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Eine Liebe in Zeiten von Hass Sachsen, 12. Jahrhundert. Während die schöne Neslin den letzten Wunsch ihres Vaters erfüllt und den angesehenen aber zurückhaltenden Goldschmied Oswald heiratet, entscheidet sich Appolonia für ein Leben im Kloster. Doch ihre Tage dort sind hart und entbehrungsreich und als eines Tages der heidnische Priester Rjurik schwer verletzt vor ihr steht, erscheint er ihr wie ein Licht in all der Dunkelheit … Jahre später wächst die junge Brida inmitten der Schrecken des Wendenkreuzzugs auf. Schon immer hat sie sich fremd gefühlt in ihrer Familie und als Neslin und Oswald ihr eröffnen, dass sie nicht ihre leibliche Tochter ist, zieht sie los, um ihre wahren Eltern zu finden – nicht ahnend, dass sie bald zwischen die Fronten von Heiden und Christen geraten wird … Ein packender historischer Roman für alle Fans von Sabine Ebert.
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Seitenzahl: 944
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Sachsen, 12. Jahrhundert. Während die schöne Neslin den letzten Wunsch ihres Vaters erfüllt und den angesehenen aber zurückhaltenden Goldschmied Oswald heiratet, entscheidet sich Appolonia für ein Leben im Kloster. Doch ihre Tage dort sind hart und entbehrungsreich und als eines Tages der heidnische Priester Rjurik schwer verletzt vor ihr steht, erscheint er ihr wie ein Licht in all der Dunkelheit … Jahre später wächst die junge Brida inmitten der Schrecken des Wendenkreuzzugs auf. Schon immer hat sie sich fremd gefühlt in ihrer Familie und als Neslin und Oswald ihr eröffnen, dass sie nicht ihre leibliche Tochter ist, zieht sie los, um ihre wahren Eltern zu finden – nicht ahnend, dass sie bald zwischen die Fronten von Heiden und Christen geraten wird …
Über die Autorin:
Tereza Vanek wurde 1966 in Prag geboren und kam als kleines Kind mit ihren Eltern nach München. Sie studierte Anglistik, Romanistik und Slawistik und promovierte über die Darstellung verbrecherischer Frauen im englischen Drama des 7. Jahrhunderts. Sie arbeitete als Fremdsprachenlehrerin, Übersetzerin und verkaufte im Internet nostalgische Kleidung, bevor sie Schriftstellerin wurde. Tereza Vanek lebt und arbeitet in München.
Bei dotbooks erschien bereits Tereza Vaneks historische Romane »Die Dichterin von Aquitanien«, »Die Heidentochter«, »Die Ketzerin von Carcassonne« und »Im Reich des Zuckerrohrs«.
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eBook-Neuausgabe März 2025
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Tereza Vanek
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz, München
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ma)
ISBN 978-3-98952-826-0
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Tereza Vanek
Die Heidentochter
Historischer Roman
dotbooks.
»Willst du das wirklich tun?«, fragte Appolonia und legte den Kranz aus geflochtenen Blüten vorsichtig auf den Tisch. Neslin fuhr sich nochmals mit der Bürste durchs Haar. Der Spiegel ihrer Mutter war gemeinsam mit ein paar Schmuckstücken bereits im letzten Jahr einem fahrenden Händler verkauft worden. So konnte Neslin nur die flachsfarbenen Strähnen mustern, die von den Borsten geglättet wurden.
»Mein Mädchen hat Haare wie Sonnenstrahlen«, erklang plötzlich die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. Rasch wischte sie sich mit den Handrücken die Augen trocken. Noch vor zwei Jahren war ihre Mutter gesund und die Welt in Ordnung gewesen.
»Natürlich werde ich es tun«, sagte sie mit Entschiedenheit, um Appolonia und vor allem auch sich selbst zu überzeugen. »Oswald ist ein guter Mann. Er hat genügend Vermögen, um für seine Frau und auch für deren Schwester zu sorgen.«
Das waren die letzten Worte ihres Vaters gewesen, bevor sein Wunsch, der toten Ehefrau zu folgen, endlich in Erfüllung gegangen war. Oswald der Goldschmied verdiente mehr Geld als sonst irgendjemand in Braunschweig. Adelsfamilien und Klöster erteilten ihm Aufträge. Er bewohnte das größte Haus in ihrer Nachbarschaft, beschäftigte Dienstboten und besaß sogar ein Pferd.
»Er ist wohlhabend«, gab Appolonia zu und hob Neslins Hochzeitsgewand noch einmal prüfend hoch. »Aber ich finde, er hat etwas Merkwürdiges an sich. Er geht nicht regelmäßig zur Messe. Wer weiß, vielleicht ist er sogar ein heimlicher Heide wie diese wilden Völker im Osten.«
Neslin schüttelte den Kopf. So unwohl ihr auch bei dieser Hochzeit war, derartige Sorgen machte sie sich nicht. »Er arbeitet sehr viel. Vielleicht schafft er es nicht immer zum Gottesdienst.«
»Am Tag des Herrn sollte die Arbeit ruhen«, entgegnete Appolonia.
Neslin unterdrückte einen Seufzer. »Oswald war doch meistens in der Kirche. Manchmal kam er zu spät. Und die wenigen Male, da er fehlte, da gab es sicher einen guten Grund. Mir scheint, dass der Pfarrer ihn einfach nicht mag, deshalb redet er schlecht über ihn.«
Sie stand auf und nahm das Hochzeitskleid an sich. Es war am Saum mit Fuchspelz verbrämt und an den weiten Ärmeln bunt bestickt. Ihre Mutter hatte bereits darin geheiratet, dann hatte es viele Jahre lang in einer Truhe gelegen. Trotz der Not der letzten Jahre hatte ihr Vater es nicht über sich gebracht, dieses letzte Erinnerungsstück zu verkaufen. So hatte sie nun wenigstens ein hübsches Gewand für die Hochzeit, versuchte sie sich Mut zu machen, während sie es überstreifte. Es reichte ihr knapp bis zu den Knöcheln. Ihre Mutter war klein gewesen wie Appolonia. Der leuchtend rote Leinenstoff passte viel besser zu dunklem Haar als zu ihren blonden Strähnen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Ihre jüngere Schwester würde in diesem Gewand viel hübscher aussehen als sie selbst, denn Appolonia war das Ebenbild ihrer Mutter. War sie dem Vater deshalb immer lieber gewesen? Hätte er auch Appolonia, die er für so zart und schutzbedürftig hielt, zu einer solchen Hochzeit gedrängt?
Rasch schlüpfte sie in ihre Schuhe, um diese hässlichen Gedanken zu verjagen. Appolonia war vierzehn, zu jung, um zu heiraten. Die Rolle fiel ihr zu, weil sie die Ältere war. Sie musste dafür sorgen, dass sie beide ein Auskommen hatten.
»Du bist ein wunderschönes Mädchen«, sagte ihre Schwester, als hätte sie die Gedanken erraten. »Wenn du noch ein bisschen wartest, findet sich sicher einer, der dir auch gefällt.«
»Wir können aber nicht warten«, widersprach Neslin und setzte sich den Blumenkranz so heftig auf den Kopf, dass ein paar Blüten zerquetscht wurden. »Wovon sollen wir denn leben? Wir haben kein Erbe, keine Ersparnisse, keine Mitgift. Unsere nächsten Verwandten leben in Münster, und wir wissen nicht, ob sie uns aufnehmen würden. Ich muss froh sein, dass ich in dieser Lage einen wohlhabenden Mann bekomme. Wahrscheinlich hat unser Vater Oswald irgendwann einen großen Gefallen getan. Ein anderer Grund fällt mir nämlich nicht ein.«
Zu ihrer Erleichterung widersprach Appolonia diesmal nicht. Sie wussten beide, dass Oswald seine Braut bisher nur kurz und ohne besondere Begeisterung gemustert hatte.
»Wir müssen los. Der Pfarrer wartet sicher schon«, rief Neslin und eilte die Stufen hinab. Wenn sie zu lange wartete, würde ihre Entschlossenheit womöglich noch von Widerwillen und Angst verdrängt. Appolonia folgte ihr mit trotzig aufeinander gepressten Lippen.
Vor dem Haus hatten sich bereits die Gäste versammelt. Neslin erkannte ein paar angesehene Bürger, die früher bei ihrem Vater Seide, Brokat und Emailschmuck erworben hatten. Nach dem Tod seiner Frau war der einst so erfolgreiche Händler in tiefe Schwermut verfallen und hatte sein Handelshaus vernachlässigt. Zunächst hatte Neslin mit der Kundschaft verhandelt und die Waren verkauft, aber als die Vorräte ausgegangen waren, hatte sie als unvermähltes Mädchen keine Möglichkeiten gehabt, neue zu erwerben. Dafür wären längere Reisen nötig gewesen. Den allmählichen Verfall des Handelshauses hatte sie nicht aufhalten können.
Anna, ihre einstige Küchenmagd, war gekommen, gemeinsam mit ihrem Mann und der kleinen Tochter. Vor einem Jahr hatte sie Neslins Familie verlassen, um sich mit dem Gerber Jonas zu vermählen. Nach einer Nachfolgerin zu suchen, wäre sinnlos gewesen. Sie hätten ihr keinen Lohn zahlen können, selbst die Nahrung begann so knapp zu werden, dass sie mit niemandem mehr geteilt werden konnte.
Da es keinen Vater mehr gab, um die Braut zur Hochzeit zu geleiten, übernahm Petrus, ein guter Freund ihres Vaters, diese Aufgabe. Ihm gehörte die einzige Weinschenke am Ort, wo später auch die Feier stattfinden sollte. Oswald hatte großzügig zugestimmt, die Kosten zu übernehmen.
Sie sah ihn bereits vor der Jakobskirche stehen, in einer festlichen Tunika aus grasgrünem Tuch und hellen Beinlingen. Sein wild wucherndes rotes Haar hatte er im Nacken zusammengebunden. Aus der Ferne wirkte er kräftig und solide. Auch als sie dicht vor ihm stand, konnte sie nicht leugnen, dass er keineswegs abstoßend aussah, obwohl seine Schläfen bereits ergraut waren und tiefe Falten unter seinen Augen lagen. Vor fünfzehn Jahren hatte er seine junge Frau zu Grabe getragen und sich danach zum allgemeinen Erstaunen nie wieder vermählt. Ob er wie Neslins Vater gewesen war, unfähig, sich von dem schweren Verlust zu erholen? Seine Geschäfte hatte er aber vorbildlich führen können.
Er wandte sich seiner Braut zu und musterte sie von Kopf bis Fuß. Das Lächeln auf seinen Lippen ließ seine Augen unberührt.
»Willkommen, Jungfer Neslin. Ihr seht bezaubernd aus.«
Sie ergriff die ihr dargebotene Hand und wandte sich dem Pfarrer zu, der sie vor der Kirche trauen würde, bevor drinnen die Messe begann. Vielleicht hätte sie all dies als völlig angemessen empfinden können, hätte sie nur vergessen, wie warm die Augen ihres Vaters immer aufgeleuchtet hatten, wenn er nach Hause kam und seine Frau sah.
Oswald nahm sie an wie ein ihm auf die Schultern geworfenes Bündel, nichts weiter. Aber da die Ehe mit ihm auch für sie nur eine Pflicht war, konnte sie ihm das kaum zum Vorwurf machen. Als er einen schmalen Silberring an ihren Finger steckte, spürte sie zu ihrem Entsetzen trotzdem Tränen in den Augen. Es musste an der innigen Liebe zwischen ihren Eltern liegen, dass sie andere Vorstellungen von einer Ehe hatte als eben jenes Bündnis aus Zweckmäßigkeit, das sie nun einging. Aber eben diese Liebe hatte ihren Vater am Ende zerbrechen lassen. Vielleicht war es besser, sein Schicksal ergeben anzunehmen, überlegte sie und drehte sich zu Appolonia um. Ihre Schwester plauderte mit Anna und betrachtete lächelnd deren erstes Kind. Als sie zu der Braut hochblickte, verdüsterte sich ihr Gesicht. Neslin hätte Appolonia am liebsten gepackt und angeschrien, weil sie ihr Gefühl verstärkte, diese Heirat stünde unter keinem guten Stern. Aber sie wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab, und folgte ihrem Gemahl zum Eingangsportal der Kirche.
Als ein Windhauch ihr eine Haarsträhne ins Gesicht blies, wurde ihr bewusst, dass sie ihren Kopf von nun an würde bedecken müssen. Die Vorstellung löste eine Trauer in ihr aus, deren Tiefe sie selbst nicht ganz begriff.
Die anschließende Feier kam Neslin endlos vor, und sie stellte verlegen fest, dass sie unendlich müde war. Vor ihr auf dem Tisch lag eine Scheibe Fleisch neben einem Brotfladen, von dem sie nur den Rand abgeknabbert hatte. Ihr Verlangen nach fester Nahrung war selten so gering gewesen wie an diesem Tag, und sie hatte Angst, sich zu übergeben, wenn sie noch einen einzigen Bissen nahm.
»Geht es dir nicht gut?«, hörte sie Anna besorgt fragen. Sie zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht und griff nach einem gebratenen Apfel. Obst konnte sie vertragen, es erfrischte sie sogar ein wenig. Um sie herum verschlangen die geladenen Gäste Scheibe für Scheibe einen ganzen Ochsen und leerten emsig ihre Weinkrüge. Ein paar Spielleute waren im Hintergrund erschienen und stimmten, von Flöten und Rasseln begleitet, ein Liebeslied an. Neslin sah sich nach ihrer Schwester um, der einzigen Person in diesem Raum, die ebenso wenig in Feierstimmung war wie sie selbst. Appolonias Blick war zur Decke gerichtet, als nehme sie ihre Umgebung gar nicht wahr. Ihr Teller mit Graupensuppe war fast leer, aber sonst hatte auch sie nichts gegessen. Im Augenblick schien sie wieder ganz in ihre eigene Welt versunken, eine Neigung, die Neslin früher oft an ihr bemängelt hatte. Nun beneidete sie ihre Schwester plötzlich darum, sich im Geist von den Fesseln der Wirklichkeit befreien zu können.
Appolonia hatte nie gern in der Weinschenke gesessen, weil es ihr dort zu laut war und sie das Betragen angetrunkener Männer abstoßend fand. Neslin hingegen war zu Lebzeiten ihres Vaters gern unter Leute gegangen. Jetzt stach das grölende Lachen und ununterbrochene Geplauder der Gäste in ihre Ohren, als würde sie mit Messern gepeinigt. Zögernd blickte sie zu Oswald. Er saß steif da, rutschte nur manchmal etwas auf der Bank herum. In ausgelassener Gesellschaft fühlte er sich ebenso unwohl wie Appolonia. Vielleicht verdankte er seinen Ruf, ein seltsamer Eigenbrötler zu sein, einfach einem schüchternen Naturell. Neslin kam zum allerersten Mal der Gedanke, dass diese Heirat kein Schritt in die völlige Einsamkeit sein musste. Vielleicht könnte es ihr gelingen, ihren Ehemann aus jener unsichtbaren Rüstung zu locken, in der er stets gefangen schien. Sie sah zu ihm hoch und versuchte, ihm so offen und herzlich wie möglich ins Gesicht zu lächeln. Wenn er wenigstens ein paar vertrauliche Worte mit ihr gewechselt hätte, wäre alles für sie leichter zu ertragen gewesen. Doch ihr Bräutigam schenkte ihr nicht viel mehr Beachtung als einer Fliege auf dem Tisch. Es erstaunte sie, wie tief verletzt sie sich dadurch fühlte. Als einer der Nachbarsburschen seinen Becher hob, um mit ihr anzustoßen, lächelte sie länger als notwendig. Mochte es auch eine Sünde sein, am Tag ihrer Hochzeit mit anderen Männern zu tändeln: Sie war nicht willens, sich wie Luft behandeln zu lassen. Der Pfarrer runzelte kurz die Stirn. Oswald hingegen bemerkte es nicht einmal, sondern versank in ein Gespräch mit dem Vogt, der eine Brosche für seine Frau bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Als die Details der Ausgestaltung erörtert wurden, sah Neslin erstmals ein freudiges Leuchten in den Augen ihres Bräutigams. Sie füllte ihren Weinbecher erneut und ließ die herbe Flüssigkeit ihre Kehle herunterrinnen.
Irgendwann verstummten die Spielleute endlich, und die Gäste begannen, sich torkelnd zu erheben. An ein paar zotigen Bemerkungen erkannte Neslin, dass nun der Moment gekommen war, da Oswald sie in sein Haus führen sollte. Sie staunte, wie wenig sie empfand, als wäre sie eine Holzpuppe, die von unsichtbaren Fäden bewegt wurde. Oswald stand auf und reichte ihr erneut seine Hand. Noch ein paar derbe Witze wurden gemacht, aber das Gelächter hielt sich in Grenzen, erstickt durch die ernsten, fast teilnahmslosen Mienen des Brautpaares. Draußen dämmerte es bereits. Neslin sah die Türme der Burg Dankwarderode dunkel vor dem grauen Nachthimmel, an dem sich die ersten Sterne zeigten. Kurz war sie fasziniert von diesem Anblick, obwohl sie ihn schon viele Male gesehen hatte. Der Himmel wirkte so riesig, dass Braunschweig und ihre eigene Existenz unwichtig wurden. Warum sollte sie sich also mit der Wirklichkeit um sie herum befassen, wenn diese doch so belanglos was? Sie fragte sich, ob Appolonia es ähnlich sah und deshalb so gern in ihre Tagträume versank.
Der Pfarrer öffnete selbst die Tür zu Oswalds Haus, das Neslin bisher nur selten betreten hatte, denn die Besuche ihres Vaters beim Goldschmied waren nicht gerade häufig gewesen. Nun staunte sie, wie groß und sauber es war. Der Geruch frischer Kräuter lag in der Luft, Truhen waren sorgfältig nebeneinander aufgereiht, ohne dass irgendetwas aus ihnen herausragte, und an den Wänden hingen sogar ein paar kleine Wandteppiche, was sich angeblich nur Fürsten leisten konnten. Oswald schien sehr viel Wert auf ein makelloses, gepflegtes Heim zu legen. Brauchte so ein Mann überhaupt eine Frau?, schoss es Neslin durch den Kopf. Dann folgte sie dem Pfarrer und ihrem Bräutigam die Stiegen hoch ins erste Geschoss. Hier gab es nur noch zwei kleine Kammern, von denen eine als Schlafzimmer diente. Das Bett war als Kasten in die Wand eingebaut, davor standen noch ein Tisch und zwei Stühle. Vielleicht wollte Oswald, dass sie dort gemeinsam ihr Morgenmahl einnahmen. Aber es schien Neslin unwahrscheinlich, dass er Wert darauf legen würde, ihr gegenüberzusitzen.
Der Raum wurde mit ein paar Gebetssprüchen gesegnet, dann wandte der Pfarrer sich um und trat hinaus. Neslin spürte eine erschöpfende Leere in ihrem Magen, als täte sich dort ein Loch auf, das all ihre Lebenskraft aufsaugte. Hätte sie sich zwingen sollen, mehr zu essen? Ihre Beine fühlten sich plötzlich so schwach an, als könnten sie jeden Augenblick unter ihr nachgeben, und sie streckte ihre Hand aus, um sich am Kastenbett festzuhalten. Einer nach dem anderen verließen alle Gäste, die bis hierher mitgekommen waren, die Kammer. Neslin wäre ihnen am liebsten gefolgt. Anna lächelte ihr bemüht zu, bevor sie mit ihrem Mann Jonas und dem Kind hinausging. Appolonia blieb länger als alle anderen. Sie sollte ebenfalls in Oswalds Haus einziehen, doch war noch keine Unterkunft für sie vorbereitet worden, sodass sie diese Nacht in ihrem alten Heim verbringen würde. Neslin fiel ein, dass ihre Schwester dort völlig allein wäre, falls keine Frau aus der Nachbarschaft ihr aus Mitgefühl Gesellschaft leistete. Warum hatte sie sich nicht rechtzeitig darum gekümmert? Sie hatte nur an sich selbst gedacht. Nun ergriff sie rasch die Hand ihrer Schwester und drückte sie. Ihr fehlten die angemessenen Worte für ihre Lage. Appolonia schwieg ebenfalls und entfernte sich schließlich mit verschlossener Miene. Dann war noch ein Junge übrig, den Neslin bisher nicht bemerkte hatte. Er trug die bunte Kleidung der Spielleute, hatte ein fast mädchenhaft hübsches Gesicht und langes, pechschwarzes Haar. Insgesamt wirkte seine Erscheinung so vollkommen, dass Neslin nicht umhinkonnte, ihn anzustarren wie ein Wunder der Schöpfung. Mit langsamen Schritten verließ er die Kammer, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Erst kurz vor der Tür wandte er sich nochmals um und musterte Oswald. Neslin staunte über die tiefe Trauer in seinen Rehaugen.
Ihr Bräutigam trat energisch einen Schritt vor und schloss die Tür hinter dem letzten Gast. Dann rieb er seine Handflächen an den Beinlingen, als seien sie auf einmal schmutzig geworden. Immer noch vermied er es, Neslin anzusehen. »Wir haben Glück, dass sie jetzt schon gegangen sind. Ich hatte den Pfarrer darum gebeten, uns allein zu lassen, aber ich glaubte nicht, dass er es wirklich tut.«
Neslin empfand keine Erleichterung darüber, denn sie hatte sich in Gegenwart der Leute wohler gefühlt. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie ihr ganzes Leben an der Seite von Appolonia geschlafen. Es war schlimm genug, auf einmal von der Schwester getrennt zu sein, aber die Nähe dieses ihr so fremden Mannes erschwerte ihr auf einmal das Atmen. Ob sie ihm vorschlagen sollte, dass er ihr nur eine Decke zu geben brauchte, damit sie unten auf dem Boden schlief?
»Wie sollten uns jetzt niederlegen«, sagte Oswald leise. Neslin wurde endgültig klar, dass sie seit dem heutigen Tag eine verheiratete Frau war. Eheleute teilten sich ein Bett. Ihre Eltern hatten es immer getan. Nur fühlte es sich in ihrer Lage völlig falsch an. Sie wusste nicht, wie sie neben Oswalds wuchtigem Körper einschlafen sollte.
Er zog seine Tunika und seine Schuhe aus. Die Beinlinge behielt er zum Glück an, ebenso wie die Bruche, die anzusehen sie geflissentlich vermied. Blitzschnell war er unter die Decke geschlüpft.
»Du musst jetzt auch kommen, Neslin«, drängte er. Es klang sanft, fast entschuldigend. Sie nestelte an der Verschnürung ihres Hochzeitskleids herum. Es war etwas komplizierter auszuziehen als ihre sonstigen Gewänder, doch wäre sie in einer anderen Lage sicher viel schneller gewesen. Als sie endlich in ihrem Unterkleid dastand, hob sie auch den Blumenkranz vom Kopf und kroch in das Kastenbett. Glücklicherweise war es recht breit. Wenn sie sich an das äußerste Ende presste und die Augen schloss, konnte sich einbilden, allein zu sein.
»Es tut mir sehr leid«, flüsterte Oswald, als sie schon fast eingeschlafen war. »Aber wir müssen es tun, sonst ist unsere Ehe nicht gültig. Das würde dir ebenso schaden wie mir.«
Die Matratze schwankte, als er in ihre Richtung rutschte. Neslin versteifte sich. Sie hatte eine vage Ahnung, wovon er sprach. Es gab etwas, das Eheleute miteinander tun durften, andere Paare aber nicht. Anna hatte manchmal Andeutungen gemacht, dass junge Mädchen sich vor der Zudringlichkeit der Männer in Acht nehmen mussten. Sünde und Wollust, so wurde es genannt, aber genauen Fragen war sie empört ausgewichen. Tiere treiben es ebenso miteinander, hatte Appolonia einmal erzählt. Die so verträumte, weltfremde Schwester konnte manchmal unerwartet scharfsinnig sein. Dennoch half diese Aussage Neslin im Augenblick nicht weiter. Nur weil Eheleute es durften, mussten sie es doch nicht tun? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Eltern sich jemals wie Tiere verhalten hätten.
Wenn sie neugieriger gewesen wäre, hätte sie sicher mehr über dieses Geheimnis erfahren können, aber sie hatte stets andere Dinge im Kopf gehabt. Nach ihrer übereilten Verlobung mit Oswald war sie wie betäubt gewesen, unfähig, sich klare Gedanken über die Bedeutung des bevorstehenden Ereignisses zu machen. Jetzt stieß sie einen leisen Schrei aus, als das Gewicht von Oswalds Körper sie niederdrückte. Zum Glück war es bereits finster, denn alle Kerzen waren gelöscht worden. Sie presste sich in die Matratze, leistete aber keinen Widerstand, da sie wusste, dass es falsch und zudem sinnlos gewesen wäre. Das Reiben einer fremden Haut auf der ihren war ein zutiefst abstoßendes Erlebnis. Als Oswald versuchte, ihre Wange zu küssen, konnte sie nicht umhin, angewidert das Gesicht wegzudrehen.
Der Schmerz kam völlig unerwartet und durchbohrte sie wie ein Schwert an einer Stelle, von deren Existenz sie bisher kaum etwas geahnt hatte. Sie schluchzte auf und versuchte vergeblich, den wuchtigen Körper von sich zu stoßen. Dann war es auch schon vorbei. Oswald gab sie frei und rutschte so weit von ihr fort, wie es das Bett zuließ. Er murmelte nochmals eine Entschuldigung, wodurch Neslins Wunsch, ihm eine Tracht Prügel zu verpassen, nur noch heftiger wurde.
Sie rollte sich zu einem Bündel zusammen. Wenn sie nur eine Decke für sich allein gehabt hätte, wäre sie aus der Kammer geflohen. So biss sie in die Knöchel ihrer rechten Hand, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie wusste nicht, wie sie ein Leben an der Seite dieses Mannes ertragen sollte. Aber es gab ja keinen Ausweg!
»Komm, iss noch etwas!«
Appolonia schob eine Schüssel mit Gemüsebrühe in ihre Richtung. Die Schwester war bereits im Morgengrauen aufgetaucht und hatte den Bediensteten dabei geholfen, ein Morgenmahl herzurichten. Solcher Arbeitseifer passte eigentlich gar nicht zu Appolonia. Wahrscheinlich hatte sogar sie begriffen, dass nun alles anders war. Oswald hatte jedes Recht, eine überflüssige Esserin zur Arbeit anzutreiben, daher war es besser, ihm keinen Anlass dazu zu geben.
Neslin rührte mit ihrem Löffel in der Suppe herum. Das Loch in ihrem Magen war immer noch riesengroß, aber sie fand keine Lust am Essen. Mit Widerwillen nagte sie an einer Scheibe Brot.
Als sie aufgewacht war, hatte ihr Kopf geschmerzt, und jene Stelle zwischen ihren Beinen, die durchbohrt worden war, brannte bei jeder Bewegung. Am liebsten hätte sie wieder die Augen geschlossen, um bis zu ihrem Tod zu schlafen. Aber Oswald hatte bereits vollständig bekleidet neben dem Bett gestanden.
»Man wartet schon mit dem Morgenmahl auf uns.«
Es war eine knappe, aber deutliche Botschaft gewesen. Neslin hatte sich mühsam aus dem Bett gewälzt und ihr Hochzeitskleid übergestreift. Ihr hatte die Kraft gefehlt, um auch ihr Haar zu kämmen, sodass sie völlig zerzaust hinter Oswald die Stufen hinabgestiegen war. Zum Glück war außer Appolonia niemand gekommen, um sie zu empfangen.
»Möchtest du noch etwas Wein?«, fragte ihre Schwester jetzt. Ihr Gesicht sah so rührend besorgt aus, dass Neslin nickte. Sie kippte das mit Wasser verdünnte Getränk schnell herunter. Es tat wohler als feste Nahrung. Ihr Körper wurde leicht davon, der Schmerz ließ nach. Sie schenkte sich selbst nach, einmal und dann noch ein weiteres Mal, bis sie Appolonias Finger an ihrem Handgelenk spürte.
»Du siehst sehr erschöpft aus. Vielleicht solltest du dich noch ein Weilchen hinlegen.«
Anstatt Neslins Reaktion abzuwarten, sah Appolonia gleich Oswald an, der die ganze Zeit nur stumm dagesessen hatte. Sein Appetit war von den gestrigen Ereignissen ungetrübt; er verspeiste bereits die dritte Bratwurst. Nun wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Natürlich kann sie sich hinlegen, wenn sie will«, brummte er, ohne Neslin oder ihre Schwester eines Blickes zu würdigen.
Appolonia stand auf und streckte Neslin ihre Hand entgegen. »Komm, ich bringe dich nach oben.«
Neslin folgte erleichtert, denn sie sehnte sich danach, der Gegenwart ihres Gemahls zu entkommen. Bevor sie die Stiegen erreicht hatte, bemerkte sie, wie er sich dennoch zu ihr umwandte. Sein Blick war der eines schuldbewussten Hundes, der Schläge erwartete. Wieder überkam sie der Wunsch, wirklich auf ihn einzudreschen, doch ihre Schwester zog sie energisch von ihm weg. Als sie wieder die Schlafkammer erreicht hatten, schloss Appolonia die Tür. Neslin atmete erleichtert auf.
»Du siehst schrecklich aus«, stellte ihre Schwester fest. »Als ich dich gesehen habe, dachte ich, du bist krank.«
»Das liegt an meiner Hochzeitsnacht«, rief Neslin. »Oswald ist ein Tier!« Sie trat gegen das Kastenbett, und der Schmerz schoss nun auch noch durch ihren Fuß.
»Wie ein Tier sieht er aber nicht aus«, meinte Appolonia und setzte sich auf einen Stuhl. »Er wirkte sehr niedergeschlagen. Ich glaube, ihm tut leid, was passiert ist.«
»Das hätte er sich vorher überlegen können!« Neslin vergrub ihr Gesicht in den Händen, während sie sich auf dem Bett ausstreckte.
»Ich fürchte, alle Männer benehmen sich gegenüber ihren Ehefrauen so«, redete Appolonia weiter. »Leider war es notwendig, dass du heiratest. Ich hätte es dir so gern erspart.«
Als die Schwester tröstend ihren Rücken zu streicheln begann, trat Neslin nochmals um sich. Konnte es etwas Erbärmlicheres geben, als derart zum Opfer gemacht zu werden?
»Unser Vater ist sicher nie so zu unserer Mutter gewesen«, protestierte sie. »Und Anna sah glücklich aus, als sie Jonas heiratete. Es liegt nur an Oswald. Er ist widerwärtig!«
Appolonias Hand entfernte sich. »Ich fürchte, es liegt vor allem an den Umständen dieser Heirat. Oder an dir. Manchen Frauen gefällt es angeblich. Aber ich kann dich verstehen, denn ich würde es auch nicht wollen.«
»Sehr tröstlich«, zischte Neslin und zog sich die Decke über den Kopf. »Du weißt ja gar nicht, wovon du redest.«
Appolonia widersprach nicht, sondern ließ sich neben ihr auf die Matratze fallen. »Oswalds Arbeiten sind wunderschön«, erzählte sie leise. »Sie zeugen von einer feinen Seele, die Gott preisen will. Begleite ihn doch einmal in seine Werkstatt, vielleicht lernst du dann eine Seite an ihm kennen, die dir besser gefällt.«
Neslin überkam der Wunsch, ihre Schwester vom Bett zu schubsen, aber im Moment vermied sie jede unnötige Bewegung. Wenn sie ruhig lag, ließ der Schmerz in ihrem verwundeten Körper nach. Im Sitzen war er ohnehin am schlimmsten gewesen.
»Diese Dinge zwischen Eheleuten sind angeblich notwendig, damit es Kinder gibt«, redete ihre Schwester beharrlich auf ihren Rücken ein. »Sobald ihr Nachwuchs habt, lässt er dich vielleicht in Ruhe, denn ich habe nie gehört, dass er irgendwelchen Frauen nachstellen würde. Wünschst du dir denn nicht auch ein Kind?«
»Ich wäre lieber tot, als ein Kind von Oswald zu bekommen«, flüsterte Neslin in ihr Kissen.
Appolonia seufzte. »Ich fürchte, im Augenblick ist es unmöglich, mit dir zu reden. Ich lasse dich eine Weile allein und sehe, was die Dienstboten machen. Oswald will sicher, dass wir uns um den Haushalt kümmern, dazu holt ein Mann sich schließlich eine Frau ins Haus.«
Die Füße ihrer Schwester huschten über die Dielen, dann fiel die Tür zu. Neslin zog die Decke von ihrem Gesicht. Sie genoss es, endlich allein zu sein, denn nicht einmal Appolonia schien zu verstehen, wie gedemütigt und beschmutzt sie sich nach der gestrigen Nacht fühlte. Selbst wenn diese Misshandlung ihres Körpers tatsächlich zu den Pflichten einer Ehefrau gehörte, würde sie sich niemals ergeben in ein solches Schicksal fügen.
Die Auseinandersetzungen, die sie deshalb mit ihrem Ehemann befürchtete, fanden nicht statt, denn Oswald zog bereits in der nächsten Nacht bereitwillig in die kleine Kammer neben dem Schlafgemach. Dort gab es nur eine kleine Pritsche, und Neslin schämte sich ein wenig, ihm sein prächtiges Bett wegzunehmen. Als er am Morgen eintrat, um sich frische Kleidung aus einer Truhe zu holen, beschloss sie, ebenfalls großzügig zu sein.
»Ich könnte in Zukunft erst einmal bei meiner Schwester schlafen«, schlug sie vor.
Oswald dreht sich zu ihr um. Eine Falte erschien zwischen seinen Brauen. »Appolonia schläft auf einer Bank in der Stube, denn ich habe noch keine passende Räumlichkeit für sie freimachen können. Wenn du dich dort auch hinlegst, bekommen es die Dienstboten mit und es gibt Gerede, was für eine seltsame Ehe wir führen.«
Neslin fühlte sich plötzlich schuldig und war gleichzeitig verärgert darüber. »Aber was kümmert es die Leute?«, fragte sie empört.
Oswald seufzte. »Ich werde von einigen Leuten in Braunschweig bereits mit Misstrauen betrachtet. Noch mehr Gerüchte kann ich mir nicht leisten«, erwiderte er. Bevor sie nachfragen konnte, was er damit meinte, war er auch schon verschwunden. Neslin beschloss, sich vorerst keine unnötigen Sorgen zu machen. Was die Verteilung der Schlafplätze betraf, würde sie Oswalds Wünschen Folge leisten. Nun, da ihr Körper weniger schmerzte, kehrte auch ihre Lebenslust zurück. Es war an der Zeit, dass sie Appolonia bei der Verwaltung des Haushaltes zur Hand ging, denn ihrer Schwester fehlte darin jegliche Erfahrung.
Sie fand Appolonia in der Küche, wo sie mit einer rundlichen Frau mittleren Alters plauderte und dabei gelegentlich Blicke in den dampfenden Topf auf dem Herd warf.
»Das ist Gerlind, Oswalds Köchin«, stellte sie ihre Gefährtin sogleich vor. »Sie arbeitet schon über zwanzig Jahre für ihn und meint, er ist ein guter Herr.«
Gerlind nickte zustimmend. Neslin überlegte, ob alle Welt sich gegen sie verschworen hatte, um sie als undankbare Ehefrau hinzustellen. Von Appolonias Vorbehalten hinsichtlich ihrer Ehe mit Oswald war jedenfalls nichts mehr zu spüren.
»Außerdem kommt noch zweimal die Woche ein Mädchen vorbei, um sauber zu machen«, redete ihre Schwester weiter. »Oswald will, dass es so bleibt, denn sie braucht das Geld für ihre Familie. Aber das ist gut, dann müssen wir es nicht machen.«
Sie lächelte Neslin an.
Gerlind nickte nochmals. »Hier läuft alles wie am Schnürchen«, sagte die Köchin und schüttete klein gehackte Petersilie in ihren Topf. »Herr Oswald legt Wert auf Sauberkeit und Ordnung. Werden seine Wünsche erfüllt, so gibt es eine großzügige Entlohnung. Außerdem …« Sie drehte sich kurz um und stemmte die Hände in die Hüften. »Er ist nicht so wie viele andere Männer. Ich meine … keine Jungfer, die hier arbeitet, musste jemals um ihre Unschuld fürchten. Er ist anständig. Was sonst über ihn geredet wird, das ist mir egal!« Den letzten Satz hatte sie mit Nachdruck gesprochen. Sie griff in ein Regal über ihr und reichte Appolonia eine Schüssel mit Nüssen.
»Eure Schwester ist zu dünn. Sie braucht Fleisch auf den Knochen«, sagte sie zu Neslin. Appolonia griff freudig zu. Sie war immer schmächtig gewesen, doch der Tod beider Eltern hatte sie zusätzlich abmagern lassen. Neslin fand die Fürsorge der Köchin liebenswert. Als Appolonia ihr die Schüssel hinhielt, bediente sie sich ohne Zögern.
»Oswald wird das Haus unserer Eltern verkaufen«, erzählte Appolonia unterdessen. »Ich habe ihn gestern begleitet, als es leer geräumt werden sollte, denn du warst ja krank. Alles, was mir gefiel, durfte ich mitnehmen. Er fragte auch, welche Sachen du gern behalten wolltest. Deine Kleidung ist in einer Truhe in der Stube. Ein paar Schmuckstücke unserer Mutter habe ich auch noch entdeckt. Sogar das kleine Kreuz aus Gold, das Vater ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hat, als seine Geschäfte noch gut liefen. Oswald sagte, man könnte es teuer verkaufen, aber als ich erzählte, dass du es sicher als Erinnerung haben willst, da hörte er auf mich. Es liegt jetzt auch in der Truhe.« Neslin verstand die unausgesprochene Botschaft. Oswald hatte eine ungeliebte Braut angenommen und verzichtete nun darauf, ihr mageres Erbe nach eigenem Ermessen zu Geld zu machen. Wie viele Männer wären in dieser Lage wohl so großzügig gewesen?
»Wo ist mein Gemahl nun?«, fragte sie, ohne groß nachzudenken. Irgendetwas musste zwischen Oswald und ihr geklärt werden, nur konnte sie dieses Gefühl nicht in klare Worte fassen. Sie hoffte, dass sie im richtigen Moment von selbst kommen würden.
»Er sitzt von morgens bis abends in seiner Werkstatt«, erwiderte Gerlind sogleich. »Ein fleißiger Mann.«
»Ich kann dir den Weg zeigen, wenn du willst«, bot Appolonia sich an. Zusammen gingen sie in einen großen Raum mit zwei großen Fenstern, die weit geöffnet waren, um Tageslicht hereinzulassen. Zahlreiche Regale waren aufgestellt, in denen Tongefäße und Kästchen standen. Zudem lagen noch Hämmer, Ambosse und Feilen in verschiedenen Größen herum. Von Oswald war nur der breite Rücken zu sehen, denn er hatte sich über einen Tisch gebeugt und goss eine dickflüssige Masse aus einem Tongefäß durch ein Sieb. Er war derart in seine Aufgabe vertieft, dass er seine Ehefrau nicht bemerkte. Neslin trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, aber Appolonia machte durch ein leises Rufen auf sich aufmerksam. Oswald drehte sich langsam um. Er hatte eine Lederschürze umgebunden, und seine Hände waren rußgeschwärzt.
»Eure Gemahlin wollte Euch kurz besuchen«, erklärte Appolonia in das verlegene Schweigen hinein. Er nickte brummend und mit ausdruckslosem Gesicht. Neslin trat ein paar Schritte auf ihn zu. Sie bereute es schon, Appolonias Vorschlag angenommen zu haben, denn ihrem Gemahl war sie sichtlich nicht willkommen. Diese Werkstatt war sein Reich, in dem sie störte, das spürte sie deutlich.
»Woran arbeitet Ihr gerade?«, fragte Appolonia hartnäckig. Neslin staunte, denn für gewöhnlich war ihre Schwester nicht so redselig gegenüber Fremden.
»Die Brosche für die Frau des Vogts«, brummte Oswald, der alles andere als begeistert schien, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Dann beugte er sich wieder über seinen Tisch. Die graue Masse schwamm nun in einem mit Sand gefüllten Behälter und hatte die Form einer Blüte angenommen.
»Wie habt Ihr das gemacht?«, fragte Neslin, nun plötzlich neugierig geworden.
»Sandguss«, erklärte Oswald. »Zunächst brauche ich ein Modell aus Ton, das ich in den Sand presse, um die richtige Form zu bekommen. Dann erhitze ich das Silber und gieße es statt des Modells hinein. Sobald es kalt und hart geworden ist, werde ich es noch schleifen müssen und die vereinbarten Verzierungen anbringen.«
Er griff in eine kleine Kiste neben seinem Arbeitstisch und zog eine Tontafel heraus. Darauf war die Brosche skizziert, versehen mit filigranen Blütenblättern und einem roten Stein in der Mitte.
»Da soll ein kleiner Rubin hin«, erklärte Oswald. »Der Vogt meint, seine Frau liebt farbenfrohes Geschmeide.«
»In diesem Fall sollte man vielleicht auch noch die Blütenblätter verzieren, falls der Vogt es bezahlen kann«, fiel Neslin ein. »Und irgendwo auf der Brosche könnte ein »S« eingraviert werden, denn seine Frau heißt Sophia, und wie ich einst von meiner Mutter erfuhr, kann sie lesen.«
Sie hatte ganz spontan gesprochen. Ein wenig erinnerte es sie an ihre Kindheit, als sie zusammen mit ihrer Mutter Entwürfe für Stickereien besprochen hatte. Erst Appolonias verschreckter Blick machte ihr klar, dass nicht alle Männer Frauen schätzten, die sich in ihre Arbeit einmischten.
Aber Oswald betrachtete nur nachdenklich seine Zeichnung. »Perlen«, murmelte er, mehr an zu selbst als zu seinen Besucherinnen. »Süßwasserperlen sind nicht so teuer, das kann der Vogt bezahlen, denke ich.«
»Wenn sie nicht teuer sind, so schenkt sie ihm«, schlug Neslin unbeirrt vor. »Mein Vater meinte stets, dass Gefälligkeiten ein guter Weg seien, wichtige Kundschaft zu halten. Der Vogt gehört zu den einflussreichsten Männern von Braunschweig.«
Oswald runzelte kurz die Stirn, dann nickte er brummend. »Kein schlechter Gedanke. Die Gravur kommt noch dazu. Sie könnte eine Überraschung sein.«
»Der Gemahlin des Vogts wird es gewiss gefallen. Sie war früher manchmal zu Gast bei uns, ich kenne sie ein wenig«, bestätigte Neslin. Plötzlich sah sie Oswalds Blick auf sich ruhen. Er hatte grüngraue Augen, die in seinem ansonsten recht kantigen Gesicht weich und anziehend wirkten.
»Gut«, stimmte er schließlich brummend zu. Dann schwieg er ein paar Atemzüge lang und kratzte sich am Hinterkopf. »Wenn ich wieder Geschmeide für eine reiche Bürgersfrau anfertige, kann ich dir denn Entwurf ja vorher zeigen.« Es war mehr ein Beschluss als ein Vorschlag, denn er schien Neslins Einverständnis vorauszusetzen. Sie widersprach nicht. Zum ersten Mal, seit sie dieses Haus betreten hatte, keimte eine leise Freude in ihr auf.
»Mein Vater war Waffenschmied«, erzählte Oswald und schenkte ihnen Wein nach. »Von ihm habe ich die Grundlagen des Handwerks gelernt, die Zusammensetzung der Metalle, das Schmelzen und Formen. Aber ich fand mehr Gefallen an der Feinarbeit. Das Verzieren der Schwertgriffe wurde zu meiner Lieblingsbeschäftigung.«
»Da Ihr sehr geschickt seid, muss Euer Vater stolz Euch gewesen sein«, meinte Neslin.
Drei Monate waren seit ihrer Hochzeit vergangen, und sie hatten gemeinsam das Osterfest gefeiert. Inzwischen schätzte Neslin die abendlichen Unterhaltungen mit ihrem Gemahl. Nach dem Abendessen, an dem Appolonia, die Köchin und manchmal auch die Dienstmagd teilnahmen, zogen sie sich ins obere Stockwerk zurück und plauderten noch eine Weile, bevor Neslin sich auf der Pritsche niederlegte und Oswald in seinem Bett. Diese Aufteilung der Schlafplätze war ihr Vorschlag gewesen, und er hatte ihn brummelnd angenommen wie so viele ihrer Ideen. Inzwischen besprach er fast alle seine Entwürfe mit seiner Frau. Sie hatte zudem die Aufgabe übernommen, seine Einnahmen und Ausgaben sorgfältig aufzulisten, denn in dieser Hinsicht war er nicht so gründlich wie in fast allen anderen Dingen. Neslin hatte von ihrem Vater gelernt, wie ein Geschäft zu führen war, und nun konnte sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen.
»Mein Vater war keineswegs stolz auf mich«, erzählte Oswald leise. »Meine Vorliebe für Zierrat gefiel ihm gar nicht. Er hoffte, sie aus mir herauszuprügeln, so wie viele andere meiner Eigenschaften, die er nicht mochte. Aber das gelang ihm nicht. Inzwischen bin ich wohlhabender, als er je gewesen ist, und er liegt in seinem Grab. Aber versöhnt haben wir uns nie.«
Seine Worte klangen weder traurig noch vorwurfsvoll, sondern völlig nüchtern. Neslin hatte inzwischen gelernt, dass ihr Gemahl seine Gefühle niemals nach außen trug. Sie hob ihre Hand und ließ sie ein paar Atemzüge lang über der seinen schweben. Er hatte breite, kräftige Finger, die mit einem Flaum von rötlichem Haar bewachsen waren. Es erstaunte sie immer wieder, wie viel zarte Schönheit er damit zu formen vermochte.
»Wir sollten uns niederlegen«, meinte er leicht verlegen und zog seine Hand zurück. Neslin stand nickend auf. Die Dienstmagd hatte ihnen einen Krug Wasser gebracht, sodass sie schnell ihr Gesicht waschen konnte, bevor sie aus ihrem Kleid schlüpfte und sich auf der Pritsche ausstreckte. Als sie die Augen schloss, überkam sie plötzlich der sehnliche Wunsch, dass ihr Gemahl sie zu sich rufen würde. Aber das tat er nicht, und sie ahnte inzwischen, dass die Aufteilung der Schlafplätze ganz in seinem Sinne war.
Neslins monatliche Blutungen waren seit der Hochzeitsnacht ausgeblieben. Sie hatte das Appolonia anvertraut, die bald darauf von Gerlind genauere Auskünfte eingeholt hatte. Es war auf jeden Fall ein gutes Zeichen. Falls noch morgendliche Übelkeit einsetzte, konnte sie davon ausgehen, schwanger zu sein. Neslin hatte sich bisher kein einziges Mal erbrochen und spürte auch sonst keine Veränderungen an ihrem Körper. Laut Gerlind galt es daher abzuwarten, ob ein Kind sich irgendwann von selbst bemerkbar machen würde. Zwar hatte Neslin stets damit gerechnet, irgendwann zu heiraten und eine Familie zu haben, aber in ihrer Vorstellung war dies mit jener innigen Vertrautheit verbunden gewesen, die zwischen ihren Eltern geherrscht hatte. Oswald und sie konnten zusammen Schmuckstücke schaffen, aber wie sollten sie einem neuen Menschen ein liebevolles Zuhause geben, wenn zwischen ihnen keine Liebe herrschte? Um nicht in Schwermut zu verfallen, ging sie im Geist die demnächst nötigen Anschaffungen durch. Oswald hatte den Auftrag erhalten, für das Kloster Brunshausen einen silbernen Buchdeckel anzufertigen. Sie hatten gemeinsam überlegt, welche Verzierungen er erhalten sollte, und sorgfältige Skizzen auf der Schiefertafel entworfen. Die Kirche war ein wohlhabender Kunde, daher mussten die Nonnen von Brunshausen unbedingt zufriedengestellt werden. In Neslins Kopf nahm ein mit Rubinen verziertes Kreuz Gestalt an, bevor sie sanft in den Schlaf glitt.
»Kann ich mitkommen?«, rief Appolonia mit leuchtenden Augen, als der fertiggestellte Buchdeckel zu seinen Auftraggeberinnen gebracht werden sollte. Neslin staunte, denn bisher hatte ihre Schwester keinerlei Reiselust gezeigt. Doch die Aussicht, Nonnen zu begegnen, schien ihre Neugierde zu wecken. Es gab in der Umgebung von Braunschweig nicht viele Frauenklöster, und sie waren allesamt den Töchtern des Adels vorbehalten. Vielleicht reizte Appolonia die Aussicht, so vielen vornehmen Frauen zu begegnen, überlegte Neslin. Sie sah jedenfalls keinen Grund, ihr dieses Vergnügen zu missgönnen, und drängte Oswald, ihre Schwester auf die Reise mitzunehmen. Er stimmte ohne Zögern zu, denn zwischen ihm und Appolonia war sehr schnell ein Band der Freundschaft gewachsen.
Neslin half ihrem Gemahl beim sorgfältigen Verpacken der Ware und gab ihm noch eine Flasche guten Wein und kandierte Früchte als Geschenk für die Nonnen mit. Dann umarmte sie ihre Schwester zum Abschied und winkte dem Wagen hinterher, bis er um die nächste Ecke gebogen war. Als sie sich umdrehte, um ins Haus zurückzugehen, spürte sie plötzlich einen feinen, aber deutlichen Tritt, der aus dem Inneren ihres Körpers zu kommen schien. Fröstelnd blieb sie stehen. Die Vorstellung, dass in ihr ein Mensch heranwachsen konnte, erfüllte sie mit plötzlicher Furcht. Sie vermied es, Gerlind die Neuigkeit zu erzählen, sondern lief hinauf in ihre winzige Schlafkammer, wo sie sich auf ihrer Pritsche zusammenrollte.
Appolonia teilte sich gemeinsam mit Oswald einen Laib Brot und frischen Ziegenkäse, den die fürsorgliche Gerlind für sie eingepackt hatte. Einem fahrenden Händler kauften sie noch Trauben und einen Schlauch Wein ab. Die warmen Sonnenstrahlen kündeten bereits den Sommer an. Dörfer zogen an ihnen vorbei, vereinzelt tauchten Burgtürme am Horizont auf, und immer wieder begegneten sie anderen Reisenden, die ihnen zuwinkten. Appolonia verstand nicht, warum sie früher solche Angst gehabt hatte, die sicheren Mauern Braunschweigs zu verlassen. Die Welt da draußen schien nicht nur aus Räubern und wilden Tieren zu bestehen. Bisher hatten sie keine einzige unerfreuliche Begegnung gehabt, was vielleicht auch an den zwei bewaffneten Wächtern lag, die Oswald auf die Reise mitgenommen hatte. Das Holpern des Wagens verursachte mitunter Schmerzen in ihren Knochen, aber ansonsten schien Appolonia diese Reise das aufregendste Erlebnis ihres bisherigen Lebens.
Sie würde Nonnen kennenlernen, jene Bräute Christi, die ihr Leben ohne einen Gemahl aus Fleisch und Blut verbrachten, sich ganz dem Gebet und der Barmherzigkeit widmeten. Bisher kannte sie solche Frauen nur aus den Erzählungen ihrer Mutter, deren Schwester einmal als Magd in einem Kloster gearbeitet hatte. Schon in ihrer Kindheit hatte die Vorstellung von einem derartigen Leben einen starken Reiz auf sie ausgeübt, und seit Neslins Heirat mit Oswald schien es ihr tröstlich, zu wissen, dass manche Frauen keine Ehe eingingen. Obwohl ihre Schwester nicht mehr so verstört wirkte wie am Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht, war doch nicht zu übersehen, dass sie nicht wirklich glücklich war. Dabei fand Appolonia Oswald viel netter als die meisten Männer, die sie kannte. Er redete nur dann, wenn es wirklich notwendig war, erhob niemals die Stimme und suchte keinen Streit. Ihr Vater war von ähnlich friedlichem Gemüt gewesen. Die jungen Kerle auf den Straßen Braunschweigs schienen ihr hingegen unnötig laut und wild wie ungezähmte Hunde. Die Vorstellung, eines Tages vermählt zu werden wie Neslin, hing manchmal wie ein dunkler Schatten über ihr, dem sie zu entkommen versuchte.
Es dämmerte bereits, als die Umrisse des Klosters vor ihnen auftauchten. Appolonia war kurz eingenickt, doch Oswald stupste sie an, sodass sie wieder ihre Augen öffnete. Ein prächtiger Steinbau erwartete sie, dessen Eingangstor sich knarrend öffnete. Appolonia erblickte eine kleine, rundliche Frau in einem dunklen Gewand, deren Kopf von einem Schleier bedeckt war. Sie winkte die Ankommenden lächelnd herein. Der Wagen rollte auf einen großen Innenhof. Bedienstete liefen darin herum, aber auch weitere Nonnen verschiedenen Alters. Oswald stieg vom Wagen und grüßte ehrerbietig. Appolonia folgte seinem Beispiel. Sie wurden ins Innere des Klosters gebeten, es ging ein paar Gänge entlang und Stufen hoch. Schließlich betraten sie die Privatgemächer der Äbtissin.
Mutter Liutgard war klein, verschrumpelt und faltig, hatte aber ein freundliches, waches Funkeln in den Augen, das sie manchmal unerwartet jung aussehen ließ. Nachdem Oswald ihr die Kiste mit der bestellten Ware übergeben hatte, bedankte sie sich höflich. Appolonia reichte eifrig noch die von Neslin eingepackte Nahrung nach. Die Äbtissin inspizierte neugierig ihre Geschenke und biss in eine kandierte Traube. Kauend hielt sie den silbernen Buchdeckel in Richtung ihres Kerzenständers, um ihn genauer mustern zu können.
»Wirklich sehr gelungen«, meinte sie anerkennend. Dann rief sie laut die Namen einiger Nonnen, die sofort hereineilten. Sie scharten sich um die Früchte und bewunderten mit ehrfurchtsvollem Gemurmel Oswalds Arbeit. Appolonia fühlte sich an eine Gruppe von Krähen erinnert, aber das Bild gefiel ihr. Sie schienen alle Teil eines Schwarms, in dem enge Verbundenheit herrschte.
»Mein Vater hatte bereits Schmuck für die Frau meines Bruders bei Herrn Oswald bestellt, und der geriet wunderschön«, erzählte eine junge, blasse Frau mit zahlreichen Sommersprossen, die nicht wirklich zu ihrer strengen Tracht passten.
»Wir sind alle froh, dass wir auf deinen Rat gehört haben, Schwester Elisa«, meinte die Äbtissin. Dann wandte sie sich an Oswald.
»Man wird Euch und Eurer jungen Schwägerin in der Küche etwas zu essen geben, und ihr könnt selbstverständlich in unserem Gästehaus übernachten. Morgen steht es euch frei, an unserer Frühmesse teilzunehmen, danach gibt es noch ein Morgenmahl. Vor eurer Abreise wird man Euch Eure Entlohnung überreichen, die Ihr wahrlich verdient habt.«
Trotz des freundlichen Tonfalls war dies eine klare Anweisung, sich zu entfernen. Appolonia war von der entspannten Autorität Mutter Liutgards beeindruckt. Als sie den Raum verließen, schmerzte es sie fast, die schwarz gekleideten Frauen hinter sich lassen zu müssen, denn sie hätte gern mehr über sie erfahren.
Der Alltag schien im Kloster ruhiger zu verlaufen als in Braunschweig. Es gab kein Geschrei, keine lauten Streitereien, und niemand hatte das Bedürfnis, sich mit seinen Mitmenschen zu prügeln. Es war, als hätten die dicken Mauern alles Hässliche ausgesperrt. Im Gästehaus traf Appolonia auf die Gemahlin eines Burgherrn und deren kleine Tochter, die dort zu ihrem Schutz untergebracht worden waren. Der Vater war in irgendeinen Krieg gezogen. Wie Appolonia den Erzählungen der Dame entnahm, ging es um die Erbfolge in Sachsen und Bayern. Richenza, die Witwe des Kaisers Lothar, wollte dessen noch unmündigen Enkelsohn Heinrich als Nachfolger durchsetzen, stieß dabei jedoch auf Widerstand, da noch andere Herrscher Ansprüche auf diese Gebiete stellten. Appolonia hatte sich bisher kaum mit den Launen und Machtkämpfen der Herrscher dieser Welt befasst, da sie so wenig beeinflussbar waren wie Donner und Sturm. Der Beschreibung des Klosterlebens hingegen lauschte sie sehr aufmerksam.
»Wir werden hier mit viel Wohlwollen behandelt«, erzählte die Dame beim Abendessen. »Die Äbtissin ist immer freundlich, und als meine Tochter im Winter ein Fieber bekam, war sofort die Infirmaria zur Stelle, um ihr Kräuteraufgüsse zu brauen. Niemand überwacht und schikaniert uns. Als junges Mädchen lebte ich auch eine Weile bei den Nonnen, da war es ganz anders.«
Appolonia wollte nachfragen, doch die kleine Tochter der Dame plapperte dazwischen und lenkte erfolgreich von Thema ab. Oswald schwieg die meiste Zeit, wie es seine Art in der Gegenwart von Fremden war. Zudem gab es hier außer ihm keinen einzigen männlichen Gast, was ihn sicher verlegen machte. In einem Nebengebäude waren auch ein paar Mönche untergebracht worden, für die in ihrem ursprünglichen Kloster kein Platz mehr gewesen war. Laut der Dame hatten sie einen eigenen Abt, aber kein Heim für Gäste, sodass der ohnehin sehr seltene weltliche Männerbesuch in einem abgelegenen Raum bei den Nonnen schlafen musste. Appolonia hätte nach zwei Bechern Wein vielleicht den Mut gefunden, genauer nachzufragen, wie denn die Mönche und Nonnen miteinander zurechtkamen, aber da wurde auch schon das Geschirr abgeräumt. Oswald drängte nicht darauf, am Abendgottesdienst teilzunehmen. Appolonia war erleichtert darüber; auf einmal merkte sie, wie anstrengend die erste längere Reise ihres Lebens gewesen war. In einer kleinen Kammer, die sie mit der adeligen Dame und deren Tochter teilte, schlief sie bald darauf zufrieden ein.
Am nächsten Morgen suchten sie vor dem Frühstück die Kirche auf. Appolonia taumelte müde der Dame hinterher, die sie über den Hof führte. Sie traf dort auf Oswald, der bereits neben einigen Mönchen auf einer Bank Platz genommen hatte. Erleichtert, ein vertrautes Gesicht zu erblicken, lächelte sie ihn an, aber er wich ihrem Blick aus. Der strenge Gesichtsausdruck eines älteren Mönchs unmittelbar neben ihm machte ihr klar, dass sie sich ungebührlich verhalten haben musste. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, senkte den Blick und ließ sich neben der Dame und ihrer Tochter nieder. Um sie herum verteilte der Nonnenschwarm sich mit andächtigem Schweigen und ohne jemals in Richtung der Männer zu sehen. Appolonia ahnte, dass hier zahlreiche Regeln das Leben bestimmten, die zu brechen unangenehme Folgen haben konnte. Sie schämte sich für ihren Fehler. Erst als die Stimme eines Priesters zu vernehmen war, wagte sie sich wieder umzusehen. Die Kapelle war klein, aber mit kunstvollen Wandbemalungen und Statuen geschmückt. Sobald der Priester seine Messe kurz unterbrach, erhoben mehrere junge Mädchen mit schwarzen Schleiern ihre Stimmen zu einem lieblichen Gesang des Te Deum. Appolonia lauschte ergriffen. Ihr Körper schien ganz leicht zu werden und in eine Welt der Harmonie und des Friedens zu schweben. In diesem Moment wurde das Kloster endgültig zu einem Ort, der all ihre Sehnsüchte erfüllte, ohne dafür irgendeinen Preis zu verlangen.
Bald darauf wurden sie nochmals zu Mutter Liutgard gerufen, und Oswald erhielt einen prall mit Münzen gefüllten Beutel. Er küsste ehrerbietig den Ring an der Hand der Äbtissin. Es schien Appolonia fast grotesk, dass ein so kräftiger Mann sich vor einer kleinen Frau verbeugte, aber hier herrschten andere Regeln als in der Welt, die sie bisher gekannt hatte. Danach mussten sie gehen. Die sommersprossige Schwester Elisa begleitete sie in den Hof, wo ihr Wagen stand.
Zum Abschied strich sie Appolonia sanft übers Haar. »Vielen Dank für die Früchte. Solche Leckereien kriegen wir nicht alle Tage. Hast du sie gemacht?«
Appolonia erwiderte wahrheitsgemäß, dass es ihre Schwester, die Gemahlin des Goldschmieds gewesen war.
»Dann lass dir von ihr zeigen, wie es geht. Mit solchen Köstlichkeiten kannst du jeden Mann für dich gewinnen«, meinte die Nonne mit einem verschmitzten Lächeln. »Du kommst doch bald ins heiratsfähige Alter.«
War da wirklich ein leiser Hauch von Sehnsucht in ihrer Stimme? Appolonia vermochte es kaum zu glauben, denn einen besseren Ort als diesen konnte es für eine Frau doch gar nicht geben! Aber sie hatte keine Möglichkeit, mit der jungen Nonne darüber zu sprechen, denn der Karren rollte bald darauf los. Als sie die Umrisse des Klostergemäuers am Horizont verschwinden sah, schnürte Wehmut ihr die Kehle zu.
Neslin wusste nicht genau, welche Reaktion sie von Oswald erwarten sollte. Es war die allererste Pflicht einer Ehefrau, ihrem Gemahl Kinder zu schenken, vorzugsweise Söhne. Gerlind hatte ihr versichert, dass die Zeichen nun eindeutig waren. Manche Frauen wurden von der morgendlichen Übelkeit eben verschont. Das Strahlen auf dem Gesicht der Köchin machte Neslin klar, dass die wiederholten Tritte in ihrem Unterleib ein Grund zur Freude sein sollten. Aber so sehr sie sich auch bemühte, dieses Gefühl, das so klar in den Augen der älteren Frau leuchtete, wollte nicht auf sie überspringen. Sie bemerkte ein paar Veränderungen an ihrem Körper, fühlte sich träger und schwerer als bisher und ahnte, dass dies nur der Anfang war. Sie würde allmählich aufquellen wie ein Hefekloß. Einmal hatte sie diese Entwicklung an ihrer Mutter beobachten können, vor der Geburt jenes Bruders, der nicht einmal ein Jahr alt geworden war. Daran, wie Appolonia auf die Welt gekommen war, konnte sie sich nicht mehr erinnern, denn da war sie selbst erst zwei Jahre alt gewesen. Doch eines wusste sie mit Sicherheit: Frauen erlitten unsägliche Qualen während einer Geburt. Von dieser Sorge konnte nicht einmal die stets zuversichtliche Gerlind sie befreien, und das Versprechen der Köchin, die Freude über das Kind würde sie den Schmerz sehr schnell vergessen lassen, vermochte Neslin nicht zu beruhigen. Sie fühlte sich unwohl in ihrem Körper, von dem ein anderes Wesen Besitz zu ergreifen begann.
Aber vielleicht würde ein gemeinsames Kind helfen, ihre Beziehung zu Oswald zu verbessern, versuchte sie sich einzureden. Sie wartete ein paar Wochen, denn Gerlind hatte sie gewarnt, dass viele Schwangerschaften so plötzlich endeten, wie sie begonnen hatten. Dann, kurz nach dem Pfingstfest, wollte sie ihrem Gemahl schließlich die frohe Botschaft mitteilen. Inzwischen spürte sie sehr deutlich eine Rundung an ihrem Bauch, die ohnehin bald aufgefallen wäre. So wartete sie, bis sie mit Oswald allein in der Kammer saß, hob ihren Weinbecher und verkündete: »Ich bin ganz sicher schwanger. Gerlind hat es bestätigt.«
Das breite, meist sehr blasse Gesicht blieb zunächst unbewegt, aber seine Augen weiteten sich staunend.
»Ging es tatsächlich so schnell? Ein einziges Mal hat genügt?« Die Erleichterung in seiner Stimme fühlte sich wie eine Ohrfeige an.
»Offensichtlich hat es genügt«, erwiderte sie und hörte ihre eigene Bitterkeit als heiseres Krächzen. Oswald senkte den Blick, wie immer, wenn er sich unwohl fühlte.
»Es tut mir leid, dass ich in unserer Hochzeitsnacht so grob zu dir war«, sagte ihr Gemahl leise. »Ich hatte gehört, dass es für Frauen beim ersten Mal sehr unangenehm ist, aber wie soll ich das ändern? Wir mussten es tun, und ich dachte, wenn es schnell geht, dann ist es auch schnell vorbei. Und nun hat es tatsächlich genügt! Niemand kann unsere Ehe mehr infrage stellen, wenn wir ein gemeinsames Kind haben.«
Neslin verschränkte die Arme vor der Brust. Sie fror. Just in diesem Moment trat das Kind wieder zu. Am liebsten hätte sie ihm zur Strafe einen Hieb versetzt.
»Warum sollte denn jemand unsere Ehe infrage stellen?«, fragte sie leise. »Worüber macht Ihr Euch solche Sorgen? Dass Ihr mich nicht liebt, kann jeder sehen. Daran wird auch das Kind nichts ändern.«
Oswald räusperte sich. »Die meisten Ehen werden nicht aus Liebe geschlossen«, erwiderte er. »Eltern bestimmen über ihre Kinder. Die Welt wünscht, dass ein Mann ein Weib hat. So entsteht neues Leben, und die Priester sagen, es ist Gottes Wille. Die einzige andere Möglichkeit besteht darin, in ein Kloster zu gehen, aber das ist zumeist dem Adel vorbehalten.«
Hatte er das auch Appolonia erzählt? Seit ihrem Besuch in Brunshausen schwärmte die Schwester ständig von einem Leben als Nonne.
»Ihr wärest also lieber Mönch geworden, als mich zu heiraten?«, rief Neslin und sprang so heftig auf, dass der kleine Tisch ins Wanken geriet.
Oswald hob abwehrend die Hände. »Das habe ich nicht gesagt. Du bist in vieler Hinsicht ein Gewinn für mich. In der Werkstatt arbeiten wir hervorragend zusammen.«
»Na, dann wird unser Kind in einem glücklichen Heim aufwachsen, weil seine Eltern gemeinsam schönen Schmuck schmieden können«, erwiderte sie bissig.
»Es wird auf jeden Fall ein wohlhabendes Elternhaus haben, eine kluge Mutter und einen Vater, der sie für ihr Können schätzt, anstatt sie zu schlagen, wie mein Vater es mit seiner Frau tat, wenn sie ihm widersprach.«
Der ruhige Klang von Oswalds Stimme brachte Neslin noch mehr in Rage. Am liebsten hätte sie ihm ihren Weinbecher ins Gesicht gekippt. »Ich bin gerührt und schmelze vor Dankbarkeit dahin. Bitte gestattet mir, heute Nacht bei meiner Schwester in der Stube zu schlafen. Da ich ja nun schwanger bin, braucht Ihr kein Gerede mehr zu fürchten.«
Er nickte nur. Sie rannte ohne Abschiedsworte die Stiegen hinab und schmiegte sich an die völlig überraschte Appolonia.
Als sie in Tränen ausbrach, strich die Schwester ihr nur sanft über den Rücken. »Gerlind hat mir bereits erzählt, dass du ganz sicher ein Kind erwartest. In diesem Zustand sind Frauen oft schwierig, hat sie mir gesagt.«
Neslin widersprach nicht. Vielleicht war sie tatsächlich schwierig, weil sie mehr vom Leben verlangte, als es ihr bot. Woher nahm Appolonia nur ihre Gelassenheit?
»Es ist nur so, dass ich mir wünsche, dass mein Gemahl sich auch wie einer verhält«, flüsterte sie leise ins Dunkel hinein.
Ihre Schwester drehte sich wieder zu ihr um. »Was genau meinst du damit? Diese Dinge, die Eheleute zusammen tun, damit es Kinder gibt?«
Der völlig fassungslose Tonfall machte Neslin klar, wie widersprüchlich ihr Verhalten auf andere Menschen wirken musste.
»Ich meine Dinge, die ein Mann mit seiner geliebten Ehefrau tut«, erklärte sie, denn anders vermochte sie das verworrene Knäuel aus Gefühlen und Sehnsüchten nicht zu beschreiben. »Ich habe Oswald als meinen Gemahl angenommen und würde mir wünschen, dass es mich ebenso in sein Herz schließt.«
Nun war es ausgesprochen. Dieser grobschlächtige, schweigsame Mann, in dessen robusten Körper sich eine zarte Seele verbarg, hatte Wünsche in ihr geweckt, die sie sich niemals hatte vorstellen können.
»Also, wenn das so ist …« Appolonia hatte sich aufgerichtet und saß mit übereinander gekreuzten Beinen auf der Pritsche. »Ich würde sagen, der arme Mann ahnt nicht einmal, was du dir wünschst. Ich kann mich noch gut erinnern, was für ein Gesicht du nach deiner Hochzeitsnacht gemacht hast. Oswald ist ein anständiger Kerl, der nicht gern jemandem wehtut. Deshalb hat er sich seitdem von dir ferngehalten.«
Es klang so völlig einleuchtend, das Neslin erleichtert aufatmete.
»Du bist eine sehr anziehende Frau«, redete ihre Schwester weiter. »Schon als wir beide Kinder waren, redeten alle Gäste unserer Eltern davon, wie du irgendwann den Kerlen den Kopf verdrehen wirst mit deinem sonnengelben Haar und deiner lieblichen Gestalt. Ich denke, wenn du Oswald ein paar eindeutige Zeichen gibst, wird er mit Freuden wieder sein Lager mit dir teilen.«
Neslin schlang dankbar ihre Arme um Appolonias schmale Schultern. Ihre Schwester, die von all diesen Dingen nicht die geringste Ahnung hatte, war dennoch in der Lage gewesen, ihr klarzumachen, wie einfach alles war. Sie musste Oswald verführen. Leider hatte sie darin keinerlei Erfahrung, hoffte aber, dass sie aus einer inneren Eingebung heraus die richtige Verhaltensweise erahnen würde. Hieß es nicht, das Weib sei von Natur aus der Sünde zugetan? In ihrem Fall wäre es nicht einmal so schlimm, denn mit ihrem angetrauten Gemahl durfte sie der Fleischeslust frönen.
Am nächsten Tag holte Neslin wieder ihr Hochzeitsgewand aus der Truhe, denn sonst besaß sie keine schönen Kleider. Sie trug ihr Haar offen und warf nur einen fein gewebten Schleier darüber, unter dem es golden schimmerte. Dann stieg sie in die Kammer hoch, um Oswald zu wecken. Er war allerdings bereits angekleidet.
»Du siehst hübsch aus«, meinte er anerkennend. »Aber warum bist du nicht gleich in der Stube geblieben? Das Morgenmahl wartet sicher schon.«
»Das tut es, aber ich wollte Euch abholen«, erwiderte Neslin schnell. Er schien es als Versuch zu verstehen, sich nach dem gestrigen Streit auszusöhnen, denn er reichte ihr seine Hand, um sie nach unten zu führen. Neslin folgte. Dies war nicht der richtige Moment für eine Verführung.
Der Rest des Tages verlief in vertrauter Weise. Sie arbeiteten zusammen an Entwürfen, dann zog Oswald sich in seine Werkstatt zurück, und Neslin trug die neuesten Einkäufe von Silberbarren und Glasperlen in ihr Buch ein.
Beim Mittagsmahl beschloss sie, ihren Gemahl ein wenig zu ermutigen. »Vielleicht könnten wir heute Abend zusammen in unserer Kammer speisen«, schlug sie vor und wagte dabei sogar einen Augenaufschlag, obwohl ihr das albern vorkam. Oswalds lachte zum Glück nicht darüber, sein Gesicht blieb unbewegt, nur ein leichtes Zucken der Augenbrauen verriet Überraschung.
»Natürlich. Wenn du möchtest.«
Obwohl Neslin sich mehr Begeisterung von seiner Seite gewünscht hatte, beschloss sie, erst einmal zufrieden zu sein. Nach dem Essen half sie Oswald beim Polieren eines kleinen Bronzeengels. Völlig unerwartet trat ein reichlich zerlumpter, halbwüchsiger Bote in die Werkstatt, den sie schon öfter im Haus gesehen hatte. Wie stets flüsterte er seine Nachricht einfach in Oswalds Ohr, denn wer auch immer ihn schickte, konnte nicht schreiben.
»Ich muss dringend fort. Es gibt etwas Geschäftliches zu erledigen«, sagte ihr Gemahl gleich darauf. »Aber mach dir keine Sorgen, vor Einbruch der Dunkelheit bin ich zurück.«
»Ich werde in unserer Kammer auf Euch warten«, erwiderte Neslin. Zwar gefiel Oswalds plötzliches Verschwinden ihr nicht, aber sie wollte sich gerade jetzt nicht als zänkische Ehefrau zeigen, die genauere Erklärungen forderte.
Bei Einbruch der Dämmerung bat sie Gerlind, ihnen das Essen in die Kammer hochzutragen, und half selbst mit, auch noch eine Karaffe Wein und zwei Becher zu bringen. Dann legte sie noch das goldene Kreuz ihrer Mutter an, das ihr hoffentlich Glück bringen würde. Vor dem Spiegel bürstete sie ihr Haar nochmals gründlich durch. Nun, da niemand außer ihrem Gemahl sie sehen würde, brauchte sie ihren Schleier nicht mehr. Zufrieden lächelte sie ihr Ebenbild an, auf das die Kerze tanzende Lichtflecken warf. Die Blicke der Männer, denen sie draußen begegnete, versicherten ihr zunehmend, dass sie zu einer anziehenden Frau herangewachsen war. Warum sollte es ihr nicht gelingen, den scheuen, verschwiegenen Oswald für sich zu gewinnen, wenn es doch keinerlei Hinweise auf andere Frauen in seinem Leben gab?