Fräulein Zeisig und der amerikanische Freund - Kerstin Cantz - E-Book

Fräulein Zeisig und der amerikanische Freund E-Book

Kerstin Cantz

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Beschreibung

Amerikanische Jazz-Clubs und ein toter GI im München der 60er Jahre: Fräulein Zeisig, Münchens erste Mordermittlerin löst ihren zweiten Fall Ein heikler Auftrag führt Kommissarin Elke Zeisig 1963 in die Siedlung der amerikanischen Soldaten am Perlacher Forst in München: Bei der WKP, der Weiblichen Kriminalpolizei, ist der anonymer Hinweis eingegangen, die Frau eines US-Offiziers würde ihr sechs Monate altes, deutsches Pflegekind vernachlässigen . In Elkes unangemeldeten Besuch bei der Offiiziersfamilie platzt die schockierende Nachricht von den Schüssen auf John F. Kennedy. Die junge Kommissarin verlässt das Haus der Offiziersfrau an diesem aufwühlenden Tag, ohne das Kind zu sehen. Als Elke bald darauf vom Tod des Kindes erfährt, setzt sie alles daran, um heraus zu finden, was geschehen ist. Während Elke Zeisig immer tiefer in die isolierte Parallelwelt der amerikanischen Soldaten-Frauen eintaucht, wird auf einem Acker außerhalb Münchens die Leiche eines afroamerikanischen GI gefunden. Er wurde hinterrrücks erschossen. Eine Eifersuchtstat? Oder steckt Rassismus in den Reihen der GIs dahinter? Fräulein Zeisig ermittelt mit heißem Herzen und kühlem Kopf zu einer Zeit, als Frauen bei der Polizei ihren Dienst noch keineswegs auf Augenhöhe taten .Tauchen Sie mit der facettenreichen Krimi-Reihe von Bestseller-Autorin Kerstin Cantz ins München der 60er Jahre ein. Band 1 der Krimi-Reihe, »Fräulein Zeisig und der frühe Tod«, spielt 1962 zur Zeit der als »Schwabinger Krawalle« bekannt gewordenen Studentenunruhen in München.   "Eine brillante und überzeugende Stimme aus Deutschland" www.giudittalegge.it

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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kerstin Cantz

Fräulein Zeisig und der amerikanische Freund

Kriminalroman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Ein heikler Auftrag führt Kommissarin Elke Zeisig 1963 in die Siedlung der amerikanischen Soldaten am Perlacher Forst in München: Bei der WKP, der Weiblichen Kriminalpolizei, ist der anonyme Hinweis eingegangen, die Frau eines US-Offiziers würde ihr sechs Monate altes, deutsches Pflegekind vernachlässigen. In Elkes unangemeldeten Besuch bei der Offiiziersfamilie platzt die schockierende Nachricht von den Schüssen auf John F. Kennedy. Die junge Kommissarin verlässt das Haus der Offiziersfrau an diesem aufwühlenden Tag, ohne das Kind zu sehen. Als Elke bald darauf vom Tod des Kindes erfährt, setzt sie alles daran, um herauszufinden, was geschehen ist.

Inhaltsübersicht

Editorische Notiz

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Dank an

 

 

 

 

Editorische Notiz

Das N-Wort sowie weitere rassistische Benennungen oder Bemerkungen finden in dem Roman aus Gründen der Authentizität, des Sprachgebrauchs und des strukturellen Rassismus der frühen 1960er-Jahre entsprechend Verwendung. Diese spiegeln weder die Haltung der Autorin noch des Verlags wider.

 

 

 

 

Für Paul Lee K.

11.7.1961–7.2.1962

1

Die Frau hatte keinen Namen genannt. Bei Meldungen wie dieser kamen die Anrufe meist anonym. Manche Leute flüsterten sogar am Telefon oder verstellten ihre Stimmen. Vielleicht hatte die Stimme der Frau gepresst geklungen. Wodurch das Unbehagen, sich in etwas einzumischen, ebenso hörbar wurde wie die Beklemmung über den Verdacht, den mitzuteilen sie sich entschlossen hatte.

Es war nach sechs und stockdunkel. Elke Zeisig schaltete die Scheinwerfer ein, beugte sich vor und wischte mit dem Ärmel ihres Wintermantels über die beschlagene Scheibe des Volkswagens. Wenn es richtig kalt war, brauchte die Heizung mehr als eine halbe Stunde, um das Innere des alten Käfers ansatzweise warm zu kriegen. Die vergangene Woche über hatte es kontinuierliche Nachtfröste gegeben, und heute war das Thermometer erstmals auch tagsüber kaum über null gestiegen.

Es hatte nach Schnee gerochen, als Elke das Polizeipräsidium verließ.

Sie setzte den Blinker und fuhr auf die Ausfallstraße Richtung Südosten. Hoffentlich begann es nicht zu schneien, denn dann würde sie die Straßenschilder schlecht lesen können, und in der Gegend, die sie ansteuerte, kannte sie sich nicht aus. Sie war noch nie in der Ami-Siedlung gewesen.

Die hohen Baumschatten zitterten im Scheinwerferlicht des staubgrauen Volkswagens, der Elke noch nicht lange gehörte. Es kam einem Wunder gleich, dass ihre Mutter das alte Auto an sie abgetreten hatte. Als Gegenleistung dafür erwartete sie wohl häufigere Besuche. Widerwille verkrampfte Elke den Nacken. In vier Wochen war Weihnachten. Vorher würde sie nicht raus aufs Land fahren.

Das grell aufblendende Licht eines entgegenkommenden Wagens nahm ihr für einen Moment die Sicht. Reflexartig trat Elke auf die Bremse, während ein Militärjeep an ihr vorbeiraste. Er musste links von der Stichstraße aus dem Wald gekommen sein. Von dort, wo sie jetzt ein weißes Schild zwischen den Bäumen sah: Family Housing Area Perlacher Forst.

 

Die erleuchteten Fenster der Mehrfamilienhäuser wirkten wie lückenhafte Mosaike, dachte Elke, als sie auf die Siedlung zufuhr. In Höhe der ersten Wohnblöcke drosselte sie das Tempo und hielt unter einer Straßenlaterne. Sie tastete nach dem Deckenlicht des Volkswagens und beugte sich über den Faltplan auf dem Beifahrersitz.

Die Siedlung war für die amerikanischen Besatzungssoldaten und ihre Familien aus dem gerodeten Waldboden gestampft und nach amerikanischem Vorbild angelegt worden. In dem schachbrettartigen Grundriss diente die Nummerierung der Wohngebäude zur Orientierung. Schon im Präsidium hatte Elke auf dem grafischen Übersichtsplan erkennen können, dass die Mehrfamilienblöcke 300er-Nummern trugen, während die Einzel- und Doppelhäuser mit 400er-Nummern gekennzeichnet waren. Dort wohnten die Offiziersfamilien.

Die Anruferin hatte es betont.

Obwohl Elke die großen Ziffern auf der Stirnseite des gegenüberliegenden Häuserblocks erkennen konnte, hatte sie nur vage eine Vorstellung davon, wo in der Siedlung sie sich augenblicklich befand.

Im Rückspiegel bemerkte sie die Scheinwerfer eines sich nähernden Wagens. Es war eine helle, lang gestreckte Limousine, die langsam vorbeiglitt und mit laufendem Motor vor dem Volkswagen stehen blieb. Die Bremslichter in den Heckflossen glommen wie die schräg stehenden Augen eines Raubtiers.

Aus den Kältewolken der Auspuffgase trat eine Frau. Sie trug einen weiten Wintermantel, der flauschig um ihren Körper floss, und ein Kopftuch, dessen Enden in den hochgestellten Mantelkragen gesteckt waren.

Elke kurbelte die Scheibe herunter. Die Frau beugte sich zu ihr herab.

»Need any help, Miss?«, fragte sie.

Ihr aufmerksamer Blick erfasste Elke im Bruchteil einer Sekunde und glitt zum Faltplan auf dem Beifahrersitz.

»Ich suche das Haus Nummer 451«, antwortete Elke auf Englisch. Sie beherrschte die Sprache einigermaßen. Im Fond des amerikanischen Wagens bemerkte sie zwei ältere Kinder, die offenbar stritten.

»Bantingstraße«, sagte die Frau. »Dort sind die Hausnummern 444 bis 456.«

»Bantingstraße.« Elke griff nach der Straßenkarte. »Danke, das hilft mir weiter.« Die Anruferin hatte keinen Straßennamen genannt, nur die Nummer des Hauses.

Elke lächelte der Amerikanerin zu, die immer noch zu ihr herabgebeugt stand.

»Sehr freundlich, dass Sie gehalten haben. Ich werde das Haus jetzt sicher finden. Vielen Dank.«

Die Frau legte ihre Hand auf die heruntergekurbelte Scheibe. Sie trug elegante schwarze Lederhandschuhe. Als sie das Lächeln erwiderte, ähnelte sie Doris Day.

»Fahren Sie doch einfach hinter mir her, Miss.«

Doris Day nahm die Hand wieder fort. Ohne eine Antwort abzuwarten, richtete sie sich auf und ging zu ihrem Auto zurück. Elke versuchte, sich das Kennzeichen einzuprägen, obwohl es wegen der Auspuffschwaden kaum zu erkennen war. Zwei Buchstaben, vier Ziffern. Durch die Heckscheibe starrten die Kinder neugierig zu ihr her. BC – die erste Zahl eine Sieben vielleicht. Sie gab es auf, als der Wagen vor ihr mit einem Ruck anfuhr und auf die Fahrbahn ausscherte.

Es waren nur wenige Minuten, die Elke der Amerikanerin auf den breiten, gehweglosen Straßen durch die Siedlung folgte. Kein Mensch war zu sehen. Hin und wieder kam ihnen ein wuchtiger Amischlitten entgegen.

Nachdem sie einige Male abgebogen waren und Elke sich fragte, wie sie jemals wieder zurückfinden sollte, fuhren sie in eine weit geschwungene Straße, an der sich gleichförmige, einstöckige weiße Häuser in gebührendem Abstand reihten.

Die Bantingstraße war eine Sackgasse. In der Wendeschleife fuhr Doris Day langsam am letzten Haus vorbei. Elke musste den Kopf beugen, um durch die kleine Windschutzscheibe eine Hausnummer erkennen zu können. Die Scheinwerfer des Volkswagens erfassten die Ziffern 451, gerade als Doris Day ein paar Häuser weiter Gas gab und in die Richtung fuhr, aus der sie in die Straße abgebogen waren.

Elke schaltete Motor und Scheinwerfer aus. Im Haus waren die Zimmer des Erdgeschosses hinter geschlossenen Vorhängen erleuchtet, der erste Stock war dunkel.

Sie brauchte jetzt noch einen Moment. Sie holte sich ins Gedächtnis, wie die Chefin sie am Nachmittag ins Bild gesetzt hatte.

 

»Hatten Sie schon einmal mit amerikanischen Militärangehörigen oder deren Familien zu tun?«

Wenn Hauptkommissarin Franziska Sailer bereits beim Betreten eines Raumes eine Zigarette aus der Schachtel klopfte, war dies das Signal, dass sie eine Sache ausführlicher besprechen wollte. Dass sie dazu ihr Büro verließ, anstatt ihre Mitarbeiterinnen zu sich zu zitieren, war nur eine von vielen Verhaltensweisen, die sie eklatant von ihrer Vorgängerin unterschieden.

Elke, die mit dem Abtippen eines Vernehmungsprotokolls beschäftigt war, schüttelte den Kopf und unterbrach ihre Arbeit.

»Nein, bisher noch nicht.«

»Wir haben einen anonymen Hinweis bekommen«, sagte Hauptkommissarin Sailer. »Leider nicht in unserer Abteilung. Der Anruf kam in der Zentrale an.«

Die Sailer zündete sich die Zigarette an und stieß den Rauch aus, während sie weitersprach.

»Eine Amerikanerin soll ihr Pflegekind vernachlässigen. Möglicherweise misshandelt sie es sogar. Ein Kind, das sie hier in Deutschland zur Pflege genommen hat. In München. Angeblich handelt es sich um die Frau eines hohen Offiziers.«

Die Chefin öffnete das Fenster und aschte ins Freie. Elke hatte keinen Aschenbecher in ihrem Büro. Sie rauchte nur gelegentlich.

»Sie sagte, das Kind schreit stundenlang. Man könne es bis auf die Straße hören.«

»In welchem Alter ist das Kind?«

»Die Frau sprach von einem Baby.«

»Hat die Anruferin Näheres zu ihrem Verdacht geäußert?«, fragte Elke. »Hat sie oder jemand anderes etwas Konkretes beobachtet?«

»Leider nicht. Ich wünschte, eine von uns hätte mit ihr reden können. Dem Beamten in der Zentrale kann ich keinen Vorwurf machen. Jedes Mal, wenn er vorschlug, sie an eine Kollegin weiterzuverbinden, drohte sie damit, aufzulegen.«

Die Sailer lehnte in ihrem gut geschnittenen Tweedkostüm neben dem geöffneten Fenster, durch das sich Novemberluft kalt ins Zimmer stahl.

»Die Anruferin sagte, die Frau im Haus Nummer 451 benehme sich merkwürdig. Kaum jemand habe das Kind je gesehen.«

Elke runzelte die Stirn.

»Haus Nummer 451? Kein Name?«

Die Sailer verneinte kopfschüttelnd.

»Aufgelegt, noch bevor der Kollege nachfragen konnte. Ich habe beim Sozialreferat angerufen, aber da ließ sich auf die Schnelle auch nichts erfahren. Die für die Amerikaner zuständige Beamtin war bei einem Außentermin. Ihre Kolleginnen sahen sich außerstande, anhand einer Hausnummer die Akte zu finden.«

Verärgert sog sie an ihrer Zigarette.

»Kümmern Sie sich gleich am Montag darum, Zeisig, und machen Sie einen unangekündigten Besuch in der amerikanischen Siedlung.«

»Wollen wir noch zwei Tage vergehen lassen?«, fragte Elke.

Die alte Chefin hätte die Frage als frech empfunden. Hauptkommissarin Sailer, für alle immer noch die Neue, obwohl sie ihre Stellung als Leiterin der Weiblichen Kriminalpolizei vor inzwischen mehr als einem Jahr angetreten hatte, zeichnete sich durch ein anderes Autoritätsverständnis aus.

»Es ist besser, erst die Akte zu kennen«, antwortete sie, und natürlich hatte sie recht.

Elke zögerte. Ihr war kalt geworden. Sie griff nach ihrer Kostümjacke, die sie zum Tippen ausgezogen und über die Stuhllehne gehängt hatte.

Die Sailer beobachtete sie.

»Ja, Kollegin Zeisig?«

»Es geht um ein Baby.«

Für einen Moment herrschte Schweigen. Im Nachbarbüro setzte das Klappern einer Schreibmaschine ein. Hauptkommissarin Sailer warf den Rest ihrer Zigarette nach draußen und schloss das Fenster.

»Gut«, hatte sie dann gesagt. »Sprechen Sie Englisch?«

 

Als Elke aus dem Auto stieg und auf das Haus zuging, fiel ihr auf, wie still es hier war. Still und sehr kalt. Nur das Sirren der Straßenlaternen stand in der Luft. Elke nahm ihren Mantelkragen unter dem Kinn zusammen und blickte hinauf in den schwarzen, mondlosen Himmel. Sicher würde es heute Nacht schneien, dachte sie noch, bevor sie die Klingel drückte. Dann stellte sie sich der Frau vor, die ihr die Tür öffnete.

»Female CID Munich.«

Die Amerikanerin wirkte verstört und erschrocken. Abgekämpft. In ihr blondes Haar hatte sie Lockenwickler gedreht, ungleichmäßig, vermutlich in Eile.

Sie war hübsch.

Sie trug Pepitahosen und hatte eine Strickjacke um die Schultern gelegt. Ihre helle Bluse hatte Flecken vorn, Milch möglicherweise, Babynahrung vielleicht. In den Händen hielt sie ein blaues Chiffontuch. Vermutlich hatte sie es sich um die Lockenwickler binden wollen und war dann doch erst zur Tür gegangen. Es war ihr peinlich, dass eine Fremde sie so sah. Sie war unvorbereitet, kalt erwischt.

Rasch schloss sie die Tür, nachdem Elke eingetreten war.

Der blaue Kinderwagen mit dem weißen Verdeck fiel sofort ins Auge. Es war still im Haus. Keine gedämpfte Musik. Kein entferntes Radio. Kein schreiendes Kind.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Die Frau zog die Schultern hoch und umfasste fröstelnd ihre Oberarme. Sie sprach leise, und doch meinte Elke herauszuhören, dass ihr Englisch ohne einen auffallenden amerikanischen Akzent war. Vielleicht bemühte sie sich auch, der deutschen Polizistin gegenüber deutlich zu sprechen.

»Sie haben kürzlich ein Kind in Pflege genommen?«, fragte Elke freundlich.

»Ja.« Der Blick der Amerikanerin hetzte nach oben. »Paul. Er schläft«, flüsterte sie.

»Ich möchte Sie bitten, sich auszuweisen.«

»Stimmt etwas nicht?«

Ihre Hand, an der sie den Ehering trug, fuhr zum Hals hinauf, wo hektische Rötungen aufblühten. Sie nestelte an ihrem Blusenkragen. »Es ist alles vorschriftsmäßig vonstattengegangen. Wir haben die Papiere von den deutschen Behörden. Wenn Sie die allerdings sehen möchten …«

»Nur Ihren Pass«, bat Elke mit einem Lächeln. Sie wollte endlich wissen, wie die Frau hieß, ohne sich die Blöße geben zu müssen, nach ihrem Namen zu fragen.

»Ich fürchte, ich habe nur meinen Führerschein zur Hand. Den können Sie natürlich sehen. Oder meine Sozialversicherungskarte, warten Sie.«

Die Amerikanerin holte ihre Handtasche von einem Sideboard hinter dem Kinderwagen. Während sie nervös nach ihren Papieren kramte, ertappte Elke sich bei der Frage, ob irgendetwas von dem wenigen, was sie in diesem Haus bislang zu sehen bekam, amerikanisch aussah.

Neben einem leuchtend blauen Damenmantel hing ein grauer Uniformmantel an der Garderobe. Auf der Hutablage leistete ein Herrenhut einer Damenfellmütze Gesellschaft. Die langen Schnäbel eines hölzernen Kranichpaares zeigten an der Wand hinter der Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Alle Türen zu den abgehenden Zimmern waren geschlossen.

»Bitte sehr.«

Die Hände der Frau zitterten, als sie Elke den Führerschein hinhielt. »Unsere Pässe hat mein Mann in seinem Schreibtisch.« Nach wie vor sprach sie leise. Als würde sie Elke ein Geheimnis verraten. »Mein Mann hat alle unsere Papiere in seinem Schreibtisch eingeschlossen, wissen Sie.«

Loretta Williams. 1938 in Boston geboren. Sie war fünfundzwanzig, gerade mal ein Jahr älter als Elke.

Elke gab den Führerschein zurück und bedankte sich.

»Wie alt ist Paul jetzt genau, Mrs Williams?«

»Fünf Monate. Und ein paar Tage.«

»Richtig«, sagte Elke, als erinnerte sie sich wieder. »Wie kommen Sie mit ihm zurecht?«

»Oh. Wunderbar.«

Mrs Williams wand das Chiffontuch in den Händen. Ein unsicheres Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln.

»Manchmal ist es ein bisschen anstrengend. Der wenige Schlaf, Sie verstehen …«

»Schläft er oben, der kleine Paul?«

Die Amerikanerin nickte.

»In seinem Zimmer. Die Tür ist angelehnt, damit ich ihn sofort hören kann, wenn er wach wird.«

»Würden Sie mir zeigen, wo das ist? Ich möchte das Kind gern sehen.«

Mrs Williams riss die Augen auf, voller Entsetzen, als hätte Elke eine Waffe gezogen.

»Aber warum?«, wisperte sie. »Ich verstehe das alles nicht. Eine Polizistin kommt in mein Haus und will mein Kind sehen, was hat das zu bedeuten?«

»Das muss Sie nicht beunruhigen, Mrs Willams«, sagte Elke sanft. »Wissen Sie, die Weibliche Kriminalpolizei arbeitet mit dem Jugendamt zusammen. Es ist durchaus üblich, dass wir manchmal unangemeldet Pflegefamilien aufsuchen. Damit wir uns ein Bild davon machen können, ob das Kind auch wirklich gut aufgehoben ist.«

»Natürlich. Paul geht es gut. Wir lieben ihn sehr.«

»Davon bin ich überzeugt. Trotzdem muss ich den Kleinen sehen. Bitte, Mrs Williams.«

»Warum ausgerechnet jetzt?« Sie machte ein paar Schritte rückwärts Richtung Treppe, als wollte sie Elke aufhalten. »Sehen Sie, ich bin froh, dass Paul endlich schläft, und ich will ihn nicht wecken.«

Elke zögerte. Was wusste sie schon über Mrs Williams? So gut wie nichts. Möglicherweise war sie tatsächlich nur um den Schlaf des Kindes besorgt.

Andererseits war sie nun mal hier. Sie war Polizistin. Die Chefin hatte ihrem Einwand, sich so schnell wie möglich ein Bild von der häuslichen Situation zu verschaffen, nachgegeben.

Keine gute Idee, sich jetzt abwimmeln zu lassen.

»Ich werfe nur einen Blick auf ihn«, sagte Elke ruhig. »Vielleicht wacht er gar nicht auf.«

»Miss … entschuldigen Sie, wie war noch Ihr Name?«

»Zeisig.«

»Miss Zeissick.« Sie hatte Schwierigkeiten, den Namen auszusprechen, und sie kämpfte mit den Tränen.

»Mein Mann kommt gleich«, sagte sie leise und schrak zusammen, als es im selben Moment klingelte. Sie eilte zur Tür, und Elke war kurz versucht, die Treppe hinaufzulaufen, um das Kind zu finden. Dann sah sie einen groß gewachsenen schwarzen GI in die Diele treten. Er hatte zwei Papiertüten im Arm, wie Amerikaner sie nach Einkäufen zu ihren Autos oder von ihren Autos ins Haus trugen. Elke hatte das in Filmen gesehen und immer gefunden, dass diese hohen, henkellosen braunen Papiertüten sehr viel lässiger aussahen als die Einkaufsnetze der deutschen Hausfrauen.

Mrs Williams und der Soldat wechselten einige gedämpfte Worte, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. Das Gesicht des Schwarzen war schmerzverzerrt. Versteinert standen sie einander gegenüber.

Elke ging auf die beiden zu, und Loretta wandte sich schluchzend um. Sie war schwer zu verstehen. Elke konnte erst nicht glauben, was sie sagte.

Oben begann das Kind zu weinen.

»Kennedy has been shot«, wiederholte Loretta Williams flüsternd.

*

Zigarettenqualm zog wie Nebel durch die Redaktionsräume der Münchner Zeitung. Niemand dachte daran, ein Fenster zu öffnen. Es war arschkalt draußen, und keiner wollte jetzt auch noch frieren. Für die Nachtausgabe telefonierte man Stellungnahmen und neuesten Informationen hinterher, hackte Berichte und erste Kommentare in die Maschinen. Man rauchte gegen die Fassungslosigkeit an und schüttete sich Cognac in die Kaffeetassen.

Milla Friedberg vom Feuilleton hatte schon drei davon intus.

Seit die Nachricht vom Tod Kennedys über den Fernschreiber getickert war, weinte sie an der Brust ihres Kollegen Ludwig Maria Seitz. Das Hemd des Kriminalreporters war nass und hatte Mascaraflecken, als er Milla von seinem Schoß schob.

»Ich muss zum Chef.«

Sie nickte und ging zu ihrem Schreibtisch hinüber, wo sie ein letztes Schluchzen in ihrem verknäuelten Taschentuch erstickte. Ludwig Maria hatte Milla noch nie weinen sehen. Sie kannten sich seit Ewigkeiten und lagen einander auf kollegiale Weise am Herzen. Ihre Affäre war längst Geschichte.

Er machte sich auf den Weg zu Gunzmann und stoppte kurz an ihrem Schreibtisch.

»Geht’s?«

»Klar.« Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die blass geweinten Lippen und zündete sie an. »Trinken wir später noch was zusammen?«

Ludwig Maria blickte zum Chefbüro. Seine Antwort verlor sich im unablässigen Schrillen der Telefone.

»Eher nicht«, sagte er.

 

Gunzmann stand am Fenster, als Ludwig Maria ins Zimmer kam. Mit beiden Händen strich der Alte sich das volle, graue Haar zurück und sah hinaus auf die Abendlichter der Stadt. Sein Gesicht, in das harte Zeiten Falten gegraben hatten, spiegelte sich in den Scheiben des Bogenfensters.

In der Schreibmaschine steckte der begonnene Nachruf auf den amerikanischen Präsidenten. Die Chefsekretärin hatte ein halbstündiges Durchstellverbot von Anrufen, Ausnahme nur für den Korrespondenten in Washington.

Gunzmann war Chefredakteur seit der Stunde null. Vor kaum mehr als fünfzehn Jahren hatte er Ludwig Maria als Volontär eingestellt, und aus dem jugendlichen Kleinkriminellen war ein respektabler Kriminalreporter geworden.

»Was für eine Tragödie«, sagte Gunzmann.

Er kam zurück zu seinem Schreibtisch.

Von der Straße drang das Kreischen der abbremsenden Tram hinauf zu ihnen.

»Ja«, sagte Ludwig Maria.

Er fühlte sich von dumpfer Mutlosigkeit wie ausgestopft. Wie eine steife Puppe in einem Traueranzug auf einem fremden Begräbnis.

Gunzmann setzte sich, drehte das beschriebene Blatt ein Stück aus der Maschine und überflog seine letzten Sätze.

»Was haben Sie für mich, Seitz?«, fragt er müde. »Kein Verbrechen in unserer Stadt kann jetzt gegen das in Dallas ankommen.« Er drehte das Blatt zurück. »Für diese Bemerkung«, sagte er, ohne aufzublicken, »dürfen Sie mich für heute einen Zyniker nennen.«

Ludwig Maria zog seine Zigaretten hervor und zündete sich eine an. Zynismus hatte ihm schon oft genug geholfen, nicht den Verstand zu verlieren.

»Wir müssen Stimmen von Amerikanern zum Mord an Kennedy haben«, sagte er. »Schließlich leben Tausende von ihnen in der Stadt. Ich würde das für die Frühausgabe übernehmen.«

»Richtig, Sie sind ja ein Freund des Jazz.«

Gunzmann sah auf.

»Machen Sie das, Seitz. Nutzen wir den Vorteil, dass Sie in diesen Klubs zu Hause sind.«

Er beugte sich über seine Maschine und setzte seine Arbeit an dem Nachruf fort. Ludwig Maria verließ das Büro und fragte sich, ob Rassenfanatiker Kennedy auf dem Gewissen hatten.

*

Elke saß mit hochgezogenen Beinen auf ihrem Bett im Halbdunkel. Unter dem Schirm der Nachttischlampe, die einem altmodischen Samthut glich, spielte das Transistorradio getragene Musik, eine ganze Weile schon. Ausschließlich.

Es hatte nicht, wie erwartet, zu schneien begonnen. Trostloser Regen schlug gegen die Fensterscheiben, und das Zimmer kühlte langsam aus.

Frau Mauser, die Witwe, bei der Elke möbliert zur Untermiete wohnte, stellte stets die Heizung aus, wenn sie zu Bett ging, und das war für gewöhnlich um neun. In einer von Elkes Zimmerecken befand sich ein zierlicher Kachelofen, den sie in kalten Jahreszeiten manchmal mit Holz befeuerte. Doch jetzt vermochte sie sich nicht dazu aufzuraffen. Trotz der dicken Strickjacke, die sie über ihrer Bluejeans trug, konnte sie die Kälte von der Wand hinter sich im Nacken spüren.

Sie beugte sich vor, schaltete das Radio aus und dachte an Loretta Williams, deren Ehemann jetzt zu Hause sein und ihre Trauer mit ihr teilen würde. Sofern der Tod des Präsidenten auch ihn traurig machte.

Elke zog die Strickjacke über ihre kalten Knie, während sie sich fragte, ob Mr Williams ebenso von Schmerz überwältigt war wie der schwarze GI, dem sie in dessen Haus begegnet war.

Unter Tränen, die sie um ihren ermordeten Präsidenten weinte, hatte Mrs Williams mit brüchiger Stimme erklärt, dass der Soldat mit den Tüten im Arm der Fahrer ihres Mannes sei und manchmal Einkäufe für sie erledige, wenn sie wegen des Babys nicht aus dem Haus kam. Oben hatte sich das Kind in Rage geschrien, während Loretta inständig darum bat, Elke möge ein anderes Mal wiederkommen. Der GI war in strammer Haltung einen Schritt auf die Seite getreten, um Elke vorbeizulassen. Sein dunkler Blick streifte sie ohne jede Regung, bevor er den Kopf senkte und die Frau seines Chefs die Treppen hinaufrannte.

»Don’t cry, darling. Mommy is comin’!«

Noch immer konnte Elke ihr ersticktes Rufen hören, wie vor ein paar Stunden, als die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war.

Sie stand auf, nahm nun doch ein paar dünne Scheite zum Anfachen aus dem Korb neben dem Kachelofen und begann Feuer zu machen. Sie war gut darin und handhabte die Luftzufuhr sicher.

Vorhin, als im Radio bekannt gegeben wurde, dass John F. Kennedy im Parkland Memorial Hospital gestorben war, hätte Elke gern mit ihrem jüngeren Bruder telefoniert, doch ihre Vermieterin nahm das Telefon abends immer mit zu sich, obwohl es über einen Gebührenzähler verfügte. Wie aufgebracht würde Volker über den Tod Kennedys sein!

Sie legte zwei größere Scheite nach und schloss die Ofentür. Das Holz musste sie jetzt immer selbst hacken, seit Volker diesen Herbst, kaum dass er das Abitur in der Tasche hatte, nach Berlin gezogen war, um sich der Wehrpflicht zu entziehen. Ihre Mutter würde das noch lange empören, so gern sie damit angab, dass ihr Junge Jura studierte.

Elke legte sich auf den Boden, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schob ihre Füße gegen die sich langsam erwärmenden Kacheln des Ofens.

Sie wollte nicht an ihre Mutter denken. Sie hatte noch nicht sehr lange damit aufgehört, ihr nachzutragen, dass sie ihr vor Jahren verboten hatte, das Abitur zu machen.

Elke hob ihr Handgelenk vor die Augen und sah auf die Uhr. Schon nach zehn. Morgen war Samstag.

Sie musste am Wochenende ihre Haare waschen. Schon der Gedanke daran ödete sie an. Es war eine zeitraubende Angelegenheit bei ihrem naturgewellten Haarvolumen, das Stunden zum Trocknen brauchte und geföhnt aussah wie das Innere einer Rosshaarmatratze. Sie hatte ihr Haar bereits auf Kinnlänge kürzen lassen, um im Dienst keine Hochsteckfrisur tragen zu müssen, für die es ihr gleichermaßen an Geduld und Talent fehlte. So aber sprangen ihr die Haare ständig ins Gesicht, und sie hinter die Ohren zu streichen, wirkte wie eine Marotte und war ohne Effekt. Elke hatte es mit Stirnbändern, Tüchern und Haarklammern versucht, nur um es lästig, unbequem oder beim Blick in den Spiegel einfach grotesk zu finden. Zu einem Kurzhaarschnitt, wie man sie neuerdings auf den Titelblättern der teuren Modehefte sah, fehlte ihr noch der Mut. Sie befürchtete, damit einem frisierten Pudel zu gleichen. Es mangelte ihr, das konnte Elke immer wieder leidenschaftslos über sich konstatieren, an Eleganz.

Unwillkürlich hatte sie die Amerikanerin vor Augen, die in der Siedlung angehalten hatte, um ihr den Weg zu zeigen. Doris Day mit ihrem um den Hals gewundenen Kopftuch, in dem schwingenden Mantel. Ob sie auch in einem der Häuser mit den 400er-Nummern wohnte? War sie ebenfalls die Frau eines ranghohen Offiziers?

Wie Loretta Williams?

Kannten sie einander? Doris Day hatte sofort gewusst, wo die Hausnummer 451 zu finden sein würde. Sie war zielsicher dort hingefahren.

Elke sah wieder vor sich, wie der Wagen nach dem Durchqueren der Wendeschleife durchgestartet war, doch sie hatte keine Erinnerung daran, wie weit er gefahren war, ob er die Straße verlassen oder vor einem der anderen Häuser gehalten hatte.

Ihre Konzentration hatte sich allein auf das Haus Nummer 451 gerichtet und auf die Erwartung, was ihr dort begegnen würde. Loretta Williams, nervös, mit bebenden Lockenwicklern. Ihre aufgerissenen Augen, als Elke nach ihrem Pass gefragt hatte. Ihre Unsicherheit. Oder war es Angst gewesen?

Ihr Flüstern.

Don’t cry. Mommy is comin’ …

 

Elke schrak zusammen, als sie eine Berührung an der Schulter spürte. Sie lag zusammengerollt auf dem Boden, es war warm im Zimmer. Sie musste eingeschlafen sein. Blinzelnd machte sie über sich ein blasses Gesicht aus, mit tiefen schwarzen Schatten unter den Augen.

»Theres!«

Theres kniete neben ihr, weinend. Elke setzte sich auf und zog ihre Freundin in die Arme. Manchmal wartete sie auf Theres, die schon länger hier wohnte als sie und das Zimmer nebenan gemietet hatte. Theres mit ihren toupierten Haaren und dem breiten Lidstrich, der oft verschmiert war, je nachdem, wann sie nach Hause kam und ob sie mit einem netten Kerl noch etwas getrunken hatte. Theres war Kellnerin, Barfrau seit Neuestem.

Wenn sie von der Arbeit heimkam und Elke noch wach war, freute sie sich, weil sie oft noch zu aufgekratzt war zum Schlafen und weil sie ihre Geschichten vom Münchner Nachtleben loswerden konnte.

Theres schniefte. Ihr erhitzter Atem befeuchtete Elkes Halsbeuge. Aus ihrer zerdrückten Bienenkorbfrisur stieg der Geruch von Haarspray und Zigaretten.

»Was ist passiert?«

»Es gab eine Messerstecherei.« Theres löste sich aus Elkes Umarmung, wischte sich Rotz und Tränen mit dem Ärmel fort. »Es hat einen von den GIs erwischt.« Ein nächstes Schluchzen schüttelte sie. »Einen Farbigen.«

Theres langte nach ihrer Handtasche und holte mit zitternden Händen eine zerknitterte Schachtel Lucky Strike hervor. Erst jetzt bemerkte Elke die dunklen Flecken auf Rock und Bluse, und sie musste an Jackie Kennedy denken. Im Radio hatten sie von dem blutbefleckten Kostüm gesprochen, das sie Stunden nach dem Attentat noch immer getragen hatte.

»Kanntest du ihn?«, fragte Elke.

Theres schüttelte den Kopf, zündete sich eine Zigarette an und gab die Schachtel an Elke weiter.

Sie rauchten stumm, und Elke zog den Ascheeimer vom Ofen heran. Theres, die eingeknickt in ihrem engen Rock neben ihr saß, streifte die Schuhe mit den hohen Pfennigabsätzen von den Füßen. Unter den schwarzen Strümpfen schimmerte ihre Haut bemerkenswert weiß, so wie das nur bei echten Rothaarigen vorkommt. Seit Theres mit Amerikanern zu tun hatte, rasierte sie sich die Beine.

Sie zog die Nase hoch, bevor sie wieder zu sprechen begann.

»Er ist direkt vor mir an der Bar zusammengeklappt«, sagte sie. »Ich bin sofort hin. Es hat ihn in der Seite erwischt, glaube ich.« Ihre Stimme kippte in ein Schluchzen. »Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Alle rannten durcheinander. Ich hatte gerade ein Geschirrtuch in der Hand, das habe ich einfach fest auf die Wunde gedrückt.« Sie blickte Elke angstvoll an. »Vielleicht war das falsch, was meinst du? Das Tuch war nicht gerade sauber.«

»Das hast du gut gemacht«, versuchte Elke, sie zu beruhigen, doch Theres brach erneut in Tränen aus.

»Er hat so furchtbar geblutet! Ich glaube nicht, dass er das überlebt.«

Die Polizistin in Elke hätte jede Menge Fragen an Theres gehabt, doch der Blick in das von verlaufener Wimperntusche geschwärzte Gesicht verbot dies schlicht und einfach.

»Dein Kommissar, dieser Manschreck, war da«, sagte Theres unvermittelt, als hätte sie ihre Gedanken erraten. »Viel konnte ich dem nicht sagen, aber nett war er trotzdem.«

Sie nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und blies den Rauch zur Decke. »Schade, dass der so alt ist.«

Elke musste lächeln. Langsam fand Theres zu ihrer alten Form zurück.

»Hat er dich von einer Streife heimfahren lassen?«

»Ja, Gott sei Dank, ich will nicht wissen, wie ich ausschaue.«

Sie wischte sich durch das Gesicht und sah dann auf ihre Hände.

»So eine Scheiße«, sagte sie. »Erst Kennedy und dann noch das.«

Dann fand Theres, dass es – wann, wenn nicht jetzt – Zeit für echten amerikanischen Whiskey war, von dem sie noch in ihrem Zimmer hatte. Sie bat Elke, noch einmal kräftig Holz nachzulegen, und als sie mit der Flasche zurückkam, sagte sie: »Ludwig Maria war übrigens auch da.«

*

Das Kellerlokal war für helle Beleuchtung nicht ausgestattet, und so hatte man Scheinwerfer aufgestellt, die das Innere des Cool Club bis in den letzten Winkel seiner Gewölbedecken ausleuchteten. Nichts hier unten war dazu angetan, bei Licht betrachtet zu werden. Das Mobiliar, der Bartresen, alles, was sonst im Halbdunkel versank, wirkte jetzt angestoßen, abgerissen, schäbig. Der von verschütteten Getränken klebrige Boden war mit Zigarettenkippen übersät, auf den Tischen halb ausgetrunkene Bierflaschen, Gläser mit Whiskeyresten, überfüllte Aschenbecher, zerdrückte Zigarettenschachteln.

Hauptkommissar Manschreck, Leiter der Münchner Mordkommission, ließ seinen Blick durch das schlauchartige leere Lokal streifen.

Die MP-Streife hatte sich längst verabschiedet und die GIs zurück zur Kaserne geschickt – oder gleich abtransportiert. Man konnte nicht wissen, was heute noch passieren würde. Die Stimmung war aufgeheizt. Zwei weiße MPs hatten im Rausgehen darüber gesprochen. Manschrecks Englisch reichte gerade aus, um verstehen zu können, dass sie befürchteten, die Schwarzen würden heute wahrscheinlich noch mehr Ärger machen als für gewöhnlich.

Der Mann hatte Nigger gesagt.

Der schwer verletzte GI war zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg zum Militärhospital im Perlacher Forst gewesen. Man würde die Münchner Kripo auf dem Laufenden halten, wie es um ihn stand.

An einem der kleinen runden Tische sah Manschreck den Kriminalreporter der Münchner Zeitung warten und ging zu ihm hinüber. Ludwig Maria Seitz befand sich in angemessener Entfernung zu der verschmierten Blutlache vor der Bar, wo die Männer vom Erkennungsdienst noch immer nach verwertbaren Spuren suchten, was einer Sisyphusarbeit gleichkam.

Ludwig Maria deutete mit dem Kopf zu den beiden Männern hinter dem Tresen, mit denen Manschreck gerade gesprochen hatte. Der Besitzer des Klubs stand mit seinem Rausschmeißer zusammen und nahm eine Flasche Whiskey vom Regal.

»Irgendetwas von Belang in Erfahrung gebracht?«

Der Kommissar wusste, dass die Frage des Reporters rhetorisch war. Manschreck war zwanzig Jahre älter als Seitz, doch kannten sie einander aus rauesten Zeiten. Sie hatten zu einem für beide Seiten nutzbringenden System des Informationsaustausches gefunden.

Manschreck zog seine Zigaretten aus der Manteltasche.

»Ein maulfauler Haufen, die Branche.«

Seitz gab ihm Feuer und zündete sich selbst eine an.

»Die Herrschaften sind für morgen ins Präsidium eingeladen«, sagte Manschreck. »Am meisten enttäuscht mich allerdings im Moment, dass Sie nicht das Geringste mitbekommen haben, Seitz. Da hat man schon mal einen Reporter zur Tatzeit vor Ort …«

Seitz war die eigene Verärgerung darüber deutlich anzusehen.

»Ich war an den hinteren Tischen mit zwei schwarzen GIs im Gespräch über das Attentat in Dallas, als vorn die Prügelei losging.«

»Sie sind der Meinung, dass die Ermordung Kennedys sie besonders hart trifft.«

»Sie nicht?«

Manschreck ließ seine Zigarette zu Boden fallen und trat sie aus. »Nicht allein die Schwarzen haben einen Hoffnungsträger verloren.«

Seitz nickte.

»Klar gab es Streit darüber, wer hinter dem Mord am Präsidenten steckt. Ob es die Kommunisten waren, Rassenfanatiker oder die Mafia. Deutsche wie Amerikaner haben sich darüber in die Haare gekriegt. Aber ich weiß nicht zu sagen, ob es der Grund für die Schlägerei oder die Messerattacke war.«

»Es kann jede Menge Gründe dafür geben«, sagte Manschreck. »Setzen Sie mich ins Bild, Seitz. Sie sind doch oft hier. Sind es vorwiegend schwarze und weiße US-Soldaten, die hier aneinandergeraten?«

»Hier und überall sonst in der Stadt, wo viel getrunken wird und Froilleins im Spiel sind. Das muss ich Ihnen doch nicht sagen.«

Natürlich musste er das nicht. Klugscheißer, dachte Manschreck. Manchmal ging Seitz ihm mit seiner lakonischen Art, die er für eine Attitüde hielt, auf die Nerven. Ja, die Polizei hatte immer wieder mit tätlichen Auseinandersetzungen zu tun, in die amerikanische Soldaten verwickelt waren.

»Nicht mal guter Jazz kann Leute davon abhalten, aufeinander loszugehen«, ließ Seitz jetzt verlauten.

Manschreck schätzte Chopins Klavierkonzerte (die Nocturne Opus 27 hatte ihm ermöglicht zu weinen, als seine Frau an Krebs starb), und sein Musikgeschmack war wenig wandlungsfähig. Er besuchte keine Jazzklubs.

Seitz blickte zur Bar. Manschreck vermutete, dem Reporter war nach etwas Hartem zu trinken. Ihm war auch danach. Er nickte den Erkennungsdienstlern zu, die mit ihren Koffern abzogen. Ein Kellner fragte, ob er jetzt die Tische abräumen könnte. Es war der, der gesagt hatte, die Neger hätten alle ein Stilett in der Hosentasche.

Sie hatten noch keine Tatwaffe gefunden.

»Ein Drink gefällig, die Herren?«

Hinter dem Tresen hob der Barbesitzer die Whiskeyflasche in ihre Richtung. Seitz blickte Manschreck fragend an, doch der lehnte ab. Es war Freitag, und seine sechzehnjährige Tochter, die er allein großgezogen hatte, war wie jedes Wochenende aus dem Mädcheninternat zu Hause. Ihn würde noch der eine oder andere Gefühlsausbruch erwarten, denn der Mord in Dallas hatte Maries jugendlichen Idealismus ins Wanken gebracht.

Er verabschiedete sich von Seitz, der sich auf den Weg zum Whiskey machte, und während Manschreck die engen Treppenstufen in die Münchner Nacht hinaufstieg, hörte er, wie leise Jazzmusik einsetzte und die Männer auf Kennedy tranken.

2

Es war früher Montagmorgen. Elke lockerte ihren Schal und öffnete die Mantelknöpfe, als sie das Polizeipräsidium betrat. Sie überlegte, die Treppe zu nehmen, und steuerte dann doch den Paternoster an. Sie bereute es sofort.

Denn noch während sie hoffte, es würde nicht passieren, tauchte das verhasste Bild auf. Wie aus einem Entwicklerbad kommend, verdichtete es sich zu den Details, die sie damals, im Juni 1962, vor Augen gehabt hatte, als sie in einer der herabgleitenden Kabinen des Paternosters zwei zusammengesunkene Frauen auf sich hatte zukommen sehen. Zwei tote Frauen, von denen eine ihre frühere Chefin war. Der aufgesetzte Kopfschuss hatte ein sauberes Loch in ihrer Stirn hinterlassen, das Blut lief an ihrer Nase entlang zum Kinn. Ihre straffe Frisur war kaum in Unordnung geraten.

Die Frau, die sie und anschließend sich selbst erschossen hatte, lag der WKP-Chefin mit abgewandtem Gesicht gegenüber, als wäre es ihr zuwider, mit Hauptkommissarin Warneck, die unter einem anderen Namen ihr Leben zerstört hatte, auf so engem Raum zusammen zu sein.

Elke vertrieb das Bild aus ihrem Kopf und trat in die nächste Kabine des Paternosters. Aufwärts. Sie musste damit klarkommen, dass ihr Gehirn sich weigerte, das Bild zu löschen. Vielleicht war es unmöglich.

Der Tod der beiden Frauen war das Finale einer hitzigen Sommerwoche gewesen, deren Ereignisse Elke aufgewühlt und zu ihrer ersten Mordermittlung geführt hatten.

Es war eineinhalb Jahre her, dass Hauptkommissar Manschreck sie zur Befragung der Mutter und Nachbarskinder angefordert hatte, nachdem in Sendling ein kleines Mädchen tot aufgefunden worden war. Als sich eine Reihe von Morden an jungen Frauen im Teenageralter anschloss, hatte er sie auf eine Weise in die Ermittlungen einbezogen, wie es ganz und gar unüblich war. Eine Woche lang hatte sie an seiner Seite arbeiten dürfen. Wie stolz und glücklich sie das gemacht hatte! In verwegenen Momenten hatte sie sich als Teil der Mordkommission gefühlt, einer Abteilung, die seit ihren ersten Tagen im Polizeidienst eine morbide Faszination auf sie ausübte. Wenn die Männer in Hut und Mantel mit den dunklen BMW-Limousinen vom Hof des Präsidiums fuhren, wirkten sie auf Elke wie Mitglieder eines exklusiven Geheimbundes. Teil davon gewesen zu sein schien ihr eine Ewigkeit her.

Seitdem wartete sie. Sie wartete mit einer Sehnsucht, derer sie sich schämte, denn damit Hauptkommissar Manschreck sie anforderte, musste ein Mensch sterben. Damit ihr brennender Wunsch in Erfüllung ging, musste es einen Mord geben, bei dem im Besonderen eine Beamtin der Weiblichen Kriminalpolizei gefragt war. Ihr Geschick im Verhör von Jugendlichen, Frauen und Kindern, das Talent, in Befragungen mit Sanftheit und Einfühlungsvermögen zu Ergebnissen zu kommen, wie nur eine Beamtin der WKP es konnte. Es war der einzige Grund, warum andere Abteilungen im Präsidium die Frauen zuweilen unterstützend heranzogen.

Manschreck hatte Elke für ihre Arbeit, ihr Gespür und ihre Beharrlichkeit gelobt, als sie den Fall gelöst hatten. Seitdem hatte sie im üblichen Rahmen gelegentlich Befragungen für ihn durchgeführt. Doch einen Mordfall, der nach ihrer Mitarbeit verlangte, hatte es seit jenem Sommer nicht mehr gegeben.

Sie durfte sich das nicht wünschen.

Elke trat im zweiten Stock aus dem Paternoster und bog in den Flur, wo die Büros der Mordkommission einander gegenüberlagen. Jetzt, ganz in der Früh, gab es eine Chance, Manschreck zu erwischen.

Sie klopfte an seine Tür und trat ein.

In Zigarettenqualm gehüllt, hob er hinter dem Schreibtisch seinen markanten, halb kahlen Schädel und sah zu ihr auf. Sein Blick war freundlich, doch er lächelte nicht. Vor ihm lag die Münchner Zeitung.Die Welt trauert um Kennedy.

»Fräulein Zeisig.«

»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar.«

Die Fotos von der Ehrenwache am beflaggten Sarg des amerikanischen Präsidenten gaben Elke das Gefühl, etwas dazu sagen zu müssen. Doch alles, was ihr einfiel, kam ihr unpassend vor, schwach oder abgedroschen. Sie schwieg.

»Der Mord an dem Attentäter, diesem Oswald, wird die Ermittlungen nicht einfacher machen«, sagte Manschreck und legte die Zeitung zusammen. »Aber Sie sind sicher nicht hier, um das Attentat von Dallas mit mir zu erörtern. Was führt Sie zu mir?«

Elke räusperte sich.

»Ich möchte mich nach dem amerikanischen Soldaten erkundigen, der im Cool Club niedergestochen wurde.«

»Sie meinen in dem Lokal, wo Ihre Mitbewohnerin als Kellnerin arbeitet.«

Manschreck streifte seine Filterlose am Rand eines Wirtshaus-Aschenbechers ab, den sie zum ersten Mal auf seinem Schreibtisch sah. Zweifellos besaß er ihn, weil er ihn nicht so oft leeren musste. Schon jetzt war das klobige Ding ziemlich voll.

»Fräulein Neubert hat mir im Laufe der Befragung erzählt, dass sie mit einer Polizistin befreundet ist«, sagte er. »Sie scheint sehr stolz auf Sie zu sein.«

Er lächelte jetzt doch ein wenig, schien es Elke. Für einen nervösen Moment fragte sie sich, was Theres ihm wohl noch über sie erzählt haben mochte. Blödsinn. Über Geheimnisse wusste Theres zu schweigen.

»Hat er überlebt?«, fragte sie.

Manschreck nickte.

»Sie können Ihre Freundin beruhigen. Man hat ihn mehrere Stunden im Militärhospital operiert und konnte ihn retten.«

»Das ist eine gute Nachricht.« Elke zögerte. »Gibt es schon eine Spur?«

»Keine. Der Klub war brechend voll, und der Täter konnte entkommen, ohne dass ihn jemand bewusst wahrgenommen hätte. Wir hoffen, dass der Soldat bald vernehmungsfähig sein wird.« Hustend drückte er die Zigarette aus und stand auf.

Sie sah ihm zu, wie er das Fenster öffnete, und kämpfte den heftigen Impuls nieder, ihm von ihrem Besuch in der Ami-Siedlung zu erzählen. Nein. Es wäre falsch, Manschreck davon zu erzählen, bevor sie der Chefin Bericht erstattet hatte.

Und was sollte Manschreck mit dieser Information schon anfangen? Nichts.

Als er sich umwandte und sie abwartend anblickte, dankte sie ihm für die Auskunft und ging.

 

Auch bei Hauptkommissarin Sailer lag die Zeitung auf dem Schreibtisch. Die Kolleginnen Hanke und Pohl kamen Elke nach ihrem morgendlichen Antritt bei der Chefin entgegen und grüßten synchron. Tatsächlich konnten sie wie Zwillinge wirken, als hätten sie in all den Jahren ihrer Zusammenarbeit einander äußerlich angeglichen. Sie trugen die immer gleichen Kostüme mit hellen Blusen und flachen Schnürschuhen, die Haare zu Knoten geschlungen.

Elkes frühere Kollegin Doris, die im Frühjahr geheiratet und mit Freuden den Beruf aufgegeben hatte, war der festen Überzeugung gewesen, die beiden teilten auch Tisch und Bett. Und wenn schon.

Elke würde nie vergessen, wie Fräulein Hanke ihre Hand gehalten hatte, als sie gemeinsam die toten Frauen im Paternoster sahen, der noch eine schreckliche Ewigkeit mit den Leichen durch das Präsidium hinauf- und hinuntergefahren war, bis endlich jemand den Aufzug stoppen konnte.

»Wie war Ihr Besuch bei den Amerikanern?«, fragte die Sailer, nachdem sie Elke gebeten hatte, Platz zu nehmen.

Auch eine Neuigkeit. Ihre Vorgängerin, Hauptkommissarin Warneck, hatte Elke und die Kolleginnen immer vor ihrem Schreibtisch stehen lassen.