Die Heilkunst - Hippokrates - E-Book

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Hippokrates

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Beschreibung

Was kann die Medizin? Und wo liegen ihre Grenzen? Wie soll der Arzt am Krankenbett auftreten? Warum und für wen ist die Prognose so wichtig? Welche Beziehungen bestehen zwischen Gesundheit/Krankheit und Umwelt/Klima? Solche Fragen wurden schon in der Antike erörtert: später schrieb man alle diese Texte gern dem legendenumwobenen griechischen Arzt Hippokrates (2. Hälfte 5. Jh. v. Chr.) zu, dessen Eid bis heute nachwirkt. Der Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven hat die interessantesten dieser Texte ausgewählt und reich kommentiert – es ergibt sich ein neuer Zugang zur antiken Medizin, die in mancher Hinsicht fremdartig, mal aber auch faszinierend aktuell wirkt.

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Hippokrates

Die Heilkunst

Aus dem Griechischen übersetzt von Hans Diller

Ausgewählt, herausgegeben und mit einer Einleitung und Erläuterungen versehen von Karl-Heinz Leven

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverabbildung: Der Heilgott Asklepios heilt eine Frau im Schlaf; hinter dem Gott seine Tochter Hygieia, die personifizierte Gesundheit; Marmorrelief, Athen, 4. Jh. v. Chr. (Archäologisches Museum Piräus; akg-images / De Agostini Picture Lib. / G. Dagli Orti). Buchrückseite: Der Schweizer Maler Ferdinand Hodler hat in dem Gemälde 1915 das Gesicht seiner sterbenden Geliebten Valentine Godé-Darel verewigt, eine sog. facies Hippocratica; s. dazu S. 69 f.

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961883-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019694-6

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

Hippokrates: eine Einführung

Hippokratische Schriften und Hippokrates-Roman

Echtheitskritik und der Anonymus Londinensis

Grundzüge der hippokratischen Medizin

Die griechische Medizin – eine selbstbewusste Kunst

Zu dieser Ausgabe

Texte und Erläuterungen

Medizin als »Kunst«: Grundzüge, Aufgaben, Lehrbarkeit

Innen und Außen: Körper und Säfte, Kosmos und Klima

Krankheitszeichen, sichtbare und unsichtbare Krankheiten

Prognostik

Grenzen der Medizin und Unheilbarkeit

Performance: Kollegen, Konkurrenten, Fehler

Ärztliche Praxis: im iatreion und am Krankenbett

Medizin und Magie: eine (un)heilige Krankheit

Zeugungslehren und Embryologie

Der Hippokratische Eid: Text, Tradition, Fiktion

Quellen und Literatur

Vorwort

Der Klang des Namens »Hippokrates« ist auch in der Moderne geeignet, feierliche Assoziationen zu wecken. Hippokrates (spätes 5. – frühes 4. Jahrhundert v. Chr.) und die ihm zugeschriebene Medizin, was auch immer darin jeweils gesehen wurde, sind niemals unmodern gewesen. Seit der griechischen Antike steht der Name für den Beginn einer wissenschaftlichen Heilkunde, der Arzt von der Insel Kos selbst gilt als »Vater der Medizin«, so die ehrerbietige Formel des römischen Enzyklopädisten Celsus (1. Jahrhundert n. Chr.) in seinem Handbuch De medicina (7,2). Im Mittelalter blieb Hippokrates in der byzantinischen, der arabischen und lateinischen Wissenschaft Leitstern einer Medizin, die unterdessen durch Galen von Pergamon (129 – um 210) inhaltlich und formal systematisiert und zu einer Art Vollendung gebracht worden war.

Es war der Hippokrates Galens, der solcherart weiterwirkte, aber als Galen nach einer Wirkungsgeschichte von mehr als einem Jahrtausend in der Renaissance »unmodern« wurde und in den Hintergrund trat, erlebte Hippokrates geradezu einen neuen Höhenflug. Ausgehend von den ersten gedruckten Ausgaben des Corpus Hippocraticum (1526), das damit überhaupt erst den Charakter einer abgeschlossenen Schriftensammlung annahm, blieb die »hippokratische Medizin« bis weit in die Neuzeit ein idealer Maßstab in Forschung, Lehre und am Krankenbett. Erst die Wende zur naturwissenschaftlichen Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versetzte Hippokrates in das abgegrenzte Reich der Medizingeschichte; einzig der Hippokratische Eid hat sich im 20. Jahrhundert in medizinethischen Diskursen behauptet und als wirkmächtig erwiesen. In der Erfahrung der NS-Medizinverbrechen schuf der Weltärztebund (World Medical Association) 1948 die Declaration of Geneva (Genfer Deklaration), die sich inhaltlich am Hippokratischen Eid orientiert und auch für deutsche Ärzte und Ärztinnen verpflichtend ist.1

Indem Hippokrates und seine Medizin um 1900 »historisch« wurden, erschloss sich für die Fächer Medizingeschichte und Klassische Philologie, ferner auch für die Arabistik ein weites Forschungsfeld, und es wird bis heute international bearbeitet. Die Werke der hippokratischen Medizin wurden seither zum größeren Teil in kritischen Ausgaben und neusprachlichen Übersetzungen, meist mit umfangreichen Kommentaren versehen, vorgelegt, und Werkverzeichnisse, Handbücher und Nachschlagewerke ermöglichen auch Ungeübten einen Zugang.2 Besonders hinzuweisen ist auf die von Gerhard Fichtner (1932–2012) vor einigen Jahrzehnten geschaffene Gesamtbibliographie des Corpus Hippocraticum, die zu jedem Werk die Editionen, Übersetzungen und weiterführenden Studien auflistet.3

Die hier vorgelegte kleine Textauswahl mit erläuternden Bemerkungen möchte einen Eindruck von der vielfältigen Thematik vermitteln und Interesse für eine vertiefte Beschäftigung mit der hippokratischen Medizin wecken. »Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang; der rechte Augenblick geht schnell vorüber«, so heißt es im ersten hippokratischen Aphorismus kurz und bündig, wie es sich für einen Aphorismus gehört – daher an dieser Stelle keine weitere Vorrede, aber ein kurzer Dank. Denn im Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg erfreute ich mich der steten und auf vielerlei Art hilfreichen Unterstützung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen: Ich danke insbesondere Robert Davidson, Fritz Dross, Michèle Fink, Angelika Kretschmer, Renate Rittner, Susanne Ude-Koeller und Marion Voggenreiter. Nadine Metzger ermunterte mich zu einer »Übung im schlauen Weglassen«, wie sie meine Aufgabe treffend charakterisierte. Ob das Ergebnis die Erwartungen erfüllt?

Gewidmet ist das Büchlein dem Andenken an meinen Lehrer und väterlichen Freund Eduard Seidler (1929–2020), Kinderarzt und Medizinhistoriker in Freiburg.

Karl-Heinz Leven

Hippokrates: eine Einführung

Der Arzt Hippokrates hat gelebt, dies ist gewiss durch ein Zeugnis Platons (428/427–348/347 v. Chr.), der etwa zwei Generationen jünger war als Hippokrates. Im Dialog Protagoras, dessen Handlung vor 429 v. Chr. spielt (geschrieben hat Platon den Text etwa fünfzig Jahre später), wird Hippokrates von Kos als ein Zeitgenosse des Sokrates (469–399 v. Chr.) erwähnt:

Noch vor Anbruch des Tages klopft es heftig bei Sokrates und herein stürmt der Jüngling Hippokrates, Sohn des Apollodoros. Er ist aufgeregt, weil der Sophist Protagoras von Abdera (um 485–415 v. Chr.) in Athen ist, was Sokrates aber schon weiß. Der junge Hippokrates ist begierig, bei Protagoras in die Lehre zu gehen. Dafür ist ein nicht geringes Honorar zu zahlen. Sokrates geht mit ihm am nächsten Morgen zu Protagoras und verwickelt diesen in ein Gespräch über die Lehrbarkeit der Tugend. Im Sinne eines Vergleichs fragt Sokrates den verdutzten jungen Hippokrates: »Wenn du beabsichtigtest, zu deinem Namensvetter zu gehen, zu Hippokrates aus Kos, dem Asklepiaden, und ihm als Honorar Geld zu zahlen für dich, wenn dann einer dich fragte: ›Sag mir, du willst, Hippokrates, dem Hippokrates ein Honorar zahlen – in welcher Eigenschaft?‹, was würdest du dann antworten?« Und der junge Hippokrates: »Ich würde sagen …, als Arzt.« (Platon, Protagoras 311b–c). Daraus ist zu entnehmen, dass der koische Arzt Hippokrates ein Zeitgenosse des Sokrates und auch für Platon eine bekannte Gestalt war.

Hippokrates, so steht fest, erteilte Unterricht an Schüler gegen Bezahlung. Im platonischen Protagoras findet sich unmittelbar anschließend ein aufschlussreicher Vergleich, der den Rang dieses Arztes eindrucksvoll unterstreicht: Nachdem der junge Hippokrates erklärt hat, von Hippokrates werde man gegen Honorar zum Arzt ausgebildet, fragt Sokrates ihn, zu welchem Zweck jemand den Bildhauern Polyklet und Phidias ein Honorar zahlen würde. Und der junge Hippokrates antwortet, man würde von ihnen dann zum Bildhauer ausgebildet (311c). Offensichtlich gehören Medizin und Bildhauerei zu derselben Art von technai (»Künste, Fertigkeiten«), die man – gegen Entgelt – erlernen kann.

Wichtig ist an dieser Protagoras-Stelle, dass Hippokrates als Arzt denselben hohen Rang in der Medizin einnimmt, den Polyklet und Phidias in der Bildhauerei haben. Platon nennt in seinen Dialogen eine größere Zahl von Ärzten, und die Medizin ist sein beständiges Beispiel für eine Heilkunde des Körpers, der die Philosophie als Heilkunde der Seele gegenübersteht. Hippokrates ist offensichtlich für Platon der berühmteste Arzt seiner bzw. des Sokrates Zeit. Über Hippokrates’ medizinische Lehre, Praxis oder Schriftstellerei erfährt man bei Platon allerdings wenig. Im Dialog Phaidros (270c), dessen fiktive Gesprächssituation vor 415 v. Chr. anzusetzen ist, erwähnt Platon beiläufig als Methode des Hippokrates, bei körperlichen Prozessen stets die »Natur des Ganzen« zu berücksichtigen. Diese recht vage Angabe erbringt nichts, was sich für eine »Lehre« des Hippokrates verwerten ließe. Aristoteles erwähnt in der Politik (1326a 15 f.), der Arzt Hippokrates sei »groß« gewesen, aber nicht von Gestalt. Daraus ist zu schließen, dass Hippokrates in (spät)klassischer Zeit als einer der renommiertesten Ärzte bekannt war, mehr aber auch nicht.

Hippokratische Schriften und Hippokrates-Roman

In der Überlieferung medizinischer Fachtexte hat sich seit dem Hellenismus eine Schriftengruppe gebildet, die als Werke des Hippokrates gelten; seine eigentliche Formation als Corpus Hippocraticum hat die Sammlung in den gedruckten Renaissance-Ausgaben erlangt. Es handelt sich um ca. sechzig Schriften, die zahlreiche Fachgebiete und Aspekte der Medizin abhandeln. Inhaltlich reicht der Bogen von heute bekannten Fächern wie Frauenheilkunde, Chirurgie oder einer Vorstufe der Inneren Medizin bis hin zu für die damalige Zeit charakteristischen Handlungsfeldern wie Prognostik, Semiotik (Zeichenkunde) und Deontologie (Pflichtenlehre, dort auch der berühmte Eid). Die Schriften sind literarisch außerordentlich vielgestaltig: Es gibt theoretische Traktate, Fallgeschichten, Sinnsprüche (Aphorismen), öffentliche Reden und polemische Traktate. Keine der Schriften trägt einen Autornamen, das heißt, sie sind ursprünglich anonym überliefert gewesen und später, vermutlich im hellenistischen Alexandria, unter den Autornamen des Hippokrates gestellt worden, so eine »skeptische« Theorie, die der historischen Wirklichkeit nahekommen dürfte.4 Die Schriften widersprechen sich zum Teil untereinander, so in den theoretischen Grundannahmen der Körperfunktionen und der Krankheitslehre. Es war daher bereits in der Antike offenkundig, dass mehrere Autoren am Werk gewesen waren. Dies ergibt sich auch aus der Chronologie, denn die Entstehungszeit der Schriften reicht vom späten 5. und dem 4. Jahrhundert v. Chr. – aus dieser Zeit stammt ein größerer Teil – bis in das 2. Jahrhundert n. Chr.

Als Autor ist Hippokrates nirgends erwähnt, doch er kommt als handelnde Person in einer Schriftengruppe des Corpus Hippocraticum vor, die man heute als »Hippokrates-Roman« bezeichnet:5 Dort begegnet er als griechischer Patriot, der es ablehnt, den Persern medizinischen Beistand zu leisten. Er rettet die Griechen vor einer Pest, schickt ihnen Söhne und Schüler zur Hilfe und trifft den Philosophen Demokrit. Der Hippokrates-Roman setzt die Existenz hippokratischer Schriften bereits voraus und enthält Anspielungen auf einen späthellenistischen Kontext, den schon einige Römer, so etwa Cato der Ältere, scharfsinnig erkannten (Plinius, Naturgeschichte 29,11–14.27; Plutarch, Cato der Ältere 1,4). Über den von Platon erwähnten Hippokrates von Kos weiß der Roman nichts, vielmehr spielt er mit den in der Antike umlaufenden Versatzstücken eines idealisierten Hippokrates-Bildes.

Dasselbe gilt für einige kurze biographische Abrisse über Hippokrates, die außerhalb des Corpus Hippocraticum überliefert sind, darunter die bekannteste unter dem (fiktiven) Autornamen »Soran«.6 Ähnlich wie im Hippokrates-Roman konstruiert diese Vita ein Idealbild, das, mit vermeintlich genauen Jahreszahlen und Angaben über die vielfältigen Wirkungsstätten des koischen Arztes ausstaffiert, den Eindruck von Authentizität erwecken möchte.

Echtheitskritik und der Anonymus Londinensis

Wie erwähnt, hat man die Vielschichtigkeit des Corpus Hippocraticum bereits in der Antike als Problem erkannt; zeittypisch versuchte man es behutsam zu lösen, indem man die Schriften nach inhaltlichen und literarischen Kriterien analysierte und in Gruppen einteilte. Zusammen mit der Chronologie ergab sich daraus eine Schichtung, bei der sich ein Kern besonders früher und – nicht zufällig – besonders interessanter und innovativer Schriften abzeichnete. Hier ging es um eindrückliche Krankengeschichten im Kontext klimatologischer Erwägungen (Epidemien, Über die Umwelt), um Theorien über den Aufbau und die Funktion des Körpers (Über die Natur des Menschen), oder um die Aphorismen, um nur einige zu nennen. Für antike Philologen und Ärzte war es naheliegend, diesen Kern von Schriften als »echt« anzusehen; Hippokrates selbst habe sie verfasst, während andere Schriften von seinen Söhnen und einem in der Überlieferung kongenial hinzuerfundenen »Schwiegersohn« namens Polybos und anderen Schülern stammen sollten. Am Beispiel Polybos lässt sich allerdings auch zeigen, dass diese auf den ersten Blick plausible Sichtweise einen Zirkelschluss enthielt und im Licht jüngerer Quellenbefunde wie ein Kartenhaus einstürzte:

Die Schrift Über die Natur des Menschen formulierte erstmals die Viersäftelehre, die in der späteren Antike, so insbesondere bei Galen, als »echt« hippokratisch galt und bis in die Moderne fortwirken sollte. Allerdings betonte Galen, nur die auf die Viersäftelehre bezogenen Kapitel (1–8) seien von Hippokrates verfasst, denn Aristoteles (Tierkunde 512b 12 – 513a 7) zitiere Passagen aus Kapitel 11 über den Gefäßverlauf und schreibe sie einem Autor namens Polybos zu. Diese Autornennung galt für antike Leser als unwiderlegbar, aber zugleich als problematisch, um nicht zu sagen, als misslich: Wenn man annahm, dass die Schrift Über die Natur des Menschen eine Einheit bildete, so wie sie überliefert war, folgte daraus, dass die Programmschrift der hippokratischen Viersäftelehre nicht von Hippokrates, sondern von Polybos stammte. Daher wählte Galen den Ausweg, die Autorschaft des Polybos nur für die späteren Kapitel über die Blutgefäße anzunehmen – und Hippokrates als Autor der »wichtigeren« Kapitel über die Säftelehre.

Eine andere, in der hippokratischen Tradition seit der Antike angewandte Lösung des Problems bestand darin, den Autor Polybos – wie schon erwähnt – zum »Schwiegersohn« des Hippokrates zu machen, um die beiden in eine engere verwandtschaftliche Beziehung zu bringen. Doch diese Kunstgriffe wurden mit der Entdeckung einer Schrift aus dem Umfeld des Aristoteles Ende des 19. Jahrhunderts hinfällig. Die Rede ist vom sog. Anonymus Londinensis, einem kurzgefassten Abriss der Lehren antiker Ärzte auf einem Papyrus. Der besondere Wert des 1893 erstmals veröffentlichten Texts besteht darin, dass er auf ein medizinhistorisches Werk des Aristoteles-Schülers Menon zurückgeht und damit eine vorhellenistische Perspektive auf die griechische Medizin eröffnet.

Jedenfalls: Der Anonymus Londinensis schreibt die Viersäftelehre explizit und unmissverständlich dem Polybos zu (XIX 2–18).7 Die vermeintliche Programmschrift der hippokratischen Medizin stammt also nicht vom Meister; damit nicht genug, nennt der Papyrustext als Lehre des Hippokrates die Anschauung, dass »Winde« im Körper für allerlei Krankheitserscheinungen verantwortlich seien (V 25 – VII 40).8 Dieses Konzept aber findet sich am ehesten in der hippokratischen Schrift Über die Winde, die in der Tradition immer als »unecht« gegolten hat, weil sie in ihrem konzeptuellen Anspruch gegenüber der Viersäftelehre abzufallen scheint. Wie kompliziert die Lage ist, sieht man auch daran, dass im Anonymus Londinensis selbst gewissermaßen in einer Fußnote bemerkt wird, dass dies nicht die Theorie des Hippokrates sei. Die vorhellenistische Quelle, Menon, aus der der Anonymus Londinensis kompiliert ist, befinde sich im Irrtum. Die »wahre« Theorie des Hippokrates finde sich in Über die Natur des Menschen. Als der Papyrus im 2. Jahrhundert n. Chr. kompiliert wurde, war dies nämlich bereits die etablierte Auffassung und der Menon-Text störte das Bild.

Die »hippokratische Frage«, welche Schriften als »echt« zu betrachten seien, ist mit der Publikation des Anonymus Londinensis in eine neue Phase eingetreten, die markant durch die Untersuchungen des Klassischen Philologen und Medizinhistorikers Ludwig Edelstein (1902–1965) gestaltet wurde.9 Die jahrhundertelange Suche nach vermeintlich »echten« Werken des Meisters von Kos erwies sich letztlich als gegenstandslos; Edelstein, Begründer der »skeptischen« Theorie, konnte zeigen, dass nicht ein einziges Werk mit Sicherheit dem Hippokrates zuzuschreiben sei, sondern dass vielmehr seit dem Hellenismus das Idealbild des koischen Arztes die reale Autorschaft einzelner »hippokratischer« Ärzte überstrahlt habe. Diese »skeptische« Theorie ist bis heute nicht widerlegt worden, und sie erklärt die Befunde am plausibelsten.

Die Schriftengruppe wird zwar weiterhin konventionell als »Werke des Hippokrates« oder als Corpus Hippocraticum bezeichnet, doch tatsächlich versammelt sie einen Großteil der vorhellenistischen, in sich sehr diversen griechischen Medizin. Ob man mit Philip van der Eijk so weit gehen sollte, die Bezeichnung »hippokratische Medizin« oder »hippokratische Ärzte« nicht mehr zu verwenden, bleibe dahingestellt.10 Der Begriff »hippokratisch« ist nicht nur praktisch, sondern wird auch der Bewertung der Schriften in den verschiedenen Rezeptionsstufen (Hellenismus, Galen, Spätantike, christliches und arabisches Mittelalter, Renaissance und Frühe Neuzeit) gerecht. Mag Hippokrates eine mehr legendarische als reale Gestalt, das Corpus Hippocraticum ein sehr spätes und noch dazu amorphes Gebilde sein, die okzidentale und die orientalische Medizin sahen sich über viele Jahrhunderte in einer idealisierten hippokratischen Tradition.

Grundzüge der hippokratischen Medizin

Das Corpus Hippocraticum, mit der »skeptischen« Theorie nunmehr und endgültig eines namensgebenden (Haupt-)Autors beraubt, weist gleichwohl einige gemeinsame formale und inhaltliche Züge auf. Zu nennen ist zunächst die »klinische« Perspektive. Hippokratische Ärzte waren (auch) am Krankenbett (kline) tätig. Hier beobachteten sie Krankheitszeichen, sammelten Erfahrung und entwickelten darauf aufbauend Theorien und Konzepte. Ein weiteres wichtiges Merkmal der hippokratischen Medizin ist, dass sie eine schriftliche Kunst war. Fach- und Lehrtexte, oft entwickelt aus Notizen, dienten zum Unterricht, sowohl von ärztlichen Kollegen und Schülern als auch interessierter Laien und der Öffentlichkeit. Ein drittes Merkmal der hippokratischen Medizin ist ihre »Rationalität«, die freilich nicht im modernen Sinne (miss)verstanden werden darf. Im Sinne einer naturkundlichen, nicht naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise wurden körperliche und auch seelische Vorgänge beim Gesunden wie beim Kranken auf natürliche Kausalitäten zurückgeführt (Elemente, Qualitäten oder Körpersäfte), und die menschliche Natur (physis) galt als in den großen Rahmen der Umwelt, der Jahreszeiten und des Kosmos, in Klima, Diätetik und Vererbung eingespannt (mit diversen Kräften und Elementen, die direkt auf den Körper einwirkten).

Im Gegensatz zu den älteren Formen von Medizin, wie sie im Alten Ägypten und Mesopotamien entwickelt und von den Griechen auch wahrgenommen worden waren, spielten in der hippokratischen Medizin übernatürliche Wesen (Dämonen oder Gottheiten) keine direkte Rolle. Diese Heilkunde war religionsneutral, weshalb sie in späteren Jahrhunderten problemlos in christlichen, islamischen und jüdischen Kontexten rezipiert werden konnte – doch sie war gleichwohl nicht »atheistisch«. Die hippokratische Medizin fügte sich durchaus in den Rahmen des traditionellen Götterglaubens ein: Es wurde dazu ermuntert, Kranke in die Tempel zu tragen und zu beten, aber der Arzt tat mehr und er wusste auch, dass mehr von ihm erwartet wurde. Als mythischer Ahnherr der Ärzte galt Asklepios, aber der eigentliche Gott der Hippokratiker ähnelte dem Gott der Philosophen, keiner personalisierten Wesenheit, sondern eher einem zugrunde liegenden Wirkprinzip, mitunter direkt als »Natur« bezeichnet.

Die Themenfelder der hippokratischen Medizin reichen, wie schon skizziert, von der Ätiologie, Diätetik, Therapeutik und Chirurgie über die Deontologie bis zur Semiotik, der »Kunst der Zeichendeutung«. Die hippokratische »Heilkunst« (iatrike techne) lässt sich unter drei Hauptaspekten systematisch fassen. Zum Ersten bildete sie Theorien und Konzepte aus, mit denen die physische Welt, aber auch das Geschehen im Körperinneren, die Bewegungen der Säfte und vieles mehr, ferner das Klima zu verstehen sind. Hier spielte das erwähnte Denken in natürlichen Kausalitäten eine entscheidende Rolle. Ein zweiter systematischer Gesichtspunkt betrifft die Fähigkeiten, die von der hippokratischen Medizin vermittelt wurden. Die Rede ist von der Kunst der Prognose, der Diagnose und der Therapie, letztere verstanden als Diätetik, Pharmakotherapie und Chirurgie. Allerdings finden sich in der frühen hippokratischen Medizin des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. noch keine »Spezialisten«, etwa ausschließlich chirurgisch tätige Ärzte; derartige Differenzierungen sollten sich erst in hellenistischer Zeit bilden.

Die medizinischen Inhalte und Fertigkeiten galten in der hippokratischen Medizin als lehr- und lernbar, wie es sich für eine antike techne gehört; darauf, warum die Prognose hier an erster Stelle zu nennen ist, gehe ich auf S. 22 ein. Zuvor sei ein dritter systematischer Aspekt erwähnt – die Selbstreflexion: Hippokratische Ärzte verfügten über vergleichsweise bescheidene Mittel. Wichtigste »Instrumente« waren Beobachtung mit den (fünf) Sinnen, Kombinationsgabe, Erfahrung und Erinnerung (an ähnlich gelagerte Fälle) – allgemein die Verstandeskräfte. Technische Fertigkeiten wie manuelle Geschicklichkeit und vielfältige Therapieverfahren kamen hinzu, denn ein Arzt musste auch etwas können. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Ein hippokratischer Aphorismus