Die Herrin der Minne - Andrea Zech - E-Book

Die Herrin der Minne E-Book

Andrea Zech

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Beschreibung

1255 Antwerpen: Hadewijchs Geburt als Mädchen ist ein Schock für die Eltern. Der Vater lehnt sie ab, die Mutter will nichts von ihr wissen. Mit ihrer ersten Harfe tritt auch der Lehrer Maître Guiscard in ihr Leben. Sie folgt ihm an den königlichen Hof nach Frankreich. Bald merkt Hadewijch, dass sie Königin Marias Konkurrentin um Guiscard ist. Zeitgleich entsteht eine Freundschaft mit Marguerite Porete, deren Mut und Begabung sie anspornen. Doch Marguerites Buch "Der Spiegel der einfachen Seelen" führt diese 1310 auf den Scheiterhaufen inmitten von Paris. Kann Hadewijch ihren eigenen Weg in einer Welt finden, in der Männer herrschen?

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Seitenzahl: 545

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Inhalt

Impressum:

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Nachwort

Die Autorin

Impressum:

Zech, Andrea: Die Herrin der Minne –

Das Schicksal der Hadewijch von Antwerpen

Hamburg, acabus Verlag 2023

1. Auflage 2023

ISBN 978-3-86282-850-0

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-851-7

Lektorat/Korrektorat: Michael Haitel

Umschlaggestaltung: Guter Punkt – Agentur für Gestaltung und Buchdesign, München

Buchsatz & Innengestaltung: Phantasmal Image

Fotograf Autorenbild: Anne Faden

Innengrafiken: Shutterstock

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:

(www.verlags-wg.de), acabus Verlag (bedey-thoms.de)

©acabus Verlag, Hamburg 2023

Gedruckt in Deutschland

Andrea Zech

DIE

HERRIN

DER

MINNE

Das Schicksal der

Hadewijch von Antwerpen

Prolog

Paris 1310: Hadewijch erzählt …

H ier stehe ich nun. Allein. Die Menge hat sich verlaufen. Es ist endlich vorüber. Der Geruch von Rauch und verbranntem Fleisch beißt in meine Nase. Ich schließe die Augen. Ich habe Marguerite nur dreimal gesehen. Das erste Mal als junge Frau in einem Gewand aus grobem Leinen. Das zweite Mal als Lehrende mit einem strahlenden Geheimnis. Das dritte Mal, viel später, auf dem Scheiterhaufen. Hier, wo ich jetzt stehe, wurde sie verbrannt: mitten in Paris. Auf der Place de Grève. Ich habe es gesehen. Ich habe alles gesehen. Nicht nur der Rauch beißt.

Nein. Eine Frage ist es, die mir weitaus heftiger die Tränen in die Augen treibt: Hätte ich es verhindern können?

Teil I

Antwerpen 1255

1

Kein Sohn

„Ein Mädchen! Verdammt! Was soll ich damit anfangen?“ Die Stimme des grobgebauten Mannes wurde lauter. „Weib, sag mir: Warum hast du mir keinen Sohn geschenkt, einen Erben meines Namens?! Mein Geschlecht wird aussterben, und du bist schuld!“ Er wandte sich ab und stampfte zornig aus dem Zimmer. Der schmalen Frau liefen die Tränen über die Wangen, und sie wischte sie nicht ab.

„Na, na, wer wird denn da weinen, Herrin. Ihr habt ein kerngesundes kleines Mädchen zur Welt gebracht!“, mischte sich die Amme energisch ein und legte sich die Kleine an die Brust.

„Ach, Nina … ich habe versagt. Mich versündigt. Nun hat mich Gott der Herr mit einem Mädchen bestraft.“

„Unsinn.“ Ein schelmisches Lächeln überzog Ninas großzügig geschnittenes Gesicht. Alles an ihr war üppig und groß: ihre braunen Augen, ihre vollen Lippen, ihre Hüften und ihr Busen. „Selbst Christus wurde von einer Frau geboren und gestillt.“

„Bitte sei still!“, beschwor Eve sie. „Wenn dich jemand hört … Das sind lästerliche Reden!“

„Wie hübsch sie ist! Schaut nur, die zierlichen Händchen.“ Helles Haar klebte an dem weichen Köpfchen. Zwar war das Mädchen noch verschrumpelt und gerötet von den Anstrengungen der Geburt, aber es hatte ein erstaunlich ausdrucksstarkes Gesichtchen. Nina schloss sie sofort ins Herz, als die Kleine ihren Finger umklammerte und genüsslich schmatzte, während sie trank.

„Auf welchen Namen soll sie getauft werden?“

„Das ist mir gleichgültig. Mich stürzt sie ins Unglück. Gib ihr eben irgendeinen Namen“, antwortete Eve barsch.

„Was haltet Ihr von Hadewijch?“ Versonnen schaute Nina das Neugeborene an. Sie kannte niemanden, der so hieß. Der Name hatte einen guten Klang. Deswegen passte er zu dem winzigen Wesen in ihren Armen, das gerade eingeschlafen war. „Seht nur, Herrin, sie ist eingeschlummert. Wie süß sie schläft.“ Entzückt betrachtete Nina den Säugling. Es war ihr, als hätte sie ihn selbst geboren. Das Bild des leblosen Mädchens, das nur wenige Tage nach der Geburt gestorben war, kehrte schmerzhaft deutlich zurück. Die Kleine kuschelte sich an ihren warmen Körper. Der Schmerz wurde milder. Endlich.

„Wie dem auch sei. Ich möchte das Zeugnis meines Versagens nicht vor Augen haben, hast du verstanden, Nina? Du sorgst für sie.“

Die Amme nickte. „Sehr wohl, Herrin.“ Gerne, fügte sie im Stillen hinzu.

„Du bekommst ein anderes Zimmer. Es wird alles bereit gemacht.“ Eve schloss die Augen. „Und lass den Priester rufen.“

Wenig später trug Nina den Säugling behutsam ins Schlafgemach und legte ihn in ihr breites Bett. „Hadewijch.“ Sie lächelte. „Sei willkommen, mein Kind.“

Winter. Graue Tage. Januarkälte. Die hohe Stadt Antwerpen mit den beiden Türmen zog sich in sich selbst zurück. Die Schelde, Fluss und Lebensader der Stadt, war mit einer dicken Schicht aus gefrorenem Eis bedeckt. Der Hafen verstummte. In den engen Gassen trieben die dick vermummten Menschen wie Flocken. Der Schnee dämpfte die Geräusche und das Leben. Wer nicht hinaus musste, blieb drinnen am Feuer. Die Mauern umschlossen das geräumige Anwesen wie eine Falle.

Hadewijch war rastlos. Sie zählte nun ungefähr sieben Winter. Ihr helles Haar war nachgedunkelt und lag in strengen, goldbraunen Flechten um ihren Kopf. Regelmäßig besuchte sie die Messe, eine Abwechslung, wo sie vieles beobachten konnte. Manchmal nahm Anna, die Köchin, sie auf den großen Markt mit.

Doch etwas hatte sich verändert. Nina und ihre Mutter tauschten seltsame Blicke. Die Dienstboten tuschelten und unterbrachen ihre Gespräche, wenn sie sich ihnen näherte. Seit ihr Herr Vater fortgeritten war. Es lag in der Luft. Hadewijch konnte es fast auf der Haut spüren. Als sei etwas Fremdes eingetreten und herrschte nun zu Hause. Nicht nur dort – sondern auch in ihr. Da war dieser einseitige Kopfschmerz in ihrer linken Schläfe. Noch nie dagewesen, dieses Hämmern. Sie rieb sich die Augen. Farben tanzten vor ihnen. Wenn dieser Schmerz kam, änderte sich ihr Gesichtsfeld, zuckte in Ringen und Farben. In ihrem Kopf kreisten Dinge, die sie beunruhigten. Sie schluckte schwer. Ein metallischer Geschmack lag in ihrem Mund. Sie hatte keinen Appetit. Übelkeit durchdrang ihren Körper.

Schließlich fragte sie die einzige Person, der sie vertraute: „Was ist mit mir?“

„Tut dir etwas weh, Kind?“

Die Kleine nickte schwer. „Mein Kopf.“ Sie musste eine Pause machen.

„Wo ist mein Herr Vater?“

Die Amme befeuchtete ihre Lippen. „Mein Mädchen! Wollen wir in die Küche gehen, um zu schauen, was die Anna bäckt?“

„Mir ist nicht gut. Und versuche bitte nicht, mich zu zerstreuen. Das gelingt dir ohnehin nicht!“

Nina seufzte. „Das hatte ich auch nicht gehofft. Höre, mein Kind, lass uns darüber beten und schweigen.“ Sie zuckte zusammen. „Kleines, was ist dir? Sprich!“

Hadewijch wirkte starr und abwesend. Plötzlich presste sie die Hände auf die Schläfen und schrie leise auf. In ihren Ohren sauste und rauschte es. Vor ihren Augen flimmerte es unruhig. Bildfetzen, die ihr Herz in Galopp versetzten. Zwei rote Hände. Ein Weinschlauch. Die Kräuter. Fast einen Mond war es her. Ja, sie hatte zugesehen, als niemand sie beachtete. Sie war schmal, sie war leise. Ein Mädchen. Das zählte nicht. Der Schmerz klopfte jetzt stärker, er schien ihre linke Schläfe zu spalten. Ihre linke Körperhälfte wurde taub. Sie konnte nichts mehr sehen, nur noch spüren. Das Kopfweh löste sie auf. Nur noch pochender Dämmer blieb zurück.

Nina musterte sie besorgt und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie liebte Hadewijch so sehr wie ein eigenes Kind, sogar mehr als die Tochter, die sie so früh verloren hatte. Aber jetzt ging von ihr etwas Unheimliches aus. So, als ob sie weit älter als ihre Jahre war. Oder war sie etwa ein Wechselbalg?! Nein. Unsinn. Nina schüttelte energisch den Kopf. Was für ein Einfall! Wechselbälger waren unersättlich und fraßen allen die Haare vom Kopf. Nina hatte Hadewijch selbst an ihrer Brust gestillt. Wie reizend sie immer getrunken hatte! So maßvoll, so bescheiden. Das Mädchen war in jedem Fall ein Mensch. Obwohl es so absonderlich war. Doch nicht nur merkwürdig, sondern vielmehr … besonders. Viel zu besonders. In solchen Momenten vereiste die Sorge um das geliebte Kind Ninas Herz und Hände.

Hadewijch rieb sich die Schläfen. „Vorhin … als ich diese Kopfschmerzen hatte … ist mir eingefallen … Kommt mein Herr Vater je wieder zurück?“

„Ja … nein …“ stammelte Nina.

„Amme.“ Dieser erwachsene Tonfall, fest und bestimmt.

Sie hatte sich wieder gefasst. „Kind, er wird seit einem Mond vermisst. Alle Nachforschungen haben nichts ergeben. Frag lieber nichts.“

Die Kleine heftete ihre Augen forschend auf das Gesicht Ninas. Sie liebte seine großzügigen, beruhigenden Züge. „Du …“, fragte sie schmeichelnd und schmiegte sich an die Amme. „Hast du auch manchmal viele Dinge in dir drinnen, die du wissen und fragen möchtest?“ Sie machte eine Pause. „Wenn ich Kopfweh habe, sehe ich Farben, und Kreise, und Muster … und ich spüre sogar Töne … Du auch?“

Panisch schüttelte Nina den Kopf. „Nein, nie. Und du …“ Damit stürzte sie zu Hadewijch und umschlang sie mit beiden Armen. „Du darfst mit niemandem über diese Dinge reden. Hörst du? Versprich es mir!“

„Ist es denn böse?“

Nina seufzte. „Nicht böse. Nur anders. Aber anders ist für viele schon böse. Du wirst das verstehen, wenn du älter bist.“

„Ich werde das nie verstehen!“ Die Kleine reckte das Kinn hoch und stampfte mit dem Fuß auf.

„Hadewijch! So darf sich ein wohlerzogenes adliges Mädchen nicht benehmen!“

„Ich bin eben kein wohlerzogenes Mädchen!“ Hadewijch kicherte. In dem Moment hatte sie nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit jener fremdartigen Person von eben. „Und ich hab jetzt Hunger! Lass uns in die Küche gehen!“ Die Kleine griff nach Ninas Hand und hüpfte ungeduldig auf und ab. „Jetzt möchte ich gern etwas essen! Mein Kopfweh ist weg!“

Gemeinsam gingen sie in die große Küche. Gusseiserne Töpfe und Pfannen hingen an den geschwärzten Wänden. Obwohl Hadewijch hier eigentlich wenig Zeit verbringen sollte, schlüpfte sie immer wieder in die rauchige Küche. Ich mag es, wenn die Dienerschaft redet, dachte die Kleine. Da erfährt man jedenfalls etwas Neues. Warum Gent und Brügge immer reicher werden. Was die Kaufleute auf ihren Reisen alles sehen und erleben. Dass der älteste Sohn des Markgrafen nicht ganz richtig im Kopf ist. Sie seufzte. Meine Frau Mutter spricht ja kaum und mit mir schon gar nicht. Die einzige Mahlzeit am frühen Nachmittag ist so langweilig wie ein Vollmond, der nicht aufgeht.

Die Köchin Anna riss sie aus ihren Gedanken. „Magst du ein Stück Anisbrot, junge Herrin?“

„Mit Vergnügen!“ Hadewijch verneigte sich anmutig, so wie sie es bei ihrer Mutter beobachtet hatte. Die Dienerschaft lachte. Genussvoll knabberte Mädchen das knusprige Brot.

Ihr Herr Vater war ihr so gut wie unbekannt. Sie war eine ständige Enttäuschung für ihn gewesen. Er wollte einen Sohn und sonst nichts. Hadewijch erinnerte sich sehr genau an ihre erste und letzte Unterhaltung. Sie hatte zahllose Blumen gesammelt und daraus einen Kranz geflochten. Vergissmeinnicht, roter Klee, Veilchen, Gänseblümchen, wilde Rosen. Nina hatte ihre geschickten Finger gelobt, und Hadewijch war sehr stolz auf ihr Werk gewesen. Sie saß aufgeregt im Hof und wartete. Er war drinnen bei ihrer Frau Mutter, die wieder einmal eine Fehlgeburt erlitten hatte. Auch diesmal war sie knapp mit dem Leben davongekommen. Sie hörte ihn schreien und betrachtete ihre Hände, die fest den Kranz umklammerten. Als sie seinen Schritt hörte, rannte sie ihm entgegen. „Herr Vater, schaut einmal, was ich für Euch gemacht habe!“

Er warf ihr einen wütenden Blick zu und schleuderte den Kranz zu Boden. Zornig trat er die Blumen in den Dreck. „Was soll ich damit, Mädchen? Dummes Ding – wozu soll das gut sein? Wozu willst du gut sein? Ich brauche einen Erben, und du …“ Er machte eine Pause und betonte jedes Wort. „ … bist. Wertlos.“

Hadewijch stand ganz still. Wertlos. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie schluckte daran, drückte sie weg. Er marschierte davon. Das Letzte, was sie von ihm sah, war sein mächtiger Rücken. Danach wich sie ihm aus. Er merkte es nicht einmal.

Die Erinnerung an diese Szene kam plötzlich mit voller Wucht zurück wie ein Schlag. Wieder hörte sie seine demütigenden Sätze, sein Lachen und spürte seine Verachtung. Ihr Übermut war wie weggeblasen. Tiefe Traurigkeit überschwemmte sie schlagartig. Das Anisbrot schmeckte auf einmal bitter. Wertlos. Hadewijch stürmte ins Schlafgemach, hilflos und zornig und fing an zu schluchzen.

„Kind, was hast du bloß?“ Nina war ihr nachgeeilt und setzte sich zu ihr auf das Bett, in dem sie beide schliefen. Hadewijch klammerte sich an sie. „Nina, warum kann ich kein Junge sein? Mein Herr Vater hat gesagt, ich bin wertlos.“

„Lass ihn. Was würdest du gern machen, wenn du ein Junge wärst?“, fragte Nina sanft.

„Ich würde gerne so viel wissen! Ich möchte lesen und schreiben lernen. Auf Latein. Ich will die Harfe spielen und Liebeslieder singen wie die Troubadours. Und so viele Handschriften studieren, wie ich kann!“, sprudelte es aus der Kleinen heraus.

„Mädchen … du hast Einfälle! Latein lesen …“ Die Amme kicherte. „Wobei … Warum nicht … Jetzt ist ein günstiger Zeitpunkt. Die Zügel des Hauswesens sind gelockert … Sprich mit deiner Frau Mutter.“

Mit einem Ruck setzte sich Hadewijch auf. „Du hast recht. Wozu warten?“ Sie wusch sich das tränenverschmierte Gesicht mit kaltem Wasser und flitzte davon.

„Frau Mutter, ich möchte etwas sagen!“

Eve schreckte auf. Sie war so überrumpelt, dass sie Hadewijch nicht zurechtwies, sondern ihr mit einer Handbewegung die Erlaubnis zum Sprechen erteilte.

„Mein Herr Vater ist fern.“

Eve nickte. Zum zweiten Mal war sie zu überrascht, um etwas anderes zu tun.

„Dann könnte ich doch Unterricht erhalten, oder? Es wird sowieso Zeit für meine adlige Erziehung.“ Die Amme hatte recht. Jetzt, wo ihr Herr Vater nicht mehr lebte, boten sich ihr neue Möglichkeiten. Er war strikt dagegen gewesen, dass Mädchen etwas lernen sollten. Wozu, wenn es keine Chance hatte, die Laufbahn eines mächtigen Kirchenmannes einzuschlagen?! Jetzt aber zählte seine Meinung nicht.

„Du meinst, wie eine höfische Dame?“, fragte ihre Frau Mutter zweifelnd.

Hadewijch nickte heftig. „Ja, ich bin jetzt alt genug und … es verbessert vielleicht meine Aussichten für später.“ Hadewijchs Antwort kam schnell. Sie hatte sich alles gründlich überlegt. Hoffentlich dachte ihre Frau Mutter, sie plane eine besonders vorteilhafte Heirat für sich. Das war ein klares und einfaches Ziel. Die Wirklichkeit dagegen verhielt sich viel komplizierter. Es gab etwas in ihr, ein Etwas, das Unaussprechliches verlangte … Und dieses rätselhafte Etwas dürstete nach Neuem. Hadewijch nickte bekräftigend.

„Tochter, du weißt: Als Mädchen musst du zurückhaltend sein. Emsig. Freundlich. Das sehen die Männer gern. Vielleicht würde es dir besser tun, mehr Handarbeiten anzufertigen …“

Handarbeiten! Hadewijch hasste Web- und Stickarbeiten. Sie fühlte sich dabei wie eine Fliege im Spinnennetz. Jeder Faden, sei er aus Flachs, Wolle oder sogar Seide, schien sie fester einzuschnüren. Die Zeit gefror zur Ewigkeit. Und sie war hoffnungslos darin eingeschlossen. Sie hatte Angst, sich zu verraten. Deshalb sagte sie nichts und schwieg bescheiden.

„Wobei … wir könnten es versuchen. Du brauchst eine adlige Erziehung. Wenn du deinen Anteil an den häuslichen Handarbeiten verdoppelst, erhältst du Unterricht im Singen, Tanzen und Musizieren.“

Hadewijch war klug genug, nicht nach dem Lesen und Schreiben auf Latein zu fragen. Ein kleiner Sieg war besser als eine große Niederlage. Sie bedankte sich artig. Sie hegte schon seit Längerem den Verdacht, dass auch ihre Frau Mutter die Handarbeiten als eine Last empfand. Aber wenn sie der Preis für den begehrten Unterricht waren, warum nicht. Das Mädchen war nicht wählerisch. „Wenn der Unterricht erst einmal angefangen hat, kann sich noch vieles ändern“, tröstete sie sich im Stillen. Entweder konnte sie ihre Frau Mutter noch umstimmen. Oder den Hauslehrer zu einigen geheimen Lektionen überreden. Hauptsache, ihr Onkel mischte sich nicht ein.

Die Diener hatten die Speisen aufgetragen. Sie griff nach dem Brot und tunkte es in die große Schüssel auf dem Tisch. Schweinefleisch in einer kräftigen Sauce mit Bohnen. Und als Nachtisch würde es sicher ein paar geschmorte Äpfel geben. Lecker. Sie versuchte, nicht zu schlingen und die Ellbogen nicht aufzustützen. Ihre Frau Mutter legte Wert auf Tischmanieren. Als sie gerade nicht herschaute, trank die Kleine in großen Schlucken ihren Wein. Sie mochte das Gefühl von sanftem, sausendem Schwindel im Kopf und das leise Klingen in den Ohren. Wie es wohl wäre, in den Orient zu reisen, wo die Kreuzfahrer lebten und wo Pfeffer, Safran und andere Herrlichkeiten herkamen …

Im Schlafgemach war es kühl, doch nicht kalt. In der Ecke stand eine mit Metallbeschlägen verzierte Eichentruhe. Das Bett war mit Schaffellen bedeckt. Hadewijch fröstelte und kuschelte sich fest ein. Kaum hatte sie die Augen geschlossen, kamen die Bilder wieder, so deutlich, als wären sie gemalt. Ihre Erinnerungen, die sich zu neuen Mustern anordneten. Der Kopfschmerz hatte sie heraufgespült: Ihr Herr Vater, wie er grußlos davonritt. „Wenn ich zurückkomme und du nicht schwanger bist, wirst du meine Züchtigung fühlen, Weib! Ich breche dir alle Knochen im Leib!“ Eve hatte aschfahl im Hof gestanden und ihre Oberarme umklammert. Hadewijch schweigsam wie ein Schatten neben ihr. Sie hatte die Arme ihrer Mutter gemustert: Striemen und blaue Flecken. Aber keine Tränen. Das war Ehealltag. „Was steht Ihr hier wie eine Tote, Herrin?“, hatte Nina gefragt und war an ihre Seite getreten. „Ihr wisst doch, was zu tun ist.“

Eve hatte ihr einen langen Blick zugeworfen und nickte.

„Komm, Hadewijch“, hatte ihre Amme zu ihr gesagt. „Wie müssen feine Kräuter suchen.“

Jetzt verstand Hadewijch plötzlich: Es mussten giftige Kräuter gewesen sein. Fingerhut. Sie wollte ihn sich auf die Finger stecken. Er war so hübsch gewesen in seinem blassen Violett. „Fass die bloß nicht an!“, hatte die Amme sie angefahren.

„Nicht einmal die schwarzen Beeren?“, hatte Hadewijch gefragt.

„Die erst recht nicht! Du kannst zuschauen und schweigen, Kind, wie sich das ziemt.“ Die beiden roten, abgearbeiteten Hände hatten die Kräuter mit Wein verkocht. Natürlich. Unbemerkt hatte sie dabeigestanden. Das also. Ihr Herr Vater hatte vergifteten Wein in seinem Lederschlauch getrunken. Auf seiner Reise. Deshalb war er nicht zurückgekommen. Es war alles geplant gewesen. Er sollte sterben.

Hadewijch fuhr hoch. Sie war mit kaltem Schweiß bedeckt. Ihr Kopf schmerzte wieder, schlimmer als zuvor. Sie kroch aus dem Bett und übergab sich.

Sie war froh, als die Amme kam. Nie hatte sie etwas anderes als Trost und Geborgenheit von dieser Frau erfahren. Sie war wie eine Mutter für sie. Mochte sie getan haben, was sie wollte.

Das Mädchen ließ sich mit erhobenen Armen das schweißnasse Nachthemd wechseln. Die Amme schlüpfte zu ihr ins geschnitzte Bett. Hadewijch mochte den Geruch der Eiche. Nina hatte ihr erzählt, dass Eichenrinde Heilkräfte hatte. Sie wusste solche Dinge, aber offenbar noch weit mehr.

„Wirst du zur Beichte gehen, Amme?“, flüsterte sie ihr besorgt zu.

Nina lächelte. „Wenn es dich beruhigt, Kleines.“

Das Bett ächzte, als sie sich hineinlegte. „Träumst du manchmal auch schreckliche Sachen, Amme?“, murmelte sie schlaftrunken. Deren Scheltworte begleiteten sie in den Schlaf. Der üppige Körper neben ihr strahlte eine beruhigende Wärme aus. Sie schlang die Arme um ihn. Die quälenden Bilder, die Erinnerungen, ja, selbst der Kopfschmerz verblassten allmählich. Sie drückte sich fest an die schnarchende Nina.

Hier war sie in Sicherheit.

2

Unterricht für ein

wissbegieriges Mädchen

„Heute wirst du deinen ersten Unterricht erhalten“, verkündete Nina. „Pater Gottfried, Abt und Chorleiter im Zisterzienser-Kloster von Antwerpen.“ Hadewijch senkte den Kopf, um ihr Lächeln zu verbergen. Gespannt wartete sie auf die vereinbarte Stunde. Ein molliger Mann wurde hereingeführt. Er hatte einen rötlichen Stiernacken, seine Hände waren plumpe Pranken.

„Jungfrau Maria, Jesus Christus und alle Heiligen!“, seufzte sie insgeheim, als er ihr vorgestellt wurde. Ob dieser Mann ihr tatsächlich das Musizieren beibringen konnte? Trotzdem verneigte sie sich und murmelte höflich: „Es ist mir eine große Ehre, die ich mit demütigem Dank empfange!“

„Dann wollen wir sogleich beginnen, junges Edelfräulein!“ Der Pater gab seinem Begleiter ein Zeichen, und der stellte die mächtige Harfe auf.

Hadewijch entfuhr ein Ausruf des Staunens. „Was werdet Ihr tun, Meister?“

„Höre aufmerksam zu!“

Hadewijch nahm auf einer Holzbank Platz und faltete die Hände im Schoß. Dann brach eine Flut von Klängen über sie herein. Eine Naturgewalt. Überwältigt schloss sie die Augen. Unter ihren Lidern entstanden Farben und Muster, die sich ineinander verschlangen und wieder auflösten. Sie war glücklich. Sie war traurig. Noch nie hatte sie so empfunden. Die Musik schien sie in einen paradiesischen Garten zu locken. Als die Töne verstummten, blinzelte Hadewijch wie benommen, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht. „Wie … wie habt Ihr das gemacht?“

Pater Gottfried lächelte. Jetzt sah sie die Freundlichkeit in seinen Wasseraugen. „Du scheinst nicht unmusikalisch zu sein. Sieh her!“ Er legte seine Hände auf die Saiten und zupfte. Die plumpen Finger flogen wie Vögel. Vollkommen schwerelos. Das Mädchen staunte. Waren das noch dieselben Hände? Wie leicht sie sich bewegten. Ganz versunken lauschte sie seinem Spiel.

Als Pater Gottfried geendet hatte, legte er ihr die Harfe schräg an die rechte Schulter. Sie spürte kein Gewicht. „Jetzt kannst du Arme und Hände frei bewegen. Versuch einmal zu zupfen!“

Das Mädchen probierte ein bisschen. Es hatte eine Melodie im Kopf, ein Lied, das es von seiner Amme oft gehört hatte.

Der Meister nickte. „Gar nicht schlecht. Kannst du das nachspielen?“ Er zupfte eine liebliche Melodie. „Schau, so! Finger krumm, wie bei einer Katze! Ja, besser!“

Hadewijch griff begeistert in die Saiten. Es war gar nicht so schwer, wie sie befürchtet hatte. Ab und zu erwischte sie zwar eine falsche, aber bekam die Melodie irgendwie zusammen. Die Töne selbst klangen überraschend rein. Ihre Wangen röteten sich, so sehr war sie bei der Sache. Niemals zuvor hatte sie ein solches Vergnügen empfunden. „Noch eins, bitte!“

„Gut, das ist schon schwerer!“

Hadewijch kämpfte mit den Saiten. Jedoch hörte sie die Melodie ganz klar in ihrem Kopf. Sie spürte ihre Ungeduld, wenn sie nicht gleich die richtige Saite traf. Im Vergleich zu ihrem Lehrer bewegten sich ihre eigenen Hände schwerfällig und langsam. Trotzdem schaffte sie es, das Stück zu Ende zu spielen.

Pater Gottfried wiegte den Kopf hin und her. „Du verdienst es, eine eigene Harfe zu bekommen. Du hast ein gutes Ohr. Das kann man nicht erlernen. Kannst du mir etwas vorsingen?“

Das Mädchen nickte und sang ein Volkslied, das sie in der Küche gehört hatte. Auf sein kurzes Nicken hin folgte ein „Halleluja“. Etwas in ihr löste sich, und sie sang es noch einmal, aber verändert, noch heller.

„Nicht übel, deine Stimme. Sehr klar. Gott hat dich beschenkt, um ihn zu loben. Jetzt etwas Schwieriges. Ich singe voraus, du mir nach.“

Damit begann der Unterricht. Bald darauf erhielt sie eine Harfe aus Ahornholz mit zweiundzwanzig Darmsaiten. Pater Gottfried war mit Leib und Seele Musiker. Die Musik kam für ihn gleich hinter Gott. Sie liebte das Gefühl, wenn Wörter und Klänge miteinander verschmolzen.

Hadewijch lernte schnell. Ihr Geist schien alles aufzusaugen wie ausgedörrte Erde das Wasser in der Sommerhitze. Als sie ihm eines Tages ein selbstkomponiertes kleines Lied vortrug, strahlte er begeistert über sein rotbackiges Gesicht. „Ausgezeichnet, Hadewijch!“ Er nickte ihr zu. „Wärest du kein Mädchen, würde ich dir die Leitung meines Chors übertragen!“, meinte er seufzend. „Du bist musikalischer als alle Novizen, die ich je unterrichtet habe.“

Pater Gottfried brachte ihr religiöse Lieder bei und ermutigte sie, eigene Melodien zu komponieren und zu ihren Texten vorzutragen. Andere Lieder, die zum Beispiel von Sagen handelten, mochte er leider nicht. Aber nach langem Bitten lehrte er sie die lateinische Sprache. Mit Feuereifer stürzte Hadewijch sich hinein. Wörter und Wendungen, die ihr gefielen, sagte sie sich sogar noch beim Einschlafen vor. Sie freute sich auf komplizierte Texte in dieser klaren Sprache. Doch erhielt sie nur einfache Manuskripte, um Lesen zu üben.

„Das genügt vollauf“, erklärte Pater Gottfried.

„Aber warum?“, fragte sie ungeduldig. „Ich möchte noch mehr wissen!“

„Ihr seid ein adliges Fräulein, Eure Erziehung und Eure Kenntnisse müssen zu Eurem Geschlecht passen.“

„In der Musik darf ich alles lernen!“, wandte Hadewijch ein.

„Ja, die Musik lobt den Herrn. Selbst die Engel singen und spielen. Seid bescheiden und zufrieden, wie es Euch ansteht.“ Er machte eine Pause. Sie seufzte.

„Schaut, dafür habe ich ein neues Lied für Euch von einem angelsächsischen Mönch! Es nennt sich Butterfly!“, meinte Pater Gottfried tröstend und zupfte die Saiten. Eine Melodie erklang, bei der man den Schmetterlingen beim Schweben im Sonnenlicht geradezu zusehen konnte. Die Klangfarben packten Hadewijch sofort. Zuerst machte sie ein paar Missgriffe, aber dann floss die Musik. Zusammen klang es noch stimmiger. Danach nickte er anerkennend. „Nutze deine Gabe und erfreue den Herrn! Denk immer an die anderen, wie es sich ziemt.“

Sie nickte, den Kopf voller Melodien und brabantisch gefärbter Verse. Sie behielt vieles davon für sich, aus Sorge, Pater Gottfried hielte sie für unbescheiden. Sonst stellte er am Ende den Unterricht ein. Die Musik half ihr über viele trübe, einförmige Stunden voller Handarbeiten hinweg. Sie war der Lichtpunkt in ihrem Leben.

Trotzdem wurde Hadewijch mit den Jahren immer ungeduldiger. Ihre Neugier und der Drang, mehr zu wissen, ließen sich kaum noch unterdrücken. Es kostete sie immer mehr Kraft, ihre innersten Wünsche zu verbergen. Als ihre erste Monatsblutung einsetzte, kam der hämmernde Kopfschmerz zurück, zuerst links, dann rechts. Mit ihm die zuckenden Bilder, die sich zu Kreisen wanden wie Kränze. Sie befolgte aber den Rat ihrer Amme und sprach zu niemandem darüber. Außerdem lernte sie jene ziehenden Schmerzen im Unterleib kennen. „Es geht dir nach der Frauen Weise“, lächelte Nina stolz und kochte ihr einen Trank aus Frauenmantel und bitterem Fenchel. Sie süßte ihn mit Honig. „Hast du dir die Kräuter gemerkt? Du musst das alles wissen.“ Hadewijch nickte.

Ihr Onkel und ihre Frau Mutter begannen allmählich von Heirat zu sprechen. Sie fürchtete, ihr Leben wäre dann zu Ende, sobald ihre Familie sie an irgendeinen Adligen losschlagen konnte. Hadewijch war jetzt in ihrem fünfzehnten Winter und der Zeitpunkt rückte bedrohlich näher. Doch zuerst erschien – Maître Guiscard. Der junge französische Universitätsgelehrte und Hofmann war für die feinen Damen im Herzogtum Brabant der letzte Schrei. Wer etwas gelten wollte, engagierte ihn. Die jungen Adligen erhielten dank ihm den letzten Schliff. „Danach werden wir dir einen Gemahl suchen“, hatte ihr Onkel angekündigt, und ihre Frau Mutter hatte beifällig genickt.

„Meinen Gruß, junge Edelfrau! Ihr seid also die Dame, die ich unterrichten soll?“

Hadewijch drehte sich um. Das war ihr neuer Lehrer? Den hatte sie sich ja viel älter vorgestellt! Schwarze Locken im Nacken. Und wie schelmisch die dunklen Augen funkelten! Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

„Möchtet Ihr mich nicht begrüßen, oder habt Ihr mich nicht erwartet?“

Sie lächelte ihn zögernd an. „Ich erwarte einen Lehrer, um meinen Wissensdurst zu stillen. Seid Ihr derjenige, auf den ich warte?“

„Ich werde Euch ohne Einschränkung alles lehren, was Ihr zu wissen wünscht.“

„Lateinische Handschriften möchte ich lesen zu allen Themen. Gottesbeweise, medizinische Traktate, Sagen, Legenden, alles.“ War sie jetzt zu weit gegangen?

„Alles, was Ihr wollt. Ich lehre Euch sogar die septem artes liberales – die sieben freien Wissenschaften der großen Universität von Paris. Euer Französisch ist sehr gut. Was habt Ihr sonst für Fähigkeiten?“

Er schaute sie an und lächelte verschmitzt. Eine unglaubliche Leichtigkeit ging von ihm aus, etwas Beschwingtes.

„Ich spiele die Harfe und singe. Ich mache auch eigene Lieder. Ich kann Latein lesen und schreiben.“ Noch nie hatte sie einen solchen Mann gesehen. Sie durfte ihn nicht anstarren. Das gehörte sich nicht.

„Dann lasst eine Kostprobe hören!“ Wieder verbeugte er sich. Machte er sich über sie lustig? Jede seiner Gesten wirkte so übertrieben.

„Dann will ich hoffen, dass Euch von meiner Kostprobe nicht übel wird!“ Hadewijch lächelte spöttisch.

Seine Augen blitzten überrascht. „Ihr versteht Ironie? Das macht Appetit auf mehr!“

„Ironie? Was soll das bitte sein?“, fragte sie ironisch.

Jetzt lachte Maître Guiscard schallend. Das Eis war gebrochen. „Also, ziert Euch nicht. Wo bleibt die versprochene Kostprobe?“

Hadewijch fühlte sich auf einmal nervös. Ihre Hände waren feucht. Er wies mit dem Kinn auf ihr Instrument und fragte beiläufig: „Ist das Eure Harfe?“

„Ja, das ist sie.“ Ihre Verlegenheit wich. Sie lächelte zärtlich und berührte den geschwungenen Hals mit dem Schwanenkopf.

„Der Hals verrät ihren Charakter: Elegant, schön und eigenwillig. Die beste Mischung.“ Er machte eine Pause. „Übrigens nicht nur bei einer Harfe.“

Plötzlich war sie sich ihres Körpers mehr als bewusst, eines Körpers, der sich rundete. Ihrer Brüste. Was geschah mit ihr? Verlegen schaute sie zur Seite.

„Vergebt mir“, flüsterte er. „Ich halte meine Zunge nicht im Zaum. Das ist mir noch nie passiert. Bitte, spielt.“

Hadewijch spielte, um ihre Scheu zu überwinden, schnell eines ihrer liebsten Lieder. Es handelte von dem vereisten Winter und der Sehnsucht nach dem Frühling. Währenddessen merkte sie, dass ihre Hände eine andere Melodie zupften. Dunklere, süßere Klänge. Sehnsucht. Hatte sie vorher verstanden, was das bedeutete? Sie versuchte, die Akkorde wieder fröhlicher klingen zu lassen. Stattdessen verdüsterte sich ihr Lied immer mehr. Trotzdem tönte es nicht finster, eher wie ein Wechselspiel aus Schatten und Licht, wie eine Wolkendecke, die aufreißt. Schließlich änderte sie sogar die Schlussverse.

Was war mit ihr geschehen? Dieses hungrige Etwas in ihr regte sich. Maître Guiscards Gesicht war sehr ernst geworden. „Ich möchte das, was Ihr so trefflich gespielt habt, nicht mit Worten schmälern“, sagte er leise. „Nur so viel: Es war ein Geschenk, und ich danke Euch dafür.“

Hadewijch zupfte aufgeregt an ihrem goldbraunen Haar. „Ihr schmeichelt mir nicht? Ihr sagt die Wahrheit?“

Er nickte. „Wenn Ihr es wünscht, werde ich Euch immer die Wahrheit sagen.“ Maître Guiscard lächelte. „Ich freue mich aufrichtig darauf, Euch zu unterrichten. Außer in der Musik – da können wir nur voneinander lernen.“ Damit verbeugte er sich und ein Diener führte ihn hinaus.

Hadewijch sah ihm unwillkürlich nach. Guiscard war fast gleich groß wie sie. Breite Schultern, kräftige Beine, schmale Hüften. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Seit wann achtete sie auf so etwas?! Sie musste dringend zur Beichte gehen und Absolution für ihre unkeuschen Blicke erhalten. Sofort. Bald würde er wiederkommen. Die wilde Freude, die bei dem Gedanken in ihr aufstieg, war eindeutig stärker als ihr Schuldbewusstsein, das einfach keine Reue werden wollte.

„Ego te absolvo, mea filia.“ Der Priester hatte die letzten Worte gesprochen. Sie saß im Beichtstuhl und wollte gerade gehen. Die Luft war geschwängert von Weihrauch und erschwerte das Atmen. Irgendwo hustete jemand. Ein Teil ihres Gesichtsfelds wurde plötzlich von etwas Schwarzem verschluckt. Sie konnte nur noch links sehen. Bilder flammten unsicher auf … Ein flackernder Scheiterhaufen … Durfte sie als Frau darüber hinausgehen, was Pater Gottfried sie gelehrt hatte? Oder würde sie dafür bestraft werden? Grelle Schreie in ihrem Ohr … Müsste sie deswegen brennen? Dichte Rauchfolgen füllten die Luft … Sie hustete, erstickte … Rauch, Weihrauch. Der Duft in der Kirche … zu stark, sie bekam keine Luft mehr.

Hadewijch zitterte. Ihr war kalt, ihr war übel. Der einseitige Kopfschmerz nistete sich ein. Diesmal bohrte er sich wie eine spitze Feder in ihre rechte Schläfe. Ruhe und Dunkelheit, sofort! Nur das half gegen das Kopfweh. Sie hastete nach Hause, begleitet von zwei wartenden Mägden. Dann taumelte sie in ihre Schlafkammer, schloss die Augen. Scheiterhaufen. Nur keine Angst, sagte sie sich. Maître Guiscard! Ein Lächeln stahl sich über ihr Gesicht. Liedverse drängten sich in ihrem Kopf. Ihr neuer Lehr

3

Verbotene Lektionen

J a, er war anders.

„Warum singt Ihr nur geistliche Lieder?“, fragte er sie schon zu Beginn der nächsten Stunde. Hadewijch hatte sich sehr sorgfältig zurechtmachen lassen. Ihr Haar hatte sie in eine kunstvolle Frisur geflochten und ein Obergewand in warmen Rottönen angezogen, das gut zu ihren Augen passte.

„Pater Gottfried hat sie mir beigebracht. Die Motive, die Themen, die Melodien, all das. Ich kenne noch ein paar andere, welche die Amme und Anna singen.“ Sie lächelte. „Aber die sind ziemlich derb.“

„Ich kann es kaum erwarten, gerade die zu hören!“ Wieder das schelmische Lächeln. Sie entdeckte ein Grübchen in seinen Wangen.

„Und was könnt Ihr mir vortragen? Was sind für Euch besondere Lieder?“ Allmählich wurde Hadewijch mutiger.

„Oh, ich bin an verschiedenen Höfen gewesen. Besonders gerne am Königshof in Paris. Dort habe ich als Troubadour die Liebe in all ihren Facetten besungen. Ich zeige Euch ein paar. Doch Ihr zuerst!“

Sie schüttelte den Kopf. Ein aufgeregtes Kichern perlte aus ihr heraus. Was war mit ihr los? „Erst Ihr! Ich habe letztes Mal den Anfang gemacht!“

„Einverstanden. Ihr habt mich bezwungen. Ich erfülle Euren Willen wie ein wahrer, Euch treu ergebener Minnesänger!“ Er zwinkerte ihr zu und begann zu spielen. Dann sang er.

Sie war verblüfft über seine volle, wohltönende Stimme. Beim Sprechen hatte sie gar nicht bemerkt, wie klangvoll sie war. Das war etwas anderes als Pater Gottfried mit seinem dünnen Altmänner-Stimmchen! Sie war so hingerissen, dass sie erst spät auf den Text achtete. Er sang von der Schönheit seiner Dame. Scheu und edel sei sie wie ein Falke. Mühsam zu zähmen. Wer weiß – vielleicht flog sie trotzdem davon. An der Stelle hatte er seine dunklen Augen vielsagend auf sie geheftet.

Hadewijch spürte, wie ihr eine unzüchtige Röte in die Wangen schlich. Sie senkte die Augen, hob aber wie gebannt erneut die Blicke und schaute Guiscard an. Sie ließ sich umfangen und liebkosen von den Klängen. Noch nie hatte sie so empfunden. Als Maître Guiscard aufhörte, fühlte sie sich beklommen. Eine erschrockene Scham überkam sie. Hatte sie sich so leicht hinreißen lassen?

„Wie hat Euch mein Lied gefallen, edle Dame?“

Sie antwortete leise: „Ihr singt Eure Lieder, wie die Wilderer Fallen legen.“

„Ich lege keine Fallen. Musik und Liebe sind eins.“ Er legte den Kopf zur Seite und zwinkerte ihr zu.

„Sind sie das immer? Seid Ihr deshalb so beliebt bei den feinen Damen?“

Er wurde rot und murmelte etwas Unverständliches. Eine Pause trat ein. Sie dehnte sich zu peinlicher Stille aus. Er schaute zu Boden. Hadewijch spürte, wie ihre Wangen brannten. Angestrengt musterte sie den Eichenboden unter sich. Ihr Kopf wirkte so schwer wie ein Bleiklumpen. In ihren Ohren rauschte es. Warum war sie so verlegen? Würde dieses Schweigen denn nie enden?

Schließlich erhob sich Maître Guiscard und machte eine formvollendete Verbeugung. „Verzeiht mir bitte, junge Edelfrau. Darf ich Euch die Melodien und einige Texte beibringen?“

Die unangenehme Stimmung war mit einem Schlag verflogen. Hadewijch nickte begeistert. „Zeigt mir alles, was Ihr könnt!“ Sie liebte diese Lieder, welche die Liebe, die Schönheit und die Natur besangen. Manche Reime kannte sie schon, andere waren völlig neu. Zusammen wandelten sie verschiedene Liebeslieder ab, um ihnen je nach Situation eine eigene Bedeutung zu unterlegen.

Maître Guiscard verhielt sich nach diesem Vorfall sehr zurückhaltend. Dennoch freute es Hadewijch inständig, wenn er sie heimlich beobachtete. Sie gab sich stets viel Mühe mit ihrer äußeren Erscheinung, wenn er kommen sollte, und genoss seine prickelnde Gegenwart. Ihre Tage waren plötzlich von einem geheimen Leuchten erfüllt. Sie konnte nie sicher sein, was passieren würde. Zwar hatte Hadewijch keine Ahnung, worauf sie wartete, nur eine unbestimmte Vorfreude belebte ihre Stunden. Eine Erwartung kribbelte in ihren Fingern- und Zehenspitzen. Wenn er da war, fühlte sie sich plötzlich viel lebendiger.

Maître Guiscard gab sich viel Mühe, alle ihre Wünsche zu erfüllen. Jedes Mal hatte er eine Handschrift dabei, die sie gemeinsam lasen und diskutierten. Er sprach mit ihr wie mit einem Mann. Nie wies er sie darauf hin, dass sie als junge Frau hier die ihr zugemessenen Grenzen überschritt. Wenn sie etwas wissen wollte, gab er ihr ausführlich Antwort.

Die Zeit verstrich. Drei Weihnachten waren schon ins Land gezogen, und sie lernte und lernte. Hadewijch kannte sämtliche Sagenkreise, doch das war nicht alles. Mittlerweile konnte sie mit Leichtigkeit sogar komplexe Gottesbeweise oder medizinische Traktate lesen. Sie verstand die Vier-Säfte-Lehre, auch wenn sie mitunter Zweifel an ihr hegte. Er führte sie in die Dialektik ein, in jene Fragetechnik, die einen Gegenstand so lange umkreist, bis sie ihn völlig erschöpft hat. Maître Guiscard lobte regelmäßig ihre erstaunlichen Fortschritte. Sie hätte also zufrieden sein müssen.

Stattdessen wurde Hadewijch immer unruhiger. Schließlich wurde ihr klar, woran es lag: Er schaute sie nicht mehr an. Auch nicht aus den Augenwinkeln. Egal, wie sorgfältig sie sich kleidete und sich das Haar machte, alles umsonst. Wenn sie ihn versehentlich beim Musizieren streifte, zuckte er heftig zurück. Sie verstand es nicht. Warum verhielt er sich so distanziert? Verabscheute er sie? In seiner Nähe ließ ihre Konzentration nach. Sie wollte ihn ansehen. Sie wollte ihn berühren. Sie wollte …

„Was ist los mit Euch, Dame Hadewijch? Ihr seid nicht bei der Sache!“, fragte er sie schließlich.

„Kennt Ihr einen Text über die Liebe?“, antwortete sie zusammenhanglos.

„Andreas Cappellanus schildert die Liebe eindrücklich und gekonnt. Wie man sie gewinnt und erhält. In allen ihren Reizen.“

„Könnt Ihr eine Handschrift auftreiben?“

Er nickte. „Darf ich fragen, warum Euch das so interessiert?“ Forschend ruhten seine Augen auf ihr.

Sie lächelte geheimnisvoll und schwieg. Endlich. Zum ersten Mal seit Langem hatte er sie wieder angesehen. Hadewijch sehnte ihre nächste Stunde herbei. Sie war aufgeregt, konnte nicht schlafen und nichts essen. Weder Hunger noch Durst oder Müdigkeit spürte sie. Die Zeit kroch wie zähflüssiger Honig, nur schmeckte sie weit weniger süß.

„Was ist dir?“, fragte Nina.

„Nichts …“, murmelte sie. „Was soll sein?“

„Ist es der junge Lehrer?“

Siedende Hitze durchströmte sie. Aus Scham? Aus Angst? Oder … vor Freude? „Pst … Amme, sei still!“, zischte sie hastig. „Wie kommst du darauf?“

„Du kennst die Regeln für eine Edelfrau. Jungfräulich musst du in die Ehe gehen. Also sei vorsichtig.“

Hadewijch brachte kein Wort mehr heraus. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

Nina nahm ihre Hand und flüsterte: „Hadewijch, mein Mädchen. Du gefällst ihm. Er gefällt dir. Zeig ihm, was du willst, und vor allem, was du nicht willst. Du bestimmst die Regeln, hörst du. Das ist das Geheimnis Eures Minnesangs, auch wenn es niemand weiß.“

Hadewijch hob den Kopf und schaute Nina gerade in die Augen. „Danke. Ich werde es in meinem Herzen bewahren.“

Danach schlief sie ganz ruhig ein.

Am Morgen weckte sie Nina mit den Worten: „Steht auf, junge Herrin, Ihr habt viel zu tun.“

Sie bereitete ihr ein Bad aus Milch und Honig, um ihre Haut weich und geschmeidig zu machen. Hadewijch saß lange Zeit im Zuber und berührte immer wieder staunend ihren Hals und ihre Arme. Ungläubig betastete sie ihre Hände. Wie fein und zart sie sich anfühlten!

Danach gab ihr die Amme Minze und Nelke für einen frischen Atem zu kauen und rieb sie am ganzen Körper mit duftendem Rosenöl ein. „Unsere Nase leitet unser Begehren“, lachte sie heiter. „Wenn uns etwas schmeckt, ist es unmöglich zu widerstehen.“

Hadewijch schnupperte entzückt an sich selbst. Noch nie hatte sie so geduftet. Sie roch wie ein Kräutergarten im Sommer, nein, besser, so, als sei sie mit der Salbe der Fee Morgane eingerieben worden. Dann erschrak sie. War das schlecht? Machte sie sich des bösen Stolzes schuldig – der schlimmsten Todsünde von allen?

Doch Maître Guiscard hatte ihr erklärt, dass die Freude an sich selbst kein Hochmut sei. Hoffentlich hatte er recht, dachte sie und war froh, als die Amme mit ihren Kleidern hereinkam. Anschließend legte sie ihr einen Schleier mit goldener Borte um den Kopf, die ein einzelner Granatstein schmückte. Ein Karfunkelstein wie der Heilige Gral. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk.

„Was ist dir?“. fragte Hadewijch besorgt. „Ist ein Makel an mir, der nicht gefällt?“ Was würde er zu ihrer äußeren Erscheinung sagen? Natürlich zählte vor allem das Herz, aber eine gefällige Verpackung machte den Weg zum Herzen sicher einfacher.

„Ihr seht zauberhaft aus!“, strahlte Nina, als Blau mit Gold wetteiferte. „So, als hätten die Elfen Euch mit ihrem Reiz beschenkt!“

Endlich führte ihn ein Diener herein. Hadewijch musterte ihn aus den Augenwinkeln. Sie sah genau, wie er kurz stutzte, bevor er sich tief verneigte. „Seid gegrüßt, schöne Dame.“

Kurz darauf waren sie allein. Maître Guiscard öffnete sorgfältig die Metallklammern, welche die kostbare Rinderhandschrift in ihrer Form hielten. Er las mit seiner angenehmen Stimme: „Die Liebe ist ein Leiden“, und verstummte plötzlich.

„Was ist Euch?“, fragte sie beklommen. Sie beugte sich vor und las weiter: „Bevor die Liebe von beiden Seiten nicht in ein Gleichgewicht gebracht worden ist, gibt es keine schlimmere Beklemmung.“

„Keine schlimmere Beklemmung“, wiederholte Maître Guiscard leise, und die Worte riefen zwischen ihnen ein seltsames Echo hervor.

Hadewijch saß neben ihm und spürte sehr deutlich die Wärme seines Körpers. Oder war es ihre innere Hitze? Vorsichtig rückte sie näher – und berührte ihn, der sich ebenfalls dichter an sie heranschob. „So könnt Ihr genauer sehen“, murmelte er.

Hadewijch kicherte hektisch. „Der Liebende hat ja stets Angst, dass seine Liebe ihr Ziel nicht erreicht und alle Anstrengungen vergeblich sind.“ Jetzt sah er sie voll an. Sie konnte sogar seinen Atem spüren. Wieder fühlte sie ihre Haut unter seinen Blicken lodern. Das war verboten! Sündig und unkeusch, mahnte sie eine innere Stimme. Aber konnte so ein reines Feuer Sünde sein?, fragte etwas in ihr mit einem frechen Unterton.

Hadewijch schien nur noch Feuer und Luft zu sein. Obwohl sie als Frau keines der beiden Elemente in sich trug. Schließlich, so sagte die Vier-Säfte-Lehre, bestanden Frauen ausschließlich aus Wasser und Erde, den anderen beiden niedrigen Stoffen. Sie offenbar nicht, feixte etwas in ihr. Es war so schön, so aufregend, so anders, ihm so nahe zu sein.

Noch nie hatte sie etwas so Berauschendes und zugleich so Beklemmendes erlebt. Um ihren Herzschlag zu beruhigen, fragte sie: „Das ist eine außergewöhnlich kostbare Handschrift, nicht wahr?“, und berührte zärtlich eine Initiale aus fabelhaft blauem Indigo und Gold.

Er nickte. „Ja, und sie verziert einen außergewöhnlichen Buchstaben … H wie Hadewijch … Eine außergewöhnliche Frau.“

Sie senkte verlegen den Kopf und las hastig weiter. „Das Leiden der Liebe bricht aufgrund der Schönheit des anderen aus.“ Schönheit. Sie stockte. Noch nie hatte sie so etwas gelesen, was ihr Wesen ganz betraf. Ja, er war schön: schwarzlockig, geschmeidig. Was sollte sie jetzt tun? Etwas, alles lag in der Luft.

Hadewijch atmete tief und klammerte sich an die Lektüre: „Man verlangt nach dem erotischen Genuss dieser Schönheit.“ Sie brach erneut ab. Nein, sie konnte nicht weiterlesen.

Guiscard legte ganz vorsichtig den Arm um ihre Schultern, betastete mit seinen Fingern ihren Nacken. „Ihr erlaubt?“, flüsterte er.

Sie nickte benommen. Ja, dachte sie, ja! Wie ihre Haut unter seinen Finger erwachte. Finger, die ihren Hals streichelten und sich dann langsam nach unten stahlen … Ein Tumult tobte durch ihre Adern. Ein Schauer glitt über ihren Leib. Die Luft zwischen ihnen war wie Wein, vibrierte und knisterte.

Sie drehte ihm das Gesicht zu. „Ihr seid so wunderschön und so klug“, murmelte er. Seine Augen waren jetzt direkt vor ihr. So dunkel wie Schwarzkirschen, mit langen Wimpern … Kreisrunde Strudel … Tiefschwarze Strudel … zugleich ein goldfarbiges Blitzen … Die Strudel bannten sie in ihren Kreis … sie wollte dorthin, dorthinein … aber nein, sie durfte nicht … um keinen Preis … in die sich wild drehende Scheibe steigen … es war eher ein Strudel … nein, ein Abgrund … er zog sie an … Was für Augen.

Hadewijch blinzelte. Ihre Münder waren sich unwillkürlich schon ganz nahe … noch näher … und … Bei der Berührung seiner weichen, vollen Lippen durchzuckte sie eine plötzliche Erregung, die ihren Körper wie ein Blitzschlag in Brand setzte. Panisch fuhr sie zurück, als hätte sie sich versengt. Nein, es war nicht das Brennen auf dem Scheiterhaufen, sondern das Feuer ihrer verzehrenden Liebe! Warum nur hatte sie solche Angst vor dem Scheiterhaufen! Immer wenn sie etwas wirklich wollte … Weg damit, weg! Nichts als: er.

Sie küssten sich immer noch. Aber während sie das am Anfang sehr vorsichtig, sehr sanft, mit geschlossenen Lippen getan hatten, änderte sich das nun. Ihre Münder öffneten sich und schienen Leben voneinander zu trinken. Lass mich nie mehr los, dachte Hadewijch nur noch, immerzu will ich in deinen Armen liegen! Habe ich vorher jemals gelebt? Zärtlich berührte sie sein Haar, seine Wangen, seine Stirn, seine Lippen. Welche Vollkommenheit!, dachte sie außer sich.

„Hadewijch …“, flüsterte er zwischen zahllosen Küssen. „Noch nie habe ich jemand so Außergewöhnliches getroffen … Euer Duft … Dein Duft … Du bist Musik. Ich bin dein …“

„Ich bin dein und du bist mein. Du und ich, wir beide“, flüsterte sie zärtlich zurück.

„Wir sind zwei und doch eins. Nie hätte ich gehofft, dich …“, murmelte er, und seine Lippen streiften ihren Hals, ihre Hände, ihre Wangen, ihre Stirn, wieder ihre Lippen, und bedeckten sie mit wilden Küssen. „Meine Herrin und Geliebte.“

Der Hunger in ihnen wurde übermächtig. Ihr Begehren wurde kühner, ihre Berührungen ausgreifender.

Plötzlich wurden Schritte laut. Sie fuhren hastig auseinander. Gerade noch rechtzeitig. „Maître Guiscard, Eure Stunden sind abgelaufen. Säumet nicht!“

Plötzlich stand die hohe Gestalt ihrer Frau Mutter im Raum. Die Linien zwischen Lippen und Nase hatten sich vertieft.

Guiscard sprang auf und verbeugte sich. „Ich entbiete Euch meinen Abschiedsgruß, edle Damen!“ Sein glühender Blick, pechschwarz, griff nach Hadewijch. „Vergesst nicht die heutigen Lektionen, sie waren besonders wichtig. Ich selbst trage sie stets im Herzen.“

Nachdem er sich verabschiedet hatte, schien die Welt entsetzlich grau zu sein. Hadewijch glättete hastig ihr Haar und rückte ihren Schleier zurecht. Hoffentlich wirkte sie nicht zu erhitzt! Ihre Frau Mutter sah ihr mit einem langen und kalten Blick dabei zu. Die junge Frau wollte etwas sagen, aber ihr fiel nichts ein. Schließlich fragte sie zögerlich: „Wünscht Ihr etwas, gnädige Frau Mutter?“

Doch Eve würdigte sie keiner Antwort und schritt langsam hinaus. Ihre sich entfernenden Schritte verfolgten Hadewijch noch in ihren Träumen. Verwirrt blieb sie zurück, bis Nina um die Ecke lugte: „Na, junge Herrin, habt Ihr eine gute Zeit gehabt?“ Sie zwinkerte ihr zu und amüsierte sich über Hadewijchs Verlegenheit.

Die junge Frau konnte das nächste Wiedersehen kaum erwarten. Sie eilte noch öfter als sonst in die Messe und feierte die Eucharistie bei jeder Gelegenheit. Christi Leib und Blut würden sie reinigen, so hoffte sie. Trotzdem fiel es ihr sehr schwer, sich zu konzentrieren. Sie sang wie gewohnt mit, doch war ganz woanders. Zum ersten Mal befremdete sie die Atmosphäre in einem Gotteshaus. Sie musterte die anderen Gläubigen kritisch. Wo war das Feuer, wo die Leidenschaft, wo das Begehren? Denn das war es, was sie in sich spürte, dieses Etwas, etwas davon.

Endlich war Maître Guiscard wieder da und stand mitten im Raum. Der Diener entfernte sich. Sie schaute ihn nur an. Nie würde sie genug von seiner Schönheit bekommen! Ein schelmisches Lächeln vertiefte das Grübchen in seiner Wange, eine Locke fiel ihm ins Gesicht.

„Hadewijch!“, sagte er leise, doch klar. Seine Stimme vibrierte leicht wie die Saiten ihrer Harfe. „Geliebte! Ist es wahr? Noch immer?“

Sie nickte und trat vorsichtig näher. Auf einmal sah er sehr schüchtern und jung aus.

„Ich habe dir etwas mitgebracht …“ Er nestelte in seinen Gewandfalten und holte einen kleinen Lederbeutel heraus. „Mach es auf!“

Hadewijchs Finger lockerten die Schnur, die den Beutel zusammenhielt. „Oh!“, rief sie erstaunt. Woher hatte er eine solche Kostbarkeit? Sie sah mit einem Blick, dass das Medaillon sehr kunstvoll gearbeitet war. Es hing an einer feingliedrigen Goldkette.

„Es hat meiner Mutter gehört!“, sagte er leise. „Jetzt gehört es dir. Es ist so flammend wie dein Herz und so schön wie dein Gesicht!“

„Was ist darin?“, fragte sie neugierig.

„Eine Reliquie der Heiligen Katharina von Alexandria. Sie hilft bei einer schwerfälligen Zunge.“

Empörung flammte in ihr auf. „Ich habe keine schwerfällige Zunge! Was nimmst du dir heraus?!“

Er lachte. „Ganz bestimmt nicht. Du hast etwas Außergewöhnliches zu sagen, geliebte Hadewijch. Nimm das Medaillon und trag es.“

„Ich danke dir!“ Mutig gab sie ihm einen Kuss und schmiegte sich an ihn. Überrascht stellte sie fest, dass er befangen wurde. Schnell sagte er, während er seinen Arm um sie legte: „Kennst du meine Lieblingsstelle bei Andreas Cappellanus? Warte, ich kann sie auswendig …“ Er machte eine Pause, zog sie auf seinen Schoß und zitierte dann klangvoll: „Ein aufrichtiger Liebhaber sollte eher schwerste Liebesqualen erdulden als sich rücksichtslos über die Partnerin hinwegsetzen … ein Verräter der Liebe ist, wer nur seine eigene Lust sucht, ohne sich darum zu kümmern, was für die Partnerin gut ist.“ Guiscard nahm ihre Hände und ließ seine Finger ihre Oberarme hinaufwandern. „Es ist wahr, ich kann meine Hände kaum bei mir behalten.“ Er kicherte. „Die Qualen der Hölle würde ich lieber erdulden als deine Schönheit noch einmal drei Winter vor Augen zu haben, ohne dich berühren zu dürfen …“

„Du Böser! Du hast mich doch bemerkt? Dann hast du dich aber ausgezeichnet verstellt!“, schalt ihn Hadewijch zärtlich. „Ich fürchtete schon, alles sei vergebens. Du gabst dich wie ein Stein!“

„Ich bin nicht stolz auf mein Talent zur Täuschung. Aber am französischen Hof erwies es sich als äußerst nützlich.“ Er schwieg. „Trotzdem vermisse ich diesen Ort des Glanzes.“

Hadewijch beugte sich zu ihm und küsste ihn wieder und wieder. Als würde sie endlich die Speise kosten, nach der ihr Mund verlangte. Würde sie davon je genug bekommen? Zwischen ihren Küssen murmelte sie: „Nur das Übermaß ist das einzig richtige Maß in der Liebe.“

Er streichelte sie. Tief atmete er ihren Duft ein. „Deine Lust soll meine führen.“ Sie umschlangen sich. Hadewijch meinte zu fliegen. Die Zeit stand still, sie fielen aus der Zeit, miteinander, ineinander.

Doch wenn sie auf ihn wartete, schlichen ihre Tage und Nächte dahin. Manchmal war Hadewijch so verzweifelt, dass sie wünschte, er möchte nie wiederkommen, damit sie endlich Ruhe hätte. Als er sich einmal verspätete, hämmerte ihr Herz bis zum Hals und sie wollte sterben. „Guiscard, mein Geliebter!“, flüsterte sie ständig wie ein Gebet vor sich hin. Er schien das einzige Heilmittel, um wieder zu sich selbst zu kommen. Ohne ihn hatte das Dasein keinen Sinn mehr. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. All ihre Sinne waren ausgefüllt von ihm, seinen hungrigen Lippen, seinen liebkosenden Fingern. Wie sich ihre Brüste dann unter den Tuchfalten regten! „Wie frische Sommeräpfel, Geliebte! Zum Anbeißen!“, flüsterte er ihr zu. Sie drängte sich gegen ihn, verwünschte die Gewänder, die sie trennten, zitterte vor Verlangen, als sie seine heißen Lippen auf ihrem Hals fühlte.

Oft schämte sich Hadewijch zutiefst. Bestimmt würde sie für diese Sünde in der Hölle schmoren. Sie ging jetzt täglich zweimal zur Beichte, aber lebte insgeheim von Wiedersehen zu Wiedersehen.

Guiscard war nicht nur liebevoll und leidenschaftlich, sondern nach wie vor im Gespräch unerbittlich fordernd. Das stachelte ihren Ehrgeiz an. Obwohl sie in heftigen Zärtlichkeiten schwelgten, achtete er sorgsam auf ihre weitere Ausbildung. So vertiefte er mit ihr die sieben freien Wissenschaften, vor allem die Bereiche Algebra, Arithmetik, Geometrie und Rhetorik. Sie genoss das Spiel der Zahlen. Es erinnerte sie an die Musik.

„Euer Verstand ist geradezu einschüchternd!“, lachte er nach einem Disput, in dem sie ihn geschlagen hatte. Er wurde ernst und nahm ihre Hand. Zart streichelte er jeden einzelnen Finger. „Ihr seid eine junge Edelfrau, wie ich noch nie eine getroffen habe! Ihr könnt es jetzt spielend mit jedem Studenten der Sorbonne aufnehmen.“

Hadewijch lächelte dankbar und lehnte sich an ihn. „Ihr habt mich in alle Künste eingeführt“, sagte sie schließlich. Tief sog sie seinen Geruch ein. „In die des Verstandes ebenso wie in die der Liebe. Nur würde ich vielleicht doch gerne …“

Ihre Stimme versagte. Was, wenn sie dem Begehren zwischen ihnen nachgäbe? Wie es wohl wäre, ihre Körper ineinander gleiten zu lassen? Der Gedanke war so aufdringlich wie eine summende Fliege. Er ließ sich einfach nicht vertreiben, sondern kam immer wieder. Wie es wohl wäre, so ganz ohne Kleider? Er drängte sie nicht. Aber er begehrte sie. Wie sollte sie ihm ihr Verlangen mitteilen?

„Ich habe ein Lied für Euch“, sagte sie schließlich und fing sofort an. Eine höfische, wohlerzogene Frau hatte schweigsam und zurückhaltend zu sein. Bei Guiscard dagegen konnte sie sich frei und offen geben. Hadewijch sang von dem Wunsch, wie Siegel und Wachs zu verschmelzen. Vom Begehren und der Sehnsucht, vom Fieber und der Wunde. Der Geliebte als einziges Heilmittel. Die Harfe verstummte. Hadewijch nahm die Hände von den Saiten.

Guiscard schaute sie an. Seine Augen glänzten wie Brunnen im Mondlicht. „Du willst wirklich mit mir …“

Ein Diener kam herein. Im Hintergrund konnte Hadewijch ihre Frau Mutter erkennen. Sie ragte wie ein drohender Schatten in den Raum. Der kurzatmige Diener räusperte sich: „Ich soll Euch umgehend nach draußen geleiten, Maître Guiscard. Die Dame Hadewijch bedarf Eures Unterrichts nicht mehr. Seid im Namen meiner Herrschaft bedankt für Eure Dienste.“ Damit drückte er ihm einen schweren Lederbeutel in die Hand.

„Aber warum … so plötzlich …“, murmelte Maître Guiscard überrumpelt. „Die Lektionen waren doch nicht …“ Er versuchte krampfhaft, sich wieder zu fassen.

Wie betäubt sah Hadewijch zu, wie sich sein Rücken langsam entfernte. Kein Wort fiel ihr ein, und offenbar ging es ihm genauso. Er verschwand vor ihren Augen, und sie konnte nichts dagegen ausrichten. Der Wechsel geschah zu plötzlich. Gerade waren sie noch unterwegs in ihrem persönlichen Minnegarten, in ihrem gemeinsamen Paradies gewesen. Auf einmal war der Diener wie der Engel mit dem Flammenschwert erschienen und hatte sie vertrieben.

Als die junge Frau sich wieder bewegen konnte, war ihr Lehrer weg. Mühsam brachte sie ein „Warum?“ heraus. Ihre Stimme klang verzerrt und fremd.

„Ihr singt zu anstößige Lieder“, lautete die knappe Antwort. „Und es ist oft viel zu still in Eurem Unterricht.“

„Er kommt – nicht mehr – wieder?“, fragte sie langsam.

Ihre Frau Mutter schüttelte den Kopf und schnaubte verächtlich.

Hadewijch saß wie erstarrt da, als sie schon längst allein war. Dämmerlicht füllte den Raum mit seinem grauen Glanz. Sie rief niemanden nach einer Kerze. Tränen rollten, eine nach der anderen, über ihre Wangen.

4

Abreise nach Frankreich

„Euer Onkel und Vormund lässt Euch sagen: Hadewijch soll sich vorbereiten für die Reise nach Frankreich.“

Frankreich! Hadewijchs Herz klopfte wie ein gefangener Vogel. Sie wusste nicht, ob vor Furcht oder vor Freude. Seitdem Guiscard aus ihrem Leben verschwunden war, hatte sie nur die Musik und ihre Handschriften gehabt. Einsamkeit war zu ihrem ständigen Begleiter geworden. Wie fehlten ihr seine Küsse, seine Berührungen, ihre Gespräche! All das hatte ihr überhaupt erst das Gefühl gegeben, nicht nur eine Frau, sondern ein Mensch zu sein. Sie hatte keine Nachricht von ihm erhalten und trotzig jede Heiratschance zunichtegemacht. Selbst die Wutanfälle und Ohrfeigen ihres Onkels konnten nichts an ihrem Verhalten ändern.

Mit dem einen hatte sie nur Latein gesprochen und sich daran geweidet, dass er ihr nicht folgen konnte. Dem anderen war sie beim Tanzen mit voller Absicht auf den Fuß getreten, sodass er peinlich gestolpert war. Beide versuchten anschließend, ihre Blamage zu vertuschen. Trotzdem hatte sich ein gewisser Ruf in Antwerpen und darüber hinaus verbreitet, sodass die Edelmänner ihre Bemühungen um sie eingestellt hatten. Selbst die bedeutenden Ländereien und das Vermögen, das sie mitbrachte, konnten daran nichts ändern. Ihr war es nur recht. Sie hatte nicht das geringste Interesse daran zu heiraten.

„Die Tischler und Schnitzer sind schon beauftragt, die Truhen für Euch anzufertigen!“ Nina betrat das Schlafgemach. „Für Gewänder, Geschirr, Tuche, Juwelen … für all Eure Besitztümer! Und hier sind die Bänder aus Seide zur Anprobe.“ Entzückt fuhr sie über den hauchfeinen Stoff.

„Gib sie mir bitte!“ Begeistert berührten sie gemeinsam den ungeheuren Luxus unter ihren Händen. Wie schmeichelten solche Stoffe!

„Sie sollte am Hof des Königs nicht provinziell wirken“, mischte sich Eve mit kühler Stimme ein. „Das verringert sonst ihre Chancen.“

Hadewijch setzte sich seufzend auf einen Scherenstuhl. Sie sah gerne gut aus, aber hasste die aufwendigen Vorbereitungen. Außerdem war ihr gerade etwas eingefallen. „Amme, was hast du über den Hof des neuen französischen Herrschers in Erfahrung gebracht?“

„Oh, vieles! Philipp III. reicht bei Weitem nicht an seinen Vater, Ludwig den Heiligen, heran. Er ist weder so fromm noch so geschickt. Von seinem zweiten Sohn Philipp dem Schönen munkelt man dagegen so allerlei.“

„Was denn?“ Hadewijch lächelte erwartungsvoll.

„Hart und unnachgiebig. Geht bis zum Äußersten. Das Kind scheint gefürchteter als sein Vater und sein älterer Bruder Louis.“

„Trotzdem ist Louis der Thronfolger – der Dauphin.“

„Möge es auch so bleiben. In diesen Zeiten stirbt es sich schnell.“

„Genug jetzt“, unterbrach sie Eve. „Nina, kämme Hadewijch hübsch zurecht. Meine Tochter, erliege dabei nicht der teuflischen Eitelkeit!“ „Ja, Frau Mutter.“ Sie war enttäuscht.

„Was habt Ihr nur für prachtvolles Haar!“, lobte Nina. Sie kämmte die goldbraunen Locken und flocht sie zu kunstvollen Zöpfen. Ein feiner Schleier rundete die Frisur ab. Kleine Löckchen stahlen sich an Stirn und Schläfen heraus. „Da Ihr noch unverheiratet seid, müsst Ihr keine Haube tragen.“

„Du brauchst sie nicht zu preisen, Nina. Sie sollte längst vermählt sein. Um jeden Preis muss sie angenehm und anmutig sein.“

Gleichgültig ließ Hadewijch ihre Blicke durch den Raum schweifen. Sie ließ sich von der Amme in das bunte, reich verzierte Kleid helfen. Es ergoss sich mit einer Menge Stofffalten um sie.

„Haltet Ihr das für klug, mich im Seidenstaat eine solch lange und beschwerliche Reise antreten zu lassen?“ Sie kicherte.

„Wegen deiner scharfen Zunge hast du bereits eine Menge Interessenten vergrault!“, nörgelte ihre Frau Mutter. „Ich bitte dich: Sprich am Hof von König Philipp III. so wenig wie möglich.“

„Das Atmen ist mir noch gestattet?“, erkundigte sich Hadewijch und unterdrückte ein Lachen.

„Spotte nicht, Ungezogene! Einer Frau gebührt es, zu schweigen und aufmerksam zuzuhören.“

„Habt ihr meine Harfe eingepackt?“

Nina nickte und lächelte stolz. „Das werden wir, junge Herrin. Ihr singt und spielt wie die Vögelchen unter Gottes Himmel.“

„Wir haben dich völlig verdorben, fürchte ich. Zu viel Unterricht. Zu viel Musik. Ich hätte das nie erlauben sollen.“

Hadewijch konnte die Abreise kaum erwarten. Handarbeiten und Geplauder boten ihr keine Anregung für ihren wachen Verstand. Sie wollte Neues sehen und erfahren.

Doch beinahe wäre sie überhaupt nicht aufgebrochen. Der Winter war besonders lang und eisig gewesen. Sie hatte einen rasselnden Husten entwickelt, der so klang, als hätte sie einen tollwütigen Hund verschluckt. Nur dank der Kräutertränke, der Breiumschläge und der hingebungsvollen Pflege ihrer Amme war sie genesen.

Jetzt endlich war die ersehnte Stunde gekommen! Im Morgengrauen würde sie mit einem Handkarren und in Begleitung zweier Diener aufbrechen. „Gehabt Euch wohl, Frau Mutter.“ Sie verneigte sich höflich.

„Bereite mir und deiner Familie Ehre und keine Schande am Hof von Frankreich!“

Damit verschwand Eve in ihrem ausladenden Gewand, während Hadewijch stumm zurückblieb. Sie verkrampfte die Hände am Saum ihres kostbaren Kleides.

Nina zupfte sie am Ärmel. „Junge Herrin, folgt mir bitte ins Schlafgemach. Ich habe etwas für Euch!“

Die Amme sah sich um. Waren sie auch wirklich allein? Mit wichtiger Miene holte sie einen Lederbeutel unter ihrem einfachen Leinengewand hervor. „Junge Herrin, Ihr kennt viele Kräuter. Ich habe diesen Beutel für Euch gesammelt. Darin findet ihr solche, welche die Gesundheit fördern. Rosenblüten, Schafgarbe, Salbei, bitterer Fenchel, Thymian, Wacholder, Kamille und viele mehr.“

„Danke schön, liebste Amme!“ Hadewijch fiel ihr um den Hals und drückte und küsste sie.

„Nicht so stürmisch, junge Herrin. Hier habt Ihr Lavendelöl und eine Muskatnuss. Anna, die Köchin, hat sie für Euch stibitzt. Wir sind alle traurig über Eure Abreise.“

Hadewijch schluckte schwer. „Ich kann nicht leugnen, dass ich mich auf den Hof freue. Doch euch beide zurückzulassen, schmerzt mich sehr.“

Nina lächelte mit feuchten Augen. Sie drückte sie mit der groben Hand weg. „Jetzt … kommt die Hauptsache. Hier bekommt Ihr … den zweiten Beutel mit Kräutern und Pilzen anderer Art.“

„Welcher Art?“, fragte die junge Frau überrascht.

„Um Leben zu nehmen, sollte das für Euer Glück notwendig sein.“

„Giftige Kräuter?!“

„Genau. Stechapfel. Tollkirsche. Bilsenkraut. Schierling. Tollkraut. Knollenblätterpilz. Und sogar … die Alraune.“ Die Amme lächelte triumphierend und entblößte ihre schwarzen Zahnstummel.

„Wie … was …?“, stammelte Hadewijch. Bilder stiegen in ihr auf, Erinnerungen an den Tod ihres Vaters, die Kräuter, den Wein.

„Kind, du hast noch nichts gesehen von der Welt. Ein wüster und gemeiner und schmutzstarrender Ort! Die dreckigsten Hundsfötter tun dir Gewalt an und verlustieren sich noch dabei!“ In besonderen Situationen verfiel die Amme wieder ins Duzen aus der Kindheit.

„Aber ich gehe doch an den französischen Hof!“ Sie kicherte aufgeregt. „Einen Ort der edlen und eleganten Lebensart!“

Die Amme blieb ernst. „Du denkst, dort ist alles fein und rein? Du bist eine Frau. Wie willst du dich schützen? Du kannst kein Schwert führen und hast keinen Bruder.“

„Warum sollte ich mich wehren müssen? Wogegen?“

„Mädchen, ich hoffe, dir wird nie gegen deinen Willen Gewalt angetan.

Doch diesem Los entgeht fast keine Frau. Es sei denn, sie lebt im Kloster oder als Witwe.“

Sie hatte es gewusst. Sie hatte richtig beobachtet. Ihre Amme hatte Eve geholfen, den eigenen Gatten zu ermorden. Möge Gott ihnen vergeben. Aber immerhin … hatte der Höchste nicht alle Kräuter geschaffen, auch die giftigen? Waren sie vielleicht sogar sein Geschenk an die schwachen Frauen?