Das sprechende Kreuz - Tereza Vanek - E-Book

Das sprechende Kreuz E-Book

Tereza Vanek

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die österreichische Familie Schneider ist 1865 Kaiser Maximilian nach Mexiko gefolgt und hat sich in Yucatán niedergelassen. Sechs Jahre später verliebt sich die ältere Tochter Johanna in Carlos Mendez, den Sohn eines reichen Plantagenbesitzers. Ihre jüngere Schwester Kornelia dagegen hofft darauf, dass sie ihr Verlobter Heinrich mit zurück in die Heimat nimmt. Doch als Johanna und Carlos ihre Heiratspläne öffentlich machen, überschlagen sich die Ereignisse und Carlos flieht in den Urwald. In ihrer Verzweiflung begibt sich Johanna auf die Suche nach ihrem Geliebten. Dabei gerät sie, wie Carlos vor ihr, in die Gefangenschaft von María Uicab, einer Hohen Priesterin und Anführerin rebellischer Indianer. Während die beiden in die Kämpfe der Rebellen verstrickt werden, versucht Kornelia mit allen Mitteln, bei der Oberschicht der Stadt Unterstützung für eine Rettung ihrer Schwester zu finden …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 627

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tereza Vanek

Das sprechende Kreuz

Roman

Bookspot

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2015 by Edition Carat, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage 2015

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Lektorat: Dorothée Engel

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-041-9

www.bookspot.de

Erstes Buch

1871

1. Kapitel

Johanna erwachte beim ersten Schlag der Glocken der Iglesia de Santa Lucia und zog das Moskitonetz an ihrem Bett zur Seite. Die Sonne tauchte ihr Zimmer bereits in grelles Licht, obwohl noch ein Hauch nächtlicher Frische in der Luft lag. Ein Blick auf die Uhr neben ihrem Bett verriet, dass es sechs Uhr morgens war. Sie beschloss, die knappe Zeit, bevor die Hitze sich wie ein schweres Tuch über die Stadt legen würde, nicht ungenutzt zu lassen, und trat ans Fenster. Die Türen und Fensterläden der bunt bemalten Häuser von Valladolid waren noch geschlossen – wie die Augen ihrer Bewohner. Nur vom Marktplatz vor der Kirche erklangen die ersten Laute, begleitet vom Schreien der Vögel. Selbst jene schlichten, grauen Exemplare, die in den Bäumen Valladolids wohnten, konnten viel mehr Lärm machen als ihre Verwandten in Europa. Unter ihnen wurden die ersten Verkaufsstände aufgebaut und daher war es auch für Johanna an der Zeit, den Laden herzurichten.

Als Österreicher waren sie in Mexiko nicht besonders beliebt, nachdem Kaiser Maximilian aus dem Land gejagt worden war. Vor sechs Jahren, bei ihrer Ankunft in Sisal, waren sie noch mit Umarmungen begrüßt worden, doch inzwischen galten sie als Kollaborateure eines Eroberers. Selbst die Heirat ihres Vaters mit einer Mexikanerin hatte nicht wirklich etwas daran geändert. Die einzige Möglichkeit, den kleinen Laden am Leben zu erhalten, bestand darin, tüchtig zu sein, exklusive Ware zu günstigen Preisen zu bieten und auch dann geöffnet zu haben, wenn andere noch geschlossen hatten.

»Komm, steh auf!«, rief sie und rüttelte ihre Schwester Kornelia wach, die empört maulte und sich die Decke über den Kopf zog. »Lass mich in Ruhe! Es ist noch mitten in der Nacht.« »Das stimmt nicht. Die Sonne scheint. Also raus aus den Federn!« Sie zerrte an Kornelias Decke und bekam zum Dank das Kissen an den Kopf geworfen. »Du bist unausstehlich!«, rief die Schwester, stand aber seufzend auf. »Wenn ich verheiratet bin, werde ich so lange schlafen, wie ich will«, stellte sie fest und streckte ihre Glieder. »Dazu brauchst du erst einmal einen Bräutigam, und den wirst du nicht finden, wenn du die ganze Zeit im Bett herumliegst.« Johanna warf der Schwester ihr Kleid zu. »Und unsere neue Mutter Anavera schläft wieder einmal so lange, wie sie will«, murrte Kornelia missmutig. »Ohne sie hätten wir nicht einmal diesen Laden«, erwiderte Johanna. »Warte, ich hole Wasser, damit wir uns waschen können.«

Sie lief im Nachthemd los, da sie nicht davon ausging, so früh jemanden im Haus anzutreffen. Im Patio schöpfte sie Wasser aus dem Brunnen und schleppte den vollen Eimer die Stufen hinauf.

»Na endlich!«, rief Kornelia und schüttete sich Wasser ins Gesicht. »Ich halte diese Hitze bald nicht mehr aus. Kannst du dich noch erinnern, wie der Schnee in den Bergen aussah?« Ihre Stimme hatte einen wehmütigen Tonfall angenommen. Johanna überlegte kurz, während sie ihr Haar mit flinken Fingern zu einem Zopf flocht. »Es war, als würde sich eine Schicht aus Zucker über die Welt legen. Aber die Kälte machte mich jedes Jahr müde und krank.« Kornelia schüttelte verwirrt den Kopf. »Dort, wo jeden Winter Schnee fiel, war unser Zuhause«, sagte sie leise und streifte dann in ihr Kleid über. »Die Leute kannten unsere Familie seit Generationen. Hier sieht man uns nur schräg an, weil wir Fremde sind.«

Sie schlüpfte in ein Paar Sandalen und begann, ihr goldenes Haar zu kämmen. »Wirklich traurig aber ist, dass ich das alles langsam zu vergessen beginne«, redete sie weiter und steckte sich eine rote Papierblume ins Haar. Kornelia war es wichtig, stets hübsch auszusehen. »Wenn ich an verschneite Berge denke, dann weiß ich nicht mehr, ob ich die Zeichnungen unseres Vaters vor Augen habe oder meine Erinnerungen. Die werden immer blasser. Gestern Nacht habe ich versucht, an Tante Rosie zu denken, aber ihr Gesicht konnte ich nicht vor mir sehen.« Sie drehte sich um und sah Johanna mit veilchenblauen, traurigen Augen an. »Glaubst du, wir werden jemals wieder nach Hause kommen?« Johanna zuckte mit den Schultern. Wie kam ihre Schwester nur immer wieder auf so merkwürdige Gedanken? Sie waren dreizehn und vierzehn gewesen, als sie die lange, anstrengende Reise über den Ozean angetreten hatten. In Yucatán waren sie zu jungen Frauen herangereift, daher waren Teile ihres Wesens mit diesem Land verwachsen. Johanna konnte sich inzwischen kaum noch vorstellen, auf die leuchtenden Farben, das schrille, lang gezogene Kreischen der Vögel und den kratzend scharfen Geruch von Gewürzen in ihrer Nase zu verzichten. Die Erinnerung an die Heimat begann tatsächlich immer mehr zu verblassen, wie ein Schiff, das durch Nebelschwaden davon segelt, aber dieses Wissen löste keinen Schmerz in ihr aus. Kornelia erging es offensichtlich anders. »Wenn wir mit unserem Laden genug Geld verdienen, kannst du irgendwann die Rückreise nach Österreich antreten«, sagte Johanna und klopfte ihrer Schwester tröstend auf die Schulter. »Also, lass uns an die Arbeit gehen.« Kornelia verzog leicht das Gesicht, widersprach aber nicht, sondern folgte ihr nach unten.

Der Laden bestand aus einem Tresen, hinter dem in Regalen Lebensmittel, Stoffe, Parfümflakons und andere Artikel aus Europa gelagert wurden, je nachdem, was Heinrich Bircher ihnen mitbrachte, wenn er, wie üblich, alle zwei Wochen mit seinem Karren eintraf. Er gehörte zu den wenigen Österreichern und Deutschen, die noch in ihrer Kolonie Villa Carlotta, nahe der Hafenstadt Sisal, verblieben waren. Das kleine Dorf war nach der Gemahlin des inzwischen abgesetzten Kaisers benannt worden, die es auch einmal besucht hatte – zu jener Zeit, da sie ebenso wie die Siedler gehofft hatte, in diesem wilden, unbekannten Land eine vielversprechende Zukunft zu haben. Für Johannas Familie war es nicht ganz so schlimm gekommen wie für den glücklosen Kaiser und seine Frau, die seit seiner Hinrichtung geisteskrank sein sollte. Auch im Vergleich zu ihren einstigen Reisegenossen standen sie gut da. Der Entschluss ihres Vaters, sich im Laden auf Importe aus Europa zu spezialisieren, hatte nicht zum erhofften Wohlstand geführt, aber sie hatten niemals unter Hunger gelitten wie manche Leute in Villa Carlotta.

Johanna wischte rasch den Tresen ab und versicherte sich dann, dass die Regale ordentlich gefüllt waren. Nach einigem Überlegen stellte sie drei der französischen Weinflaschen in den Vordergrund und rollte den Ballen mit Brüsseler Spitze etwas aus, damit die feine Arbeit sichtbar wurde. Als die Glocken der Kirche die achte Morgenstunde ankündigten, öffnete sich die Tür und Maruch, ihr Dienstmädchen, kam herein. Obwohl alle Leute den Indios nachsagten, nicht das geringste Zeitgefühl zu besitzen, erschien sie immer in diesem Augenblick, als hätte sie gelernt, sich nach dem Läuten des Kirchturms zu richten. Johanna wusste nicht, wo Maruch wohnte und wie weit der Weg war, den sie jeden Morgen und jeden Abend zurücklegen musste, doch hatte sie noch nie bei der Arbeit gefehlt. Nun begrüßte sie die beiden Schwestern mit einem knappen Nicken und holte Wasser vom Brunnen, um den Boden des Ladens zu wischen. Johannas Vater meinte, es wäre dem Ansehen des Ladens nicht dienlich, wenn dort ein Indiomädchen die Kundschaft bediente, sodass Maruch hauptsächlich für die Putz- und Küchenarbeit zuständig war, die sie mit vorbildlicher Gewissenhaftigkeit erledigte. Dabei redete sie kaum, sondern schien ganz in ihre Aufgaben und sich selbst versunken. Es war Johanna mit der Zeit gelungen, das kleine, kaffeebraune Mädchen ab und an in ein Gespräch zu verwickeln, doch musste sie dabei stets selbst die Initiative ergreifen. Kornelia machte keine Anstalten, sich mit der Bediensteten unterhalten zu wollen, und die Stiefmutter Anavera hielt es ebenso.

Sobald der Boden gereinigt war, entfernte sich Maruch mit ihrem Eimer, um in der Küche ein Frühstück zuzubereiten. Johannas Vater und seine Frau würden auch bald erwachen, und bevor der Laden geöffnet wurde, konnte jeder eine Stärkung vertragen. Johanna warf noch einen letzten, prüfenden Blick auf die Auslage der Waren. Sie hoffte, ein paar Kunden würden sich in den frühen Morgenstunden einfinden, bevor die große Hitze alle Bewegungen verlangsamte und jeden Elan erstickte. Im August sehnte sich auch Johanna manchmal nach europäischen Temperaturen.

Ihr Vater erwartete sie in der kleinen Sala oberhalb des Ladens. Anavera saß bereits an seiner Seite, doch trug sie noch ihr Nachthemd und hatte lediglich einen Schal um ihre Schultern geschlungen. Ihr dichtes, pechschwarzes Haar konnte am heutigen Tag noch keine Bürste gespürt haben, so zerzaust wie es war. Johanna bemerkt den abfälligen Blick, den Kornelia ihrer Stiefmutter zuwarf.

»Guten Morgen, Papa«, rief sie betont fröhlich und umarmte den kleinen, runden, semmelblonden Mann. Er klopfte ihr sanft auf den Rücken. »Mein fleißiges Mädchen steht früh auf und fängt den Wurm«, sagte er lächelnd. »Willst du sehen, was ich gestern gezeichnet habe?« Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, zog er einen Block aus seiner Tasche, den er ihr hinhielt. Johanna erblickte die akkurate Darstellung einer Hütte, eingebettet zwischen hohen, schneebedeckten Bergen. »Meinst du, wir können das irgendwann im Laden verkaufen?«, fragte er mit leuchtenden Augen. »Für Mexiko ist es doch sehr ungewöhnlich, den Leuten könnte es gefallen.« Anavera wandte leicht den Kopf, um die Skizze zu mustern. »Bonito«, murmelte sie und unterdrückte ein Gähnen. Der Vater lächelte stolz wie ein Schuljunge, der von seinem Lehrer gelobt worden war. Kornelia beugte sich über den Tisch, um auch etwas sehen zu können. »Das war unser Zuhause«, rief sie, als Einzige sichtlich angetan vom Werk ihres Vaters. »Es macht mich so glücklich, es zu sehen.« Ihre Augen waren hoffnungsvoll auf den Vater gerichtet, der sie kaum beachtete. »Daheim war ich der Sohn eines Bauern, der schuften musste, anstatt zu malen«, erzählte er seiner Frau. »Wenn ich eine Kunstakademie hätte besuchen dürfen, wer weiß, vielleicht hätte ich schon Ausstellungen.« »Si, mi amor«, erwiderte Anavera und tätschelte seine Hand. Als einzige Tochter eines Gemischtwarenhändlers hatte sie sich in den blonden, blauäugigen Ausländer verliebt und das Einverständnis ihrer Eltern zur Heirat ertrotzt. Nun hatte sie einen Mann, der die meiste Zeit zeichnete, und zwei Stieftöchter, die sich um den geerbten Laden kümmerten.

»Heute müsste wieder Heinrich Bircher eintreffen«, sagte Johannas Vater, während er sich eine Tasse Kaffee einschenkte. »Ich bin gespannt, was er uns diesmal mitbringt.« Johanna fand, dass er wie ein Kind klang, das auf den Weihnachtsmann wartete. »Bist du dir sicher, dass er kommt?«, fragte Kornelia und schmierte sich Butter auf ihr Frühstücksbrot. Ihre sonst sehr bleichen Wangen hatten plötzlich einen rosigen Farbton bekommen. »Aber ja, es ist so ausgemacht. Er verdient ja schließlich an jedem Geschäft mit«, versicherte der Vater.

Maruch kam herein, um Tortillas mit Eiern und Bohnen zu bringen, jene Mahlzeit, die Anavera gern morgens aß. Johanna und ihr Vater griffen ebenfalls zu, nur Kornelia blieb den Marmeladenbroten treu. »Ich würde heute gern meine Tante besuchen«, sagte Anavera, als die Kaffeekanne leer war. Johannas Vater nickte nur.

»Fahr, mi corazon. Wir kommen zurecht.« Kornelia verzog kurz das Gesicht, denn der Umstand, dass sie der Stiefmutter den Laden verdankten, konnte sie nicht ganz mit deren Untätigkeit versöhnen. Johanna nahm es hin. Etwas an diesen Zuständen ändern zu wollen, wäre anstrengender gewesen, als alles selbst zu erledigen. »Ich werde heute Vormittag nachsehen, wie die Geschäfte laufen«, sagte der Vater auch schon. »Bis dahin würde ich gern noch ein paar Zeichnungen machen. Ihr kommt doch ohne mich zurecht?« Er hatte nur Johanna angesehen, die nickte. Kornelia legte ihr zur Hälfte gegessenes Brot auf den Teller zurück. »Wenn Heinrich kommt, sollte es ein gutes Abendessen geben. Etwas aus der Heimat«, mischte sie sich nun ein. »Ich werde mich darum kümmern, denn Maruch kann das nicht.« »Wie du willst, aber zunächst hilfst du mir im Laden«, stellte Johanna fest. Es kam kein Widerspruch, aber um Kornelias Lippen lag ein missmutiger, fast trotziger Ausdruck.

Kurz vor neun sperrte Johanna die Tür des Ladens auf, band sich eine Schürze um und stellte sich erwartungsvoll hinter den Tresen. Die Stadt begann langsam zu erwachen, Stimmen schrien auf der Straße, Pferde wieherten und irgendwo klimperte eine Gitarre. Doch niemand trat ein. Johanna rückte nochmals die Waren auf den Regalen zurecht, um sich irgendwie zu beschäftigen, während Kornelia mit verträumter Miene aus dem Fenster starrte. Beide zuckten zusammen, als die Glocke an der Tür endlich Kundschaft ankündigte. Zwei eindeutig indianisch aussehende Frauen in weißen, bunt bestickten Kleidern kamen herein, um für ihre Herrschaften Besorgungen zu machen. Mit drei Flaschen französischem Champagner und fünf Packungen Zigaretten gingen sie wieder davon. Bald darauf hörte Johanna plötzlich laute Männerstimmen und die Tür schwang erneut auf. Für einen winzigen Moment war sie erfreut, dass sich die Kundschaft plötzlich die Klinke in die Hände gab. Leider trugen die neuen Gäste einen unangenehmen Geruch von Schnaps und Zigarrenrauch in den bisher nach morgendlicher Frische duftenden Laden herein. Einer von ihnen war nicht mehr in der Lage, gerade zu stehen und stützte sich auf seinen Freund. Der Dritte stellte sich breitbeinig vor dem Tresen auf.

»Buenos dias«, grüßte Johanna so selbstverständlich wie möglich, obwohl ein Gefühl des Unbehagens ihren Magen zuschnürte. Die drei Männer trugen elegant geschnittene Hosen, geblümte Westen und weiße Batisthemden, was sie als Söhne der reichen Großgrundbesitzer auszeichnete, von denen viele ihre prächtigen Stadthäuser in Valladolid errichtet hatten. Insofern wären sie durchaus wünschenswerte Kundschaft für den Laden gewesen, doch wiesen der desolate Zustand ihrer Kleidung und ihre glasigen Blicke darauf hin, dass sie völlig betrunken sein mussten. Mit ziemlicher Sicherheit waren sie nicht früh aufgestanden, sondern noch gar nicht zu Bett gegangen. Sie hatten anscheinend eine durchzechte Nacht hinter sich. Als Söhne einflussreicher Señores standen sie in Valladolid über dem Gesetz, denn was auch immer sie anstellen mochten, ihre Väter wären stets in der Lage, sie durch das entsprechende Bestechungsgeld freizubekommen.

»Was wünschen Sie?«, fragte Johanna bemüht ruhig und setzte ein höfliches Lächeln auf. Der Mann, der ihr bereits am nächsten stand, kam noch zwei Schritte näher, streckte die Hände aus, um sich am Tresen abzustützen.

»Ich bin Miguel Almaviva«, stellte er sich vor. Johanna neigte den Kopf zur Begrüßung. Sie erinnerte sich, den Namen schon einmal gehört zu haben, vermochte ihn aber nicht zuzuordnen. »Das sind meine Freunde Carlos Mendez und Javier de la Rocha.« Er schnappte hicksend nach Luft und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Mund ab. Der trübe Blick seiner Augen irrte im Laden umher und Johanna begann zu fürchten, dass er plötzlich in die Knie sacken oder sich gar übergeben könnte. »Mein Freund Javier«, er wies mit seiner ausladenden Handbewegung auf den größeren seiner beiden Begleiter, der von dem kleineren gestützt werden musste. Dadurch geriet Miguel selbst etwas ins Wanken, konnte sich aber wieder am Tresen abfangen. »Also Javier, der hat den ganzen Abend bis zum Morgengrauen von der wunderschönen Alemána geschwärmt, die ihm kürzlich auf der Straße über den Weg lief. Sie hat ihm völlig den Kopf verdreht. Deshalb haben wir gedacht, wir besuchen sie einmal in ihrer tienda.« Johanna begriff sogleich, dass damit nicht sie gemeint war. Es waren Kornelias golden schimmernde Locken und veilchenblaue Augen, die mexikanische Männer dazu brachten, sich auf der Straße umzudrehen, mitnichten ihr eigenes, hellbraunes Haar. »Da ist die Señorita, nach der ihr sucht«, sagte sie und wies auf ihre Schwester, die sich eine Ecke des Ladens geflüchtet hatte. Kurz wünschte sich Johanna, Kornelia würde mit dieser im Grunde doch recht schmeichelhaften Lage souveräner umgehen können, ihrem Verehrer ein Lächeln schenken und ihn aus dem Laden komplimentieren. Doch sie stand nur stocksteif da, starrte die Männer mit großen Augen an. Miguel vollführte eine übertriebene Verbeugung, die ihn endgültig zu Fall gebracht hätte, hätte Carlos Mendez ihn nicht gestützt. »Will die Schöne denn nicht vortreten und meinen Freund begrüßen?«, fragte er mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme. Johanna machte hinter seinem Rücken eine Handbewegung, um ihre Schwester herbeizulocken. Kornelia zögerte eine gefühlte Ewigkeit, dann trat sie den drei Männern ein paar Schritte entgegen. »Einen Kuss!«, rief Miguel mit lallender Stimme und legte seine Hand auf Kornelias Schulter, wie um sich nun an ihr abzustützen. »Javier hat wenigstens einen Kuss verdient, wenn er schon hierher gekommen ist.« Kornelia erbleichte und Johanna überlegte, wie sie eingreifen konnte, da schüttelte Carlos Mendez Miguel kurz.

»Das reicht jetzt. Wir haben das Mädchen gesehen und können wieder gehen.« »Unsinn!«, schrie Miguel, als sei seine freundliche Stimmung plötzlich in Zorn umgeschlagen, da ihm jemand widersprochen hatte. »Den Kuss ist sie mir schuldig, wenn ich ihretwegen bis in diesen schäbigen Laden renne. Wofür hält sich diese kleine Alemána denn?« Er wollte Kornelia erneut packen, aber sie sprang zurück wie ein aufgeschrecktes Reh. »Es ist natürlich eine große Ehre für uns, dass Sie hierher gekommen sind, Señores«, mischte sich Johanna ein, als sie sah, dass in Kornelias Augen bereits Tränen schwammen. »Als Zeichen unseres Dankes möchten wir Ihnen eine Flasche Champagner überreichen.«

Zwar tat es ihr im Herzen weh, die teure Flasche einfach zu verschenken, aber eine bessere Möglichkeit, den sturzbetrunkenen vornehmen Herrn zu besänftigen, war ihr einfach nicht eingefallen. Sie verzerrte ihren Mund zu einem krampfhaften Lächeln, in das Kornelia zu ihrer Erleichterung einstimmte, und hielt Miguel die auserwählte Gabe entgegen. Als er zugriff, keimte Hoffnung in ihr auf, die Lage nun entschärft zu haben, aber gleich darauf landete eine ihrer kostbarsten Waren mit einem lauten Knall an der Wand. Helle Flüssigkeit perlte über die zart rosa Farbe und Johannas erster Gedanke war, dass sie nun wieder würden streichen müssen.

»Ich lasse mich von einer kleinen, deutschen Krämerstochter nicht zum Narren halten!«, brüllte der ungebetene Gast aus Leibeskräften. Johanna hoffte, ihr Vater hätte endlich etwas von dem Ärger mitbekommen und würde gleich im Laden erscheinen. Zwar war er keine Furcht einflößende Erscheinung, doch manchmal reichte das Auftauchen eines Mannes, um andere Männer zur Ordnung zu rufen.

»Diese kleine Puta sollte sich geehrt fühlen, dass ein Javier de la Rocha ihr den Hof machen will, anstatt sich wie eine gekränkte Unschuld zu benehmen!«, schrie Miguel weiter und machte Anstalten, Kornelia nun endgültig mit Gewalt zu ihrem Verehrer zu zerren, der viel zu betrunken war, um das Geschehen wirklich mit zu bekommen. Carlos wollte seinen Freund zurückhalten, doch erwies sich dieser auf einmal als sehr flink und hatte seine Arme um Kornelias Taille geschlungen, bevor sie aus dem Laden flüchten konnte. Johanna schoss wie der Blitz auf ihn zu, um die wimmernde Schwester seinem Griff zu entreißen, und erhielt Unterstützung von Carlos Mendez, der seinen Freund von hinten packte und von seinem Opfer fortzerrte. Dies hatte leider zu Folge, dass Javier de la Rocha, nun ohne jede Stütze, nach kurzem Straucheln zu Boden fiel. Kornelia nutzte den allgemeinen Aufruhr, rannte los und verschwand im Inneren des Hauses. Carlos Mendez versuchte, seinem Freund auf die Beine zu helfen, sodass er Miguel wieder losließ. Bevor Johanna begriffen hatte, wie ihr geschah, wurde sie niedergestoßen und mit Fußtritten traktiert.

»Dir bringe ich Manieren bei, du deutsche Schlampe!«, hallte die zornige Männerstimme in ihrem Ohr. Sie schlug die Hände vors Gesicht, um es zu schützen, und versuchte, vor den schwarzen Schuhen weg zu robben, die immer wieder erbarmungslos gegen ihren Körper schlugen.

»Bist du verrückt, Miguel? Lass sie in Ruhe!«, hörte sie Carlos Mendez schreien. Dann wurde es plötzlich still. Die Füße hörten auf zu treten, stolperten kurz rückwärts, um endlich zur Ruhe zu kommen. Johanna kämpfte sich auf die Beine, obwohl ihr Körper an zahllosen Stellen brannte. Sie sah, dass die Tür, die vom Laden ins Haus führte, offen war. Maruch stand im Türrahmen, starr wie eine Statue, mit ihrem verschlossenen, unlesbaren, fremden Gesicht.

»Diese indianische Ratte hat einen Stein nach mir geworfen!«, überschlug sich die Stimme von Miguel hinter ihr. Johanna drehte sich um und bemerkte mit Erstaunen, dass er tatsächlich an einer Schläfe blutete und ein etwa faustgroßer Stein neben ihm auf den Boden lag. Von allen Bewohnern des Hauses war allein Maruch ihr zu Hilfe gekommen. »Das wirst du büßen, du Giftschlange.« Miguel rannte los, doch Johanna gelang es, vor ihm zur Tür zu gelangen, die Maruch sogleich zugeschlagen hatte. »Das Mädchen bekommst du nicht. Und verschwinde aus unserem Laden!«, schrie sie ihm entgegen, plötzlich von einer ebenso blinden, rasenden Wut besessen. Ein Meer rauschte in ihrem Kopf und an den Rändern ihres Blickfeldes leuchteten bunte Sterne. Sie sah den Hass in seinen Augen, den Wunsch, zu zerstören und zu quälen, und wollte schützen, was sie liebte. Ein paar Sekunden musterte er sie schweigend, dann glitt seine Hand in die Tasche seiner Hose. Er zog etwas Schwarzes heraus, das er auf Johanna richtete. Ihr Verstand schien wie von ihrem Körper abgespalten zu sein, und signalisierte ihr, dass sie von einer Pistole bedroht wurde.

»Geh zur Seite, Alemána. Ich will nur diese indianische Schlange. Sie muss vernichtet werden, bevor sie zivilisierte Menschen umbringt.«

Johanna schien mit der Tür verwachsen zu sein. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr nicht möglich gewesen, Miguel vorbei zu lassen. Ihr Zorn war einer kalten Entschlossenheit gewichen. Carlos Mendez huschte wie ein Schatten hinter seinen Freund und stieß gegen dessen ausgestreckten Arm, der in einer Pistole mündete. Ein Knall erschütterte den Laden, zwei weitere folgten. Johanna hörte wie Glas zersplitterte und ein Regen aus winzigen Scherben fiel vor ihr auf den Boden. Kurz rangen Carlos und Miguel miteinander, dann flog die Pistole wie ein panischer Vogel durch die Luft, wurde von Carlos aufgefangen. Miguel schwankte noch ein paar Schritte auf Johanna zu, bis seine Knie plötzlich einsackten, als hätte ihn der Wutanfall die letzte Kraft gekostet.

Der Señor Mendez sammelte schweigend seine zwei Freunde auf. Javier war immerhin in der Lage, sich schwankend vorwärts zu bewegen, solange er sich dabei abstützen konnte. Miguel hing nun wie ein Sack an Carlos’ Hals, was ihn wohltuend ungefährlich machte. Mit all dieser Last schleppte sich Carlos zur Ausgangstür. Johanna überlegte, dass er ohne eine Kutsche nicht weit kommen würde, doch wäre es für einen reichen jungen Herrn wie ihn sicher nicht schwer, eine aufzutreiben. Die Glocke bimmelte, als er die Tür aufstieß, um sich dann noch einmal zu Johanna umzudrehen.

»Es tut mir wirklich sehr leid, was soeben geschehen ist. Der Schaden wird Ihnen natürlich ersetzt werden«, versicherte er. Johanna bemerkte, wie tiefschwarz seine Augen waren. Die hohen Wangenknochen verliehen seinem Gesicht einen sehr feinen, fast aristokratischen Zug, den sie bereits manchmal an Maruch bewundert hatte. Sie verabschiedete ihn mit einem Nicken, ohne sein Versprechen weiter zu kommentieren. Vermutlich hätte er es bereits vergessen, sobald er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, und vor Gericht ließ sich gegen Leute seiner Art nichts ausrichten.

Erst, als die Tür hinter ihm zugefallen war und Johanna völlig allein im Laden stand, wurde ihr bewusst, dass sie soeben um ein Haar erschossen worden wäre. Kalter Schweiß brach ihr aus und sie begann, in der schwülen Hitze zu zittern. Rasch suchte sie nach einem Eimer, denn sie wollte nicht den Boden beschmutzen, als sie sich erbrach.

Kornelia schnitt weißes Brot in kleine Würfel und wartete, bis die Milch auf dem Herd zu köcheln begann, um sie darin einweichen zu können. Zwiebeln, Petersilie und Eier würden hinzukommen, dann noch etwas Ingwer und Muskatnuss, damit die Semmelknödel einen ausgeprägteren Geschmack bekämen. Nach ein paar Jahren in Mexiko konnte man vergessen, wie Essen schmeckte, an dem man sich nicht gleich beim ersten Bissen den Mund verbrannte. Sie wusste, dass Heinrich sich ebenso nach Gerichten aus der Heimat sehnte wie sie, doch waren in dem kleinen Villa Carlotta die nötigen Zutaten selten zu bekommen. Umso mehr Freude würde ihm das heutige Abendessen bereiten, überlegte sie und lächelte.

Obwohl noch viel Arbeit vor ihr lag und es bei dieser drückenden Hitze kein besonderes Vergnügen war, ein halbes Schwein zu braten, genoss Kornelia den Umstand, allein in der Küche zu sein. Ihre Stiefmutter verirrte sich so gut wie nie hierher, Johanna stand lieber im Laden, als dass sie kochte, und die indianische Hilfskraft, diese Maruch, war seit dem Zwischenfall mit den drei Männern heute Morgen verschwunden. Kornelia fand, dies sei ein ausreichender Grund, sie zu entlassen. Es mangelte nicht an jungen, dunkelhäutigen Mädchen, die aus den umliegenden Dörfern in die Stadt strömten, um eine Anstellung als Muchacha zu suchen, und ein Ersatz wäre daher schnell gefunden. Bisher war Maruch trotz ihrer verdächtigen Schweigsamkeit und geheimnistuerischen Art überraschend zuverlässig gewesen, obwohl doch jeder erzählte, wie arbeitsscheu und wenig vertrauenswürdig die Indios im Allgemeinen waren. Aber einfach so mitten am Tag fort zu laufen, ohne jede Entschuldigung, das konnte nicht geduldet werden.

Sie beugte sich, um den Schweinebraten kurz aus dem Ofen zu nehmen und nochmals mit Öl zu bestreichen. Sehr wahrscheinlich würde die Indianerin nicht herausgeworfen werden, denn sie sah bereits voraus, dass ihre sich Schwester für das Mädchen einsetzen würde. In diesem Haus geschah doch stets, was Johanna wollte, einfach, weil es ihrem Vater und seiner zweiten Frau an Ausdauer mangelte, sich ihrem Sturschädel entgegen zu stellen. Sie selbst scheute ebenfalls jeden Streit mit ihrer älteren Schwester, denn sie hatte früh lernen müssen, dass sie dabei immer wieder verlor.

Der Braten verschwand wieder im Ofen. Kornelia wischte sich den Schweiß von der Stirn und sehnte sich, wie schon so oft in den letzten Jahren, nach einer Kühlkammer, in der sie wenigstens für ein paar Minuten der höllischen Hitze hätte entfliehen können. Aber Eis gab es nur bei einem einzigen Händler und der verlangte dafür hohe Preise. Sie konnten sich nur gelegentlich leisten, ihre besonders teuren Waren zu kühlen; ihnen selbst blieb nichts anderes übrig, als die unerträglichen Mittagsstunden in einem Dämmerzustand hinter geschlossenen Fensterläden zu verbringen. Valladolid lag mitten im tropischen Regenwald, einem schwülen Reich, in dem Pflanzen zu riesigen grünen Ungeheuern wurden und Menschen zu mörderischen Barbaren.

Es war nur eine Frage der Zeit, versuchte sie sich zu beruhigen. Irgendwann würde Kornelia Schneider ein Schiff besteigen, das sie wieder in ein frisches, gesundes Klima und in die Arme der Zivilisation tragen würde.

Sie begann nun, aus dem Teig Klöße zu formen, die sie später kochen würde. Um ihre Laune zu verbessern, summte sie leise eine Walzermelodie, die sie von ihrem Vater kannte. Er hatte ihr diesen Tanz einmal beigebracht, aber bisher hatte es in ihrem Leben keine Gelegenheit gegeben, ihre Künste vorzuführen. In den Häusern der vornehmen Kreolen wurde sicher manchmal Walzer getanzt, aber dorthin wurde die Tochter eines Krämers nicht eingeladen. Außerdem hatte sie heute in aller Deutlichkeit erfahren, dass sie dort keinen Mann mit anständigen Manieren treffen würde. Dieses mörderische Klima machte selbst aus Leuten nobler Abstammung Tiere.

Ein Geräusch vor dem Haus riss sie aus diesen unerfreulichen Gedanken. Jemand klopfte gegen die Eingangstür, die direkt ins Haus statt in den Laden führte. Kornelia lief zum Fenster und beugte sich hinaus. Sie erkannte Heinrich sofort, obwohl ein breiter Hut seinen hellen Haarschopf verbarg. Er bewegte sich so selbstsicher und ruhig wie jemand, der stets genau wusste was er tat und sein Ziel deutlich vor Augen hatte. Erfreut rief sie seinen Namen.

»Du bist früher da als erwartet«, fügte sie hinzu.

Er antwortete nicht, lächelte sie nur an, aber sie verstand die Botschaft seiner Augen. Er war so schnell wie möglich gefahren, um sie endlich wiedersehen zu können.

Das Abendessen fand spät statt, wie es in Mexiko üblich war. Die große Hitze musste erst einmal abklingen, damit der menschliche Magen feste Nahrung aufnehmen konnte. Dennoch litt Kornelia unter der drückend schweren Luft und spürte ein quälendes Brennen an ihren Beinen, die regelmäßig von Mücken zerstochen wurden. Niemand in ihrer Familie wurde so sehr von diesen Biestern geplagt wie sie. Bei ihrer Stiefmutter verstand sie es, denn die war in Mexiko geboren. Ihr Vater rauchte genug Zigarillos, um sich durch den Gestank zu schützen, aber Johanna wäre als Opfer ebenso infrage gekommen, doch wurde sie meistens verschont, fast als hätte sie einen Pakt mit allen Plagen Mexikos geschlossen. Weil sie bereit gewesen war, diesem Land ihr Herz zu öffnen, ersparte es ihr die schlimmsten Qualen. Aber warum musste Kornelia stets daran erinnert werden, dass sie sich an einem Ort befand, der ihr nicht gefiel?

»Meine Tochter hat es geschafft, drei betrunkene Randalierer aus unserem Laden zu jagen«, hörte sie ihren Vater in diesem Augenblick sagen und biss sich auf die Lippen.

»Das stimmt nicht ganz«, widersprach Johanna. »Maruch hat mitgeholfen. Und einer der Männer schien ganz vernünftig.«

»Sie hat sich einem Kerl mit einer Pistole in den Weg gestellt«, schwärmte der Vater weiter, als wäre er taub. Anavera hob die Hand, um ein Gähnen zu unterdrücken.

»Junge Männer manchmal wild«, sagte sie in gebrochenem Deutsch.

»Dann sollte man versuchen, sie nicht unnötig zu provozieren«, mischte sich Heinrich nun ins Gespräch. »Heldentum nützt nichts. Am Ende ist man nur tot.«

Kornelia schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Ihr Leben lang hatte sie sich anhören müssen, wie mutig, stark und klug ihre ältere Schwester sei, dabei benahm sich Johanna oft nur dickköpfig und uneinsichtig.

»Ich wäre vielleicht tot, wenn Maruch und dieser dritte Mann namens Carlos mir nicht geholfen hätten«, erzählte Johanna weiter, als sei es ihr völlig egal, ob man sie für mutig oder für unvorsichtig hielt. »Bei keinem von beiden habe ich mich bedankt. Ich war einfach zu durcheinander in dem Moment.«

»Maruch wird sicher morgen wieder kommen«, versicherte ihr Vater. »Vielleicht musste sie nach ihrer Familie sehen.«

»Nicht gut, wenn Muchacha einfach weglaufen«, meinte Anavera. Es war einer der seltenen Momente, da Kornelia froh war, dass ihr Vater diese junge Frau aus dem fremden Land geheiratet hatte. Sie nickte zustimmend.

»Wir sollten uns jemand anderen suchen«, schlug sie auch schon vor. Johannas empörter Blick war wie eine Ohrfeige.

»Nachdem sie mir vielleicht das Leben gerettet hat, soll sie hinausgeworfen werden? Habt ihr denn alle den Verstand verloren?«

»Sachte, sachte! Du redest mit deiner Familie«, wurde sie von Heinrich ermahnt. Johanna verzog das Gesicht, schwieg aber tatsächlich. Kornelia wurde warm ums Herz. Was diesem Haus fehlte, war ein richtiger Mann, der ihre vorlaute Schwester an ihren Platz verweisen konnte.

»Es ist doch einfach so«, ergriff Johanna bald schon wieder das Wort. »Ich glaube, dass Maruch weggelaufen ist, weil sie Angst hat. Dieser Kerl hat getobt wie ein Wahnsinniger, als sie es wagte, ihn mit einem Stein zu bewerfen. Ich fürchte, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat, wird er nach ihr suchen lassen. Deshalb versteckt sie sich irgendwo bei ihren Leuten. Ich finde, dass wir es ihr schuldig sind, dafür zu sorgen, dass sie ihre Arbeit hier nicht aufgeben muss.«

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, um die Wirkung ihrer Worte abzuwarten. Anavera aß weiter, als habe sie nichts verstanden. Der Vater hatte nachdenklich die Stirn gerunzelt und Heinrich schüttelte den Kopf.

»Die Indios werden nicht umsonst für gefährlich gehalten. Wir hören täglich Geschichten von den Gräueltaten der Aufständischen, die sich im Dschungel verbergen. Sie haben schon zweimal diese Stadt überfallen und alle anständigen Leute niedergemetzelt.«

»Das war vor über zwanzig Jahren«, widersprach Johanna sofort. »Maruch war damals noch gar nicht geboren. Mit diesen Aufständischen hat sie sicher nichts zu tun, sonst würde sie nicht für uns arbeiten. Die Indios alle in einen Topf zu werfen ist doch ebenso ungerecht, wie uns als Besetzer zu bezeichnen, nur weil wir derselben Nation angehören wie Kaiser Maximilian.«

Kornelia erblickte ein amüsiertes Grinsen auf dem Gesicht ihres Vaters, dem es stets gefiel, wenn seine ältere Tochter sich in Rage redete. Heinrich hingegen warf ihr einen strengen Blick zu.

»Ein junges Mädchen, das keine Ahnung von Politik hat, sollte nicht über Kaiser Maximilian urteilen und auch sonst keine so wichtigtuerischen Reden schwingen«, wies er Johanna zurecht, die ihn wütend anfunkelte.

»Vielleicht sollten wir jetzt einfach in Ruhe essen«, mischte sich der Vater ein. »Falls Maruch nicht wiederkommt, wird uns gar nichts anderes übrig bleiben, als eine neue Muchacha einzustellen. Oder willst du die ganze Gegend nach ihr absuchen?«

Er warf Johanna einen leicht spöttischen Blick zu. Sie antwortete nicht, sondern stocherte in ihren Knödeln herum. Ein trotzig entschlossener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht und Kornelia überlegte, dass es ihrer Schwester durchaus zuzutrauen war, die Stadt nach einer verschollenen Indianerin zu durchforsten, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hatte.

»Kornelia hat einen hervorragenden Schweinebraten gemacht«, sagte Heinrich. »So gut habe ich nicht mehr gegessen, seit ich die Heimat verlassen habe.«

Sie lächelte ihn dankbar an, denn es kam selten vor, dass sie für irgendetwas gelobt wurde.

Der Rest des Abends verlief recht friedlich. Johanna wies darauf hin, dass eine Vitrine im Laden zerschossen worden war und sie nicht genug Geld hatten, diese zu ersetzen. Sie würden zunächst einmal ohne auskommen müssen. Da niemand widersprach, hatte sich das Thema recht schnell erledigt. Danach erzählte Heinrich von der weiterhin sehr unerfreulichen Lage in Villa Carlotta. Die meisten der Siedler hatten das Land bereits verlassen, als Kaiser Maximilian gestürzt worden war, und die Verbliebenen kämpften ums tägliche Überleben, denn die Ernten fielen spärlich aus und die Einheimischen waren feindselig geworden. Die Angst vor Überfällen aufständischer Indianer lag wie ein dunkler Schatten über ihrem Dasein. Heinrichs Eltern hatten keine Wurzeln in der Fremde gefasst, doch es fehlte ihnen das nötige Geld, um die Rückreise zu bezahlen.

»Wenn es nicht anders geht, könnt ihr hier natürlich einziehen«, bot der Vater großzügig an, obwohl Anavera das Gesicht verzog. Kornelia verstand ihren Unwillen, das kleine Haus mit noch mehr Leuten vollzustopfen. Sie selbst hätte Heinrich natürlich gern hier gehabt, aber sie wusste, welche Pläne er wirklich hegte. Zufrieden nippte sie an dem italienischen Wein, der zu Ehren des Geschäftspartners geöffnet worden war. Wohlige Entspannung zog durch ihren Körper. Auf einmal schien die warme Abendluft angenehm und die Musik, die durch das geöffnete Fenster hereindrang, verführte ihre Füße zu wippenden Bewegungen. Vielleicht war Mexiko sogar ein schönes Land, wenn man dort nicht den Rest seines Lebens verbringen musste.

Als sich alle Bewohner des Hauses schlafen gelegt hatten, schlang sich Kornelia einen Schal um die Schultern und schlich in den Patio, wo Heinrich auf sie wartete. Seit etwa einem Jahr trafen sie sich dort heimlich, denn er wollte ihr Verlöbnis erst bekannt machen, wenn er genug Geld gespart hatte, um seiner Braut eine Zukunft zu bieten.

Kornelia sah einen samtschwarzen, mit leuchtenden Sternen übersäten Himmel über sich. Die immer noch warme, aber nicht mehr drückende Luft schmeckte würzig und weich. Hatte ihre Schwester sich deshalb in Mexiko verliebt, weil es in einigen Momenten einem irdischen Paradies gleichen konnte? Sobald der Schleier der Schönheit fortgerissen wurde, kam ein gesetzloses, barbarisches, blutgetränktes Land zum Vorschein.

»Da bist du endlich «, hörte sie Heinrich rufen und wurde von seinen Armen umschlungen, bevor sie ein Wort sagen konnte. Er roch nach den Zigarren, die er gemeinsam mit ihrem Vater geraucht hatte, nachdem die Frauen bereits ins Bett geschickt worden waren. Kornelia vergrub ihre Finger in seinem hellblonden Haar, das so viel weicher war als die dunklen Borsten der Mexikaner.

»Du hast mir gefehlt«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Dann küssten sie sich wie bei jedem ihrer Treffen. Kornelia wusste, dass sie mehr nicht zulassen durfte und Heinrich hatte sie nie bedrängt. Nun drückte er sie gegen die Mauer des Hauses und begann, ihren Hals mit raschen, zarten Bissen zu bedecken.

»Ich habe dich auch vermisst. Ich kann mir kaum vorstellen, wie ich es länger ohne dich aushalten soll.«

Kornelia lachte vor Glück.

»Das musst du doch nicht. Wir sehen uns regelmäßig und bald schon … wie lange glaubst du, wird es noch dauern? Ist die Schiffsreise nach Deutschland wirklich so teuer? Ich würde es auch im Unterdeck aushalten, keine Sorge. Wenn ich nur weiß, dass ich wieder nach Hause komme.«

Heinrich schob sie von sich weg. Im Mondlicht erkannte sie seine sorgenvolle Miene und schämte sich, ihn derart gedrängt zu haben.

»Es gibt etwas, das ich dir sagen muss«, begann er mit belegter Stimme. Ihr Magen verkrampfte sich. Vielleicht gab es eine andere Frau in seinem Leben, eine, die so tüchtig zupacken konnte wie Johanna und daher die geeignete Gefährtin für einen einfachen Siedler in der Wildnis wäre. Kornelia hatte stets gewusst, dass sie im Vergleich zu ihrer Schwester nutzlos war, ein hübsches Mädchen, das einigermaßen kochen konnte, aber ängstlich davon lief, sobald das Leben ihr mehr zumutete, als sie ertragen konnte. Johanna spottete über ihre Eitelkeit, doch ihr liebreizendes Äußeres war alles, was sie zu bieten hatte. Zumindest in Mexiko, wo blonde Frauen mit blauen Augen selten waren. Johanna war keineswegs hässlicher als sie, auch wenn sie fast schon stolz darauf schien, sich das ständig einzureden. Mit ihrem dunklen Haar fiel sie in diesem Land nur weniger auf.

»Meine Familie und ich, wir werden eine Schiffsreise machen«, begann Heinrich. »Aber nicht nach Hamburg, sondern nach New York.«

Der Patio begann vor Kornelias Augen zu verblassen, als radiere jemand eine Zeichnung aus. Sie war sich nicht sicher, ob all das nicht ein merkwürdiger Traum war.

»Aber … wieso? Du wolltest in die Heimat und mich mitnehmen.«

»Ich wollte in erster Linie von hier weg, weil ich in Yucatán keine Zukunft für mich sehe.«

Er strich sanft über ihre Wange, aber es war eine Berührung, mit der aufgebrachte Kinder getröstet wurden.

»Es gab doch Gründe, warum wir damals Österreich verlassen haben. So schön, wie du es dir stets vorstellst, war es dort nicht.«

»Ich war erst dreizehn, als meine Eltern aufbrachen«, widersprach Kornelia. »Niemand fragte mich, ob ich gehen will. Ich liebte unser Dorf und die Berge und …«

»Unsere Familien hatten alle ein winziges Stück Land, gepachtet vom Baron«, unterbrach Heinrich nun entschieden. »Bei dem Geld, das er uns dafür abnahm, blieb kaum etwas übrig, um unsere Mägen zu füllen. Weder dein Vater noch meiner hatten irgendeine Möglichkeit, im Leben voranzukommen. Deshalb nahmen wir die Chance wahr, es in der neuen Welt zu versuchen.«

»Und was habt ihr Männer hier erreicht?«, fragte Kornelia. »Mein Vater hat ein Mädchen mit einem Laden geheiratet, nachdem meine Mutter gestorben war. Das wäre ihm in der Heimat vielleicht auch gelungen. Und du sitzt mit deinen Leuten in einem Dorf im Dschungel und kämpfst ums Überleben!«

»Yucatán war eine Sackgasse«, stimmte Heinrich ihr zu. »Die Mexikaner haben unseren Maximilian davon gejagt, aber die neue Regierung dieses studierten Indianers Benito Juárez mit vielen schönen Ideen kann nicht für Ordnung sorgen. In den Vereinigten Staaten sieht es anders aus. Das ist ein zivilisiertes, modernes Land, in dem ein tüchtiger Mann es weit bringen kann.«

Kornelia wollte schreien, aber ihr fehlte die Kraft. Stets wurde über ihren Kopf hinweg entschieden und niemand kümmerte sich darum, wie unglücklich sie war.

»Du gehst also weg«, flüsterte sie und spürte Tränen in ihrer Kehle würgen. »Mit deiner Familie. Und mich lässt du hier einfach verrotten!«

Er zog sie nochmals an sich und sie ließ es geschehen, weil ihr Körper wie gelähmt war.

»Ich habe nicht genug Geld, um auch deine Reise zu bezahlen«, flüsterte Heinrich ihr ins Ohr. »Meine Eltern kann ich nicht zurücklassen, meinen kleinen Bruder auch nicht. Sie würden verhungern. Dein Vater wird die Überfahrt für dich auch nicht finanzieren können. Bitte warte, bis ich dich holen kann.«

Kornelia stieß ihn empört von sich.

»Warten soll ich! Immer nur warten! Wie lange denn? Jahre? Jahrzehnte? Warum wartest du nicht und sparst weiter, bis du mich mitnehmen kannst?«

»Weil ich ein hervorragendes Angebot bekommen habe«, antwortete Heinrich. »Ein Amerikaner, den ich in Sisal kennengelernt habe, will mir eine Chance in seinem Handelshaus geben, wenn ich ihn in seine Heimat begleite. Ich hätte ein regelmäßiges Gehalt, von dem ich meiner Familie eine vernünftige Unterkunft zahlen kann. Irgendwann hole ich dich und zeige dir, wo unsere Kinder aufwachsen werden.«

Er versuchte, Kornelia wieder zu umarmen, aber sie entzog sich ihm.

»Und wann wird das sein?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er leise. »Ich werde tun, was ich kann und flehe dich an, Geduld zu haben.«

Kornelia spürte die Tränen auf ihren Wangen, während ihr Traum, an den sie sich in den letzten Monaten geklammert hatte, zu Scherben zerschossen wurde wie die Vitrine im Laden.

»Ich werde darüber nachdenken, ob ich auf dich warten soll oder nicht«, sagte sie in der Absicht, ihn so leiden zu lassen, wie sie selbst litt. »Aber sobald ein anderer Mann kommt, der mich nach Hause bringt, bin ich weg!«

Ohne auf sein fassungsloses, tief gekränktes Gesicht zu achten, rannte sie ins Haus zurück, um sich auszuweinen. Da sie Johanna nicht wecken wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als in der Küche neben dem Ofen zu kauern. Am liebsten hätte sie die Reste des mühevoll zubereiteten Schweinebratens dem nächsten Bettler auf der Straße vor die Füße geworfen, aber sie wusste, dass sie sich eine derartige Verschwendung nicht erlauben durfte.

2. Kapitel

Johanna zog ihren Strohhut tiefer in die Stirn, um sich vor der sengenden Sonne zu schützen. Wahrscheinlich hätte sie ihren Sonnenschirm mitnehmen sollen, aber es war ihr zu umständlich erschienen, ihn herumzuschleppen. Das erbarmungslos grelle Mittagslicht flirrte vor ihren Augen und ließ die sonst sehr kräftigen Farben der Stadt verschwimmen. Es waren nicht viele Menschen unterwegs, obwohl es Sonntag war, denn die Augusthitze ließ alle Bewohner Valladolids in schattige Höfe flüchten. Auf dem Zocalo thronte die von Palmen umgebene, hellgraue Kathedrale San Servacio als prächtigstes Bauwerk der Stadt. Um die viereckige Plaza gruppierten sich in bunter Farbenpracht die Häuser der angesehensten Familien der Stadt. Von Arkaden durchbrochene Mauern schenkten mitunter Einblick auf Bruchstücke der großen Patios mit plätschernden Springbrunnen, blühenden Grünanlagen und Schaukelstühlen. Auch der Platz selbst war gepflegter als der Rest der Stadt, obwohl die Spuren der Indianerüberfälle noch zu sehen waren. An den Fassaden bröckelte der Putz, wo Löcher in die Wände geschossen worden waren, und Gras wucherte zwischen herausgerissenen Pflastersteinen. Die Angst vor einem neuen Angriff schien auch die reichen Familien in Apathie fallen zu lassen, daher hatte man noch keine gründliche Renovierung vorgenommen. Dennoch waren Bänke unter den Bäumen aufgestellt worden, auf denen Leute in der Hitze dösten. Ein paar Händler saßen mit schläfriger Miene im Schatten des Gotteshauses, hoben nur gelegentlich die Hand, um lästige Fliegen zu verjagen. Vor ihnen lag, wie ein Teppich ausgebreitet, ein Meer an Farben: tiefrote Granatäpfel, riesige, grüne Melonen, orange-gelbe Mangos, frisch gepflückte Bananen und feurige Chilibohnen. Johanna erinnerte sich, dass ihr Mexiko unmittelbar nach der Ankunft vor sechs Jahren wie ein irdisches Paradies vorgekommen war, in dem die Gaben Gottes zum Zugreifen bereitlagen. Inzwischen wusste sie, wie viel Elend und Gewalt sich hinter all dieser Pracht verbargen. Aber wenn völlig unvermittelt Bilder von traumhafter Schönheit vor ihr auftauchten, merkte sie immer wieder, wie sehr sie dieses Land bereits in ihr Herz geschlossen hatte.

Er wartete vor dem Eingang der Kathedrale, wie er in seiner kurzen Nachricht versprochen hatte. Während der Siesta konnte sie sich unauffällig davonschleichen, da ihr Vater und Anavera im Bett lagen. Auch Kornelia hatte seit dem letzten Besuch von Heinrich eine Neigung zur Schläfrigkeit entwickelt und zog sich bei jeder Gelegenheit zurück. Johanna hatte ihr bestes Sommerkleid aus beigefarbenem Leinen angezogen und sogar Spitzenhandschuhe, obwohl das bei dieser Hitze unangenehm war. Dennoch fühlte sie sich schäbig, als sie Carlos Mendez in seinem blütenweißen Hemd und der dunklen Weste erblickte. Als Mexikaner sah er auch unter sengender Sonne unverändert gut aus, während sie selbst wahrscheinlich schon ein paar rote Flecken im Gesicht hatte.

»Señorita Schneider, es ist mir eine Ehre!«

Sie streckte ihm die Hand entgegen, die er kurz drückte. Sie war ihm dankbar, dass er keinen Handkuss versuchte, denn das hätte sie albern gefunden.

»Sie wollten mich dringend sprechen?«, fragte sie, um zum Thema zu kommen.

»Würden Sie mir gestatten, Sie zu einem Kaffee einzuladen?«, fragte Carlos Mendez lächelnd. Johanna nickte nach kurzem Zögern, denn sie sah ein, dass ein längeres Gespräch besser im Sitzen an einem schattigen Ort geführt werden sollte.

Das Kaffeehaus lag in einer Seitenstraße und gehörte zu den Lokalen, die sich Johanna niemals hätte leisten können. Im Grunde war sie noch nie in einem öffentlichen Lokal gewesen, da das in ihrer Familie nicht üblich war und es zudem ihrem Sinn für Sparsamkeit widersprach. Sie musterte die weichen, gepolsterten Stühle, die weißen Spitzendecken und die geblümte Tapete. Kornelia hätte sich auf den ersten Blick in diesen Raum verliebt und Johanna konnte nicht leugnen, dass er ihr ebenfalls gefiel. Nur kam sie nicht gegen das Gefühl an, nicht hierher zu gehören.

Zum Glück gab es um diese Tageszeit kaum Gäste, sodass sie sich nicht für ihr Äußeres zu schämen brauchte. Die mit Spitze, Stickerei und Schleifen verzierten Kleider der reichen Kreolinnen hatte sie manchmal aus der Ferne gemustert und war sich vorgekommen wie eine Schmeißfliege neben prächtigen Schmetterlingen.

Carlos Mendez rückte den Stuhl für sie zurecht und sie setzte sich. Ein arrogant dreinblickender Kellner kam, um die Bestellung aufzunehmen. Johanna hoffte, dass der Kaffee schnell getrunken wäre, denn sie fühlte sich nicht besonders wohl an diesem Ort. Der junge Mann ihr gegenüber schien hingegen perfekt hineinzupassen, fast wie ein Teil der Einrichtung.

»Ich wollte Ihnen nochmals mein Bedauern aussprechen«, begann er. »Das Benehmen meines Freundes war unverzeihlich.«

Johanna konnte nur nicken, jeder höfliche Widerspruch wäre allzu heuchlerisch gewesen. Manchmal raubte die Erinnerung an den Mann, der wutentbrannt seine Pistole auf sie gerichtet hatte, ihr nachts noch den Schlaf.

»Es gibt keinen Grund, warum Sie sich entschuldigen müssten«, sagte sie schließlich. Sein einziges Vergehen hatte darin bestanden, die falschen Freunde zu haben, doch eigentlich musste sie ihm dafür dankbar sein. Ohne sein Eingreifen wäre sie jetzt tot.

»Miguel ist …« Er scharrte unter dem Tisch mit dem Fuß. Der Kellner erschien und stellte schweigend die Kaffeetassen vor ihnen ab. Johanna atmete den Duft von Zimt ein, mit dem Mexikaner das Getränk manchmal würzten.

»Miguel ist sehr starrsinnig«, fuhr Carlos schließlich fort, nachdem sich der Kellner wieder entfernt hatte. »Wenn er zu viel getrunken hat, kann er aufbrausend werden. Und er ist es nicht gewöhnt, dass ihm jemand widerspricht.«

Johanna nahm es hin, denn es war eine recht akkurate Beschreibung eines verwöhnten, reichen jungen Herrn. Sie wusste, dass sie keine Entschuldigung von Miguel Almaviva erwarten konnte, und dass es völlig sinnlos gewesen wäre, Schadenersatz für die zerschossene Vitrine zu verlangen. Im Grunde konnte sie von Glück reden, dass er sie nicht weiter terrorisierte, denn als Sohn eines der reichsten Großgrundbesitzer der Stadt hätte er alle Möglichkeiten gehabt, ihrer Familie das Leben zur Hölle zu machen.

Nun sah sie, wie Carlos in die Tasche seiner Hose griff und einen Umschlag heraus zog, den er so unauffällig wie möglich über den Tisch schob.

»Dies soll ein kleines Entgegenkommen sein für den Schaden, den wir angerichtet haben.«

Johanna riss staunend die Augen auf. Er selbst hatte doch gar nichts getan! Unter dem Tisch öffnete sie den Umschlag, denn es schien ihr unpassend, ihn einfach einzustecken. Ein ganzer Stapel an Dollarscheinen tauchte auf und sie meinte, sich in einen Traum verirrt zu haben. Freude mischte sich mit Unbehagen. Obwohl es ihr peinlich war, die Scheine in der Öffentlichkeit zu zählen, ahnte sie, dass sie davon mindestens zehn Vitrinen würden zahlen können. Einen größeren Wagen für den Transport der Ware aus Sisal. Ein paar neue Kleider, die Kornelia vielleicht aus ihrer Schwermut reißen würden. Ihr Herz tat mehrere Sprünge. Aber die Vorstellung, eine solche Summe von einem Mann anzunehmen, der das Unglück nicht einmal selbst verursacht hatte, widerstrebte ihr, denn sie schmeckte faul. Schweren Herzens zog sie zehn Dollar heraus und schob den Umschlag wieder zurück.

»Ich habe mir genommen, was wir für die Vitrine brauchen. Es ist sehr großzügig von Ihnen, uns derart entschädigen zu wollen, aber nötig ist es nicht.«

Die Entschlossenheit, die sie in ihre Stimme gelegt hatte, schien ihn zu verunsichern, denn seine Gesichtszüge entglitten ihm ein wenig.

»Ich hoffe, Sie haben mich nicht missverstanden«, murmelte er, den Blick auf die Tischdecke gerichtet. »Es war nicht meine Absicht, Sie zu beleidigen.«

Johanna staunte über so viel Niedergeschlagenheit und empfand plötzlich den Wunsch, ihn zu trösten wie eine Mutter ihren unartigen, reumütigen Sohn.

»Ich habe nichts missverstanden.«

Tatsächlich wurde ihr erst jetzt bewusst, welchen Eindruck es machen konnte, wenn sie von einem reichen, jungen Herrn so viel Geld annahm. Sie achtete allgemein zu wenig darauf, was die Leute redeten, wie Kornelia ihr immer wieder vorwarf.

»Es ist nur so, dass wir mit unserem Laden gut über die Runden kommen. Alles, was wir brauchen, ist eine neue Vitrine.«

Sie lächelte ihn aufmunternd an. Zwar hatte er sie wie eine Almosenempfängerin behandelt, doch war es gut gemeint gewesen. Nun überlegte sie, wie sie dieses Treffen versöhnlich beenden konnte, denn sie wollte wieder im Haus sein, wenn ihr Vater und Anavera aufstanden. Es gab nichts, das sie mit dem Spross einer reichen Familie verband, obwohl sie zugeben musste, dass er ihr unerwartet sympathisch war. Eine privilegierte Herkunft musste nicht immer derart den Charakter verderben, wie es bei Miguel Almaviva offenbar der Fall war.

»Meine Freunde und ich, wir waren zusammen auf einer Feier und hatten zu viel getrunken«, begann er nun überflüssigerweise zu erzählen. »Javier de la Rocha war wirklich sehr angetan von Ihrer Schwester, die er kurz in der Stadt gesehen hatte.«

»Ich weiß. Kornelia ist ein hübsches Mädchen«, erwiderte Johanna. »Doch war die Art, wie er in unserem Laden auftrat, nicht unbedingt dazu geeignet, ihre Zuneigung zu gewinnen.«

Wieder senkte er den Blick, als hätte sie ihn verlegen gemacht.

»Natürlich nicht. Wie gesagt, wir waren betrunken und was Miguel tat …«

Er räusperte sich und rückte mit seinem Stuhl näher an den Tisch heran.

»Wenn es noch etwas gibt, das ich für Sie tun kann, so sagen Sie es bitte«, bot er ihr leise an. Sein Blick erinnerte Johanna an einen treuherzigen Hund und sie fand, dass er es mit seiner Güte allmählich übertrieb. Es war das Gesetz der Welt, dass die Reichen mit den Armen umspringen konnten, wie es ihnen gefiel. So hatte sie es bereits in ihrer Heimat kennengelernt und alle Hoffnungen, dass es in der neuen Welt anders aussehen könnte, hatten sich als trügerisch erwiesen. Nun war es an der Zeit, sich freundlich zu verabschieden. Der Kaffee war köstlich gewesen, sie hatte das Geld für eine neue Vitrine und Carlos Mendez sollte in seine Welt der zügellosen Feiern zurückkehren.

Doch als sie vorschlagen wollte, aufzubrechen, fiel ihr ein, was dieser reiche Jüngling wirklich für sie tun konnte. Etwas, das nur ein Mensch vermochte, der über Einfluss und Geld verfügte und ein Freund von Miguel Almaviva war. Sie beugte sich vor und sprach bewusst leise, um von keinem der Kellner verstanden zu werden.

»Unsere Dienstmagd, die Ihren Freund mit einem Stein beworfen hat, ist seitdem verschwunden.«

Er nickte mit einem verwirrten Blick.

»Ich vermute, dass sie Angst hat, dass er Männer auf sie ansetzt, um sie zu strafen«, fuhr Johanna fort. Carlos zeigte sich nicht sonderlich überrascht.

»Das wäre verständlich«, erwiderte er. »Ein solches Verhalten kann bei einer India nicht geduldet werden.«

Johanna fühlte, wie ihre Sympathien für ihn zu schwinden begannen. Er war doch nichts weiter als ein verwöhnter Knabe, der nichts vom wahren Leben verstand.

»Sie tat es nur, um mir zu helfen! Sie ist eine sehr tüchtige Arbeitskraft, klug und lernwillig. Wir werden schwer angemessenen Ersatz finden.«

»In dem Fall ist sie in der Tat eine sehr ungewöhnliche India«, meinte er nach kurzem Überlegen. »Die meisten von ihnen sind faul und verschlagen.«

»Ich möchte, dass sie zurückkommen kann, ohne Angst haben zu müssen«, sagte Johanna mit Nachdruck. »Bringen Sie Ihren Freund bitte dazu, dass er sie in Frieden lässt. Mehr will ich nicht.«

Er musterte eindringlich ihr Gesicht, dann die Tischdecke und schließlich die geblümte Tapete, als würden Gedanken durch seinen Kopf wandern. Mit einer solchen Bitte hatte er offenbar nicht gerechnet.

»Ja«, meinte er schließlich. »Ich denke, das kann ich veranlassen. Aber …«

Er legte beide Hände auf den Tisch und lächelte sie an.

»Ich habe eine Bedingung.«

Johanna runzelte die Stirn.

»Welche?«

»Ich möchte, dass Sie sich nächsten Sonntag wieder auf einen Kaffee mit mir treffen.«

Jetzt blieb ihr der Mund offen stehen und sie fühlte sich, als hätte sie bei einem Kartenspiel nach einer Glückssträhne unerwartet verloren.

»Warum?«

»Einfach so. Weil ich mich gerne mit Ihnen unterhalte.«

»Worüber denn?«

Johanna wippte mit dem Fuß. Dieser Kreole begann, ihr auf die Nerven zu fallen.

»Sie scheinen mir interessant. Ich möchte zum Beispiel wissen, wie Sie als Deutsche nach Mexiko gekommen sind.«

»Ich bin keine Deutsche, sondern Österreicherin«, stellte sie die Dinge klar. Die meisten Mexikaner konnten beide Länder kaum auseinanderhalten und auch Carlos Mendez sah etwas verwirrt aus.

»Nach Yucatán kamen wir auf einem Schiff«, setzte sie ihre Erklärung schnippisch fort. »Wir sind nicht über den Ozean geschwommen.«

Er lächelte wieder, diesmal weder höflich noch verlegen, sondern einfach amüsiert.

»Sie sind schlagfertig. Das gefällt mir.«

»Ich bin auch sehr beschäftigt. Nächsten Sonntag muss ich wahrscheinlich im Laden helfen.«

»Hat er da nicht geschlossen?«

Sie seufzte. Der nette Welpe zeigte plötzlich scharfe Zähne.

»Für Ladenbesitzer gibt es auch Arbeit, wenn der Laden geschlossen hat. Aber das weiß man nur, wenn man in einem arbeitet.«

Sein Lächeln wurde noch breiter, als hätte er den Seitenhieb nicht wahrgenommen.

»Dann in zwei Wochen.«

»Das geht nicht.«

»Also in drei. Irgendwann brauchen auch fleißige deutsche … Verzeihung … österreichische Mädchen eine Verschnaufpause.«

Johanna knurrte innerlich. Ihr erster Eindruck, es mit einem harmlosen, netten Knaben zu tun zu haben, war nicht ganz richtig gewesen. Aber nun ging es um Maruch.

»Also gut. In drei Wochen bin ich zur selben Zeit vor der Kathedrale. Dann möchte ich hören, dass unserem Dienstmädchen keine Gefahr mehr droht.«

Er nickte.

»Sie sind geschickt im Verhandeln. Ihr Vater ist sicher stolz auf Sie«, sagte er, als den Kellner herbeiwinkte, um die Rechnung zu bezahlen. »Ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.«

Vor dem Kaffeehaus küsste er ihre Hand, verneigte sich dann kurz und war verschwunden. Johanna stand noch eine Weile verdattert da. Dieser junge Mann war gutaussehend, reich und konnte sich liebenswert zeigen, wenn ihm der Sinn danach stand. Mit Sicherheit gab es genug wunderschöne Frauen in der Stadt, die sich mit Freuden mit ihm verabredet hätten, aber er hatte sie geradezu erpresst, um ein Wiedersehen zu ermöglichen. Völlig gegensätzliche Gefühle rangen in ihrem Inneren miteinander. Sie war wütend, derart in die Ecke gedrängt worden zu sein, verwirrt, weil sie das Verhalten von Carlos Mendez nicht verstehen konnte, fühlte sich aber auch ein wenig geschmeichelt. In drei Wochen würde sie vielleicht herausbekommen, was er wirklich von ihr wollte, doch im Augenblick gab es keinen Weg, das Rätsel zu lösen.

Sie rückte ihren Hut zurecht und machte sich auf den Heimweg. Beim nächsten Treffen würde sie überzeugende Beweise dafür verlangen, dass Maruch keine Gefahr mehr drohte. Sie wusste, dass es keine völlige Sicherheit geben konnte, aber im Grunde erschien dieser junge Mann ihr vertrauenswürdig. Die Erinnerung an seine dunklen Augen, die manchmal verlegen dreinblickten, dann wieder unerwartet dreist, begleitete sie, als sie über den Zocalo schritt. Es war das Fremde, das ihr an seinem Gesicht gefiel. Jene Züge, die er mit Maruch gemein hatte. Dabei waren die Kreolen von Valladolid von rein europäischer, meist spanischer Abstammung. Aber vielleicht sahen die Menschen im Süden Spaniens ebenfalls so aus.

Carlos wartete, bis die Señorita Schneider in einer Straße verschwunden war, die weg vom Zocalo führte. Dann trat er den Weg zu der Taverne an, in der er mit Miguel und Juan verabredet war. Mit einem Gefühl des Triumphes warf er den Umschlag auf den Tisch.

»Sie hat zehn Dollar für die Vitrine genommen. Mehr nicht.«

Miguel verzog das Gesicht.

»Du hast es nicht richtig angestellt. Wahrscheinlich hat sie gar nicht begriffen, was für ihre Familie dabei herausspringen könnte. Hast du ihr denn überhaupt klar gemacht, dass Javier ihre Schwester wirklich gerne sehen möchte? Und dass dann mit noch mehr Geld zu rechnen ist?«

»Nein, das habe ich besser bleiben lassen.«

Carlos setzte sich und nippte an seinem Glas Pulque. Obwohl sie sich alle drei europäischen Wein hätten leisten können, verband sie eine Vorliebe für das Rauschgetränk der einfachen Leute ihrer Heimat. »Sie hätte mir den Kaffee ins Gesicht gekippt und wäre nach Hause gerannt«, erklärte er sein Verhalten. Bei der Vorstellung, Johanna Schneider derart in Rage zu bringen, musste er lächeln.

Javier zuckte nur mit den Schultern, aber Miguels Miene war finster geworden.

»Diese Mädchen werden schon noch begreifen, wer in diesem Land das Sagen hat«, knurrte er. Carlos klopfte ihm zur Beruhigung auf die Schulter.

»Das sind europäische Siedler, fleißig und grundanständig. Warum lassen wir sie nicht einfach in Ruhe?«

»Eine Frau wie die Alemána mit den Goldlocken gibt es in Valladolid kein zweites Mal«, sagte Javier mit einem Hauch von Bedauern, als hätte er sich bereits damit abgefunden, dass sie für ihn unerreichbar war.

»Und ein so dreistes Weib wie ihre Schwester ist mir noch nie untergekommen«, fügte Miguel hinzu. Carlos beschloss, das Thema zunächst nicht weiter zu verfolgen. Miguel war von seinem Vater ermahnt worden, als sich herumgesprochen hatte, dass er die Tochter des österreichischen Ladenbesitzers angegriffen hatte. Laut Señor Almaviva gab es gewisse Grenzen, die ein Mann von Ehre einzuhalten hatte, wenn es sich um zivilisierte Menschen und nicht um Wilde aus dem Dschungel handelte. Vermutlich hasste Miguel Johanna Schneider nun umso mehr, weil sie ihm eine jener väterlichen Standpauken eingebrockt hatte, die er als unerträglich demütigend empfand. Aber er würde sich mit der Zeit schon beruhigen und sich eine andere Leidenschaft suchen, wie es eben seine Art war. Es galt nur noch, eine Kleinigkeit zu regeln.

»Diese wilde Muchacha haben sie übrigens entlassen«, redete er weiter. »Auch die Deutschen haben begriffen, dass es zu gefährlich wäre, mit ihr unter einem Dach zu leben. Sie ist in ihr Heimatdorf zurückgekehrt, irgendwo im Dschungel. Es hat keinen Sinn, nach ihr zu suchen.«

Aus den Augenwinkeln beobachtete er Miguels Reaktion. Wegen Javier machte er sich keine Sorgen, der war ein gutmütiger, nur manchmal zügelloser Kerl. Aber in Miguel schlummerte etwas Finsteres, Rachsüchtiges, das in jenen Augenblicken, in denen es an die Oberfläche schwappte, fast Angst einflößend war.

»Es ist ja auch kaum möglich, diese Äffinnen voneinander zu unterscheiden«, murmelte Miguel nur, was Carlos als erfreuliches Zeichen auffasste, dass er keine Suchaktion veranstalten würde. Das Mädchen konnte jederzeit zurückkehren, er hätte sie ja selbst nicht auf der Straße wiedererkannt.

»Lasst uns zu Doña Carmen gehen, wenn wir ausgetrunken haben. Die hat wieder neue Mädchen, habe ich gehört«, schlug Javier vor, als wolle er sich durch den Besuch eines Bordells von seiner hoffnungslosen Leidenschaft für eine tugendhafte Österreicherin ablenken. Carlos nickte zustimmend, denn er hoffte, ein oder zwei Freudenmädchen könnten auch dazu beitragen, Miguels Stimmung zu heben. Ihm selbst gefiel die Vorstellung, den Tag so ausklingen zu lassen, ebenfalls, auch wenn diese Krämerstochter ihm noch im Kopf herumspukte. Ihr nächstes Treffen hielt er lieber vor den Freunden geheim, obwohl ihm nicht ganz klar war, warum. Bisher hatten sie fast alles miteinander geteilt. Doch während der Unterhaltung im Kaffeehaus hatte ihn das Gefühl beschlichen, etwas Kostbares in greifbarer Nähe zu haben, das er vor Miguels’ Sarkasmus und Javiers dümmlichem Grinsen schützen wollte. Er hatte noch nie eine Frau gesehen, die sich einem bewaffneten Kerl in den Weg stellte, war aber auch noch nie von einem jungen Mädchen so forsch und schroff angeredet worden wie gerade eben im Kaffeehaus. All dies machte Johanna Schneider zu einem nicht unbedingt gefälligen, aber faszinierenden Wesen, das er näher kennenlernen wollte. Allerdings mochte die Österreicherin ihn offensichtlich nicht besonders, urteilte ebenso hart über ihn wie über seine Freunde. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal zum nächsten Treffen erscheinen, denn so wichtig konnte ihr eine indianische Dienstmagd doch nicht sein. Er nahm einen weiteren Schluck Pulque und freute sich auf den bevorstehenden Bordellbesuch.