Die Hexe - Patrick J. Grieser - E-Book

Die Hexe E-Book

Patrick J. Grieser

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Beschreibung

Eine Welt kämpft ums Überleben ... Nachdem die Finsternis Hera eingehüllt hat, bricht fast überall Panik aus. Die Menschen werden anfällig für Fanatismus, falsche Erlöser und Verzweiflungstaten. In der Pyramidenstaat Yax Kayab erscheint den Hohepriestern ein mysteriöser Fremder, der sich als Bote der Götter ausgibt. Er verspricht die Finsternis zu vertreiben, wenn ihm das Volk Menschenopfer darbringt. Ein blutrünstiger Opferwahn bricht in der Stadt aus und droht die gesamte Region in einen grausamen Krieg zu reißen. Nur zwei Menschen können den Fremden aufhalten: Aman Pinto und eine geheimnisvolle Hexe. Ein erbarmungsloser Wettlauf mit der Zeit beginnt ...

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PATRICK J. GRIESER

DIE HEXE

DIE HEXE

Ein Fantasy-Roman von

Patrick J. Grieser

© by Atlantis VerlagStolberg, 2024www.atlantis-verlag.deTitelillustration: Vladimir Bondar / Uwe LuserkeLandkarte: Timo KümmelLogo: Mark FreierUmschlaggestaltung: Christopher Grieser

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-86402-924-0

I. Erinnerunsen

Das ist das Ende! Alles aus und vorbei, dachte Aman Pinto. Er ließ den Kopf sinken, und ein flüchtiger Blick auf seinen Bauch genügte, um alle Zweifel aus der Welt zu schaffen: Die Wunde war tödlich. Er presste die Hände auf die Bauchdecke, damit seine Gedärme nicht heraustraten. Tief in seinem Inneren wollte er nicht wahrhaben, dass er gescheitert war, und dabei war er dem Ziel so nahe gewesen.

Langsam ließ er sich auf die Knie fallen. Es hat keinen Sinn! Vielleicht ist es besser so zu sterben, als auf dieser verfluchten Welt dahinzusiechen.

Schwindel überkam ihn, und er merkte, wie ihn die Lebensgeister verlassen wollten. Eisige Kälte nahm von seinem Körper Besitz. Vorsichtig legte er sich auf den Rücken. Er spürte das Gras in seinem Nacken. Das Blut rauschte wie ein tosender Sturm in seinen Ohren, und sein Blick glitt zum Himmel. Ewige Dunkelheit hatte sich über diese Welt gelegt, denn ein endloser Wolkenteppich aus Rauch und Staub schluckte das Licht der Sonne, der Monde und der Sterne.

Wind kam auf, und die Bäume fingen leise an zu rauschen. Fast hatte man den Eindruck, die alten Riesen wären zu neuem Leben erwacht und flüsterten miteinander. Doch der Eindruck täuschte. Einige welke Blätter regneten auf Pinto herab.

Er dachte an Yva. Würde er seine verstorbene Geliebte bald wiedersehen? Gab es ein Leben nach dem Tod? Er wollte einfach nur schlafen und am nächsten Morgen wieder neben Yva aufwachen, die ihn anlächeln würde, sodass man ihre Grübchen sah, und ihm versichern, dass alles nur ein böser Traum gewesen sei. Und dann würde er sie in seine Arme nehmen und nie wieder loslassen. Nie wieder …

In diesem Moment musste er auch an Sharla denken. Diesmal würde ihm die zierliche Frau mit den Sommersprossen nicht mehr das Leben retten können. Eine tiefe Traurigkeit überkam ihn, denn er musste sich eingestehen, dass er nicht nur mit seinen Plänen Schiffbruch erlitten hatte, nein, auch seine Liebesbeziehungen waren ihm vom Schicksal zerstört worden. Ein lang anhaltender Schrei, der seine ganze elende und verzweifelte Situation widerspiegelte, wurde anscheinend ungehört von der Dunkelheit verschluckt.

Leiser Donner grollte am Horizont.

Bald wird es regnen, dachte Pinto. Seit vielen Monden schon hatte es nicht mehr geregnet. Wenn der Himmel für kurze Zeit seine Schleusen öffnete, waren es meistens feine Ascheflocken, die auf die Erde niedergingen.

Was habe ich nur falsch gemacht? Ist dieser Weg von den Göttern vorherbestimmt gewesen?

Pintos Gedanken kehrten zurück in die Vergangenheit, und noch einmal zogen lose Erinnerungen wie stumme Momentaufnahmen vor seinem inneren Auge vorbei: Yvas Leiche, die er verzweifelt aus der Zisterne zog, Shae’buzz Sendril, wie er seinen Dolch der Priesterin Anthea zwischen die Rippen stieß, und das untote Wesen in den Katakomben unterhalb der Stadt Pangaion, jene Kreatur, die den Fluch der Finsternis über Hera verhängt hatte …

Immer wieder hatten unheilvolle Dinge seine Pläne durchkreuzt und zunichte gemacht. Es schien so, dass die Vorsehung ihn ausgesucht hatte, sich selbst und andere Menschen mit Unglück und Leid zu überschütten.

Mit wachsender Panik bemerkte er, dass ihm das Atmen immer schwerer fiel. Schon jetzt kostete es ihn viel Kraft, die Augen offen zu halten.

Warum war er überhaupt in diese hoffnungslose Situation geraten? Er versuchte, sich zu erinnern, wie das ganze Unheil seinen Lauf genommen hatte. Die Erinnerungen überwältigten ihn, saugten ihn wie in einen trichterähnlichen Wirbel hinein …

Das Bellen eines Straßenköters riss Pinto aus seinen Träumen. Ein Schweißfilm bedeckte seine Stirn, und sein Herz pochte bis zum Anschlag. Er fuhr sich mit der Hand durch sein feuchtes rostbraunes Haar und bemerkte dabei, dass diese zitterte.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte eine vertraute Stimme neben ihm. Sharla richtete sich auf und schaute ihm in die Augen. Wie anders er aussah – und doch war er es. Sie wusste, dass er im Schlaf aufschrie und Namen rief, die sie nicht kannte. Er weinte auch im Schlaf, wurde hektisch und zerwühlte die Laken.

»Ich habe schlecht geschlafen. Mir ist nur ein bisschen flau, aber das vergeht wieder«, antwortete Pinto und versuchte, die verstörenden Bilder zurückzudrängen.

Er zog Sharla an sich und umarmte sie fest. Ihr Körper fühlte sich warm an. Sie hob ihre Hand und berührte mit ihrem Zeigefinger sanft seine Lippen. Dann zeichnete sie sein Gesicht nach und ließ ihre Hand in sein Haar gleiten.

»Wieder ein Albtraum?« Sharlas Stimme klang besorgt. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht besonders gut.

»Vielleicht. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«

»Wir sollten von hier verschwinden«, flüsterte sie leise, löste sich aus seiner Umarmung und glitt aus dem Bett.

»Wo willst du denn hin?«

»Nach Süden.«

»Sharla, wir können vor dieser Finsternis nicht fliehen. Unsere Welt liegt im Sterben!«

»Gestern haben die Priester noch einmal eindringlich davor gewarnt, das Wasser in den Zisternen zu trinken. Es sei verseucht.«

»So schmeckt es auch«, erwiderte Pinto und zog eine Grimasse.

»Du hast davon getrunken?«, fragte Sharla fassungslos. »Aber warum? Wir sollen doch nur das Wasser in den Katakomben trinken.«

»In die Katakomben bringen mich keine zehn Pferde mehr. Es spielt keine Rolle, was wir essen oder trinken, oder was wir tun. Wir werden alle sterben!«

»Ich mag es nicht, wenn du so redest, und das weißt du auch. Man muss immer noch Hoffnung haben.«

Sharla ging zum Fenster, öffnete die beiden Flügel und lehnte sich hinaus. Heute ließ die Schwärze nur schemenhaft Gebäude in der Nachbarschaft erkennen. Zudem lag eine Unheil verkündende Stille in der Luft, so als ob die Dunkelheit alles Leben und Treiben erstickte. Es gab jedoch auch Tage, an denen sie etwas zurückwich und einem schwachen Dämmerlicht Platz machte, je nachdem, wie stark die Wolkenbänder waren, die am Himmel vorüberzogen. Ein leichtes Zittern, gefolgt von einem eisigen Schauer, durchlief Sharlas Körper, und sie schloss schnell wieder das Fenster.

»Es liegt was in der Luft …«, flüsterte sie und dann lauter zu Pinto gewandt: „Ob es schon Tag ist?«

»Keine Ahnung.«

»Diese anhaltende Nacht bringt unseren ganzen inneren Rhythmus durcheinander.«

»Das kannst du laut sagen. Am Ende werden wir noch an Magengeschwüren krepieren.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Das hat mir einmal Draccus erzählt. In der Schule des Blutes gab es Soldaten, die fast dreihundert Tage im Jahr Wachdienst hatten. Die armen Teufel haben in der Nacht Wache geschoben und am Tag geschlafen. Draccus fiel auf, dass fast die gesamte Einheit schon nach kurzer Zeit an Magengeschwüren litt.«

»Gibt es dafür eine Erklärung?«, hakte Sharla nach.

Pinto zuckte mit den Achseln. »Pius hätte es mit Sicherheit gewusst.«

»Der Nekromant?«

»Ja.«

»Ich will weg von hier!«, betonte Sharla noch einmal.

»Das hast du gerade eben schon gesagt«, erwiderte Pinto gereizt.

»Dann lass uns Nägel mit Köpfen machen und von hier verschwinden.« Sharla seufzte leise, zog ihr Nachtgewand aus und begann sich anzukleiden. Pinto beobachtete sie und fragte sich, ob er so etwas wie Liebe zu ihr empfand. Sie hatten sich gestern Nacht geliebt, aber irgendwie fühlte er sich seitdem schlecht. Sharla bedeutete ihm sehr viel, denn sie war ein guter Mensch, tiefe Freundschaft und Zuneigung verband sie beide. Sie war imstande in seine Seele zu blicken und das Chaos, das in ihr herrschte, zu ordnen. Er sehnte sich nach ihrer Wärme und Geborgenheit. Aber Liebe? Er hatte furchtbare Angst davor, noch einmal einen geliebten Menschen zu verlieren, deshalb versuchte er, jegliche Gefühle in seinem Inneren zu unterdrücken. Gestern hatte er der Versuchung jedoch nachgegeben; sein Verlangen war einfach zu groß gewesen. Das durfte so schnell nicht mehr passieren.

»Was hast du vor?«, fragte Pinto, als sich Sharla angezogen hatte.

»Ich hole Wasser aus den Katakomben, denn wir haben keins mehr.«

»Musst du wirklich da runter gehen?«

»Haben wir denn eine andere Wahl?«

»Die Zisternen sind voll mit Wasser.«

»Igitt! Eigentlich müsste ich dir das Fell über die Ohren ziehen. Versprich mir, nie mehr davon zu trinken.«

»Vielleicht.«

»Vielleicht?«

»Ja, vielleicht.«

»Manchmal kannst du mich wirklich zur Weißglut bringen, Aman Pinto.«

Sharla zupfte ihn an seinem Bart, der wie ein Stalaktit von seinem Kinn abstand, und ging nach draußen. Leise knarrte die Treppe im Flur.

Pinto unterdrückte ein Gähnen; er war immer noch hundemüde. Sein Blick wanderte durch das spärlich eingerichtete Schlafzimmer. Das Haus, in dem sie untergetaucht waren, lag in Deneb und hatte einst einem wohlhabenden Händler gehört. Als die Vulkane im Ildion-Gebirge ausgebrochen waren, hatte der Mann mit seiner Familie die Stadt verlassen, und Plünderer hatten bis auf einige Möbel fast das gesamte Haus leer geräumt und selbst die Gemälde an den Wänden mitgenommen.

Pinto schloss die Augen. Vielleicht hatte Sharla recht, und sie sollten endlich diese verfluchte Stadt verlassen. Pangaion war eine Stadt der Toten, in der die Menschen leise dahinsiechten. Früher einmal hatte Pinto davon geträumt diese Stadt hinter sich zu lassen; er war von dieser Idee geradezu besessen gewesen. Damals zog es ihn in die Berge, wo er ein Leben als Eremit führen wollte. Doch die Vorfälle in den letzten Wochen hatten schlagartig alles verändert, und jetzt war er ein anderer Mensch geworden – ein seelisches Wrack, gefangen in einem Zustand krankhafter Lethargie. Jede Bewegung kostete ihn unglaublich viel Kraft, und selbst das Denken fiel ihm manchmal schwer. Am liebsten verzog er sich den ganzen Tag über auf eine alte Turmmauer am Rande der Stadt, wo er seine Ruhe hatte und stundenlang das Elend in der Stadt beobachtete.

Er war sichtlich abgemagert, und seit langer Zeit schon verspürte er keinen Appetit mehr, ließ sein Essen meistens unberührt stehen. Seine Gesichtszüge hatten sich verändert; sein ehemals braun gebranntes Gesicht war aschfahl, sein Haar seltsam struppig. Er sah krank aus. Seine Haltung wirkte unnatürlich, als müsse er sich die ganze Zeit gegen etwas stemmen. Oftmals bemerkte er nachts, wie sich sein Hals zuzog, und dann überkam ihn das Gefühl, dass er ersticken würde. Die letzten Nächte waren eine wahre Tortur gewesen. Und dann diese Träume! Er träumte oft von den Katakomben und dem untoten Wesen darin. In seinen Träumen irrte er durch ein Labyrinth von dunklen Gängen; dort wartete die Kreatur in einer großen Halle auf ihn, in der es nach Moder und Verwesung roch und deren Decke mit glänzenden Tropfsteinen übersät war. Mit glühenden Augen stürzte sich das Wesen auf ihn … Er erwachte dann immer schweißgebadet und war heilfroh, dass Sharla das Bett mit ihm teilte und er die Nähe eines Menschen erfahren durfte.

Seine Gedanken schweiften immer wieder in die Vergangenheit zurück, denn er hatte sein ganzes Leben hinter den Mauern dieser Stadt verbracht. Nur ein einziges Mal durfte er die Stadt verlassen. Sollte Pangaion wirklich sein Grab werden? Er erschauderte bei diesem Gedanken. Aber welchen Unterschied machte es schon, ob er im Ödland oder in diesem alten Haus krepierte? Der Mantel der Finsternis würde innerhalb kürzester Zeit alles Leben auf diesem verfluchten Planeten auslöschen, und dieser Wahrheit musste er ins Auge schauen. Es gab keinen Weg dieses Schicksal aufzuhalten, außer man arrangierte sich jetzt mit diesen Gegebenheiten.

Aber wenn es doch noch irgendeine Möglichkeit gab, die Finsternis zu bekämpfen? Diese Frage nagte immer wieder an ihm, durchbohrte die lähmende Mauer seiner Lethargie wie mit kleinen Nadelstichen. Wenn es eine solche Möglichkeit gab … sollte man dann nicht alles in seiner Macht Stehende tun, um den Planeten doch noch zu retten? Wenn die untote Kreatur in der Lage gewesen war, einen so gewaltigen Zauber zu sprechen, dass die Vulkane im Ildion-Gebirge ausbrachen und einen Mantel der Finsternis erzeugten, dann musste es doch auch einen Zauber geben, um die Dunkelheit aufzuhalten. Oder ist das nur ein Trugschluss?, fragte sich Pinto bitter. Ein Zeitzauber wäre des Rätsels Lösung. Wenn man doch einfach die Zeit zurückdrehen und die Katastrophe verhindern könnte. Pinto verwarf den Gedanken schnell wieder; vielleicht gab es aber in den anderen Städten hinter der großen Salzwüste mächtige Schriftgelehrte, die wussten, was in Zeiten wie diesen zu tun war. Diese Männer konnten jetzt schon an einem mächtigen Zauber arbeiten. Er musste bei diesem Gedanken unwillkürlich lächeln – fing er schon an, wie ein sterbenskranker Mann zu denken? Man weiß, dass man sterben wird, und doch gibt man sich der Illusion hin, dass vielleicht noch ein Mittel existiert den Klauen des Todes zu entkommen.

»Ich verlasse die Stadt«, sagte Sharla bestimmt, »und zwar morgen früh.«

»Was?« Pinto glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Dabei hatte seine Gefährtin es oft genug angekündigt. Er hatte sie einfach nicht recht ernst genommen …

»Ich wollte heute Morgen in den Katakomben frisches Wasser holen …«

»Und?«

»Irgendwelche dunkle Gestalten aus Sinister haben die Quelle besetzt. Diese Schurken verlangen Nahrung und Geld, damit man Wasser holen darf.«

»Hast du ihnen etwas gegeben?«

»Nein. Sie wollten, dass ich mich ihnen hingebe.«

»Und warum willst du deswegen gleich die Stadt verlassen? In den Zisternen gibt es genug Wasser.«

»Diese verseuchte Brühe werde ich nicht trinken!«

»Dann wird dir nichts anderes übrig bleiben, als dich diesen Kerlen auszuliefern.«

Ohne Vorwarnung schlug Sharla ihm ins Gesicht. Etwas in ihr geriet plötzlich in Bewegung, und sie spürte eine so gewaltige Aggression gegen ihn, dass sie der Versuchung widerstehen musste, ihn noch einmal zu schlagen. Pinto nahm die Ohrfeige ruhig hin, obwohl seine Haut wie Feuer brannte.

»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte er sie ohne Zorn. Er wusste, dass er sie mit seinen Worten verletzt hatte.

»Das hat mich sehr getroffen, Aman! Du weißt ganz genau, dass ich mein altes Leben hinter mir gelassen habe. Ich bin keine Hure mehr. Begreif das doch endlich!« Ihre Augen verrieten, dass er zu weit gegangen war.

»Gäbe es den Mantel der Finsternis nicht, dann würdest du immer noch in diesem Bordell in Sinister arbeiten«, erwiderte Pinto vorwurfsvoll.

»Warum sagst du so etwas? Warum bist du so zu mir? Warum tust du mir das alles an?« Während sie sprach, waren ihr Tränen in die Augen getreten.

»Es tut mir leid, was ich da gerade gesagt habe. Ich will nur nicht, dass du die Stadt verlässt.«

»Aman, wenn du mich lieben würdest, dann könnte ich dich nicht verlassen – aber du liebst mich nicht. Ich muss hier weg!«

»Was redest du da für einen Unsinn?«

»Morgen bist du mich los!«

»Wenn ich nichts für dich empfinden würde, dann wäre es mir ehrlich gesagt gleichgültig, ob du in Pangaion bleibst oder nicht. Doch so ist es nicht …«

»Ich möchte einmal in meinem Leben richtig geliebt werden. Verstehst du das? Meine Eltern haben mich verstoßen. Meine Freier haben nie etwas für mich empfunden. Wenn sie mein Zimmer verließen, hatten sie mich schon wieder vergessen. Du bist der Einzige, der mir wirklich etwas bedeutet.« Sharlas Augen waren geschlossen, über ihr Gesicht strömten die Tränen.

Pinto atmete tief durch. »Hör mal …«

Traurig wandte sich Sharla von ihm ab. »Jede Nacht, die wir zusammen verbringen, weiß ich, dass du mit deinen Gedanken bei Yva bist«, sagte sie. »Ich habe versucht, mich damit abzufinden, aber es geht einfach nicht.«

»Yva war meine erste große Liebe. Du kannst nicht erwarten, dass ich sie so einfach vergesse.«

»Ich weiß, dass ich Yva niemals ersetzen kann. Ich möchte nur ein klein wenig geliebt werden – nicht einmal dieses Gefühl gibst du mir.«

Pinto wollte etwas erwidern, doch kein einziges Wort kam über seine Lippen. Sharla bedeutete ihm sehr viel, aber er liebte sie nicht wirklich. Es fiel ihm schwer, sich diese Tatsache einzugestehen, denn immer wieder tauchte Yvas lachendes Gesicht mit den Grübchen vor seinem inneren Auge auf. Ich bin gefesselt, dachte er, gefesselt an die Vergangenheit.

»Morgen bin ich weg.«

»Ich will nicht, dass du gehst. Bleib da!«

»Ich halte es hier nicht mehr aus. Mit jedem Tag stirbt ein Stück mehr von mir. Es geht nicht mehr.«

Pinto fing an zu lachen.

»Was soll das?«, fragte Sharla irritiert. Ihre grünen Augen funkelten ihn an.

»Du solltest dich einmal reden hören.«

»Warum?«

»Weißt du noch, wie ich damals immer zu dir gekommen bin und dir erzählt habe, dass ich mit dem Gedanken spiele aus der Stadt zu flüchten? In die Berge wollte ich. Krampfhaft hast du versucht, mir diese Idee auszureden, und jetzt bist du diejenige, die genug von diesem jämmerlichen Leben hat. Eine Ironie des Schicksals, oder?«

»Mag sein. Ich werde trotzdem gehen«, sagte sie trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust, als wolle sie es damit bekräftigen.

»Wenn du gehst, wird das nichts an deiner Lage ändern, denn man kann vor den Dingen des Lebens nicht davonrennen. Du musst das akzeptieren. Ich habe gelernt, dass jeder andere Ort genauso trostlos ist wie dieser hier – wenn nicht noch schlimmer. Lyssip war ein dreckiger Moloch. Ich weiß, wovon ich rede.«

»Niemand zwingt dich mitzugehen, Aman. Du wirst auch ohne mich zurechtkommen.«

»Dann ist deine Entscheidung endgültig?«

»Ja.«

»Leb wohl, Sharla!«, rutschte es aus ihm heraus, obwohl er so etwas nicht sagen wollte.

Impulsiv trat sie einen Schritt auf ihn zu, griff nach seiner Hand, drückte sie und umarmte ihn schließlich kurz und fest. Sie flüsterte ihm »Leb wohl!« ins Ohr. Erfolglos versuchte sie, ihre Tränen zu verbergen. Dann drehte sie sich um und ging, ohne sich noch einmal umzublicken. Pinto fühlte sich in diesem Moment hundeelend. Ich will ihr nicht weh tun. Ich kann sie doch nicht so ziehen lassen … Er kämpfte gegen den Wunsch an, Sharla nachzulaufen und sie in den Arm zu nehmen, aber wie benommen starrte er ihr nach. Der Gedanke, zukünftig ohne sie zu sein, ließ ihn erschauern. Er wollte gar nicht daran denken, dass er von nun an mit seinen Albträumen und Ängsten allein dastehen würde.

Pinto beobachtete teilnahmslos, wie die Priester aus dem Shapir-Tempel heiße Suppe an die Menschen ausschenkten. Er saß auf dem Dach eines leer stehenden Gebäudes, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Tempels befand. Immer wenn der dumpfe Laut eines Horns ertönte, strömten viele hungrige Mäuler zum Platz der Tausend Sonnen.

Mit dem Ausbruch der Vulkane im Ildion-Gebirge war von einer Sekunde auf die andere das politische System zusammengebrochen, und auch den Rat der Ältesten gab es nicht mehr; Politiker, Adlige und Schriftgelehrte waren Hals über Kopf aus der Stadt geflüchtet. Durch das verheerende Erdbeben nach dem Vulkanausbruch waren viele Priester ums Leben gekommen. Vier der fünf Türme des Shapir-Tempels waren dabei wie ein fragiles Kartenhaus eingestürzt. Die Überlebenden hausten jetzt in dem einzigen noch stehenden Turm, der allerdings eine gefährliche Schieflage besaß.

In den Tagen nach der Katastrophe war es schwer zum Alltag überzugehen, doch die Priester versuchten es mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln: Sie verteilten Proviant an die Notleidenden, hielten im Freien heilige Messen ab, kümmerten sich um die Verletzten und errichteten offene Feuerstellen an wichtigen Plätzen der Stadt, damit die Menschen nicht ziel- und orientierungslos umherliefen. Viele bewunderten die Priester dafür, doch Pinto war fest davon überzeugt, dass die überlebenden Kleriker aus taktischem Kalkül handelten. Das Schicksal des Volkes war ihnen gleichgültig; sie witterten vielmehr die Chance, einen neuen Stadtstaat nach ihren Vorstellungen aufzubauen. Es ging um Macht, nicht um Nächstenliebe und den Beginn eines neuen Zeitalters in ewig währender Dunkelheit.

Pinto musste bei diesem Gedanken auflachen, denn bald würden auch die Priester begreifen, dass es keine Rettung gab. Der Untergang der menschlichen Zivilisation stand unmittelbar bevor. Dies war erst der Anfang vom Ende, weil ohne das kostbare Sonnenlicht jedes Leben auf diesem Planeten ausgelöscht werden würde.

Der ehemalige Tempest versuchte, Sharla in der Menschenmenge ausfindig zu machen, denn sie hatte eine sehr hohe Meinung von den Priestern. Jedes Mal, wenn das Horn ertönte, brach sie zu den kläglichen Überresten des Shapir-Tempels auf. Pinto hatte sie kein einziges Mal begleitet; er verabscheute die Priester. Einst war er ein gläubiger Mensch gewesen, doch Yvas tragischer Tod hatte ihn verändert. Göttliche Wesen gab es nicht; die Religion war sinnlos. Warum an Götter glauben und nicht einfach an humane Werte, wie Brüderlichkeit, Freiheit und Liebe?

Auf dem Platz der Tausend Sonnen kam es plötzlich zu tumultartigen Szenen, als ein junger Mann sich vordrängeln wollte und dafür Hiebe und Tritte erntete. Drei Priester kamen herbeigeeilt und versuchten erfolglos, zu schlichten. Die hungrige Meute hatte einen Sündenbock gefunden. Der ganze Frust und Kummer, der sich in den letzten Tagen und Wochen aufgestaut hatte, entlud sich auf dem armen Teufel, der wie ein Embryo zusammengekauert auf den Pflastersteinen lag, während es Tritte und wüste Beschimpfungen von allen Seiten hagelte. Außerhalb des Kreises tanzten die drei Priester wie zum Leben erwachte Vogelscheuchen umher und versuchten, die Menschen zu beruhigen.

Pintos Blick glitt über die Menge. Er späte nach einer Gestalt, einer Körperhaltung, einer Bewegung, die er in diesem Gewimmel sofort erkennen würde. Doch Sharla war nicht zur Essensausgabe gekommen. Es überraschte ihn nicht. Als er in ihre Unterkunft zurückkehrte, war sie bereits verschwunden, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Ihm grauste es vor dem Alleinsein. Vielleicht würde er einfach im Freien sein Lager aufschlagen, denn die alte Umgebung war mit zu vielen schmerzenden Erinnerungen verbunden.

Pinto war viele Stunden ziellos durch die Straßen gelaufen. Vor einigen Stunden hatten ihn die Albträume wieder heimgesucht und seinen Geist gemartert. An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen. Die dunklen Gemächer beunruhigten sein Gemüt. Er musste hier raus. Und so lief er ohne jegliches Zeitgefühl durch die verwinkelten Gassen der Stadt, die allesamt wie ausgestorben vor ihm lagen. Es war so still auf den Straßen, dass Pinto glaubte, er wandere durch eine Art Traumlandschaft. Nicht einmal die Straßenköter, von denen es in dieser Gegend zuhauf gab, bellten um die Wette. Hin und wieder sah er bleiche Gesichter aus den Fenstern zu ihm starren. Es waren leere Blicke aus blutunterlaufenen Augen, in denen das Feuer des Lebens erloschen war.

Er überlegte, ob es vielleicht besser sei freiwillig aus diesem Leben zu scheiden. Die nächsten Wochen und Monate würden eine Qual sein und sein Leid nur noch verstärken. Er hatte Angst davor, elendiglich und von Krankheit gezeichnet, zu krepieren. Wie leicht erschien es dagegen, sich von einem der schiefwinkligen Dächer zu stürzen, um binnen weniger Lidschläge seiner kläglichen Existenz ein Ende zu bereiten. Sobald sein Körper auf dem harten Boden aufschlagen würde, wäre nur ein kurzer, blitzlichtartiger Schmerz wahrzunehmen, ehe sein Bewusstsein auf immer und ewig in den Tiefen der Finsternis versänke.

In einigen Metern Entfernung wurde die Straße endlich breiter, und das steinerne Dickicht der Häuserschluchten wich zur Seite, um der dunklen Silhouette der Arena Platz zu machen. Pinto verlangsamte seinen Schritt und ließ seinen Blick für einen kurzen Augenblick über das kuppelförmige Bauwerk gleiten, das bei dem Erdbeben nicht zerstört worden war. Die Arena zählte mit ihren sechs riesigen Stockwerken und einem Umfang von mehr als sechshundert Metern zu den imposantesten Gebäuden in der ganzen Stadt. Die runde Form des Gebäudes sollte verhindern, dass Gladiatoren, Sklaven oder gejagte Tiere in einer Ecke Schutz suchen konnten. Im Sand der Arena hatten viele unschuldige Menschen ihr Leben lassen müssen, um das gemeine Volk bei Laune zu halten. Pintos Gedanken gingen zurück an jenen unheilvollen Tag, als er zusammen mit dem Nekromanten Pius das Rund der Arena hatte betreten müssen, um gegen fremdartige und gefährliche Kreaturen aus den entferntesten Winkeln des Landes zu kämpfen. Es war ein Kampf auf Leben und Tod gewesen. Ein Kampf, den der Nekromant mit seinem Leben hatte bezahlen müssen. Es grenzte an ein Wunder, dass er die Schrecken der Arena überlebt hatte. Vielleicht war es so vorherbestimmt gewesen, dachte Pinto für einen kurzen Moment. Trotzig schüttelte er den Kopf. Es gibt keine Vorherbestimmung! Dass er noch am Leben war, war pures Glück. Ein Machwerk des Zufalls, hätte Pius jetzt bestimmt gesagt. Eine Laune der Natur. Das Übernatürliche hatte in seinem Leben nichts mehr verloren.

Während er sich der Arena näherte, fragte er sich, wie es wohl Sharla in diesem Augenblick ergehe. Ein Knoten bildete sich in seinem Hals. Die zierliche Sharla hatte da draußen im Ödland nicht den Hauch einer Chance. Die Salzwüste war ein Ort des Todes. Vor seinem inneren Auge manifestierten sich grauenhafte Bilder: Er sah, wie Sharla auf dem heißen Wüstensand zusammenbrach und am ganzen Körper zitterte, wie sie langsam und qualvoll verdurstete, weil sie sich in dieser gottverlassenen Gegend verlaufen hatte. Dann sah er Bilder, wie sie in einem Schott zu versinken drohte, wie ihr Körper in die Tiefen des Salzsees gezogen wurde und am Ende nur noch ihre Hand aus dem alles verschlingenden Moloch herausragte. Sharla wird sterben! Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen, machte er sich Vorwürfe. Jetzt war sie weg, und mit der Zeit würde sie zu einem schwachen Schemen in seinen Erinnerungen verblassen. Genauso wie Yva. Nein!

Pinto legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zum höchsten Stockwerk der Arena. Die Sitzplätze dort oben waren früher einmal heißbegehrt gewesen, denn man konnte an Holzbalken Segel als Sonnenschutz der Zuschauer aufziehen. Der Tempest zog eine Grimasse. Mit dem Einbrechen der Dunkelheit war der Sonnenschutz nutzlos geworden. Die Tage waren mit den Nächten verschmolzen. Während Pinto noch hinauf zum höchsten Punkt der Arena schielte, überlegte er fieberhaft, was er machen sollte. Im Grunde gab es drei Möglichkeiten für ihn. Zum einen könnte er sich von der höchsten Plattform der Arena in die Tiefe stürzen, um auf der Stelle seinem Leben ein Ende zu bereiten und damit wäre er alle Sorgen und Probleme auf einen Schlag los. Zum anderen könnte er sich seinem Schicksal ergeben und weiterhin elendiglich dahinvegetieren, um dann von irgendeiner Krankheit dahingerafft zu werden. Die letzte Möglichkeit wäre, seine sieben Sachen zu packen und Sharla zu folgen. Der Weg in eine bessere Welt, dachte er in einem Anflug von Sarkasmus. Nirgendwo erging es den Menschen besser. Die Finsternis würde diese Welt verschlingen. Er musste eine Entscheidung treffen. Der Sturz in die Tiefe war sehr verlockend, denn dann hätten auch die furchtbaren Albträume ein für alle Mal ein Ende. Es ist egal, ob du Sharla zu Hilfe eilst oder nicht. Sie wird so oder so sterben. Du kannst es drehen und wenden, wie du willst, sagte ihm eine innere Stimme. In diesem Moment erinnerte sich Pinto an seinen alten Lehrmeister Sephot aus der Schule des Blutes, der ein Bär von einem Mann war. Sephot hatte ihn und Draccus damals in der hohen Kunst des Kämpfens unterwiesen. Sein Lehrmeister hatte den Tod mit einem Weggefährten, der ständig seine Gestalt verändert, verglichen. Als Kind beachtet man ihn noch nicht, denn seine Form ist verschwommen und nebulös. Doch je älter man wird, desto klarer und schärfer werden seine Formen und Konturen. Manchmal ist es nur ein flüchtiger Schatten, den man aus dem Augenwinkel heraus sieht, ein anderes Mal ist es ein Mann in dunklen Gewändern, der für einige Zeit neben einem herschreitet. Im hohen Alter nimmt er dann die Gestalt des Sensenmannes an, dem man nur ungern den Rücken zuwendet, denn es kann ja sein, dass er die Sense hebt und einen hinterrücks zur Strecke bringt. Pinto fragte sich, welche Gestalt der Tod wohl bei ihm hätte. Er hielt nach einem Schatten oder nach dem Sensenmann Ausschau, doch sein Sichtfeld blieb leer.

Die Erinnerungen an seinen früheren Ausbilder lockerten ein wenig die unsichtbaren Gewichte, die an seinem Gemüt baumelten. Im Nachhinein hatte er kein schlechtes Leben gehabt. Der Tod von Yva hatte nur alles aus den Fugen gerissen. Danach hatte er davon geträumt, die Enge der Stadt zu verlassen. Jetzt hatte er die Möglichkeit endlich das zu tun, wovon er ein halbes Leben lang geträumt hatte, doch die schiere Hoffnungslosigkeit seiner Situation machte ihn handlungsunfähig. War die Situation wirklich ausweglos? Wenn Sharla recht behalten würde und es bessere Orte auf dieser Welt gab oder die Finsternis nach ein paar Jahren des stillen Ausharrens verschwinden würde, dann könnte er einen Neuanfang wagen. Nein, der Neuanfang muss jetzt gemacht werden, dachte Pinto. Wenn du jetzt nicht freiwillig aus dem Leben trittst, dann musst du heute schon den ersten Schritt machen … und nicht erst in ein paar Jahren. Doch dazu war er noch nicht bereit. Er fasste den Entschluss, Sharla zu folgen, und sie da draußen im Ödland aufzuspüren. Wie es danach weiterging, konnte er sich immer noch überlegen.

Der Tempest beschloss, sich an den Stadttoren nach Sharla zu erkundigen. Irgendwer musste doch eine zierliche rothaarige Frau mit Sommersprossen gesehen haben.

II. Thymokles

Jedem Reisenden stockte der Atem, wenn er zum ersten Mal einen Blick auf den Pyramidentempel von Yax Kayab warf. Der Tempel, vor vielen Jahrhunderten auf dem zentralen Platz der Stadt errichtet und von den Bewohnern ehrfurchtsvoll der Heilige Berg genannt, überragte wie ein steinerner Riese alle anderen Gebäude. Er war in neun Ebenen unterteilt; in den unteren fünf Ebenen waren die Priester und Templer des Danos-Ordens samt ihrer Dienerschaft untergebracht. Dem einfachen Volk war der Zutritt zu den oberen vier Ebenen untersagt. Man hatte auf den oberen Plateaus furchterregende Schlangen aus Stein errichtet, die daran erinnern sollten, dass hier der Zugang zu den kosmischen Bereichen lag. Nur den Oberpriestern war es gestattet, diese Heiligtümer zu betreten. Einige Bewohner waren fest davon überzeugt, dass im obersten Tempel des Heiligen Berges der Urgott Danos lebte und von dort die Geschicke der Welt leitete. Eine Reihe von extrem steilen Treppen mit einer Neigung von fast 60 Grad führte hinauf zu den Plattformen. Die Treppen waren nicht nur steil, sondern auch so schmal, dass man die Füße seitlich stellen musste. Ein Fremder konnte darüber womöglich nur den Kopf schütteln, doch war es im Sinne der Priesterschaft gewesen, den Aufstieg zum Heiligen Berg so schwierig wie möglich zu machen, denn nur durch Schweiß und Anstrengung – so der Glaube der Ordensleute – konnte man sich von seinen Sünden befreien. Ein Sturz von den Treppen endete oftmals bereits auf der ersten Ebene tödlich; schon viele Pilger und Priester waren beim Erklimmen der Stufen in die Tiefe gestürzt.

Eine architektonische Besonderheit des Heiligen Berges lag in seinem großen vertikalen Dachkamm, einem gigantischen Mauerwerk auf der neunten Ebene der Pyramide, der die Höhe des Tempels noch einmal beträchtlich vergrößerte. Nach dem Glauben der Einwohner von Yax Kayab berührten die langen Spitzen des Dachkamms die Heimat ihrer Ahnen. Der Tempel auf der neunten Ebene war hell erleuchtet. Der Hohepriester Chacazúl, einer der ältesten Einwohner von Yax Kayab, stand am Portal des Tempels und blickte hinunter auf die schwach erleuchtete Stadt. Er trug eine kurzärmelige Tunika aus schwarz gefärbter Baumwolle, auf der das Emblem des Urgottes Danos in mühevoller Kleinarbeit gestickt war: ein wütender Stier mit funkelnden Augen. Die Hohepriester trugen solch eine Tunika, um sich zur Verkörperung der Götter auf Erden zu erklären und so ihren Regierungsanspruch zu rechtfertigen. Chacazúls Kopfschmuck bestand aus einem mit Federn, Perlen, Stoffen, Muscheln und Jade besetzten hölzernen Kamm. Sein einstmals schwarzes Haar war schon vor unzähligen Sommern schlohweiß geworden. Wenn er lachte, verwandelte sich sein mit Altersflecken übersätes Gesicht in ein wirres Faltenmuster. Es war wahrlich ein Wunder, dass er immer noch lebte. Seine damaligen Freunde waren alle schon dem Ruf des Urgottes gefolgt und verstorben. Er war der letzte Hohepriester seiner Generation. Ein Relikt aus längst vergessenen Zeiten. Doch noch immer brannte ein unstillbares Feuer in seinen Augen. Sein Körper war zwar müde geworden, doch nicht sein Geist. Als die Finsternis über Yax Kayab kam und das Licht der Sonne löschte, wusste er, warum Danos ihn noch nicht heimgerufen hatte. Mit dem Einbrechen der Dunkelheit hatte er es gespürt: Der Urgott hatte eine letzte große Aufgabe für ihn. Noch nie zuvor hatte er sich in seinem langen Leben so ausgeruht und erfrischt gefühlt. Es war ihm, als habe er in einem Jungbrunnen gebadet. Und dann hatte Danos ihm ein Zeichen geschickt. Eindeutiger konnte die Antwort des Urgottes nicht ausfallen. Ein Zeichen! Lange hatte er darauf warten müssen. Es gab Hohepriester, die ihr ganzes Leben lang vergeblich auf ein Zeichen gewartet hatten, doch der Urgott war stumm geblieben. Vor Chacazúl wartete jetzt noch eine große Aufgabe, danach konnte er heimkehren und auf dem Waldmond seinen ewigen Frieden finden. Er musste den Mantel der Finsternis aufhalten. Das war seine letzte große Bestimmung.

In diesem Moment erklomm ein kleiner Mann die letzten Stufen des Heiligen Berges. Er war ebenso wie Chacazúl in eine priesterliche, jedoch gelb gefärbte, Tunika gekleidet. Seine stark ergrauten Haare gingen an einigen Stellen bereits in weiß über. Seine Stirn war auffallend lang, wofür wohl die Geheimratsecken, die das Haupthaar immer mehr zurückdrängten, verantwortlich waren. Der Kopf des Mannes war feuerrot, und sein Atem kam nur noch stoßweise hervor. Schweißperlen klebten an seinen Wangen und suchten sich ihren Weg hinab zu seinem Hals. Allem Anschein nach hatte er die Stufen zur höchsten Ebene ohne Pause erklommen. Ein Wunder, dass er dabei nicht ohnmächtig geworden war und sich den Hals gebrochen hatte. Chacazúl selbst verließ nur noch selten die höchste Plattform, da sein Körper die Tortur des Treppensteigens nicht mehr verkraftete. Als er eine Messe auf der achten Ebene gehalten hatte, musste er anschließend von drei Dienern gestützt werden und unzählige Pausen einlegen, bis er wieder die neunte Ebene erreicht hatte. Festen Boden unter den Füßen hatte er schon lange nicht mehr gehabt; sein letzter Besuch in der Stadt lag mehr als zwanzig Jahre zurück. Eigentlich beabsichtigte er, gar nicht mehr hinabzusteigen, denn auf der neunten Ebene war er den Göttern und seinen Ahnen am nächsten, und hier sprachen die Winde zu ihm. Welcher Ort war schöner, als in der Nähe des majestätischen Himmelzeltes seinen Geist auszuhauchen?

»Chacazúl … Ihr habt … mich rufen … lassen«, schnaufte der Mann.

Chacazúl nickte. »Ja, das habe ich. Aber Pacal, Ihr seid ja völlig außer Atem. Ruht Euch einen Moment aus.« Wie ein väterlicher Freund legte Chacazúl dem Priester Pacal die Hand auf die Schulter.

»Euer Diener hat mich auf dem Marktplatz gefunden. Ich habe mich sofort auf den Weg zu Euch gemacht.«

»Ja, ich kann mir sehr gut vorstellen, dass der Aufstieg eine Qual für Euch war. Aber Ihr kennt nun mal die Gesetze des Heiligen Berges.«

»Gewiss, gewiss«, nickte Pacal eifrig. »Ich bin fürs Erste geläutert!«