Die Herren von Nebelheim - Susanne Pavlovic - E-Book

Die Herren von Nebelheim E-Book

Susanne Pavlovic

0,0

Beschreibung

Den Schnaps hat sie aufgegeben, aber Konflikte löst Krona Karagin immer noch am liebsten mit der Faust. Am Königshof macht sie sich mit ihren rustikalen Umgangsformen schnell einflussreiche Feinde. Doch Politik rückt in den Hintergrund, als ein Zauberspiegel Krona und Spielmann Wolfram in ein fernes Land schickt, das von Krieg und Hungersnot gezeichnet ist. Dort hat ein alter Freund ihre Ankunft längst erwartet. Und Krona muss lernen, dass die Grenze zwischen Freundschaft und Liebe nicht so scharf gezogen wird, wie sie immer dachte. Der neue Roman aus der Feder von Susanne Pavlovic (2016: Deutscher Phantastik Preis für "Feuerjäger 1") ist Herzblutvergießen für Fortgeschrittene. Bisher im Amrun Verlag erschienen: In Zusammenarbeit mit Wolfram von Kürenberg: Das Spielmannslied - der erste Abrantes-Roman Der Sternenritter - der zweite Abrantes-Roman Eiszeit, Abrantes-Kurzgeschichte Feuerjäger - Band 1: Die Rückkehr der Kriegerin - ausgezeichnet mit dem Deutschen Phantastik Preis 2016 Feuerjäger - Band 2: Herz aus Stein Feuerjäger - Band 3: Das Schwert der Königin Die Herren von Nebelheim

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 448

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Die Herren von Nebelheim
Impressum
Widmung
Die Ränke des Spielmanns
In die Tiefe
Stille Welt
Das Brot der Fremden
Siebenstern
Die Taube auf dem Dach
Der letzte aller Tage

Die Herren von Nebelheim

Susanne Pavlovic

© 2018 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Covergestaltung: Illustrationen: Kristina Gehrmann

https://gehrmann.portfoliobox.net/

Alle Rechte vorbehalten

ISBN Taschenbuch – 978-3-95869-349-4

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

1 18

Für Karo

Kaum wartet man zehn Jahre, schon wird alles gut.

– 1 –

Die Ränke des Spielmanns

Der Schmerz machte sie langsam.

Sie streckte die Hand zur Seite aus und stützte sich gegen die Wand, um ihr Knie zu entlasten. Der Stein war nass und körnig unter ihren Fingern. Sie hielt den Atem an und lauschte angestrengt in die Dunkelheit.

Nichts. Nur ihr eigener harter Herzschlag und das Knirschen von Sand unter ihren Stiefelsohlen. Sie setzte sich wieder in Bewegung. Heißer Schmerz schoss ihr vom Knie bis hinauf in die Hüfte. Sie zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen. Keine Zeit, um wehleidig zu werden. Sie musste erfolgreich sein, um jeden Preis. Und wenn schon nicht für das Königreich, dann für ihn.

Ich lasse dich nicht los.

Der Lichtstein gebar zitternde Schatten auf den zerklüfteten Wänden. Treppen vor ihr, die hinunter in ein tiefes schwarzes Loch führten und in ein, zwei Steinwürfen Entfernung wieder hinauf. Ein Abzweig nach links.

Sie tastete nach der Karte in ihrer Manteltasche. Vielleicht war etwas darauf verzeichnet, das diesem Ort hier ähnelte und ihr einen Anhaltspunkt gab, wo sie war und wohin sie musste.

Die Karte war inzwischen reichlich zerknittert und mit Blut beschmiert. Sie hielt den Lichtstein darüber und kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen.

Plötzlich das klickende Geräusch von Steinen, die gegeneinander rollten. Trockenes Knacken von Gelenken, raschelnder Atem.

Sie ließ die Karte fallen und riss ihr Schwert aus der Scheide.

Und dann gingen vor ihr in der Dunkelheit Augen auf wie winzige blasse Monde.

Krona wurde von ihrem eigenen Schrei wach. Sie stand neben ihrem Bett, die Hände wie zum Schwertstreich erhoben. Ihr Herz jagte.

Augen in der Dunkelheit. Was für ein Blödsinn – ein grauenhafter Blödsinn allerdings, der ihr eine klebrige Angst den Rücken hinunter kriechen ließ. Sie sah sich um und schalt sich gleichzeitig eine Närrin. Alles war völlig friedlich. Auf dem Fensterbrett fla­ckerte eine Kerze im eisigen Luftzug.

Sie machte einen vorsichtigen Schritt, auf Schmerz gefasst, und stellte fest, dass ihr Knie völlig in Ordnung war.

Wie spät es sein mochte? Sie war hundemüde, konnte sich aber nicht entschließen, wieder ins Bett zu gehen. Ein solcher Traum pro Nacht reichte.

Ihre Uniform lag sauber gefaltet und gebürstet bereit, ihre Stiefel standen daneben, gefettet und poliert. Kurz entschlossen streifte sie ihr durchgeschwitztes Schlafhemd ab und zog sich an. Sie befestigte die Anstecknadel an ihrem Waffenrock – das gol­dene Schwert auf dem abrantinischen Wappen, Zeichen ihres Amtes, das sie immer noch mit Stolz trug – und wickelte sich in ihren Mantel.

Die Goldene Burg lag in tiefem Schlaf. Krona wandte sich zum überdachten Außengang und überquerte einen der zahlreichen Innenhöfe. Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Der Mond starrte auf sie hinunter wie ein milchiges, blasses Auge. Sie war seltsam erleichtert, als sie in den Schatten des Küchentraktes eintauchte.

In der Küche war es dunkel. Die Wärme des vergangenen Tages lag noch zwischen dem Herdstein und den gemauerten Backöfen. In der Feuerstelle atmete ein Rest Glut. Krona entzündete ein kleines Feuer, schob ein schmiedeeisernes Dreibein darüber und setzte Teewasser auf. Ein Echo aus Trauer und Wut klang in ihr nach, als ihr Blick auf die Ofenbank fiel.

Wolframs Gesicht, ganz weiß und still. Sie wusste nicht, woher die Bilder kamen, die sie in ihren Träumen heimsuchten. Wolfram ging es gut, er war auf dem Weg und würde die nächsten Tage hier eintreffen.

Vielleicht war sie überarbeitet. Vielleicht fehlte ihr Gesellschaft, und ganz sicher fehlte ihr der Schnaps.

Sie ertappte sich dabei, wie sie zur Tür der Vorratskammer hinüber starrte. Die Krüge dahinter. Nur ein Becher, und sie würde nicht mehr träumen.

Sie rieb sich mit den flachen Händen übers Gesicht.

Es dauerte, bis das Wasser heiß wurde, und sie saß die ganze Zeit über auf der Ofenbank, den Rücken an die steinerne Wärme gelehnt, reglos, aus Angst, ihre Füße würden sie in die Vorratskammer tragen, und aus einem Becher würden zwei und dann ein ganzer Krug, und dann ginge alles den Bach runter.

Als endlich das Wasser kochte, nahm sie eine Kanne aus dem Regal und mischte Teeblätter, Wasser und Honig darin. Einen Becher steckte sie sich in die Manteltasche, dann trug sie die Kanne vorsichtig hinaus auf den Hof, auf festgetrampelten Schneepfaden zum Haupthaus und eine vereiste Treppe hinauf.

In ihrer Amtsstube war es so kalt, dass der Atem ihr in dicken Wolken vor dem Gesicht stand. Sie machte Licht und heizte ein. Ihr Schreibtisch bog sich unter einer Last aus Papier. Sie würde vielleicht sterben vor Langeweile, aber zumindest das Träumen bliebe ihr erspart.

Der Teerest in der Kanne war längst kalt, der Papierberg weitgehend abgetragen, als von außen die Tür geöffnet wurde. Fahles Morgenlicht drang in die Stube. Anselm von Zeil trat sich auf der Schwelle den Schnee von den Füßen und erstarrte, als er ihrer gewahr wurde.

»Frau Feuerfaust. Guten Morgen. Ich – bin ich zu spät?«

»Nein, ich bin zu früh. Mach die Tür zu, Anselm. Es geht kalt rein.«

Der junge Mann gehorchte. Schneestaub glitzerte auf seinem Mantel, als er zur Feuerstelle ging, um nachzuheizen. Krona lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und unterdrückte ein Gähnen. An die Annehmlichkeit eines Adjutanten, der ihr die Handgriffe des täglichen Lebens abnahm, hatte sie sich schneller gewöhnt als an ihren neuen militärischen Rang.

»Was steht heute an?«

Anselm klopfte sich Staub und Späne von den Handschuhen.

»Am Vormittag ist eine Besprechung der Mannschaftsführer anberaumt. Die Männer erwarten Eure Befehle, was die Aufstellung und Stärke der Gardisten während der Feierlichkeiten betrifft. Außerdem wünscht der Schatzmeister Euch zu sehen. Er wartet immer noch auf eine Erklärung, warum Ihr so tief in sein Säckel greift.«

Krona stöhnte auf. »Weil der irre Karcharoth unserem bisschen Militär den Rest gegeben hat! Ganz zu schweigen davon, dass Konrad vor ihm, möge er bei den Göttern ruhen, kein einziges Schwert angeschafft hat in zwanzig Jahren, oder so sieht’s zumindest aus!«

»Mir müsst Ihr das nicht erklären«, sagte Anselm.

»Ich weiß«, sagte Krona dumpf. Sie nahm einen Schluck aus ihrem Becher. Der Tee war kalt und bitter trotz des Honigs.

»Ich hab Eure Listen abgeschrieben, wie Ihr wisst«, sagte Anselm. »Zwei Paar neuer Stiefel für jeden abrantinischen Soldaten. Ich kann verstehen, dass der Herr von Tiefenellern zuckt.«

»Diese Männer stellen ihr Leben in den Dienst für ihr Mutterland. Es ist doch eine Schande, wenn sie sich dabei Lumpen um die Füße wickeln müssen. Sag nichts – hab ich alles schon erlebt.«

Anselm nickte. »Ihr sollt nur wissen, dass der Herr von Tiefen­ellern äußerst beunruhigt ist angesichts der Ausgaben. Wahrscheinlich denkt er, Ihr rüstet das Land für einen Angriffskrieg gegen Zentallo. Er würde ruhiger schlafen, wenn Ihr ihm erklärtet, dass Ihr nur Lücken der vergangenen Jahre schließt.«

»Wenn ich sehe, was alles fehlt, ist das auch nicht billiger als ein Angriffskrieg.« Sie fing Anselms Blick auf und nickte seufzend. »Ich spreche mit ihm. Keine Sorge.«

»Gut. Im Übrigen lässt Euch der Herr von Ammenberg dringend zur Tanzstunde bitten. Heute Nachmittag zur Dämmerung.«

»Haha, soweit kommt’s noch.«

»Es ist sein Ernst, Oberste. Er sagt, Eure Kenntnis höfischer Gepflogenheiten, insbesondere der höfischen Tänze, ließe sehr zu wünschen übrig.«

»Ich hab ihm bereits meine Meinung zu dem Thema gesagt.«

»Und recht nachdrücklich, wie mir scheint. Deshalb steht er neuerdings mir auf den Füßen damit. Ich soll Euch begreiflich machen, dass man von einer Frau in Eurer Position ein gewisses Benehmen erwartet, das Ihr, nun ja, eher lückenhaft aufweist.«

»Ich behandle jeden so, wie er’s verdient. Mehr Benehmen gibt’s von mir nicht.«

Anselm machte ein gequältes Gesicht. »Der Herr von Ammenberg kann sehr beharrlich sein, auf seine freundliche Art. Und er hat vielleicht recht. Ihr seid die einzige Bürgerliche in einem Führungsstab aus lauter Adeligen. Ihr müsst vielleicht nicht alle mit der Nase drauf stoßen. Ich weiß, was Ihr für unser Land getan habt«, setzte er eilig hinzu, »gegen alle Widerstände, aber es gibt eben genug hohe Ministeriale in dieser Burg, die sich von Äußerlichkeiten blenden lassen.«

»Und deshalb werde ich meine Festtagsuniform anziehen und mir die Haare kämmen und nicht fluchen, solange eine zarte Elfenseele sich dran stören könnte.«

Anselm seufzte klaftertief.

»Noch was?«, fragte Krona.

»Die Hohe Frau Königin wünscht Euch zu einem gemeinsamen Frühstück zu sehen.«

»Na, diesem Wunsch komme ich doch gerne nach.«

Sie schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. Trotz des Feuers war die Kälte ihr in die Knochen gesickert. Sie machte zwei hump­elnde Schritte und stützte sich auf dem Tisch ab.

»Alles in Ordnung?«, fragte Anselm.

Längst spürte sie vor lauter Kälte ihre Finger nicht mehr, die sich um den Schwertgriff schlossen. Sie biss gewaltsam die Zähne aufeinander, damit sie nicht klapperten. Die Kreatur war ganz in der Nähe.

Eiskalter, zäher Schleim tropfte ihr in den Nacken, kroch unter ihre Kleidung und rann ihr den Rücken hinunter. Sie schauderte und zwang ihren Atem zur Ruhe. Nichts war zu hören. Wo war das Scheißvieh?

Vorsichtig beugte sie sich nach vorne, nur eine Handbreit, und spähte durch den Riss in der faltigen Hülle nach draußen. Das Gewölbe lag in völliger Dunkelheit. Aus der Hülle nebenan kamen schabende Geräusche. Sie musste hier weg sein, ehe das nächste schlüpfte.

Da. Das Kratzen von Füßen oder Klauen auf Stein. Das leise Knistern und Knacken, das die Kreatur begleitete. Dann ein kurzes, rhythmisches Rascheln. Das Mistvieh schnüffelte.

Es war so nah, dass sie seinen Atem hören konnte.

Klicken, Knacken und Rascheln. Ganz nah. Sie umklammerte den Schwertgriff. Sie musste das Vieh schnell und hart treffen und es erledigen, ehe es wusste, wie ihm geschah.

Nach ihrer bisherigen Erfahrung zweifelte sie daran, dass ihr das gelingen würde.

Etwas von dem ekligen Zeug tropfte ihr auf die Stirn. Sie hielt still. Das Knacken und Rascheln entfernte sich, wurde leiser, hallte schließlich noch geisterhaft in ihr nach. Sie wartete noch ein wenig, dann zwängte sie sich durch die schleimige, eiskalte Hülle nach draußen. Mit gefühllosen Fingern klaubte sie den Lichtstein aus der Tasche und hielt ihn hoch. Das Gewölbe war mit dicken Säulen abgestützt. Einige Dutzend große, faltige Gebilde waren mit etwas an den Wänden befestigt, das wie Muskelstränge aussah. Einige der Hüllen waren leer und zerrissen wie die, in der sie sich versteckt gehalten hatte. Die anderen waren gefüllt; in manchen war Bewegung; etwas darin beulte die körnige, blasse Membran aus, stemmte sich von innen dagegen, bewegte sich auf eine seltsam fließende, übelkeitserregende Art.

Sie hängte sich den Lichtstein um den Hals, zog ihren Dolch und machte sich an die Arbeit.

»Oberste! Antwortet bitte!«

Sie riss die Hände vors Gesicht, um sich ekligen, kalten Schleim abzuwischen, aber da war keiner. Es war hell. Neben ihr Tischbeine, über ihr Anselms sehr besorgtes Gesicht. Er stützte sie, als sie zum Sitzen kam.

»Geht es Euch gut?«

»Was ist passiert?«

»Ihr wart ohnmächtig.«

»Ich war was?«

Sie packte das Tischbein, stützte sich auf Anselms Schulter und zog sich hoch.

»Langsam. Setzt Euch.«

»Ich war nicht ohnmächtig. Im Leben nicht. Sehe ich aus wie eine, die ohnmächtig wird?«

»Ihr seid mir vor die Füße gefallen wie vom Blitz getroffen. Hier, lasst Euch helfen.«

»Hör auf, mich zu bemuttern!«

Anselm zuckte zurück, und im gleichen Augenblick bereute sie ihren harschen Ton. Sie war müde und das Denken fiel ihr schwer, aber sie hatte nach durchzechten Nächten schon Schlimmeres durchgestanden.

»Entschuldige, Anselm. Was immer es war, es ist vorbei. Mir geht’s gut.«

»Vielleicht sucht Ihr doch einen Heiler auf? Oder ich lasse einen rufen.«

»Nicht nötig. Alles, was mir fehlt, ist ein Frühstück.«

Und eine Erklärung, aber die kannst du mir auch nicht geben.

»Ooonaaa!«

»Uff. Langsam, kleiner Prinz.«

Krona pflückte den kleinen Tamin von ihren Beinen, die er fest umklammert hielt, und setzte ihn sich auf den Arm. In der einen Hand hielt er ein hölzernes Pferdchen, das er jetzt vor ihrem Gesicht schüttelte.

»Füheinmal bin ich gepferdet!«

»Früher einmal ist er reiten gewesen«, übersetzte Lianna. »Das war gestern. Guten Morgen, Krona. Tee?«

»Ja, gerne. Guten Morgen.«

»Danz allein!«, trompetete Tamin.

»Er hat für einen Augenblick ganz allein im Sattel sitzen dürfen. Und er ist nicht runtergefallen.«

»Nidefallen«, echote Tamin. »Sooo ein doooses Pferd!«

Krona trug Tamin zum Tisch, wo die Dienerschaft ein üppiges Frühstück mit warmem Brei, Apfelkuchen, Schinken und Hörnchen angerichtet hatte. Sie setzte sich und nahm den Kleinen aufs Knie. Lianna reichte ihr einen Becher und versorgte Tamin mit einem halben Hörnchen, das er unverzüglich auf der Tischplatte zerkrümelte.

»Du siehst müde aus«, sagte Lianna. »Schlecht geschlafen?«

»Einweidei vier füsisieben«, sang Tamin. »Eine alte Pfau kocht Rüben!«

»Geht so«, sagte Krona. »Mein altes Problem. Wenn ich mal wach bin, schlafe ich nicht mehr ein.« Für einen Augenblick war sie versucht, Lianna von ihren seltsamen Träumen zu erzählen, aber dann kam sie sich schon beim Gedanken blöd vor.

»Eine alte Pfau kocht Speck! Undu bist weg!«

Lianna gab sich Honig über den Brei, rührte und begann zu essen. Krona hielt Tamin fest und ließ den Blick auf ihr ruhen. Die strenge Flechtfrisur und das schlichte, blaue Gewand verliehen ihr eine anmutige Würde. Sie wirkte älter, reifer, und manchmal wunderte Krona sich noch, wo das trotzige, herrische junge Ding geblieben war, das ihr den letzten Nerv geraubt hatte. Wie gewaltsam das Leben die junge Frau geformt hatte, und mit welcher Größe sie es ertrug.

»Was ist los?«

»Hm?«

»Was schaust du mich so an?«

»Ach, nichts.« Krona nahm eilig einen Schluck von ihrem Tee.

»Ist etwas mit meinem Kleid? Ich hab’s ganz neu. Zu schlicht? Die Schneiderin hat mir Stickereien gezeigt, mit Perlen und Goldfaden, ganz wunderschön, aber ich hab mich nicht getraut. Ich wollte nicht mit vollen Händen Geld ausgeben, während man anderswo noch auf den Kriegsruinen sitzt. Was meinst du? Hätte ich mehr Zierrat anbringen lassen sollen? Immerhin bin ich die Königin, und vielleicht wollen die Leute das auch sehen.«

»Schätzchen, du versuchst nicht ernsthaft, dich mit mir über Kleider zu unterhalten?«

Lianna grinste und leckte ihren Löffel ab. »Verzeih mir. Wie konnte ich nur. Zumal, wenn man den Gerüchten glaubt, bald jeder einfache Soldat prunkvoller ausgestattet sein wird als ich.«

»Das ist doch Blödsinn! Weißt du, was uns alles fehlt? Ich habe nur das Nötigste …«

»Krona, lass gut sein. Du bist doch die letzte Person, die vor mir irgendetwas rechtfertigen muss. Tu, was du für richtig hältst.«

Krona nickte und trank von ihrem Tee.

»Pferd«, sagte Tamin und streckte das Holzpferdchen in die Luft. »Sooo dooos.«

»Ein so großes Pferd«, sagte Krona. »Iss dein Hörnchen, sonst wirst du nie ein so großer Prinz.«

»Nein«, sagte Tamin. »Du.« Er warf sich in Kronas Arm nach vorne, erwischte die zerdrückten Reste seines Hörnchens und hielt es ihr vor die Nase. Sie entwand es ihm, bevor er damit fettige Flecken auf ihrer frischen Uniform hinterlassen konnte. Lianna reichte ihr ein Tuch, und sie säuberte vorsichtig Tamins Finger. Der Kleine sah ihr sehr konzentriert dabei zu.

»Er spricht viel«, sagte sie. »Oder? Ich kann mich nicht erinnern, dass Kelara in dem Alter so viel gesprochen hätte.«

»An einem Tag mehr als sein Vater in einem ganzen Jahr«, sagte Lianna. Krona ließ das Tuch sinken. Liannas Blick verlor sich im Nichts. »Nicht dass ich ein ganzes Jahr mit ihm gehabt hätte«, fügte sie hinzu.

»Es ist immer zu kurz«, sagte Krona. »Egal, ob es zehn Monde oder zehn Jahre waren.«

»Ja.«

Sie straffte die Schultern und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. »Zum Glück habe ich nicht viel Zeit, um zu hadern.« Sie klatschte in die Hände und streckte die Arme nach Tamin aus, und Krona hob ihr den Kleinen, der entzückt quietschte, über den Tisch entgegen. Lianna begann, Tamin mit Brei zu füttern. Der Kleine sperrte bereitwillig das Mündchen auf und sah Krona über den Tisch hinweg mit seinen ernsten, graugrünen Augen an. Krona nutzte die Gelegenheit, um sich um ihr eigenes Frühstück zu kümmern. Sie war nicht sehr hungrig, aber sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sie weniger häufig an Schnaps dachte, wenn sie etwas im Magen hatte.

»Die Zwerge kommen morgen im Laufe des Tages«, sagte Lianna. »Das heißt, ich werde heute und morgen damit verbringen, mir diese ungeheuer komplizierte Begrüßung ins Hirn zu pauken.«

»Welche? Eisenstein oder Erendor?«

»Eisenstein. Brainn braucht noch ein paar Tage. Er hat ja nicht nur die weitere Strecke, sondern ist auch nicht mehr so reisetauglich.«

»Ein Wunder, dass er sich überhaupt selbst auf den Weg macht.«

»Es sind Elfen, Krona. Der erste offizielle Elfenbesuch nicht nur seit Menschen-, sondern sogar seit Zwergengedenken.«

»Bei«, forderte Tamin und streckte das Fäustchen in die Luft. »Bei!«

»Kommt sofort«, sagte Lianna und führte ihm einen neuen Löffel voll Brei zum Mund.

»Brainn wird kotzen, wenn er mich sieht.« Krona biss in ihr Brötchen.

»Du hast ihm seinen Berg gerettet.«

»Ja. Und seinen Sohn umgebracht.«

Lianna nickte und drückte Tamin an sich. »Halte dich ein bisschen im Hintergrund, wenn er zugegen ist.«

»Sowieso.«

»Und vergiss deine heutige Tanzstunde nicht.«

»Kommst du mir jetzt auch noch damit!«

»Krona, bitte. Pass dich ein bisschen an. Schau, die Leute haben es schon schwer genug mit einer Zigeunerkönigin und einer Heermeisterin, die nicht nur keine Adelige ist, sondern auch noch kein Mann.«

»Und wenn ich dieses alberne Herumgehüpfe beherrsche, macht’s das besser?«

»Es zeigt, dass wir ihre Gebräuche respektieren.«

Krona seufzte. Lianna bedachte sie mit einem bittenden Blick aus ihren großen dunklen Augen.

»Ich bin eigentlich ganz stolz auf meine Herkunft«, sagte Krona. »Ich entstamme einer langen Linie aus Dienstboten und Unfreien. Ein paar Unehrliche waren wohl auch dabei. Kesselflicker, Abdecker.«

»Und schau, wie weit du es gebracht hast«, sagte Lianna sanft. »Ein paar Tanzschritte werden das nicht zunichtemachen.«

»Ich denke darüber nach.«

»Ich kann dir auch ein paar schneidige junge Soldaten schicken, die dich abholen und in den Tanzsaal begleiten.«

»Das würdest du nicht wagen!«

»Als Tanzpartner natürlich, was dachtest du denn.«

»Wer’s glaubt.«

Krona wischte sich die Hände an einem sauberen Tuch ab und stand auf.

»Ich muss los. Hab einen Haufen zu tun heute.«

Lianna nickte. »Tamin, sag Wiedersehen zu Krona.«

»Didisi!« Tamin winkte.

»Wiedersehen, kleiner Prinz.« Krona beugte sich zu ihm und küsste seine zarte Wange. »Hab einen schönen Tag.«

»Du auch«, sagte Lianna. »Viel Spaß beim Tanzen.«

Der Löwe war auf Krawall gebürstet, das sah Krona ihm an, noch ehe das Stühlerücken beendet war. Zu ihrem Erstaunen ließ er die ganze Sitzung verstreichen, sprach wenig, raschelte nur gelegentlich mit seinen Papieren. Krona bezähmte ihre Ungeduld. Sie musste ihn kommen lassen, um zu sehen, was er im Schilde führte.

Wäre es nach ihr gegangen, hätte man den ganzen Kram ohnehin im Stehen auf dem Flur abhandeln können, aber der Schatzmeister, Albrecht von Tiefenellern, bestand darauf, jede einzelne Zahlenkolonne mit ihr durchzusprechen. Auch der Schriftmeister war anwesend und hatte einen Schreiber mitgebracht, der jedes Wort protokollierte, was immer wieder zu ärgerlichen Verzögerungen führte. Ritt- und Jagdmeister waren anwesend, Krona wusste nicht, warum, es schien eine Tradition zu sein, außerdem der Hauptmann der Burgwache, ein alter Haudegen namens Walter von Drossenfeld, mit dem sie vor Jahren in Ehrenfeld schon zu tun gehabt hatte. Sie fand seine Gegenwart tröstlich; zumindest ihn hatte sie auf ihrer Seite.

Die Dienerschaft hatte längst die niedergebrannten Kerzen gegen neue ausgetauscht, als ein Ende in Sicht kam. Krona fasste Mut.

»Vorletzte Angelegenheit«, sagte sie. »Sicherheitsvorkehrungen während des Aufenthaltes der elfischen und der zwergischen Abordnung. Sicher, aber nicht aufdringlich war die Maßgabe. Lückenloser Schutz für die Königin und den Kronprinzen, ohne ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken. Gibt es Fragen zu den Dienstplänen?«

»Nein«, sagte von Drossenfeld. »Hab’s gelesen. Hervorragender Plan, gut umzusetzen, effizient.«

»Danke«, sagte Krona. Walter nickte ihr zu.

»Letzte Angelegenheit«, fuhr sie fort. »Umschichtung der Ausgaben im Heereswesen.« Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Löwe in seinem Stuhl nach vorne kam. »Die neuen Richtlinien liegen Euch vor. Wie Ihr sicher schon gesehen habt, Herr von Tiefenellern, haben wir unterm Strich einiges an Mehrausgaben für militärische Zwecke. Es gibt aber hier eine Liste, auf der ich alle Einsparungen notiert habe. Die Zahlen sollten stimmen, die hat mir Euer Gehilfe ausgerechnet …«

»Eure Liste ist Mist.«

Krona sah auf. »Aha? Der Herr von Löwenstein möchte etwas beitragen?«

Richard von Löwenstein legte die Fäuste vor sich auf den Tisch. »Wenn wir diese Liste umsetzen, berauben wir unser Militär seiner Schlagkraft. Wir wären leichte Beute für jeden, der genug Schiffe bauen kann, um uns zu erreichen. Zentallo zum Beispiel, aber auch irgendwelche Völker aus dem Süden, die durch Euer Himmelfahrtskommando im letzten Jahr auf uns aufmerksam wurden.«

»Vielleicht habt Ihr eine andere Liste gelesen als ich, aber auf meiner stehen lauter Dinge, mit denen wir Leistungsfähigkeit und Moral der Truppen verbessern können«, sagte Krona ruhig.

»Stiefel«, stöhnte Albrecht von Tiefenellern.

»Stiefel«, bestätigte Krona. »Und mehr Sold für die niedrigen Ränge. Bessere Versorgung mit Brennholz und Essen vor allem während der Feldzüge.«

»Und während die Soldaten sich fett fressen, kann der Kommandostab seine Aufgaben nicht mehr erfüllen«, grollte der Löwe.

»Ich seh hier nichts, wovon ein Fußsoldat fett werden kann. Und ich hab auch keinen Feldzug erlebt, auf dem Hunger den Kampfesmut gestärkt hätte. Ganz im Gegenteil.«

»Die verdienstvollen Offiziere, die Verantwortung tragen für ihre Truppen, müssen angemessen besoldet werden!«

»Das werden sie ja weiterhin.«

»Ihr habt ihnen Zeltgröße und Personal halbiert!«

»Weil ich nicht weiß, warum ein Zelt von der Größe eines Dorfplatzes nötig ist, um militärisch gute Entscheidungen zu fällen!«

Der Löwe warf sich in seinem Stuhl zurück.

»Mein Vorschlag. Wir kassieren diese Liste und tun so, als hätte es sie nie gegeben. Und bevor Ihr das nächste Mal etwas befehlt, lasst Euch von Männern beraten, die etwas mehr Verstand mitbringen.«

»Mäßigt Euch, von Löwenstein«, polterte Walter von Drossenfeld.

Eine heiße Welle schwappte in Krona hoch.

»Mein Gegenvorschlag. Bevor Ihr hier wieder einmal den Mund zu voll nehmt, schicke ich Euch auf ein paar Feldzüge. Und zwar nicht im Offizierszelt, sondern im Feldlager. Damit Ihr mal wisst, wovon wir sprechen, wenn wir von Krieg sprechen.«

»So. Ihr meint also, Ihr wüsstet Bescheid über den Krieg?«

»Haha, Junge, wo soll ich anfangen? Ich bin in jeden einzelnen Krieg gezogen, den wir in den letzten dreißig Jahren hatten!«

Von Tiefenellern duckte sich über seine Papiere. Von Drossenfeld sagte leise »Oberste« und legte ihr die Hand auf den Arm, doch sie schüttelte ihn ab.

»Ich weiß nicht mehr, wie oft ich früh am Morgen zum Zelt meines Kommandanten beordert wurde, um zu berichten, wie viele in der vergangenen Nacht gestorben sind. Und zwar nicht im Kampf, sondern im Schnee, im Dreck, am Fieber, am verseuchten Wasser, während Eure feinen Kommandanten in ihren warmen, gemütlichen Zelten die Füße unter die Pelzdecken streckten und sich nach Strich und Faden bedienen ließen! Die hatten keine Veranlassung, schnell fertig zu werden oder eine unnötige Schlacht zu vermeiden! Gibt ja genug halbwüchsige Bauernsöhne, mit denen man die Lücken schließen kann.«

»Wenn Ihr fertig seid mit Eurer tränenrührigen Geschichte, Teuerste, dann denkt doch mal darüber nach, warum Ihr immer diejenige wart, die zum Appell angetreten ist, und nie diejenige, die antreten hat lassen«, sagte der Löwe mit einer Gelassenheit, die Krona zur Weißglut brachte. »Es lag vielleicht daran, dass Euch der Weitblick fehlte. Die strategische Schärfe. Ihr habt sicher getan, was Ihr konntet, aber schlussendlich musstet Ihr Eurer weiblichen Veranlagung folgen.«

Krona schoss in die Höhe, doch diesmal griff von Drossenfeld energischer zu. Er drückte sie zurück in ihren Stuhl und sah sie geradezu beschwörend an. Sie atmete tief durch und öffnete die Fäuste. Dann nickte sie von Drossenfeld zu, und er ließ sie los.

»Immerhin hab ich’s trotz meiner weiblichen Veranlagung zur Heermeisterin gebracht«, sagte sie und ärgerte sich, dass ihre Stimme zitterte. »Während meiner vielen Jahre im Militär dachte ich immer, wenn ich mal was zu sagen habe, dann hört das auf. Die Schinderei. Das Ausbluten. Das sinnlose Wegwerfen von Leben. Und jetzt hab ich was zu sagen, und jetzt hört das auf. Die Liste wird nicht kassiert, sondern Punkt für Punkt umgesetzt. Noch Fragen?«

Der Löwe schwieg und musterte sie feindselig über den Tisch hinweg. Von Drossenfeld seufzte leise, während der Schatzmeister noch immer vergeblich versuchte, unsichtbar zu werden.

»Niemand?«, fragte Krona. »Gut. Die Sitzung ist beendet. Schönen Dank, meine Herren.«

Von Drossenfeld fing sie auf dem Gang ab, bevor sie sich in Richtung Übungsplatz absetzen konnte.

»Oberste? Auf ein Wort.«

»Ich weiß alles, was Ihr sagen wollt, Hauptmann.«

»Begleitet mich trotzdem ein Stück, wollt Ihr?«

Er schob sie voran, und sie ließ es widerwillig zu. Was sie jetzt brauchte, war eine gute, schweißtreibende Übungseinheit auf dem Sandplatz, oder zwei – Technik, Ausdauer, Kraft, und keinesfalls noch mehr Gerede.

»Ihr wisst, Ihr habt meine größte Hochachtung«, begann von Drossenfeld. »Ich schätze Euren militärischen Sachverstand, Eure Erfahrung und nicht zuletzt Euer Mitgefühl.«

»Aber …?«

»Aber Ihr tut Eurer Sache nichts Gutes, wenn Ihr Euch mit Männern wie Richard von Löwenstein anlegt.«

»Ich hab mich doch mit dem nicht angelegt. Ich hab ihm nur gesagt, was wahr ist.«

»Ihr seid ihm auf den Leim gegangen, Oberste. Habt Ihr nicht bemerkt, wie er nach Eurer Schwachstelle gesucht hat? Mit seiner Bemerkung über Eure Kriegserfahrung hat er Euch geschwächt und Euch dann mit der Beleidigung Eures Geschlechts den Todesstoß versetzt.«

»Ihr meint … das war sein Plan?«

Von Drossenfeld nickte und bog nach rechts in den Außengang ab, der den innersten Hof umspannte. Irgendwo bellte ein Hund. Der Himmel lag wie eine graue Decke auf der Burg.

»Und ich dachte, er wäre einfach nur ein Arsch«, sagte Krona und schloss zu von Drossenfeld auf. Der lächelte grimmig.

»Das eine schließt das andere nicht aus. Darf ich Euch einen Rat geben?«

»Bitte sehr.«

»Eure nächsten Reformen bringt nicht mit dem großen Paukenschlag durch, sondern nach und nach, auf die diplomatische Art. Menschen werden ärgerlich, wenn man ihnen etwas wegnimmt, ganz gleich, ob sie es zu Recht besessen haben oder nicht.«

»Diplomatie ist nicht meine Stärke.«

»Sagt bloß.« Er nahm sie beim Ärmel und schob sie über eine verschneite Schwelle in den Seitenflügel der Innenburg. »Hättet Ihr ihn geschlagen, Oberste? Wenn ich Euch nicht aufgehalten hätte?«

»Nein!«

Von Drossenfeld bedachte sie mit einem Blick über die Schulter.

»Geschüttelt vielleicht«, gab sie zu.

»Und das hätte euch mehr als nur ein paar Schwierigkeiten eingebracht, königlicher Schutz hin oder her. Ich bitte Euch eindringlich, nehmt Euch meine Worte zu Herzen. Mir ist sehr daran gelegen, dass Ihr lange genug lebt, um den Erfolg Eurer Reformen zu genießen. So, da sind wir.«

»Wo sind wir?«

Von Drossenfeld öffnete eine Tür. Musik drang zu ihnen. »Mühle linksrum, Schritt, zwei, drei«, sang jemand.

»Ach nö«, sagte Krona entnervt.

»Viel Vergnügen.« Von Drossenfeld schlug ihr auf den Rücken, sodass sie nach vorne stolperte. »Es ist wirklich nicht schlimm, wenn man es mal kann.«

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Sie wirbelte herum und starrte die Türklinke an. Für einen Augenblick stellte sie sich vor, dass von Drossenfeld auf der anderen Seite mit all seinem Gewicht dranhing, dann spürte sie eine Hand auf ihrem Arm.

»Frau Feuerfaust«, sagte Bernhart von Ammenberg. »Was für eine reine Freude, Euch zu sehen.«

»Das ist doch eine verdammte Verschwörung«, sagte Krona dumpf.

»Kommt mit, kommt mit«, sagte von Ammenberg und machte eine einladende Geste. »Euer Tanzpartner ist leider noch nicht eingetroffen, aber wir werden uns schon zu helfen wissen.«

Im großen Festsaal hatte sich ein Dutzend Burgbewohner zusammengefunden. Sie standen brav in einer Doppelreihe, die Damen links, die Herren rechts.

Ein Graubart, der von seiner Statur an einen zu groß geratenen Zwerg erinnerte, schritt die Reihen ab. Er hatte sich eine Laute umgehängt. Der Anblick des Instruments versetzte Krona einen kleinen Stich.

»Scheiß drauf«, sagte sie. »Was soll ich machen?«

»Entspannt Euch und empfindet Freude«, empfahl von Ammenberg. »Ihr kennt Ulrich den Starken? Er ist Mitglied meiner Truppe und, so sagt man, der lauteste Lautenspieler diesseits von Zentallo.«

Ulrich vollführte eine graziöse Verbeugung, die man ihm aufgrund seiner Leibesfülle nicht zugetraut hätte, und strahlte über das ganze bärtige Gesicht.

»Was für eine Ehre! Tretet näher! Wir haben im Augenblick einen Herrn zu wenig, wenn es Euch also nichts ausmacht, würde ich Euch in diese Reihe bitten.«

Krona nahm Aufstellung neben einem jungen Kämmerer. Ulrich schob die Reihen ein wenig hin und her, und Krona landete gegenüber einer pausbäckigen Hofdame, die sie unsicher anlächelte. Einstweilen hatte Bernhart sich eine Drehleier umgehängt und begann zu kurbeln. Eine fröhliche Melodie erfüllte den Raum.

»Achtung«, sang Bernhart. »Los geht‘s. Schritt vor und Schritt rück und dre-het Euch, dre-het Euch, Schritt vor und Schritt rück und ver-beu-get Euch!«

Krona machte einen Schritt vor und einen zurück und sah dann zu, wie alle sich lustig umeinander drehten. Ihre Tanzpartnerin streckte ihr die Hand entgegen und sie griff zu, woraufhin die junge Frau ganz erschrocken dreinsah.

»Zart bitte«, sagte sie. »Ihr wollt mit mir tanzen, nicht mich vor dem Ertrinken retten.«

Krona lockerte ihren Griff und ließ sich von ihrer Tanzpartnerin mitziehen, die zumindest ungefähr wusste, wohin es ging. Auf geheimnisvolle Art wurde aus der Doppelreihe ein Kreis, dann ein Doppelkreis, dann ging alles durcheinander und plötzlich hatte Krona eine andere Tanzpartnerin. Sie sah sich nach ihrer ursprünglichen Dame um, doch die tanzte ein Stück reihab mit einem Knappen der Burgwache und schien ganz zufrieden.

Die Herrenreihe verbeugte sich, Krona tat es ihnen gleich und wurde mit einem huldvollen Lächeln ihrer Tanzdame belohnt. Erneut wurden Hände ausgestreckt, und diesmal besann Krona sich auf das Gelernte und hielt die Hand offen und locker. Allmählich begann sie sich zu orientieren. Eine Schlachtreihe zu bilden und im Getümmel den Überblick zu behalten, war nicht so viel anders. Sie würde ihrer Pflicht Genüge tun, die Tanzstunde vielleicht sogar knapp überleben und beim Hoffest mit wichtigeren Dingen als dem Tanzen beschäftigt sein.

»Wun-der-bar!«, sang Bernhart. »Ach-tung, Spirale, geht in die Spirale …«

Sie hob den Lichtstein und starrte auf das Symbol. Etwa in Brusthöhe angebracht, eine Spirale mit zwei Umdrehungen, sorgfältig in den Stein gemeißelt, Reste von heller Farbe noch erkennbar. Sie war sicher, dieses Zeichen auf der Karte gesehen zu haben. Ohne nachzudenken, griff sie in ihre Manteltasche, aber da war die Karte nicht mehr, natürlich nicht, sie war unter dem Panzer des Insektenmenschen zermalmt worden, nichts war übrig, nicht die geraden Zeilen in sauberer Tintenschrift und nicht die Hand, die sie verfasst hatte.

»Krona?«

Sie brachte ihre Knie unter sich und stemmte sich hoch. Griff blind in die Luft, erwischte eine Hand und klammerte sich fest, hörte besorgte Stimmen in der Ferne. Konzentrierte sich auf die Hand, die ihr Halt gab, schmale Finger, knochiges Handgelenk, sehr vertraut, und eine Stimme wie warmer Honig, die ihren Namen sprach.

Sie zwinkerte sich Tränen aus den Augen.

»Wolfram.«

Er lächelte. »Ich hatte mir unser Wiedersehen ja lebhaft ausgemalt, aber dass du mir direkt vor die Füße fällst, war nicht Teil des Plans.«

»Du bist …« Lebendig und gesund, aber natürlich ist er das, was denn sonst.

»… schon da. Wolltest du nicht erst morgen …?«

»Überraschung.«

Er öffnete die Arme und sie lehnte sich hinein, barg das Gesicht an seiner Schulter, ließ sich von ihm festhalten, bis Bernhart von Ammenberg sich neben ihr dezent räusperte.

»Möchtet Ihr Euch einreihen, oder sollen wir ohne Euch weitermachen?«

»Ich bin fertig hier«, sagte Krona, aber Wolfram lachte.

»Das könnte dir so passen. Ich verbringe doch nicht einen ganzen Tag ohne Pause im Sattel, um dann nicht mit dir zu tanzen.«

»Noch dazu, nachdem Ihr die halbe Burg für Euren durchtriebenen Plan eingespannt habt«, fügte von Ammenberg mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Und ich dachte noch, das riecht doch nach einer Verschwörung«, sagte Krona mehr erstaunt als verärgert.

»Reihen wir uns ein«, sagte Wolfram. »Es sei denn, du fühltest dich nicht gut?«

»Mir geht’s prima«, sagte Krona. »Mir war nur schwindelig von all den komischen Spiralen.«

»Dann etwas ohne schnelle Drehungen«, verkündete von Ammenberg. »Eine zentallinische Rotta.«

Ulrich tauschte die Laute gegen eine ausladende Umhängetrommel und gab den Takt vor. Bernhart spielte eine getragene Melodie, und bald fand Krona sich in einem Geflecht aus würdevoll ausschreitenden Tänzern. Wolfram verlor sie kurzzeitig aus den Augen, doch dann tauchte er wie von Zauberhand wieder in einem Tanzkreis auf, nahm ihre Hand und dirigierte sie im Takt in eine Reihe, die sich wiegend vor und zurück bewegte.

»Du hättest einfach fragen können«, sagte sie über die Schulter.

»Schritt links«, sagte Wolfram. »Jetzt. Das andere links. Die Antwort wäre doch sicher nein gewesen, oder?« Er löste seinen Griff und drehte sich aus ihrer Reichweite. Sie sah sich irritiert um und fand mit Verspätung wieder den Platz in ihrer eigenen Reihe.

»Kann sein«, sagte sie, als sie sich das nächste Mal in der Mitte trafen. »Vielleicht auch du hast sie ja nicht alle.«

»Siehst du.«

Er vollführte eine höfische Verbeugung, und sie blieb stehen, während die Damen neben ihr sich anmutig gen Boden neigten.

»Gibt es irgendjemanden in dieser Burg, den du nicht dafür eingespannt hast?«

Er tat, als dächte er nach. »Möglicherweise hat der eine oder andere Pferdejunge nicht Bescheid gewusst. Oh, und die Mönche des Mydalon-Ordens, die verstehen ja keinen Spaß.«

»Blödmann.«

»Und Mühle linksrum. Himmel, Krona, links ist da, wo der Daumen rechts ist!«

»Bereust du’s schon?«

»Weit entfernt.«

»Warte, bis ich dir auf den Fuß gestiegen bin.«

»Mühle rechtsrum, zwei, drei, und auf meine rechte Seite! Au! Du machst das absichtlich, oder?«

Grinsend reihte Krona sich auf Wolframs linker Seite ein. Er nahm sie bei den Schultern und schob sie auf ihren Platz, sie fühlte sich empfänglich für sein Lächeln und seine Berührungen, sie musste wirklich müde sein oder einsam oder beides, und als er sich eine Position weiterdrehte und seine neue Tanzpartnerin mit einem liebenswürdigen Lächeln und einer ritterlichen Verbeugung bedachte, empfand sie für einen lächerlichen Augenblick etwas wie Eifersucht.

Ihre Geduld war längst aufgebraucht, als Bernhart endlich den Schlussakkord kurbelte. Er und Ulrich verbeugten sich unter dem Applaus der Tänzer, und Krona floh aus dem Tanzsaal, damit niemand auf die Idee kam, ihr eine Einzelstunde zu verpassen. Im zugigen Außengang wartete sie, bis Wolfram seine Begrüßungsrunde bei den Spielleuten abgeschlossen hatte. Gut sah er aus, geradewegs wie ein Adeliger, die geflickten Spielmannsroben waren der höfischen Tracht aus Hose, Tunika und Kotta gewichen, sein welliges Blondhaar berührte sachte den Kragen seines Gewandes. Über der Schulter trug er die schmale Schärpe mit den Winterfelder Farben.

»Na?«, sagte er und strahlte sie an. »Hat doch gar nicht wehgetan, oder?«

»Du meinst, abgesehen von den Schmerzen, die es mir bereitet, einen Nachmittag mit einer völlig albernen Beschäftigung zuzubringen?«

»Du hast dich tapfer geschlagen. Du bist die geborene Tänzerin.«

»Ja, klar. Hör mal, du hättest wirklich einfach fragen können. Ich hab eine gewisse Bereitschaft, Dinge zu tun, die dich froh machen. Auch wenn sie sinnlos und albern sind.«

»Tatsächlich?«

»Tatsächlich.«

Er sah sie an, ein wenig siegessicher, ein wenig erwartungsfroh, und einmal mehr stellte sie fest, dass es den schüchternen Burschen nicht mehr gab, mit dem sie ihn gelegentlich noch verwechselte. Er strahlte eine innere Ruhe aus, eine stille Heiterkeit, sie wusste, er hatte seine Abgründe, aber er verbarg sie gut.

»Hat man dir schon Räume zugewiesen?«, fragte sie, bevor das Schweigen sich zu sehr zog.

»Nein«, sagte er. »Ich bin runter vom Pferd und rein in den Tanzsaal.«

»Ich kümmere mich darum. Kann ich dir noch etwas Gutes tun? Tee, Essen, ein heißes Bad?«

»Bitte. Genau in dieser Reihenfolge.«

»Bei zwei von drei leiste ich dir gerne Gesellschaft.«

»Oh. Darf ich mir etwas aussuchen?«

Sie lachte auf. »Nein, das nicht.«

»Wofür auch immer du dich entscheidest, es wird mir ein Fest sein.« Er vollführte eine tiefe höfische Verbeugung. Ein Wachmann nahebei grinste, besann sich aber schnell eines Besseren, als er ihren Blick auffing.

Wolfram ging, um der Königin seine Aufwartung zu machen. Krona leitete Wolframs standesgemäße Unterbringung in die Wege, obwohl sie beinahe sicher war, dass er lieber auf der Ofenbank in der Küche nächtigen würde – so sehr konnte er sich nicht geändert haben – und machte sich dann daran, das Nötigste von dem abzuarbeiten, was während ihres Tanznachmittages liegengeblieben war. Sie setzte ihre Unterschrift unter Briefe, deren Inhalt sie nur zur Hälfte gelesen und noch viel weniger verstanden hatte. Sie fragte sich, was sich zwischen ihnen geändert hatte, woher plötzlich dieses Band kam, das stärker war als Freundschaft und eine gemeinsame Vergangenheit – gut, sie hatten viel zusammen durchgemacht, aber es gab noch mehr Menschen, mit denen sie viel durchgemacht hatte, nur er war anders.

Sie empfing Walter von Drossenfeld und nickte die neuen Dienstpläne ab, absolvierte die Wachablösung und bestimmte die Burgmannen, die sie am nächsten Tag auf dem Übungsplatz sehen wollte. Zwischen Wachstube und Torhaus stellte sich dann die Erkenntnis ein: Er war ihr so nah, weil zum ersten Mal in zwanzig Jahren niemand zwischen ihnen stand. Nicht Mattis, nicht Fenrir, noch nicht einmal Sindri.

Sie zwang sich zu einem Augenblick der Ehrlichkeit. Hätte Fenrir sie nicht verlassen, sie würde jetzt nicht im dunklen Torhaus stehen und mit der Versuchung ringen. Und Wolfram wiederum würde sich kaum so sehr um sie bemühen, wenn Sindri noch da wäre, um seine Tage zu füllen – und womöglich seine Nächte, wer konnte das schon wissen.

»Oberste?«

»Huh? Was?«

Von Drossenfeld. »Ihr seht aus, als hättet Ihr vergessen, wohin Ihr wolltet.«

»Das trifft es ziemlich gut«, sagte Krona, und er lächelte unter seinem struppigen Bart.

»Dann empfehle ich, raus aus der Kälte, und der Rest wird sich finden.«

»Ihr seid heute ein Füllhorn guter Ratschläge.«

Er tippte sich grüßend an die Stirn und verschwand durch die Tür im Torhaus. Krona setzte sich wieder in Bewegung. Ihre Füße waren Eisklumpen. Sich über Männer den Kopf zu zerbrechen, war nicht gesund und führte zu nichts. Sie musste darauf achten, dass es nicht zur Gewohnheit wurde.

Das Abendessen wurde wie üblich an der langen Tafel aufgetragen, um die sich die Ministerialen und Adeligen der Burg versammelten. Lianna hatte Tamin dabei, der sich deutlich mehr für die Menschen interessierte als für das Essen. Seit er laufen konnte, war er ohne Unterlass auf seinen kurzen Beinchen unterwegs, erzählte dem Falkner und dem Jagdmeister von seinen Erlebnissen und ließ sich vom Oberkämmerer auf dem Knie schaukeln. Krona staunte immer wieder, wie wenig der Kleine von der verschlossenen Art seines Vaters geerbt hatte.

An diesem Abend hatte Wolfram zur Rechten der Königin Platz genommen und wurde von Tamin weitgehend mit Beschlag belegt. Krona, die zu spät kam, fand noch einen freien Platz am unteren Ende der Tafel, zwischen dem Schriftgelehrten und der Heilerin. Den Wein, der ihr angeboten wurde, lehnte sie ab und ließ sich stattdessen Tee in den Becher gießen.

»Ich hörte, Ihr wart heute bei Ammenbergs Tanzstunde«, sprach die Heilerin sie an.

»Tatsächlich?«, sagte Krona. »Erzählt man sich das?«

»Kein Wunder, nachdem Ihr Euch so lange und so standhaft geweigert habt. Und? Wie war’s?«

Krona brach sich ein Stück Brot ab. »Nicht ganz so schlimm wie befürchtet.«

»Ich wäre so gerne dort gewesen«, sagte die Heilerin. »So ein stattlicher, gut aussehender Mann!«

»Der Ammenberger? Na ja, ich nehme an, er hat seine Vorzüge.«

»Der Ammenberger doch nicht! Ich spreche vom starken Ulrich! Wenn ich sehe, mit welchem Geschick er die Laute zupft …« Die Heilerin seufzte versonnen. »Ich wüsste zu gerne, ob sein Herz frei oder vergeben ist.«

»Das weiß man bei den Spielleuten nie so genau«, sagte Krona mit vollem Mund. Die Heilerin sah sie von der Seite an.

»Wie kommt Ihr nur jeden Tag mit dieser Unsicherheit zurecht?«

»Huh?«

Die Heilerin deutete verstohlen die Tafel hinauf, wo Wolfram Tamin gerade davor bewahrte, mit der Stirn voraus in die Sauerkrautschüssel zu tauchen.

»Oh«, sagte Krona, »nein! Missverständnis. Wir sind nur Freunde. Alte Freunde. Wir kennen uns schon seit fünfundzwanzig Jahren.«

Die Heilerin lächelte sanft. »Ich würde Euch ja gerne versprechen, dass Euer Geheimnis bei mir sicher ist – leider ist es keines. Die ganze Burg weiß es.«

»Die ganze Burg weiß einen Scheiß.«

Die Heilerin zuckte erschrocken zurück. »Entschuldigt«, sagte Krona eilig. »Wie war noch Euer Name?«

»Rotrud von Trubach.«

»Rotrud. Lasst uns über etwas Anderes sprechen, ja? Bevor das hier noch merkwürdiger wird.«

»Sehr gerne, Frau Feuerfaust. Sagt an, Ihr könnt Euch nicht vielleicht bei Eurem Freund - Eurem guten, alten Freund - für mich verwenden, damit er beim starken Ulrich nachfühlt, ob dieser vielleicht geneigt wäre, mich zu einem Becher Wein einzuladen?«

»Geht’s noch komplizierter?«

»Ich verstehe nicht …?«

»Ladet ihn doch selber ein, zu was immer Ihr wollt. Wein ist vermutlich eine gute Wahl. Ich hab gehört, dass man ihn hinter vorgehaltener Hand den Säufer nennt. Was Euch nicht abhalten soll. Er sieht nicht aus wie ein Säufer. Obwohl. Die wenigsten, die saufen, sehen auch danach aus.«

»Er ertränkt vielleicht den Kummer über seine Einsamkeit im Wein«, sagte Rotrud mitfühlend.

»Ja«, sagte Krona und nahm einen Schluck aus ihrem Becher. »Mit Tee wird das nämlich nichts.«

Sie war froh, als Rotruds zweite Sitznachbarin die Heilerin in ein Gespräch verwickelte und Krona von der Verpflichtung des Tischgesprächs entband. Erst als die Tafel aufgehoben wurde, wandte Rotrud sich wieder an Krona.

»Vielen Dank für Euren Rat, Oberste. Ich werde versuchen, mutig zu sein.«

Krona nickte ihr zu. »Gute Entscheidung.«

Sie sah nach Wolfram, doch der war im Aufbruchsdurcheinander der drei Dutzend Höflinge untergegangen. Sie fand ihn erst wieder draußen auf dem dunklen Burghof. Es hatte zart zu schneien begonnen, und er stand in einem Flecken Mondlicht und ließ Schneeflocken auf seiner ausgestreckten Hand landen. Sie sah ihm an, dass er in Gedanken weit weg war. Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, stellte sie sich neben ihn, und er brauchte eine Weile, bis er ihrer gewahr wurde.

»Ich wünschte, es gäbe weniger Schnee in diesem Winter«, sagte er. »Ich wünschte …«

Er brach ab, sein Blick ging ins Leere.

»Ja«, sagte Krona. »Ich weiß.«

Er nickte und vergrub die Hände in den Manteltaschen.

»Ich bin dir noch einen Tee schuldig«, sagte sie, und wie es seine Art war, zauberte er sich aus dem Nichts ein Lächeln ins Gesicht.

»Du bist mir noch ein Bad schuldig, Teuerste.«

»Dazu müsste ich mir Mut antrinken, und das geht gerade schlecht. Einen Tee könnte ich verkraften.«

»Dann komm. Die Küche der Goldenen Burg ist mir eine der liebsten.«

Sie nahm jede Stufe wie eine Hürde, und als ihr Knie sie nicht mehr tragen wollte, ging sie auf alle Viere. Beinahe mehr als die Schmerzen machte ihr der Durst zu schaffen. Sie hatte den Blutverlust eindämmen können, aber ihre lederne Trinkflasche hatte sie zuletzt am unterirdischen See gefüllt, und seitdem hatte sie zweimal geschlafen. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet, rasende Kopfschmerzen quälten sie. Ihre Schwertscheide scharrte über die Stufen, ihr eigener rasselnder Atem füllte ihre Ohren. Wenn jetzt einer von unten kam, konnte er sie einfach von den Stufen fegen. Sie warf einen Blick in den schwarzen Schlund hinter sich. Egal. Weiter.

Ein Treppenabsatz kam in Sicht. Hatte sie es geschafft? Alle Götter. Ein hölzerner Türsturz, aber dann keine Tür.

Mauerwerk.

Sie saß lange davor, bis sie begriff.

Jemand hatte die Tür nach draußen zugemauert.

Krona riss die Augen auf. Sie lag im Schnee. Fahles Tageslicht umgab sie. Der Durst war verschwunden, die Kopfschmerzen geblieben, um sie herum tauchten höchst besorgte Gesichter auf. Warmes Blut rann ihr von der Schläfe in die Haare.

»Grandirs Gnade, Oberste, das wollte ich nicht!«

Hellenbrecht von Aufsess über ihr, das Übungsschwert noch in der Hand. Stöhnend setzte sie sich auf und betastete ihre Schläfe.

»Ihr seid mir einfach ins Schwert gefallen«, beteuerte Hellenbrecht. »Ich habe noch versucht, den Hieb abzulenken, aber …«

»Ist gut, Junge. Ich hab’s ja überlebt.«

Sie blieb im Schnee sitzen, obwohl die Kälte ihr unangenehm durch die Kleider drang. Das beklemmende Gefühl, eingesperrt zu sein, wich nur langsam. Keller, was für ein Keller? Sie war nicht im Keller gewesen. Sie war nach einer viel zu kurzen Nacht frühmorgens aufgestanden, hatte letzte Vorbereitungen für den Empfang der Gesandtschaft aus Eisenstein getroffen, hatte eilig gefrühstückt und war dann im Laufschritt hinaus auf den Übungsplatz geeilt. Hatte sich ein Übungsschwert gegriffen und begonnen, ein paar adeligen Burschen zu zeigen, wie man einen Kampf überlebte.

»Wie lange war ich weg?«, fragte sie.

»Eine ganze Weile«, sagte Hellenbrecht. »Lambert müsste jeden Augenblick mit der Heilerin zurück sein.«

»Ich brauch doch keine Heilerin.«

»Gestattet mir Widerspruch, Oberste. Ihr blutet ziemlich heftig.«

Sie presste die Hand gegen ihre Schläfe, verfolgte, wie das Blut ihr durch die Finger rann und auf ihren Mantel tropfte. Ihr war schlecht. Die Welt drehte sich um sie. Dann war da Rotrud, die sich über sie beugte und ihr die Hand von der Wunde nahm.

»Das muss genäht werden«, sagte sie. »Kommt mit mir. Eure Übungsstunde ist für heute beendet. Soll ich eine Trage bringen lassen?«

»Soweit kommt’s noch«, knurrte Krona. »Er hat mir schließlich nicht den Fuß abgehackt.«

Gestützt von Hellenbrecht und Rotrud und aufrecht gehalten von eisernem Willen, schaffte sie es ins Krankenzimmer, wo sie sich auf einer Behandlungsliege ausstreckte und gegen die Übelkeit atmete. Sie schickte Hellenbrecht weg, der nicht aufhören wollte, sich zu entschuldigen, und verfolgte müde Rotruds Vorbereitungen – warmes Wasser, saubere Tücher, Nadel und Faden. Ein tönerner Becher, den Rotrud als erstes nahm und ihr auffordernd hinhielt.

»Was ist das?«

»Schlafmohn, gelöst in Branntwein. Gegen die Schmerzen.«

»Brauch ich nicht. Die Schmerzen sind erträglich.«

»Ich habe ja auch noch nicht angefangen zu nähen.«

»Ich trinke das nicht, Rotrud, es muss ohne gehen.«

Etwas in Kronas Stimme veranlasste die Heilerin dazu, den Becher wieder abzustellen.

»Aber warum? Ihr macht es Euch unnötig schwer.«

»Ich habe eine Wette laufen. Können wir dann?«

Rotrud nickte. »Also gut. Aber Ihr müsst ganz stillhalten, damit die Sache nicht ins Auge geht – im Wortsinn.«

Krona schloss die Augen und hielt still, und dann machte sich eine Schar Vögel mit spitzen kleinen Schnäbeln daran, ihr das Fleisch vom Knochen zu picken.

Gerade als die Tortur ins Unerträgliche kippte, tauchte ein höchst besorgter Wolfram neben ihrer Liege auf und griff nach ihrer Hand.

»Was ist bloß passiert?«

»Kleiner Unfall«, schob Krona zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Gleich bin ich fertig«, ermunterte Rotrud sie. »Ein letzter Stich.«

Wolfram wandte schaudernd den Blick ab, und Krona klammerte sich an seine Hand und stand den Rest der Behandlung durch. Schließlich tupfte Rotrud Kronas Schläfe rund um die Naht mit einem kühlen Tuch ab und wickelte ihr einen Verband um den Kopf.

»Am liebsten würde ich Euch zur Beobachtung hierbehalten«, sagte sie. »Mit einem solchen Schlag auf den Kopf ist nicht zu spaßen.«

»Im Leben nicht«, sagte Krona erschöpft.

»Das dachte ich mir. Wenn Ihr Euch übergeben müsst, meldet Euch umgehend bei mir. Das gleiche gilt für Sehstörungen gleich welcher Art oder Erinnerungslücken. Vermeidet Erschütterungen und Aufregung. Herr von Kürenberg, ich bitte Euch, habt ein Auge auf sie.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

Rotrud begann aufzuräumen, und Wolfram half Krona vorsichtig zum Sitzen.

»Du hast dir nicht einfach so einen Treffer eingehandelt«, sagte er leise. »Oder? Du bist wieder ohnmächtig geworden, wie gestern in der Tanzstunde.«

»Ich werde nicht ohnmächtig.«

»Ich war dabei, Teuerste. Und eine Handvoll Höflinge dazu.«

Sie zögerte, aber er sah sie an mit seinen schönen braunen Augen, so voller Sorge, dass sie sich einen Ruck gab.

»Können wir an einen ruhigen Ort gehen? Ich muss dir etwas erzählen.«

Der ruhige Ort, den sie schließlich fanden, war im oberen Wehrgang, windgeschützt und mit Blick auf die Stadt, über der tief die Wolken hingen. Wolfram nahm die seltsame Geschichte so gefasst auf, wie Krona gehofft hatte.

»Du sagst, es fühlt sich nicht an wie ein Traum?«, fragte er, als sie geendet hatte.

»Nein«, sagte sie. »Viel wirklicher. Und es ergibt alles Sinn. Auf eine merkwürdige Art. Und zwar auch, wenn ich wieder wach bin. Ganz davon abgesehen, dass man nicht träumt, wenn man ohnmächtig wird. Oder?«

»Nie davon gehört«, gab Wolfram zu. »Und du kannst handeln? Du bist nicht nur Zuschauerin?«

»Ich tu nichts anderes als handeln. Übrigens genauso, wie ich’s in Wirklichkeit auch tun würde. Ich bin ich. Nur dann doch ­wieder nicht.«

Wolfram schlang die Arme um sich und trat von einem Bein aufs andere.

»Weißt du noch, vor vielen Jahren, die Zauberin, die unserem Sternenprinzen Träume schickte?«

»Warum sollte ich mir selbst Träume schicken? Und es sind keine.«

»Keine Ahnung. Ich überlege nur.«

»Das muss aufhören, Wolfram. Heute Nachmittag kommen die Zwerge, wenn sie nicht inzwischen schon da sind. Ich hab hier eine Aufgabe zu erfüllen. Ich kann nicht vor aller Augen umfallen.«

Wolfram nickte, schwieg und ließ den Blick über die Stadt schweifen. Sie sah ihn an und rang mit sich.

»Meinst du«, sagte sie schließlich, »meinst du … Man sagt ja nicht umsonst, dass Leute sich um den Verstand saufen. Vielleicht hab ich zu spät aufgehört?«

»Es war sicher kein Tag zu früh«, sagte er. »Ich würde den Grund für diese Träume oder Visionen trotzdem an anderer Stelle suchen. Vielleicht bekommt man so etwas, wenn man mal tot war.«

»Das würde erklären, warum Karcharoth immer so schlechte Laune hatte. Aber nein, ich glaube nicht dran. Dass ich tot war, ist über ein Jahr her. Eineinhalb beinahe. Und diese – was auch immer – hab ich seit ein paar Tagen.«

»So plötzlich hat das angefangen?«

»Schlagartig.«

»Hm.«

»Was soll ich machen, Wolfram?«

»Als erstes – mich nachdenken lassen.«

Das tat er für geraume Zeit. Sie lehnte sich gegen die Brüstung, vergrub die Hände in den Manteltaschen und sah ihm zu. Ihre rechte Gesichtshälfte schmerzte. Die Leute würden ihren Verband sehen und fragen, was passiert war. Sie hasste es jetzt schon.

»Gehen wir’s anders an«, sagte Wolfram schließlich. »Konzentrieren wir uns nicht auf die Person, sondern auf die Umgebung. Es gibt eine endlose Spielart von Zaubern, die zwei Seelen verbinden, da werden wir nie fertig.«

»Nicht zwei Seelen. Nicht wie du und ich über das Zauberbüchlein. Ich mit mir selbst.«

»Egal. Beschreib mir, wo du da unterwegs bist.«

»Ein unterirdisches Höhlensystem.«

»Von Zwergen gemacht oder natürlichen Ursprunges?«

»Woher soll ich das denn wissen? Da sind überall Monster, ich achte nicht auf die Inneneinrichtung.«

»Gibt es Treppen, Schächte, rechte Winkel?«

»Ach so. Ja, gibt es.«

»Gut. Weiter. Besonderheiten. Alles, was dir auffällt.«

Krona schloss die Augen. Dunkelheit, Schmerz, Kampf. Sie schauderte und hielt stand.

»Es ist riesig. Ich laufe und laufe, und es nimmt kein Ende. Dunkler Stein. Tief unten gibt es einen See. Manche von den Gängen sind Sackgassen, die werden dann am Schluss ganz schmal und niedrig. In den größeren Gängen gibt es Schienen. Es gibt eine lange Treppe und oben einen Durchgang, aber der ist zugemauert.«

»Bergbau«, sagte Wolfram. »See und Schienen. Kann es sein, dass du in Erendor unterwegs bist?«

»Glaub ich nicht. Es sieht nicht aus wie Erendor. Und ich denke auch nicht an Zwerge.«

»Könntest du, wenn du wieder dort bist, versuchen, die Gedanken dieser anderen Krona anzuzapfen?«

»Wie soll ich das denn machen?«

Wolfram lächelte schief. »Keine Ahnung. Sprecht miteinander – von Frau zu Frau.«

»Ich habe ziemlich damit zu tun, zu überleben, wenn ich dort unten bin. Da ist keine Zeit zum Plaudern.«

»Na gut. Gibt es Zeichen an den Wänden? Etwa in dieser Höhe?« Er hielt sich die Hand an die Brust.

»Ja«, sagte sie erstaunt. »Eine Spirale hab ich gesehen.«

»Das sind Bergmannszeichen«, erklärte Wolfram. »Die Zwerge nennen sie pentan. Sie unterteilen eine Mine in bestimmte Bereiche und finden sich auch auf den Karten wieder. Spirale bedeutet Luftschacht, Wellenlinie bedeutet Wasser, und so weiter.«

»Woher weißt du nur so etwas?«

»Hab ich aufgeschnappt. Karten. Warte. Ich habe eine Idee. Oder nein, warte nicht, das könnte dauern. Ich komme zu dir, wenn ich etwas habe.« Er eilte davon und ließ sie verblüfft zurück. An der Treppe wandte er sich noch einmal zu ihr.

»Keine Kämpfe mehr, hörst du? Steig nicht aufs Pferd. Halte dich von Fenstern fern. Überhaupt von allen erhöhten Punkten. Am besten, du legst dich ins Bett.«

»Hör auf, dir Sorgen zu machen!«

Er hob die Hände in einer hilflosen Geste und verschwand über die Treppe nach unten.

Die Zwerge kamen in der früh hereinbrechenden Dämmerung und brachten feines Schneegestöber mit. Auf ihren zottigen Ponys und vermummt mit Pelzen sahen sie aus wie Besucher aus einer anderen Welt. Rüstungsteile schimmerten matt im schwindenden Licht. Die Eisensteiner Fahne, der schwarze Amboss auf rotem Grund, hing schlaff herunter.

Lianna hatte auf der Treppe zum Pallas Aufstellung genommen, Ehrenwachen zu beiden Seiten. Krona hatte sich hinter ihr postiert. Den Soldatenhut hatte sie sich tief in die Stirn gezogen, aber natürlich sah man den Verband trotzdem und sie hatte schon mehrfach besorgten Fragen ausweichen müssen. Rund um sie drängte sich allerlei geladenes und ungeladenes Burgvolk auf den Stufen. Irgendwo wurde eine fröhliche Melodie auf der Drehleier gespielt.

Die Eisensteiner Besucher ritten in den Burghof ein und hielten vor der Treppe. Ihre Ponys dampften und schnaubten kleine Wölkchen aus ihren Nüstern. Einer der Zwerge setzte ein silbergeschlagenes Horn an und blies hinein. Die Drehleier erstarb.

Als der vorderste Zwerg die Kapuze zurückschlug, erkannte Krona den König von Eisenstein – Dalkur, Sohn des Drangur, Sohn des – noch irgendein Zwerg mit D, sie erinnerte sich nicht, aber sie dachte lieber darüber nach als über die Möglichkeit, dass sie jederzeit vor versammelter Mannschaft umfallen konnte wie ein Baum, in den der Blitz fuhr.