenbar fiel es ihr leichter, die Wut ihres Sohnes zu teilen, als ihre Töchter zu trösten, denn Ursel unter dem Tisch weinte jetzt auch.
Es war kurz nach fünfzehn Uhr. Sie hatten die Geschichte als Aufmacher für die Abendausgabe. Der Redaktionsbote war unterwegs zum Polizeipräsidium, das Foto der Kleinen für den Aufruf abzuholen. Ihr Vorteil, dass in den Redaktionen anderer Münchner Zeitungen an Fronleichnam nicht gearbeitet wurde. Gottlob.
WER HAT JOHANNA ZULETZT GESEHEN?
Das sechsjährige Mädchen, brünett, mit schulterlangen Zöpfen, war im Stadtteil Sendling zunächst mit drei Spielkameraden – einem Buben und zwei Mädchen – gemeinsam unterwegs. Am späteren Nachmittag trennten sich die Kinder bei den Gärten hinter dem Kidlerplatz.
ZEUGEN GESUCHT!
Johanna trug ein hellblau kariertes Kleid und braune Ledersandalen. Wenn Ihnen das Kind am Nachmittag oder am Abend des 20. Juni allein oder in Begleitung aufgefallen ist, melden Sie sich bitte bei einer Polizeidienststelle.
So war es nun aller Voraussicht nach: Die Stadt suchte einen Mörder. Grandiose Schlagzeile, nur leider verbrannt. Er würde eine andere finden müssen.
Ludwig Maria griff nach seinen Zigaretten. Er hatte Lust auf Gin, aber er trank nicht, wenn er schrieb. Alkohol hatte seine Texte noch nie besser gemacht.
Andere Drogen interessierten ihn nicht. Er hatte sich niemals zwingen müssen von Kokain, Amphetaminen oder Heroin Abstand zu halten.
Anders als Chet, dem das wohl nie mehr gelingen würde.
Ludwig Maria wurde sofort wütend, als er an den Musiker dachte. Er wollte ihn spielen hören.
Dieses begnadete Arschloch.
Gestern hatten sie Chet Baker in einer Schwabinger Apotheke verhaftet, als er versuchte, mit einem gefälschten Rezept an Jetrium-Tabletten zu kommen. Der Apotheker hatte den King of Cool erkannt. Ein Jazzfan war der Mann aber offenbar nicht, denn er telefonierte eilig von einem Nebenraum mit der Polizei und verstand es im Folgenden, den süchtigen Amerikaner hinzuhalten, bis die Beamten eintrafen.
Chet gab höflich sein Geständnis zu Protokoll und ließ sich widerstandslos nach Haar abtransportieren. In die Kreisirrenanstalt, zu einem weiteren vergeblichen Entzug.
Ludwig Maria kannte Chet Baker persönlich, seit er vor drei Jahren in München aufgetreten war. Chet hatte damals bemerkt, dass er bei ausnahmslos jedem Gig auftauchte, was dazu führte, dass sie die Nächte zusammen durchsoffen, bis Mr Baker die Stadt wieder verließ. Unter Männern konnte gemeinsames Trinken durchaus der Beginn einer Freundschaft sein.
Zum ersten Mal hatte Ludwig Maria das göttliche Spiel Chet Bakers gehört, als Colonel Mitch Keagan sich vor fast zehn Jahren anschickte, sein Schwager zu werden und mit Babette eine Verlobungsparty im Birdland feierte.
Chets Musik machte Ludwig Maria weich, wie nichts und niemand es sonst vermochte.
Ein Jahr später, fast auf den Tag, nachdem Chet Baker wie Gold in seine Adern geflossen war, reiste Ludwig Maria nach Paris, um ihn live zu sehen. Als Chet Funny Valentine sang, samtig mit einem fulminant fehlenden Frontzahn, heulte er hemmungslos.
Heute Morgen, im La Paloma, hatte Ludwig Maria auf Chets Mädchen gewartet, weil er wissen wollte, wie es um ihn stand. Ludwig Maria kannte Carol Jackson, der Chet nach seinem letzten Entzug in Italien begegnet war, bislang nur von Fotos der amerikanischen Presse. Eine zierliche, dunkelhaarige Person mit großen, schwarz umrandeten Augen. Bildschön.
Sie war nicht aufgetaucht.
Das Telefon klingelte Ludwig Maria aus seinen abschweifenden Gedanken. Gunzmann natürlich. Als hätte sein vermeintlich träger Blick die Wände des Zimmers vom Chef durchdrungen, um im Kopf seines Kriminalreporters nach dem Rechten zu schauen.
»Herr Seitz, besteht eine Chance, dass wir heute noch mehr aus dem Polizeipräsidium kriegen?«
»Wegen der kleinen Bartl?«
»Ja natürlich. Herrgott.«
So simpel es war, den Chef hochgehen zu lassen – dass Gunzmann auch nach Jahren noch darauf hereinfiel, daran fand Ludwig Maria jedes Mal wieder Gefallen.
»Wir haben jetzt das Foto von dem armen Ding«, sagte Gunzmann. »Wie weit sind Sie?«
»Durch«, log Ludwig Maria. Er begann ein paar Schlagzeilen auf seinen Block zu kritzeln. Als er zehn Minuten später aufstand, um Gunzmann den fertigen Text zu bringen, klebte ihm das Hemd am Rücken.
Die Feiertagsbesetzung der Redaktion schwitzte im Kollektiv. Drei Ventilatoren verwirbelten die stehenden Tabakschwaden mit dem Geruch von Männerachselschweiß in Nyltesthemden, den Haarspraydämpfen der Kolleginnen und den Kölnisch-Wasser-Wolken der Sekretärinnen zu einem Gemisch, das es nicht aus den geöffneten Fenstern des Großraumbüros schaffte.
Wie starb die kleine Johanna? Fund einer Kinderleiche in Sendling gibt Polizei Rätsel auf.
Gunzmann schmeckte der Schlagzeile nach wie dem Abgang eines Weines. Der Chef schwitzte nicht. Dabei hatte er nicht mal die Anzugjacke abgelegt. Sein dichtes graues Haar schmiegte sich wie frisch mit dem nassen Kamm gezogen an seinen Schädel. Gunzmann legte größten Wert auf eine gepflegte Erscheinung, auch bei seinen Reportern, die »das Gesicht der Zeitung dieser Stadt für die Leute da draußen« hinhielten.
»Das Kind ist also erstickt? Das bleibt alles so vage«, sagte Gunzmann, nachdem er den Artikel zum zweiten Mal gelesen hatte.
»Mehr weiß man noch nicht. Keine Spuren von äußerer Gewalt, nach erstem Ansehen.«
Ludwig Maria lehnte sich in dem Lederfreischwinger zurück, von denen zwei vor dem überfüllten Schreibtisch des Chefbüros standen. Er wusste, was jetzt kam.
»Also, ich bitte Sie, wo bleibt Ihr Instinkt, Seitz? Dieser rote Liegestuhl und so weiter …«
»Es gab noch keine Obduktion.«
»Warum nicht? Man sollte doch denken, dass ein totes Kind Vorrang vor allem anderen hat.«
Ludwig Maria zündete sich eine Zigarette an.
»Interne Gründe. Wir haben keine faktische Grundlage, um von Mord …«
»Falls es Mord war«, fuhr Gunzmann ungeduldig dazwischen, »müssen wir die Leute da draußen warnen, verdammt noch mal, damit es nicht noch ein weiteres unschuldiges Kind erwischt.«
»Wir müssen die Mordfrage offenhalten, dafür stehe ich bei Manschreck im Wort.«
Gunzmann würde ihm nicht mit der Informationspflicht kommen. Damit, dass die Zeiten vorbei waren, in denen man sich diktieren ließ, was man schrieb und was nicht. Dafür kannten sie einander zu lange.
Ludwig Maria hatte seine ersten Meldungen für die Münchner Zeitung geschrieben, als das Verlagsgebäude in der Sendlinger Straße noch von Kriegsschäden gezeichnet war. Gunzmann hatte ihn den straffen Stil gelehrt, die Konzentration aufs Wesentliche und den Blick für jene Details, die aus einer Geschichte eine gute Geschichte machten.
»Geh dem Leser unter die Haut. Und mich langweile nicht, Junge«, hatte Gunzmann zu ihm gesagt. »Selbst dann nicht, wenn du über einen entflogenen Sittich berichtest.«
Nachdem Ludwig Marias erster Artikel unter eigenem Namen erschienen war, siezte Gunzmann ihn.
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