Die Hexe von Rothenburg - Andreas Liebert - E-Book
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Die Hexe von Rothenburg E-Book

Andreas Liebert

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Beschreibung

Historisch fundiert und farbenprächtig fabuliert: Der Mittelalterroman »Die Hexe von Rothenburg« von Andreas Liebert jetzt als eBook bei dotbooks. Ein Sturm aus Unheil und Verrat zieht herauf ... Rothenburg im Jahre 1524: Weil ihr Vater durch einen Funkenregen seines Kohlenmeilers eine Feuersbrunst entfachte, begegnen die Menschen der jungen Hanna voller Argwohn. Bald gilt sie als Unheilsbringerin – und dies umso mehr, als sie Visionen von den Schrecken eines herannahenden Bauernkrieges und hinterlistigen Verbrechen hat. Die Feinde, die Hanna sich damit schafft, sind ebenso zahlreich wie mächtig: Bald setzen sie alles daran, Hanna auf dem Scheiterhaufen brennen zu sehen. Einzig der junge Ordensritter Ulrich, der sich ihr vom ersten Moment an verbunden fühlt, scheint ihr noch helfen zu wollen. Aber was hat es mit dem rätselhaften Band zwischen ihnen auf sich – und kann er Hanna wirklich vor einem grausamen Tod bewahren? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Historienroman »Die Hexe von Rothenburg« von Andreas Liebert. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 689

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Über dieses Buch:

Ein Sturm aus Unheil und Verrat zieht herauf … Rothenburg im Jahre 1524: Weil ihr Vater durch einen Funkenregen seines Kohlenmeilers eine Feuersbrunst entfachte, begegnen die Menschen der jungen Hanna voller Argwohn. Bald gilt sie als Unheilsbringerin – und dies umso mehr, als sie Visionen von den Schrecken eines herannahenden Bauernkrieges und hinterlistigen Verbrechen hat. Die Feinde, die Hanna sich damit schafft, sind ebenso zahlreich wie mächtig: Bald setzen sie alles daran, Hanna auf dem Scheiterhaufen brennen zu sehen. Einzig der junge Ordensritter Ulrich, der sich ihr vom ersten Moment an verbunden fühlt, scheint ihr noch helfen zu wollen. Aber was hat es mit dem rätselhaften Band zwischen ihnen auf sich – und kann er Hanna wirklich vor einem grausamen Tod bewahren?

Über den Autor:

Andreas Liebert ist Kulturwissenschaftler mit dem Schwerpunkt 18. und 19. Jahrhundert. Seit Jahren arbeitet er als Schreibcoach für eine bundesweite Romanwerkstatt, gleichzeitig engagiert er sich als Lehrkraft im zweiten Bildungsweg.

Bei dotbooks veröffentlichte Andreas Liebert seinen Weinkrimi »Schwarze Reben« sowie seine historischen Romane »Die Pianistin von Paris«, »Die Töchter von Sankt Petersburg«, »Das Blutholz«, »Die Töchter aus dem Elbflorenz«, »Corellis Geige«, »Die Tochter des Komponisten« und »Die Hexe von Tübingen«.

***

eBook-Neuausgabe Juli 2016, November 2021

Dieses Buch erschien unter dem Titel »Das Gesicht des Teufels« und dem Autorennamen Kay Cordes bereits 2010 bei Rowohlt sowie auch unter diesem Titel 2016 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2010 Rowohlt Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgaben 2016, 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Vladimir Galiak, Picksell und eines Kupferstichs der Stadt Rothenburg aus Georg Braun und Frans Hogenberg »Civitates Orbis Terrarium«

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-710-8

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Andreas Liebert

Die Hexe von Rothenburg

Historischer Roman

dotbooks.

Prolog

Endlich Fastnacht! Pfeifen schrillten, Schellentrommeln schepperten, Dudelsäcke orgelten. Rothenburg hatte sich in einen brodelnden Hexenkessel verwandelt. Masken und Narren hatten das Kommando in den Straßen und Gassen übernommen, vollführten Luftsprünge, johlten, brüllten und fegten mit ihren Reisigbesen böse Wintergeister von den Hauswänden.

Alle hatten sie ein und dasselbe Ziel: den Rothenburger Marktplatz, wo die Patrizier auf der Rathaustreppe darauf warteten, den Sieger des Narrensprungs zu ermitteln. Versuchten die einen, mit akrobatischen Sprungtänzen zu überzeugen, setzten andere auf Jonglierkünste, wieder andere traten in wilden Reisigbesen-Gefechten gegeneinander an.

Hanna war es egal, wer als Sieger ausgerufen wurde. Sie wollte nur für ein paar Stunden die Mühsal ihres Köhlerdaseins vergessen. Dafür hatte sie mit ihrem Bruder Arndt und ihrer kleinen Schwester Marie in aller Herrgottsfrühe die Einsamkeit ihrer Köhlerhütte verlassen. Der Lohn für den weiten Weg war: Heute würden sie das Spektakel vor dem Patriziat das erste Mal von der vordersten Reihe aus erleben können.

»Schulter«, jammerte die kleine Marie. »Huckepack, Arndt.«

Nun wurde es Marie doch zu viel. Wieder hatte eine schaurige Maske sie angeheult. Arndt hob Marie auf seine Schultern, während Hanna mit ihrer Schürze versuchte, eine Duftwolke aus faulen Eiern fortzuwedeln. Trotz der Kälte war die Luft zum Schneiden dick, und als eine Abordnung Narren mit Klappern und Rätschen vorüberzog, war es so laut, dass Hanna sich die Ohren zuhalten musste.

Ein Raunen ging durch die gaffende Menge, als sich das Narrengericht schließlich von den Stühlen erhob. Rothenburgs Patrizier waren allesamt in weite schwarze Mäntel gehüllt, trugen weiße Masken mit schwarzen Augenschlitzen, roten Pausbacken und zahnlosen Strichmündern.

Hannas Herz begann schneller zu schlagen.

Irgendwas lag plötzlich in der Luft. Sie spürte es.

Nein, redete sie sich ein. Es ist nur der Anblick dieser glatten, leeren Larven. Sie sehen von allen am unmenschlichsten aus. Sie machen Angst … viel mehr als all die grinsenden Teufels- oder Hexenmasken.

»Marie? Geht es?«

Lächelnd, aber auch besorgt schaute Hanna zu ihrer Schwester hoch.

Marie nickte.

»Natürlich. Ich hab dich sicher. Keiner kann dir was!«

Arndt kitzelte Marie am Oberschenkel und brachte sie zum Lachen. Beruhigt wandte Hanna sich wieder dem Narrengericht zu und schrak auf der Stelle zusammen: Einer der Narrenrichter schaute geradewegs in ihre Richtung. Das Weiß seiner Maske schien das der anderen plötzlich zu überstrahlen. Und als würde ein Regentropfen von einem Lichtstrahl getroffen, blitzte es scharf hinter den toten Augenschlitzen auf.

Hanna hätte am liebsten geschrien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihr Herz raste, und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, ihr Kopf würde mit einer Eisschicht überzogen werden. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solch ein Blick getroffen.

»Herr Jesus, steh mir bei.«

Zitternd bekreuzigte sie sich. Doch es war zu spät. Hanna wusste im selben Augenblick, dass ihr Leben von nun an anders verlaufen würde.

Denn niemand kam ungeschoren davon, wenn ihn der böse Blick traf.

Teil I

Neusitz, Sommer 1524

Kapitel 1

Der Tag begann mit einem vereinzelten Vogelruf. Er zauberte Hanna ein Lächeln auf die Lippen, doch schon im nächsten Augenblick schreckte sie aus dem Halbschlaf. Da erklang der Ruf ein zweites und drittes Mal.

»Heiliger Apostel Kilian, steh uns bei.«

Hanna bekreuzigte sich. Sie hielt den Atem an, ihr Herz schlug schneller. Ein Kuckuck ruft nicht im Oktober. Und wenn doch, hat es etwas zu bedeuten. Ihr Blick glitt durch das Dämmerlicht der Köhlerhütte zu ihrem Vater. Er schlief noch tief, aber nur zu gut erinnerte sie sich, was er ihr und ihrer Schwester Marie erzählt hatte: dass der Kuckuck der Wächter des Waldes sei und immer dann rufe, wenn Unheil drohe.

Hanna lauschte mit angehaltenem Atem, doch jetzt war es still.

Vielleicht habe ich mich ja auch getäuscht, sagte sie sich, schlug die verfilzte Decke zurück und erhob sich von ihrem Strohlager.

Goldenes Morgenlicht drang durch die Türritzen der Köhlerhütte am Rothenburger Wachsenberg, die sie sich mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Arndt, ihrer kleinen Schwester Marie und ihrem Vater Tilman Völz teilte. Auch Marie schlief noch, Arndt hingegen war längst bei den Kohlenmeilern. Alle vier Stunden musste man nach ihnen schauen, sie behutsam anlüften und prüfen, ob sie noch dicht waren.

Hanna trat ins Freie hinaus. Nicht weit von ihr entfernt entdeckte sie Arndt bei einem der Meiler. Da er beschäftigt war und sie nicht sehen konnte, beschloss sie, ein paar Minuten dieser frühen Morgenstunde ganz für sich allein zu genießen.

Sie sann darüber nach, dass jeder, der sie kannte, ihr zu verstehen gab, dass sie anders war als die Mädchen Rothenburgs. Ihr eigener Bruder verspottete sie wegen ihres feinen Gesichts gar als Madonna vom Wald. Trotzdem verrichtete sie die gleiche Arbeit wie die beiden Männer. Ihre Hände waren genauso von Brandblasen gezeichnet und nach einer Schicht genauso schmutzig. Natürlich bekam auch sie kein Stündchen mehr Schlaf, dafür hatte sie aber zusätzlich das Kochen und die Wäsche am Hals. Und wenn Marie, die gerade zehn Jahre alt geworden war, Langeweile hatte, war sie es allein, die sich um sie kümmerte. Dennoch machte sie klaglos ihre Schichten und quälte sich sommers wie winters hoch, um nach den Meilern zu schauen.

Zuweilen gab es Tage, an denen sie keinen Funken Kraft mehr in den Knochen spürte. Sterbensmüde sank sie dann ungewaschen auf ihr Lager. Das waren die Stunden, in denen sie froh war, keinen Spiegel wie die feinen Rothenburger Damen zu haben. Sie wusste nur zu gut, wie sie aussah: übernächtigt, mit geröteten Augen und einer Haut voller Asche und Ruß.

Noch aber war sie jung, gerade einmal neunzehn Jahre alt, und erholte sich rasch. Ihr Vater sagte gerne: Hanna, du bist wie eine Wildrose, schön und lebensstark.

Doch wie lange blühte eine Wildrose?

Ihr Blick streifte über Holunder- und Hagebuttensträucher, die in diesem Herbst nur vertrocknete Beeren hervorgebracht hatten. Seit Ende Juni hatte es nicht mehr geregnet, seit Juli stach die Sonne von einem fleckenlos blauen Himmel herunter, und jetzt, Anfang Oktober, begann bereits das Laub zu fallen. Die Erde war rissig, das Gras strohig, sämtliche Heckenfrüchte der Rothenburger Landhege waren verkümmert. Äpfel und Birnen faulten schon am Baum, und auf den Feldern war so gut wie alles Getreide verdorrt. Nur wer unter unsäglichen Mühen Wasser aus der Tauber schleppte, fuhr wenigstens eine magere Getreideernte ein. Ihnen selbst war seit Wochen der Brunnen ausgetrocknet. Jeden Tag musste deswegen einer von ihnen nach Neusitz laufen. Es war eine echte Schinderei.

Dabei war es bis in den Mai hinein viel zu kalt und regnerisch gewesen. Und jetzt? Während Hanna auf Arndt zuging, knackten abgestorbene Zweige unter ihren Füßen, so trocken war es.

Arndt stand mit verschränkten Armen vor einem seit drei Tagen schwelenden Meiler. Müde stierte er auf den weißen Rauch, der sich unter der Decke aus Zweigen, Laub und Erde hervorkräuselte und anzeigte, dass das Holz noch nicht vollständig verschwelt war. Nur bei blauem Rauch war es fertig, erst dann konnten die armlangen Kohlestämme geerntet werden.

»Arndt?«

»Ja.«

»Hast du es auch gehört?«

»Was?«

»Na, den Kuckuck!«

»Na, den Kuckuck«, äffte er sie aufgebracht nach. »Hört das denn alles gar nicht mehr auf? Den ganzen Sommer geht es schon so. Was ist los mit dir? Gestern flüsterte die Krone der Eiche, heute ist es der Kuckuck. Was kommt morgen? Nein, sag nichts, ich ahne es: unsere Tauber. Mit einer Geisterstimme, die nur du verstehst, gluckst dir das Wasser zu: Mensch, gib acht, es ist bald Mitternacht.«

»Jaja, du kannst immer nur spotten«, gab Hanna nicht minder heftig zurück, griff nach ihrem langen blonden Haar, holte es nach vorn und flocht einen dicken losen Zopf. »Besser wär’s, du würdest mal aufs Geld schauen. Damit wir mehr für unsere Kohle bekommen. Vater muss in die Stadt zum Bader, aber das hast du schon wieder vergessen, wie? Seinen faulen Zahn?«

»Nein! Glaubst du, ich riech’s nicht? Und Marie braucht Tuch für ein Winterkleid. Aber was ist wichtiger? Beides auf einmal geht nicht. Wartet eben noch ein wenig …, bald … dann hab ich das Geld. Für beides.«

»Wartet eben noch ein wenig …« Jetzt äffte Hanna ihren Bruder nach. »Bald, wann ist das? Und wenn: Hast du bis dahin zaubern gelernt, oder wie?« Entschlossen warf sie ihren Zopf nach hinten und stemmte die Arme in die Seiten.

»Zaubern? Am besten Geld herbeihexen, wie?« Auf Arndts breitem bäurischen Gesicht schien sich ein Gewitter zusammenzubrauen. Plötzlich jedoch lachte er lauthals auf. Doch bevor er etwas sagte, wandte er sich mit einer raschen Bewegung dem Meiler zu, dichtete eine qualmende Stelle ab und trat dann direkt vor Hanna. Er stieß seine Schaufel in die Erde und faltete seine Hände über dem Stiel. In seinen Augen blitzte der Schalk.

»Weißt du, du bist am hübschesten, wenn du böse bist. Das hab ich auch dem Müller gesteckt.«

»Welchem Müller? Was soll das heißen?«

»Dem Jobst Gessler. Von der Herrenmühle.«

Arndt klang bemüht arglos, aber Hanna verstand sehr wohl, worauf er anspielte. Obwohl er jünger war als sie, glaubte er seit diesem Sommer, den großen Bruder spielen zu müssen. Doch sie hatte keine Lust, sich jetzt auch noch darüber zu streiten. Sollte Arndt ruhig glauben, er könne sie an den blatternarbigen Müller verschachern wie einen Sack Holzkohle an den Hufschmied. Sie würde ihm noch beizeiten den Kopf waschen. Schließlich war sie nicht seine Leibeigene, ganz davon abgesehen, dass das Oberhaupt der Familie immer noch ihr Vater Tilman war.

Ohne auf Arndts versöhnliche Rufe zu achten, lief sie um den Meiler herum und auf die Lichtung zu. Als sei nichts gewesen, breitete sie die Arme aus, drehte sich nach ein paar Schritten einmal um sich selbst und tat, als wäre es ihr das Wichtigste, so viel wie möglich von der Morgensonne einzufangen.

Ob sie wohl wieder zu mir spricht?

Hanna eilte auf die alte Eiche zu. Diese mochte an die fünfhundert Jahre alt sein. In ihrem Schattenfeld, unter ihrer Krone zu stehen, ihren Stamm zu berühren, hatte etwas Unerklärbares an sich. Etwas Mystisches. Selbst Arndt hatte das einmal zugegeben.

Hanna schloss die Augen und holte tief Luft. Soll ich den Stamm umarmen?

Antwort bekam sie vom Kuckuck, aber auch von Eichelhähern, Elstern und Krähen. Ein Rudel Rehe sprang über die Lichtung. Die Eichenkrone über ihr rauschte bedrohlich. Ihre Äste knarzten, als böge eine fremde Kraft sie zur Seite.

Für die Dauer eines Lidschlags hatte Hanna das Gefühl, ihr würde schwindelig und der Boden löse sich von ihren Füßen. Du hast nicht gefrühstückt, beruhigte sie sich. Sich über den Bruder zu ärgern, macht nicht satt.

Da bebte die Erde ein zweites Mal. Die Eiche stöhnte auf, und in ihrer Krone krachte es. Hanna fuhr zusammen. Aber es war nur ein großer toter Ast, der dumpf auf die Erde schlug.

Dann war alles vorbei.

Kapitel 2

Einen Tag später, die Sonne wärmte bereits, ritten zwei Männer, von Rothenburg kommend, auf den Wald zu.

Kann es Schöneres geben, als durch einen Herbstwald zu reiten?, fragte sich Ulrich von Detwang. Zumal bei solch goldenem Oktoberwetter?

Ulrich schaute sich nach dem Obstbaumpelzer um, der auf seiner Fuchsstute eingeschlafen zu sein schien, so gemächlich wie sie dahintrottete. Dieser Krämer, dachte er spöttisch. Nur weil’s nicht sofort um Geld geht, tut er’s den Siebenschläfern gleich. Verärgert setzte er seinem Rappen die Sporen. Sand und Gras wirbelten unter dessen Hufen hervor, vertrocknete Eicheln flogen durch die Luft. Mühelos nahm er den Anstieg zum Wachsenberg. Ulrich freute sich über die Kraft seines Hengstes, den er erst vor kurzem frisch hatte beschlagen lassen. Sein Ärger verflog. Er zügelte sein Pferd, drehte sich um und wartete, bis der Baumpelzer auf Rufweite aufgeschlossen hatte.

»Warum immer so langsam?«, stichelte er. »Meint Ihr, weil Ihr Obstreiser aufpfropft, muss unsereins genauso langsam vorankommen wie ein ungenügend gegossener Baum?«

»Und Ihr, Ritter? Wozu so schnell? Der Tag ist noch jung. Hättet Ihr so ein Weib zu Hause wie ich, würdet Ihr auch jedes Stündchen genießen.«

Ulrich lachte und zupfte sich seinen bestickten Mantel zurecht. Das schwarze Prankenkreuz auf weißem Grund wies ihn als Ritter des Deutschen Ordens aus, mehr noch: Ulrich von Detwang war im Gespräch, der neue Komtur oder Statthalter des Ordens in der freien Reichsstadt Rothenburg zu werden. Damit wäre er der Herrscher über einhundert Familien, die innerhalb des Rothenburger Territoriums lebten, und hätte sogar das Recht der Hochgerichtsbarkeit inne, mithin die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod. Damit versuchte ihn zumindest der Mergentheimer Landkomtur Wolfgang von Bibra zu locken. Ulrich aber zögerte. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren fühlte er sich noch nicht reif, eine solche Bürde auf sich zu nehmen. Ihm lag nichts an Macht, und in diesen Zeiten schon gar nicht. Denn seit Jahrzehnten standen die Rothenburger Komture mit der Stadtregierung in einer gespannten Beziehung, sie waren sich spinnefeind.

Der Baumpelzer stieg vom Pferd und schaute sich um. Sie standen mitten im Wald, einem gesunden, dichten Mischwald aus Eichen und Buchen. »Ihr wollt hier also roden. Nur, was ist mein Geschäft dabei? Bäume sollen weg, gut. Nehmen wir einmal an, alles ist gefällt, der Boden gerodet, das Holz abgefahren …«

»… dann werdet Ihr hier Obstbäume pflanzen und sie veredeln.«

»Ach so. Und deswegen bin ich hier?«

»Ja. Ihr sollt sagen, ob der Boden etwas taugt«, meinte Ulrich und stieg ebenfalls vom Pferd.

Der Baumpelzer wollte etwas sagen, doch urplötzlich erfüllte wildes Geflatter die Luft. Eichelhäher kreischten, Stare pfiffen, und in der Nähe gickerte ein Habicht. Ulrichs Rappe wieherte, und die Fuchsstute des Baumpelzers stampfte mit den Hufen. Zischend sog dieser die Luft ein, während Ulrich glaubte, seine Augen spielten ihm einen Streich: Für die Dauer von zwei Herzschlägen schien der Wald zu wackeln und sich der Boden zu verflüssigen.

»Ein Beben«, murmelte der Baumpelzer verdrießlich. »Das bedeutet nichts Gutes. Gibt es hier wenigstens einen Bildstock?«

»Ihr wollt beten? Warum?«

»Ja, was glaubt Ihr denn, warum es gebebt hat. Gott ist zornig. Begreift Ihr es denn nicht? Könnt Ihr die Zeichen nicht deuten? Bauern, Weingärtner, Handwerker, Kleinhäusler hungern, Ihr aber prasst. Wir Händler machen keine Geschäfte mehr, Ihr aber stehlt uns die Zeit. Und wir Kleinen, die wir uns Gottes Nähe wünschen, verprellt Ihr mit solchen Ausgeburten der Hölle wie einem Johann Tetzel: Sobald der Gulden im Becken klingt, husch, die Seele in den Himmel springt. Das lässt die Erde zittern, Ritter. Das ist der Zorn des Herrn!«

Ehrfürchtig sank der Baumpelzer in die Knie, faltete die Hände und betete. Ulrich war so verblüfft, dass er keinen Ton herausbrachte. Er wartete, bis der Händler sein Gebet verrichtet hatte, und stimmte am Schluss sogar laut in das Vaterunser ein. Dann kratzte er sich seinen wieder einmal juckenden Bart und beschloss endgültig, ihn vom nächstbesten Bartscherer abnehmen zu lassen.

Schließlich sagte er: »Wenn Euer Herz für die Lutherischen schlägt, heißt das aber nicht, Ihr trinkt kein Bier mehr mit mir, oder? Ich würde Euch in die Schänke nach Windelsbach einladen.«

»Danke. Aber ich habe geschworen, meiner neuen Überzeugung treu zu bleiben. Gerne mache ich Geschäfte mit Euch, aber sähe man mich mit Euch trinken, würde mir keiner meinen Sinneswandel abnehmen. Nehmt es bitte nicht persönlich.«

Der Baumpelzer bestieg seinen Fuchs, wendete und schlug der Stute die Hacken in die Flanken.

Schau einer an! Auf einmal hat er es nicht mehr mit der Langsamkeit, dachte Ulrich verstimmt. Jetzt reitet er geschwind wie ein Kurier. Und wohin? Sicher zu einem von diesen lutherischen Rädelsführern, die die Ordnung auf den Kopf stellen wollen. Wenn jetzt noch ein größeres Beben folgt … es wäre Wasser auf die Mühlen aller Eiferer.

Er griff nach den Zügeln, zog seinen Rappen mit sich. Nachdenklich schritt er voran. Es war zu warm, viel zu warm für diese Jahreszeit. Kein Wunder, dass er bereits am frühen Morgen an Schänken und an etwas zu trinken dachte. Und als er nach einer Weile Rauch roch, war sein Durst bereits so groß, dass er kurzentschlossen kehrtmachte, um zurück nach Rothenburg zu reiten.

Hanna saß im sonnengefleckten Halbschatten der alten Eiche auf dem Ast, der am Tag zuvor heruntergebrochen war. Wie oft schon war sie hierhergekommen, um ihr trostloses Leben zu vergessen. Bislang hatte ihr die geheimnisvolle Aura des Baumes immer geholfen, für eine Weile Ruhe zu finden. Nur wer fühlen konnte, spürte die Kraft der in alle Himmelsrichtungen strebenden Äste. Nur wer sich darauf einließ, nahm die Spannung unter seiner Krone wahr, spürte das Saugen der Wurzeln und den Atem der Blätter.

Je länger sie auf ihrem Ast saß, umso intensiver empfand Hanna die Ruhe dieser Eiche. Sie fühlte sich wohltuend von ihren Sorgen befreit. Sie schaute zur Krone des Baumes hoch. Als zöge dieser sie mit unsichtbaren Händen hoch, stand sie auf und schritt langsam um ihn herum.

Sanft klopfte sie gegen den Stamm und streichelte die Borke. Wie es wohl wäre, könnte dieses jahrhundertealte Holz sprechen? Ihr von den Weltläuften erzählen? Gar über ihr Schicksal Auskunft geben? Hanna schien es, als höre der Baum ihre Gedanken, und auf einmal fühlte sie sich von seltsamen Bildern und Geräuschen umgeben. Sie waren nicht deutlich, eher schattenhaft und vielfach ineinander geblendet, aber eines wusste sie genau: Sie sah ein Feuer, mehr noch, eine ganze Feuerwand. Sie hörte Rufe, Schreie. Ihre waren darunter, aber auch andere. Ein Pferd stampfte durch den Wald, sie saß auf seinem Rücken. Aber trug es nicht ein Kreuz? Und dann diese Angst, aber da war noch etwas: Freude und Süße.

Von der Vision gefangen, krochen ihre Finger immer tiefer in die Borkenspalten. Hanna lächelte glücklich, doch plötzlich spürte sie, wie der herausgekratzte Borkenstaub unter ihren Nägeln brannte und der Baum zu schwanken schien. Ihre Finger verkrampften sich, und sie riss ihre Hand zurück.

Das ungestüme Flattern einer Taube ließ sie wieder zu sich kommen. Hanna steckte sich den blutenden Ringfinger in den Mund. Bitter und süß, dachte sie. Es schmeckt wie meine Vision.

Kapitel 3

»Weil ich Hunger, Hunger auf was Schönes hab!« Tags darauf, um die Mittagszeit, sprang Marie quirlig wie ein Eichhörnchen zwischen den Meilern umher. Sie hatte Lust auf Süßes gehabt und vergeblich Brombeeren gesucht. Nun hingen Kletten in ihrem seidig braunen Haar, und ihre Arme und Beine waren blutig und zerkratzt.

Sie stürmte in die Köhlerhütte und kreischte laut auf, weil Arndt nach ihrem fleckigen Kittel haschte. Er hatte ihr verboten, allein durch den Wald zu streifen, aber ob er nun schimpfte oder nicht: Seit diesem Sommer kümmerte Marie sich nicht mehr um seine Verbote.

»Raus!«, rief ihr Vater. »Mach dich nützlich. Hilf Hanna.«

»Nein, ich suche Eckern, Eckern, weil ich Hunger, Hunger hab.«

»Du Ausbund!«

Tilman stemmte sich von seinem Lager hoch und schaute seiner kleinen Tochter nach, die wieder hinausgestürmt war und wie üblich vergessen hatte, die Tür hinter sich zuzumachen. Trotzdem lächelte er. Insgeheim war er stolz auf sein Nesthäkchen, das er von Tag zu Tag mehr liebte, mehr noch als Hanna. Ihre Mutter Ruth war ein Jahr nach Maries Geburt gestorben und lag auf dem Neusitzer Kirchhof. Er würde sich dort kein Grab mehr leisten können, aber so war das eben bei armen Leuten. Gott nimmt nicht nur zu sich, wen er will, sondern bestimmte einem auch das Grab. Für ihn würde es unter der alten Eiche sein.

Aufstöhnend sank Tilman Völz zurück. Der faulende Zahn brachte ihn noch um. Und die Kraft, die das kostete! Vorhin waren ihm deswegen die Beine weggeknickt, einfach so. Dabei war er gerade einmal neununddreißig Jahre alt. Tilman ballte die Fäuste. Ob nun mit faulem oder gesundem Zahn: Er würde sich jetzt ausruhen, dafür aber die Nachtschicht übernehmen. Hanna und Arndt könnten dann endlich einmal wieder ausschlafen. Vor allem Hanna, dachte Tilman. Noch ist sie hübsch. Aber wenn sie gut einheiraten will, muss sie sich beeilen.

Ach, dieses elende Leben. Tot sein wäre besser.

Tilman Völz wurden die Augen feucht, die Lider schwer. Nach einer Weile fielen sie ihm vor Müdigkeit zu. Nur bis heute Abend, sagte er sich. Vergiss deinen Zahn. Eine Weile hörte er noch Maries sich entfernende Stimme, lächelte und freute sich. Sachte fiel er in einen tiefen Schlaf. Einen Moment noch schien es ihm, Marie kehre zu ihm zurück, riefe ihm etwas zu, das er nicht verstehen konnte. Dann aber riss ihn die Dunkelheit fort.

Marie indessen tanzte um einen der Meiler herum, hielt nur inne, um hin und wieder Hanna zu umarmen und sie mitzuziehen: »Pilze, Pilze, Hanna. Bitte.«

»Aber Marie, dazu ist es doch viel zu trocken. Wir würden uns die Augen aus dem Kopf stieren und doch nichts finden.«

»Aber wo der Bach fließt, beim Graben …«

»Herzchen, der ist auch ausgetrocknet.«

»Ja und? Nachher finden wir gerade deswegen Gold unter einem Stein, komm!«

Marie zupfte an Hannas Kleid, doch die schüttelte erschöpft den Kopf. Ihr fehlte mal wieder Schlaf, zudem machte ihr die Vision zu schaffen. Sie grübelte den Schemen nach und versuchte ihre Bedeutung zu enträtseln, worüber sie mehr und mehr die Arbeit vergaß. Die Strafe folgte flugs: Der Meiler ging an einer Stelle durch, was bedeutete, er bekam zu viel Luft. Sie hatte die Lüftungskanäle, die am Boden bis unter den Meiler reichten, zu großflächig abgedeckt. Mit aller Macht drückte der Rauch jetzt durch die daumendicke Abdeckschicht, die Temperaturen in seinem Innern zogen stark an. Wenn sie die Luftzufuhr jetzt nicht schnell drosselte, würde das Holz Feuer fangen und verbrennen.

»Herrgott, Marie! Hilf mir lieber, bevor der ganze Meiler durchgeht. Tu auch mal was. Himmel, du bist zehn Jahre alt!«

»Eben, eben und darum, Hanna, such ich mir jetzt was zu essen.«

Marie rannte los, so schnell sie ihre Beine trugen. Als ob sie wirklich fliegen will, dachte Hanna und blickte ihr nach, wie sie auf die Eiche zuhielt. Hoffentlich … Sie hörte sie laut aufjauchzen, sah sie die Arme ausbreiten. Ja, da ist sie genau wie ich, dachte sie gerührt und begann zu husten, weil sie von einer Rauchschwade eingenebelt wurde.

Marie aber stürmte durch das Schattenfeld der Eichenkrone und hatte die Lichtung bald hinter sich gelassen. Ein Pfauenauge flatterte vor ihr her und lockte sie ins Unterholz, dorthin, wo sie die letzten Tage einige verschrumpelte Brombeeren gefunden hatte. Marie folgte dem Schmetterling, vergeblich: Er schien klug zu sein, stieg hoch in die Luft und verschmolz mit dem Licht. Geblendet schloss Marie die Augen und suchte ein paar Schritte weiter noch einmal die Brombeerhecke ab. Zu ihrer Enttäuschung hatte sie nur eine einzige Beere übersehen. Sie presste sie langsam zwischen ihren Lippen aus, schluckte sie schließlich.

Hunger, Hunger, dachte sie. Warum gab es dieses Jahr keine Bucheckern?

Sie schlug die Richtung zum Karrachgraben ein. Sie wusste, der Bach war ausgetrocknet, glaubte sich aber daran zu erinnern, dass das Gras an einer Stelle grün gewesen war. Vielleicht waren dort ja Butterpilze gewachsen! Oder Schnittlauch, nein, noch besser, wilde Möhren. Bei dieser Vorstellung begann sie vor Freude in die Höhe zu hüpfen. Doch kaum berührten ihre Füße wieder die Erde, verlor sie das Gleichgewicht und stürzte. Noch im Fallen fiel ihr auf, dass die Welt verrückt spielte. Alles … schwamm, bewegte sich, wurde irgendwie von unten gestoßen. Der Wald vor ihren Augen verschob sich, zitterte und schwankte. Die Erde verlor all ihre Festigkeit und wurde durchgerüttelt, als drehe sich unter ihr ein Mühlrad.

Und das Entsetzliche war: Es hörte nicht mehr auf.

Marie begann vor Angst zu schreien – wie das Vieh in den Ställen und auf der Weide, wie die Menschen in ihren Häusern oder auf den Plätzen Rothenburgs. Auch Hanna schrie, weil sie sah, wie zwei Kohlenmeiler barsten. Ohnmächtig sah sie mit an, wie Reisig und Gras, mit dem die Meiler abgedeckt waren, Feuer fingen und über den äußeren, halb verschwelten Holzring plötzlich blaue Flammen zuckten.

»Die Meiler gehen durch! Helft mir doch!« Sie ruderte hilflos mit den Armen und taumelte auf die Hütte zu. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Feuerschacht einstürzte. Funken flogen und trieben auf die Lichtung zu, wo sie das vertrocknete Gras sofort in Brand setzten. »Vater, Arndt! Kommt! Schnell!«

Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Tür, und das Beben schien nun doch vorüber zu sein, da hörte sie einen hellen Knall. Der Giebel der Köhlerhütte neigte sich und mit ihm ein Drittel des Daches. Es ist der morsche Firstbalken, schoss es Hanna durch den Kopf. Er bricht.

Das Herz blieb ihr stehen. Knirschen und Stöhnen erfüllten die Luft, darauf dumpfes Gepolter. Der Giebel stürzte ein und zog das halbe Dach mit sich.

Nein, nicht!

Doch da wankte schon Arndt schlaftrunken aus der Tür. Er hustete, rieb sich die Augen. Als er Hanna sah, lief er auf sie zu und zeigte entsetzt auf die Meiler: »Da! Schau hin! Sie gehen durch!«

Doch Hanna hatte jetzt anderes im Kopf: »Vater! Wo ist er?« Sie packte Arndt bei den Schultern, schüttelte ihn.

»Ja, wo wohl …«

Sie wussten es beide, es reichte ein einziger Blick.

Doch Hanna handelte zuerst. Sie ließ Arndt stehen und stürzte in die Hütte. Er lag an seinem Platz auf dem Rücken. Hanna erkannte die Decke, unter der die Füße mit den gestopften Socken hervorlugten, daneben den Waschkrug, das Handtuch. Das war alles. Denn über dem Oberkörper und Kopf ihres Vaters türmte sich, was vom Giebel übrig geblieben war: Wandflechten, graubraune Lehmbrocken, Ständerwerk. Hanna packte ein noch nicht gekanntes Grauen, das Entsetzen schnürte ihr den Hals zu. So rasch sie konnte, räumte sie einen Teil des Schutts beiseite – und erstarrte, als sie auf den Firstbalken stieß: Dieser lag wie festgewachsen auf der zertrümmerten Stirn ihres Vaters.

Sie begann zu zittern. Der Schmerz presste ihr die Brust zusammen, und ihre Knie gaben nach.

»Arndt!« Verzweifelt rief sie nach ihm. Vergeblich. Dann hörte sie, wie es draußen immer lauter knisterte.

Sie taumelte hinaus. Etliche Flecken der ausgetrockneten Lichtung qualmten schon. Arndt rannte wie ein gehetzter Hase umher, um die schnell hochschießenden Flammen mit der Feuerpatsche auszuschlagen. Umsonst. Schneller als er und Hanna schauen konnten, entzündeten sich nun am Waldrand die Ginsterbüsche. Gierig griffen die Flammen in das spröde Gesträuch und schlugen mit jedem neu eroberten Zweig höher aus. Nach einer Weile züngelten sie weiter ins nahe Unterholz, kurz darauf brannte die erste Baumkrone.

Der Rauch wurde dichter, bauschte sich zu graublauen Wolken. Ein leichter Wind trieb sie über die Lichtung in den Wald und nebelte ihn ein.

»Arndt! Vater ist tot!«

Er fuchtelte mit den Armen.

»Es hilft nichts! Das Feuer, Hanna! Hilf mit!«

Hanna suchte nach der zweiten Feuerpatsche und eilte zu Arndt zurück. Doch es war längst zu spät. Fassungslos starrten sie auf die stetig größer werdenden brennenden Flächen. Das Feuer fraß sich tiefer ins Unterholz, leckte gierig an Stämmen und griff auf Äste und Laub über. Das Zischen und Fauchen wurde von Atemzug zu Atemzug immer lauter. Hanna bildete sich ein, die Flammen schrien vor Hunger. Es war schlimmer als in einem Albtraum.

»Der rote Hahn, Hanna … der Teufel! Dafür wird man uns hängen oder auf den Scheiterhaufen werfen«, brüllte Arndt.

»Nein, das Beben ist schuld. Das weiß doch jeder!«, schrie Hanna zurück.

Arndt schüttelte den Kopf. »Nein, wenn’s um einen Sündenbock geht …« Hilflos sahen sie mit an, wie die Feuersbrunst an Stärke gewann und sich Baum um Baum einverleibte. »Es ist die Hölle! Wir kommen noch um! Nichts können wir tun, nichts.«

»Doch! Erst einmal müssen wir Vater aus den Trümmern befreien.« Hanna packte Arndt am Arm und riss ihn mit sich in die Hütte. Wegen des eingestürzten Dachs waren sie jetzt dem heißen Luftsog ausgeliefert, der zwischen die Wände fuhr und Sand und Lehmstaub aufwirbelte. Hanna presste ihre Lippen aufeinander, kniff die Augen zu. Doch es war seltsam: Als sie den Firstbalken berührten, packte sie eine seltsame Scheu. Vorsichtig hoben sie das schwere Holz an. Mit einem leisen Geräusch quoll Hirnmasse aus Tilmans zersplittertem Schädel.

Arndt schlug die Hände vors Gesicht, Hanna aber konnte nur schreien. Einen Augenblick später wankte sie zu ihrer Truhe und zerrte ein leinenes Tuch heraus. Sie kniete neben ihrem Vater nieder, schlang behutsam das Tuch um seinen Kopf und zurrte es fest am Hinterkopf zusammen. Sie gab Arndt ein Zeichen, worauf sie ihren toten Vater anhoben und ihn wortlos auf seine Schlafstatt betteten.

Arndt hustete. »Ich möchte, dass wir ihn schnell begraben, Hanna. Marie soll das nicht sehen.«

»Arndt, er ist auch Maries Vater! Soll sie keinen Abschied von ihm nehmen? Ein, zwei Nächte müssen wir es aushalten. Damit wir in Ruhe für ihn beten können.«

»Ja, ich glaube, jetzt hast du recht.«

Betroffen schauten sie auf den Toten nieder. Da durchfuhr Hanna plötzlich ein siedend heißer Schreck: »Um Himmels willen, Arndt! Wo ist Marie?«

Ulrichs Rappe bockte und schnaubte bestimmt schon seit einer Stunde, trotzdem war es Ulrich gelungen, ihn tief in den Wald zu treiben. Er war wie am Vortag mit dem Baumpelzer zum Wachsenberg aufgebrochen, um das Areal zu kennzeichnen, das gerodet werden sollte. Dabei sah er den Rauch über den Baumwipfeln und ahnte, was das Beben womöglich ausgelöst hatte.

Nehmen wir an, begann er zu überlegen, das Feuer breitet sich großflächig aus: Dies wäre insofern von Vorteil, weil wir etliches an Holzfällerkosten einsparen würden. Voraussetzung aber dafür ist, es brennt wirklich mehr ab als nur der Wald um die Köhlerei herum. Denn die gehört nicht uns, sondern der Stadt. Andererseits, wenn man den vernichteten Holzwert berücksichtigt … Ulrich begann zu überschlagen, mit welchen Summen in den jeweiligen Fällen zu rechnen wäre, da blieb sein Rappe plötzlich stehen und stellte sich auf die Hinterbeine.

Es knackte im Unterholz, kurz drauf stürzte ein Rudel Schwarzwild vorbei.

»Mahut, du stures Stück, stell dich nicht so an. Nur weil Sauen fliehen, musst du nicht gleich bocken!« Ulrich trat ihm in die Flanken, aber sein Hengst drehte sich nur noch im Kreis. Dabei stieg er so hoch, dass er seinen Reiter fast abgeworfen hätte. Er hatte bereits Schaum vorm Maul, und seine Augen waren vor Angst so weit hervorgetreten, dass das Weiße zu sehen war. Ulrich stieß einen Fluch aus und stieg ab. »Aber umgekehrt, Bursche, wird auch nicht«, murmelte er und schaute der weißen Rauchwand entgegen, die ein halbes Dutzend Pferdelängen vor ihm Bäume und Äste verschluckte.

Probieren wir es eben anders, sagte er sich und holte seinen letzten Apfel aus der Satteltasche. Er schob ihn Mahut ins Maul, kraulte ihm Scheitel und Ganaschen. Während das Tier den Apfel zermalmte, redete er beruhigend auf es ein: »Vorhin, da dachte ich, Gott wolle seine Welt zerreißen und uns alle in die Hölle schütteln. Vielleicht ist es doch nicht so schlimm. Vor zweihundert Jahren hat es schon mal ein solches Beben gegeben.«

Jählings hob Mahut den Kopf. Er spitzte die Ohren, drehte sie, stand still. Ulrich hielt den Atem an, bis die Stimme zu ihm drang. Hab mich vorhin also doch nicht getäuscht, dachte er. Da ruft jemand. Eine Frau. Bestimmt ist es die Köhlerin.

Mahut schnaubte leise und wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam.

»Marie? Arndt?«

»Ja … natürlich nein!«

Ungeduldig zerrte Ulrich an Mahuts Zügel, doch sein Hengst blieb stur. Inzwischen wurden die Rufe lauter, sie kamen direkt aus der Rauchwand vor ihm.

»Arndt? Hast du sie?«

»Nein … hierher!« Ulrich ließ Mahut stehen und rannte in den Rauch hinein. Nach nur wenigen Schritten war die Luft so beißend, dass es ihm auf der Zunge brannte. Er wandte sich ab, hustete und spuckte aus. Als er sich umdrehte, sah er sich plötzlich wie von Wänden umstellt: überall Rauch, Rauch, der zu allem Überfluss immer weiter aufquoll.

»Arndt? Sag doch was!«

Es knackte wieder im Unterholz. Die Stimme war ganz nah und klang so heiser wie verzweifelt.

»Hierher!«, rief Ulrich drängend.

»Arndt?« Die Frau konnte nur noch krächzen.

»Nein.« Beide erlitten sie einen Hustenanfall. Ulrich ruderte mit den Armen. Irgendetwas lag in dieser Stimme, das ihm vertraut schien. Keine Angst, ich helfe dir, dachte er im Stillen und wappnete sich, jeden Moment einer abgearbeiteten Köhlersfrau zu begegnen, die ihre Tochter suchte. »Hier bin ich, nur noch zwei, drei Schritte …«

Hanna tauchte so plötzlich auf, als hätte der Rauch sie ausgespuckt. Ihr Haar war aufgelöst, Arme und Beine zerkratzt. Wie angewurzelt blieb sie stehen und schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Ulrich war nicht weniger verblüfft. Obwohl Hannas Gesicht schweißnass und ihre Augen blutunterlaufen waren, leuchtete sein Gesicht auf. Noch bevor er etwas sagen konnte, fiel Hanna vor ihm auf die Knie und umklammerte die Schäfte seiner Reitstiefel: »Edler Herr, verzeiht uns! Verzeiht uns um Christi willen, bitte. Es war das Beben. Wir waren nicht unaufmerksam. Das schwören wir. Die Meiler sind einfach durchgegangen, und weil es so trocken war … Bitte, lasst Gnade vor Recht ergehen. Oder schont wenigstens meine Schwester.«

»Die Marie, nicht wahr?«, fragte Ulrich mit brüchiger Stimme.

»Ja, edler Herr. Aber ich bin die Hanna. Mein Bruder heißt Arndt. Unsere Mutter ist tot, und unser Vater liegt in den Trümmern unserer Hütte.«

Flehentlich schaute sie zu Ulrich auf, der wie eingefroren dastand. Er blickte auf Hanna herab, als sei sie ein lebendig gewordenes Traumbild. Bestürzung und Erstaunen erschienen auf seinem Gesicht, und es sah aus, als würde er erst nach und nach begreifen, was die junge Frau da vor ihm überhaupt redete und tat.

»Keine Bange, steh auf.« Ulrich beugte sich hinab und legte die Hände um Hannas Schultern. »Ich tue euch nichts.« Er versuchte zu lächeln. Für einen kurzen Augenblick hielt er inne, dann fuhr er mit fester Stimme fort: »Natürlich war es das Beben. Ein starkes Erdbeben, das ist wahr. Vielleicht hat es Gott geschickt, vielleicht der Teufel. Du aber hast damit bestimmt nichts zu tun.«

Der Bann war gebrochen, Hanna erhob sich. Sie hatte noch nie vor einem Edlen gestanden, geschweige denn mit ihm Worte gewechselt.

Er schaut mich an, als hätte er mich schon einmal gesehen, durchfuhr es sie. Oder findet er mich so sonderbar, weil mein Äußeres so rußverschmiert ist? Sie schlug die Augen nieder, doch plötzlich lief ihr ein Schauder über den Rücken, weil ihr das Gerücht einfiel, der Rothenburger Komtur habe sich in einem der Dörfer an einer verheirateten Frau vergangen.

Und dieser hier sieht auch nicht gerade wie ein nur verweichlichter, betender Ritter aus, dachte sie. Im selben Moment fiel ihr Blick auf Ulrichs Hände, und sie entspannte sich. Nein, sie sind nicht grobschlächtig, stellte sie erleichtert fest, auch wenn sie bestimmt zupacken können.

»Wir müssen Marie finden, oder?«

Seine ruhige, warme Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Verlegen schlug sie die Hand vor den Mund, doch schon sprudelte sie wieder los: »Ihr seid zu gütig, Herr. Wenn sie doch bloß antworten würde. Wir suchen sie seit bestimmt einer Stunde. Beim Beben war sie im Wald, sie wollte Pilze suchen … Sie hat immer so viel Hunger, wollte mir aber nicht glauben, dass wegen der Trockenheit kaum etwas wachsen kann. Du lieber Gott, wenn nun ein Baum umgestürzt oder ein brennender Ast auf sie gefallen ist? Vielleicht ist sie ohnmächtig!«

»Bestimmt nicht«, unterbrach Ulrich ihren Redefluss. »Aber sie könnte sich verlaufen haben und vom Feuer eingeschlossen sein. Wir müssen uns beeilen.« Ohne nachzudenken, fasste er Hanna bei der Hand und stapfte los. Doch schon nach wenigen Schritten wusste er nicht mehr, wohin er gehen sollte. Er schaute sich nach allen Seiten um, sie waren jetzt völlig von Rauch eingehüllt. Im Gesicht spürten sie bereits die Hitze der näher rückenden Flammen.

»Und jetzt? Was machen wir jetzt?«, rief Hanna aufgelöst. »Ich finde hier nicht mehr heraus!«

»Mahut wird uns aus der Patsche helfen. Wozu habe ich ein Pferd!«

Er legte die Hände trichterförmig um den Mund und rief nach seinem Rappen. Mahut antwortete mit einem Wiehern. Ein paarmal ging das so hin und her, bis das Pferd schließlich bei ihnen auftauchte. Ulrich hob Hanna in den Sattel, setzte sich hinter sie und überließ es seinem Tier, einen Weg aus dem Dickicht zu finden.

Eine ganze Weile ging es kreuz und quer durch den lichten Hochwald. Zum Glück scheute Mahut nicht, obwohl an einigen Stellen die Rauchschwaden so dicht waren, dass sie die Luft anhalten mussten. Überall dort, wo sie freier atmen konnten, riefen sie nach Marie. Doch sooft auch ihr Name in den Wald hallte, es kam keine Antwort zurück. Hannas Angst wuchs, je länger das Schweigen anhielt. Langsam schnürte es ihr den Hals zu. Sie vergaß ihre brennenden Füße und ihre tiefe Erschöpfung. Selbst dass ihr die Zunge am Gaumen klebte, nahm sie kaum noch wahr.

»Ich weiß, wir sind in der Nähe unserer Lichtung.« Sie merkte, wie sie nuschelte, und drehte sich, um sich verständlicher zu machen, zu Ulrich um. Dabei streckte sie ihren Arm aus und wies auf die beiden zusammengewachsenen Eichen links von ihnen. Ihr Gesicht war nur eine Handbreit von Ulrich entfernt, sie konnte seinen Atem an ihrer Wange spüren. Schon fürchtete sie, er würde vor ihrer Nähe zurückzucken, doch alles, was sie wahrnahm, war sein kräftiger Arm, der sie nur noch eine Spur fester um den Bauch fasste, weil sie aus dem Sattel zu rutschen drohte.

Ihre Blicke kreuzten sich. Dann, als hätten sie etwas Unrechtes getan, schauten beide verlegen zur Seite.

Mahut machte durch lautes Schnauben auf sich aufmerksam. Wieder spitzte und drehte er die Ohren.

»Marie? Marie, bist du da?«

Hanna rief so kräftig, wie sie es noch vermochte. Der Rauch waberte durch das Unterholz, stellenweise aber bauschte er sich bereits hoch in den Kronen. Das Licht war diffus, und in der Luft tanzten Ascheflöckchen, als würde es schneien. Das Prasseln und Knistern kam näher, und mit einem Mal war es nicht mehr nur warm, sondern heiß.

»Marie! Marie!« Auch Ulrich stimmte in das Rufen ein, bekam aber ebenfalls keine Antwort. Enttäuscht schüttelte er den Kopf und rieb sich die Augen. Sein Gesicht war wie das Hannas jetzt mit winzigen schwarzen Rußpünktchen gesprenkelt, sein Haar mit einer feinen Ascheschicht bestäubt. »Nützt alles nichts. Wenn wir Gewissheit haben wollen, müssen wir da rein.« Er band seinen Mantel ab und beugte sich zu Hanna vor. »Komm, Mahut hat so etwas wie den sechsten Sinn.« Er sprang vom Pferd, hob Hanna herab, nahm ihre Hand und zog sie mit sich.

Trotz der Angst lief Hanna ein wohliger Schauer über den Rücken. Wie hatte sie es genossen, vor ihm zu sitzen und seinen Arm um sich zu spüren! Wenn sie ehrlich war, hätte Ulrich noch stundenlang so mit ihr durch den Wald reiten können.

Sie riefen und husteten abwechselnd, während sie sich immer näher an die Flammen heranpirschten. Ulrich fächelte sich und Hanna mit seinem Ordensmantel Luft zu, und als ein Windstoß den Rauch zerteilte und die Flammenwand zum Vorschein kam, entdeckten sie Marie: Sie starrte stumm und unbeweglich in das Feuer, ganz so, als spüre sie die Hitze nicht. Der orangene Widerschein der Flammen färbte bereits ihr Kleid.

»Marie!«

Hanna riss sich von Ulrich los und rannte auf sie zu. Als wache sie aus einem Traum auf, wandte ihr Marie erstaunt ihren puterroten Kopf zu. Dann lächelte sie und sank ihr in die Arme. Hanna liefen vor Erleichterung Tränen über die Wangen.

»Komm! Wir müssen fort!«

Sie kehrten der heranwogenden Feuersbrunst den Rücken und rannten den Weg zurück, Mahut entgegen, den es kaum mehr auf der Stelle hielt. Ihm rollten die Augen vor Angst. Immer wieder stieg er wiehernd hoch, sodass Ulrich beschloss, ihn am Zügel zu nehmen.

Erst als sie den Waldrand erreicht hatten und die Sonne wieder durch das Geäst hindurch zu sehen war, beruhigte sich Mahut. Ulrich klopfte ihm die Flanke, lobte ihn, schalt ihn aber auch einen Hasenfuß. Lächelnd wandte er sich anschließend Hanna und Marie zu. Scheu und mit Tränen in den Augen erwiderte Hanna seinen Blick.

»Sagt, wie wir Euch danken können«, flüsterte sie und machte eine Andeutung, wieder vor ihm auf die Knie zu fallen. Doch Ulrich fing sie rechtzeitig auf. Kurz entschlossen warf er seinen Mantel um sie und Marie und drückte die beiden an sich.

»Te Deum laudamus … Dich, Gott, loben wir, dich, Herr, preisen wir. Dir, dem ewigen Vater, huldigt das Erdenrund …«

Trotz Atemnot sang er mit sonorer Stimme, Hannas Kopf lehnte an seiner Brust. Sie wünschte, Ulrich würde nie mehr aufhören zu singen, so geborgen fühlte sie sich unter seinem weißen Mantel, der von Rußspuren übersät war, mit dem schwarzen Kreuz. Doch auch ein Te Deum währt nicht ewig. Lieber Gott, betete sie, kaum dass Ulrich geendet hatte, bitte lass mich ihn schnell vergessen. Bitte lass mich ihn schnell vergessen.

Da hörte sie Mahut wiehern. Er klang so aufgebracht und unwillig, wie sie es noch nie bei einem Pferd gehört hatte.

»Dann kann ich euch zwei jetzt allein lassen?«, fragte Ulrich sanft. »Ihr wisst, wo ihr zu Hause seid?«

»Ja, ja.«

Hanna suchte nach Worten, fand aber keine. Ulrich musterte sie und nickte schließlich.

»Dann adieu.«

»Adieu.«

Hanna schoss das Blut in den Kopf, schnell zog sie Marie mit sich fort. Ihr war, als wärmte Ulrichs Blick ihren Rücken, ließ sie nicht los. Doch sie wagte es nicht, sich noch einmal nach ihm umzusehen. Sie war aufgewühlt wie nie zuvor in ihrem Leben. In ihrem Hals wuchs ein Kloß, vor ihr verschwamm die Erde. Mit gesenktem Kopf schritt sie voran, weinte noch eine Weile stumm.

Auch dass ihre Vision sich erfüllt hatte, bereitete ihr überhaupt keine Genugtuung. Ich will keine Gesichte mehr bekommen, dachte sie. Sie machen mich nur noch mehr zum Sonderling. Man wird Angst vor mir bekommen und mich zur Hexe stempeln. Es muss aufhören.

Sie schniefte und nahm durch einen feuchten Schleier wahr, dass Marie sie fragend von der Seite musterte.

»Er hat dir gefallen, oder?«, fragte sie schüchtern.

Hanna nickte. »Ja … selbst wenn es noch so närrisch, dumm und eitel ist.« Sie schnäuzte sich und fasste Marie noch fester.

»Wer sind die Deutschherren eigentlich?«

»In Rothenburg erzählt man sich, es sind Ritter, die einst in Jerusalem für Krankenpflege und Armenfürsorge zuständig waren. Doch als die Christen aus dem Heiligen Land verjagt wurden, haben sich die Deutschen Ritter die Aufgabe gestellt, weit im Osten und Norden des Reiches zu missionieren und sich das Land untertan zu machen. Ihre schlachtenerprobten Schwertbrüder haben viele Jahre mit den Polen gekämpft und schließlich einen Ordensstaat geschaffen. Das, was heute Preußen ist, hat sehr viel mit dem Ordensstaat der Deutschen Ritter zu tun. Sie erwarben im Lauf der Jahrhunderte überall Besitz und bekamen auch viele Schenkungen. Jetzt heißt es, die Deutschen Ritter oder Deutschherren seien faul und bequem geworden. Viele Rothenburger verachten sie, nicht zuletzt deswegen, weil die Familien der Deutschherren nach eigenen Gesetzen leben. In Rothenburg hat der Orden die Kirchengewalt über St. Jakob. Und er ist der größte Grundherr. Ich weiß, dass er zum Beispiel die Hofstatt am Rödertor besitzt.«

»Gehört dieser Ritter zu den faulen?«

Jetzt musste Hanna lachen: »Woher soll ich das wissen? Genauso wie es faule und fleißige Menschen gibt, gibt es gute und schlechte Ritter.«

»Gut aussehen tut er.«

»Ja, du Naseweis. Und sein Rappe, auf dem saß es sich wirklich schön.«

»Ob der Ritter wiederkommt?«

Hanna zögerte. Warum flatterte es so seltsam in ihrem Bauch? »Bestimmt wäre es eine schöne Abwechslung.« Sie seufzte. »Aber was hätten wir davon? Wir sind Köhlersleut. Trotzdem kannst du heute Nacht noch einmal davon träumen, dass ein Deutscher Ritter nach dir gesucht hat.«

Als ihre Hütte in Sicht kam, verdüsterte sich Hannas Stimmung schlagartig. Jetzt holt es mich wieder ein, dachte sie erschrocken. Marie weiß doch noch gar nichts. Wie soll ich es ihr bloß beibringen?

»Marie?« Hanna fasste sich ans Herz. Ihre Stimme zitterte, und ihre Augen waren voller Tränen.

»Ja?«

»Arndt und ich, wir werden jetzt allein für dich sorgen … sorgen müssen …«

Kapitel 4

Das Feuer wütete einen Tag lang und vernichtete an die neunzehn Morgen Wald. Dass nicht noch größere Flächen abbrannten, dafür gab es nur eine vernünftige Erklärung: Gott hatte ein Wunder geschehen, lassen. So sahen es vor allem Hanna und Arndt, aber auch Hegemeister Bernward Burmeister, als er in den späten Morgenstunden des folgenden Tages sein Pferd sattelte und in Richtung Wald aufbrach. Er sollte von Amts wegen die Schäden melden, die das Feuer am Wachsenberg angerichtet hatte, denn das Territorium der freien Reichsstadt Rothenburg beschränkte sich nicht nur auf die Stadt allein, sondern umfasste ein Gebiet, das nicht ganz fünfzig Quadratmeilen maß und eine Grenzlänge aufwies, die mit ungefähr achteinhalb Meilen in zwei Tagesritten gerade noch zu bewältigen war.

Ja, es ist ein Wunder, dachte Bernward, als er das Galgentor hinter sich gelassen hatte und sein Pferd zu einem forschen Trab anhielt. Er schaute kurz in den grauen Himmel, dann streckte er die rechte Hand aus und bewegte die Finger. Na also, geht doch schon wieder, dachte er zufrieden. Soll er eben schief stehen, der Ringfinger. Steckt ja eh kein Ring dran.

Er wich einem Ochsengespann aus und runzelte die Stirn, weil sich die schweren Holzräder auch ohne Beladung eingruben. Nur ein paar Stunden Regen und schon beginnt wieder die Schlammzeit, dachte er besorgt. Dieser Schnürregen wird die Erde aufweichen wie Wasser einen Kanten Altbrot. So ist das eben, aber es gibt Schlimmeres. Er wandte seinen Blick auf seine festen Stiefel, die neuen Gamaschen und freute sich. Auch als ihm das Wasser von der Hutkrempe in den Nacken zu tropfen begann, dämpfte dies nicht seine ausgeglichene Stimmung.

Es ist alles gutgegangen, sinnierte er. Selbst das Erdbeben hat nur ein paar Risse in Haus- und Kirchenwänden hinterlassen. Der Herr hat uns mit seinem Zorn erschüttert und mit dem Schrecken davonkommen lassen. Aber was will er uns damit sagen? Welche Sünden sind es, denen wir abschwören sollen?

Er fand keine Antwort, doch als er den Rand des Waldbrandareals erreichte, wurden all diese Fragen nebensächlich. Noch nie hatte er ein solch trostloses Bild gesehen. Ihm war, als würden die entlaubten Baumskelette stumm den Regen anklagen, warum er so spät eingesetzt habe. Die Stille war unheimlich, kein Vogel war zu hören, nirgendwo ein Knistern. Dazu kam der bitter brandige Geruch, der den verkohlten und hie und da noch gespenstisch qualmenden Bäumen entströmte. Als ob es Galle geregnet hätte, dachte Bernward und ritt langsam weiter. Sein Brauner schauderte, als er ihn durch den klebrigen weißen Aschebrei lenkte, aus dem an einer Stelle eine schwarze Kugel ragte, die einmal ein Igel gewesen war.

Hoffentlich tragen die armen Köhlersleute keine Schuld an diesem Feuer, dachte Bernward. Sie darben schon genug. Dennoch gehen viele Waldbrände auf den Funkenflug eingestürzter Kohlenmeiler zurück. Immer noch werden sie viel zu nah am Unterholz aufgebaut.

Bernward hing noch eine ganze Weile seinen Gedanken über den entstandenen Waldschaden nach, bis er endlich den Rand der Lichtung erreicht hatte und die halb eingestürzte Köhlerhütte sah. Einige Meter daneben lag ein Schutthaufen.

Er stieg vom Pferd und schritt langsam auf die Hütte zu. Und obwohl keine menschliche Stimme zu hören war, erschien ihm die Stille keineswegs unheimlich, sondern friedlich. Nur das feine Gewisper des Regens war zu hören. Als ob er wiedergutmachen will, was die Flammen zerstört haben, dachte er unwillkürlich. Gott möchte, dass schnell neues Grün wächst.

Ob der Köhler wohl zu Hause war? Oder holte er bereits neues Holz für sein Dach? Ich werde in jedem Fall mit ihm sprechen, nahm sich Bernward vor, wenn nicht heute, dann morgen. Neugierig duckte er sich unter den noch stehenden Türbalken und trat ein. In der dunkelsten Ecke entdeckte er drei schlafende Personen. Der links wird dem Alter nach der Köhlersohn sein, dachte er bei sich. Die Kleine in der Mitte und die Große daneben sind dann bestimmt seine Geschwister. Alle Decken überlappten sich, als wollte jeder ein Stück vom anderen spüren.

Bernward wagte kaum zu atmen. Hanna schlief mit angezogenen Beinen auf der Seite, Arndt lag schnarchend auf dem Rücken. Von Marie waren nur Augen und Scheitel zu sehen.

Sein Blick wanderte weiter, dorthin, wo im rechten Winkel zu den Schlafenden auf einem aus verkohlten Stämmen gebauten Katafalk ein toter Mann lag. Sein mit einem Tuch sorgfältig verbundener Kopf sagte Bernward alles. Umso mehr erschütterte ihn das Lächeln auf dem Gesicht des Toten.

Er bekreuzigte sich, empfand Scham und tiefe Betroffenheit.

Da schlug die Kleine die Augen auf.

Ihr Blick ging ihm durch und durch. Er legte den Finger auf den Mund und machte sich auf Zehenspitzen davon. Als er wieder im Sattel saß, fühlte er sich schuldig.

Ich werde im Rat sagen, sie haben nichts damit zu tun, dachte er. Auch wenn ihre Meiler zu nah am Unterholz standen. Ohne das Erdbeben wären sie bestimmt nicht eingestürzt. Also sollte es so sein. Und der Köhler hat weiß Gott mit allem bezahlt, was er besaß.

Kapitel 5

Der Schlaf hatte Hanna geholfen, den gröbsten Schmerz zu überwinden. So fiel ihr am nächsten Morgen wieder ein, dass ihr Vater einmal gesagt hatte, er wolle gern unter der alten Eiche begraben werden. Sie stand auf und beschloss, die anderen nicht zu wecken, damit sie für das Wichtigste die Ruhe hatte, die sie brauchte. Tatsächlich fand sie bald, was sie suchte: zwei gerade Aststücke, das eine kurz, das andere länger. Sie hobelte sie glatt und band sie schließlich mit Weidenruten zu einem Kreuz zusammen. Anschließend wusch sie ihrem Vater Füße, Hände und das Gesicht und nähte ihn in ihr letztes gutes Leinentuch. Als das getan war, machte sie Feuer, setzte den Rest Mus vom Vortag auf und weckte Marie und Arndt.

Gleich nachdem sie gegessen hatten, trugen sie den Leichnam gemeinsam über die Lichtung. An ihrem östlichen und nördlichen Saum war der Wald vollständig abgebrannt und hatte sich in eine gespenstische Aschelandschaft verwandelt.

Nicht hinschauen, versuchte Hanna sich zu beruhigen. Wie schön ist dagegen unsere alte Eiche. Friedlich und unbeschadet wachte sie im goldenen Oktoberlicht über die Lichtung. Helle Strahlenbündel blitzten zwischen ihrem herbstlich gefärbten Laub auf, ein kühler Wind trieb rostbraune Blätter vor sich her.

Hanna nahm Marie auf den Schoß und lehnte sich an den alten Stamm. Stumm sahen sie Arndt zu, wie er die Erde aushob. Wie lose Blätter, die über den Waldboden wehten, so zogen die Erinnerungsfetzen aus Hannas Vergangenheit an ihr vorüber. Wie ihr Vater sie das erste Mal auf seine Schultern gehoben hatte, damit sie in ein Vogelnest schauen konnte. Wie er mit ihr an einem heißen Sommertag in die Tauber gesprungen war, obwohl sie arge Angst vor dem Wasser gehabt hatte. Nie hatte er sie geschlagen, nie angeschrien, wie so viele andere Männer es mit ihren Frauen und Kindern taten. Ja, er war ein guter Vater gewesen. Es gab nichts, worüber sie sich schämen müsste.

Aber ob er nun ein rechtschaffener Köhler war oder nicht, überlegte sie, niemand achtet uns. Weil wir so oft schwarze Hände und Gesichter haben, denken alle, so schwarz wären auch unsere Seelen. Fast jede Köhlerin, die alt wird, gerät irgendwann in Verdacht, eine Hexe zu sein.

Die Grube war jetzt tief genug, Arndt stemmte sich gerade aus ihr heraus. Hanna begegnete seinem Blick. Unwillkürlich begann sie zu weinen. Jetzt habe ich nur noch dich und Marie. Aber du bist oft stur wie ein Bock, Bruder. Und was du mit mir vorhast, wie du mich an den Herren-Müller verschachern willst, das hätte Vater nie unterstützt.

Sie erhob sich, drückte Marie ihr Rosenkreuz in die kleinen Hände und bedeutete ihr, sie solle beten. Dann half sie Arndt, ihren Vater der Erde zu übergeben. Zum Schluss kniete auch sie neben dem Grab nieder, richtete das Holzkreuz und legte die Hände aneinander.

Arndt stand schließlich als Erster auf: »Die Meiler wollen ihren Herren sehen. So ist nun mal das Gesetz für uns Köhler. Was soll ich noch lange beten. Gott weiß doch, wie gut Vater war.«

Hanna sah ihrem Bruder nach. Geh nur, dachte sie und zog Marie an sich. Aber was du auch ausheckst, Marie darf nicht darunter leiden. Sie nicht. Nie.

Kapitel 6

Zwei Tage später besuchten die beiden Schwestern erneut das Grab. »Hat Papa es jetzt wirklich besser?«, fragte Marie. Sie hatte einen Eimer kleiner bunter Steine gesammelt, mit denen sie nun auf dem Grab eine Blume legte.

»Natürlich«, erwiderte Hanna. »Wer im Himmel ist, hat weder Hunger, Durst noch Schmerzen. Vor allem aber braucht er nicht mehr traurig zu sein und hat nie wieder Angst.«

»Warum?«

»Weil alle guten Seelen die Musik der Engel hören dürfen. Und die ist so schön, dass jede Seele vor Glück immerzu lächelt.«

»Woher weißt du denn das?«, fragte Marie unsicher.

»Ich bin deine große Schwester, als solche muss ich es doch wissen, oder?«

Hanna nahm ein paar Steine vom Grab und zeigte Marie, wo sie ihrer Meinung nach besser hinpassten. »Aber eines musst du mir jetzt sagen, Marie. Wie sah der Mann aus, der in unsere Hütte geguckt hat? War es der Ritter, der …«, mir nicht aus dem Kopf geht, hätte sie am liebsten geschlossen, doch sie biss sich auf die Zunge. Wie konnte sie nur hier, an Vaters Grab, an ihn denken!

»Nein! Ich hab es dir doch schon fünfmal erzählt. Er hatte einen grauen Kräuselbart, sah zuerst wild aus, dann aber nicht mehr. Sein Hut war schwarz, hoch und hatte eine breite Krempe, die Beinlinge waren fein, die Stiefel bestimmt neu. Der Mantel aus festem Loden. Warum denkst du immer noch an ihn?«

Weil ich nicht wahrhaben will, dass es nicht mein Ritter war, dachte Hanna stumm. Ihr Herz begann zu stolpern, wieder kam ihr ihre Vision in den Sinn. Diesmal gab es keinen Zweifel, auch wenn Arndt sie für verrückt erklärt hatte: Sie hatte das Feuer geschaut, alles, den Brand, den Rauch, sogar das Pferd des Deutschen Ritters, auf dem sie gesessen hatte. Zu deutlich erinnerte sie sich an all diese Bilder, vor allem aber an das unerfindliche süße Gefühl, das sie ebenfalls verspürt hatte. Es kommt immer dann, wenn ich an ihn denke, dachte sie. Dann wallt es wie der Rauch, wenn das Feuer in eine belaubte Krone greift.

Hanna stand auf und schüttelte Erde von ihrer Schürze. Seit dem frühen Morgen zerrissen Axthiebe die Stille. Die verbrannten Stämme wurden gefällt und von ihrer Kohleschicht befreit. Es galt zu retten, was noch irgendwie von Wert war. Das teils unversehrte Kernholz taugte noch zum Feuermachen, und wer die vom Regen gelöschte Kohle trocknete, konnte damit seine Öfen befeuern.

»Was guckst du so auf Papas Kreuz?« Marie klopfte die Erde glatt. »Siehst du gerade, wie er durch den Himmel fliegt?«

»Nein.«

»Schade.«

Hanna hatte gar nicht gemerkt, wie starr ihr Blick auf dem Grabkreuz lag. Dabei hatte sie nicht eine Sekunde an ihren Vater gedacht.

Verzeih mir, Vater, dachte sie beschämt und bekreuzigte sich. Und steh mir bei. Du weißt, warum.

»Hanna!«

Arndts Stimme. Sie merkte, wie sich ihre Gesichtszüge verhärteten. So, jetzt geht es los, wusste sie und presste die Lippen aufeinander. Jetzt geht es ums Geld.

Arndt hob den Arm, sie winkte zurück. Langsam kam sie näher. Die sauertöpfische Miene ihres Bruders sprach für sich, kein Wunder, denn er war nicht allein.

Wer sonst als die Brüder Goltz, dachte Hanna. Sie stützten sich auf mächtige Äxte, deren Schneiden unheilvoll in der Sonne blinkten, und schauten ihr verdrießlich entgegen. Hans und Veit Goltz waren Bierbrauer, um die zehn Jahre älter als Arndt und jeder von einer beängstigend vierschrötigen Statur. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, wohnten im selben Haus und, so wurde gelästert, teilten sich jetzt ein und dieselbe Frau, nachdem Veit vor zwei Jahren Witwer geworden war.

»Endlich!« Arndt klang ärgerlich, seine Augen flackerten. »Hast wieder geträumt, ja? Pass bloß auf. Hexen sind schnell gefunden. Aber egal … Ich habe unseren Freunden hier gesagt, wie es um uns steht, dass nichts zu holen ist. Am Brand war allein das Erdbeben schuld.«

»Hexen? Freunde?«

Hans Goltz riss überrascht die Augen auf, sein Bruder Veit stöhnte missmutig. Er hatte nach dem Tod seiner Frau Gretel mit Hanna geliebäugelt und sie letztes Jahr am Johannistag zur Tanzlinde vor dem Rödertor eingeladen. Nach jedem Tanz aber war er ein Stück lauer geworden, weil er begriffen hatte, dass er sie trotz ein paar Bechern Wein nicht hinter den nächstbesten Busch bekam.

Gehässig hatte er dann zu ihr gesagt: Mach’s dir doch selbst. Oder bist du dafür auch zu arm?

Eigentlich war sie erleichtert gewesen. Denn nur ihrem Vater zuliebe war sie mit Veit nach Rothenburg gegangen. Trotzdem hatte es sie gekränkt, allein aufgrund ihrer Herkunft derart niederträchtig abgefertigt worden zu sein.

»Nichts ist mit Hexen«, wiegelte Arndt ab. »Ich wollte nur davor warnen, dass wir uns vorschnell entzweien.«

»Das brauchen wir auch nicht, Völz«, entgegnete Veit gönnerhaft und vermied geflissentlich, Hanna anzuschauen. »Aber wir haben nun mal für unsere Holzeinschlagsrechte an die Stadt gezahlt. Wären deine Meiler nicht, hätt’s kein Feuer gegeben. Also sorge für einen Ausgleich.«

»Wir haben aber nichts, Veit. Gerade du musst es doch wissen.«

Hanna legte so viel Nachdruck wie möglich in ihre Worte. Aber als habe Hans Goltz, der ältere der Brüder, genau darauf gewartet, grapschte er nach ihrem Gürtel und riss sie zu sich heran: »Es gibt immer irgendwo ein Töpfchen mit Münzen. Grab’s aus, Hanna. Und zähl uns vor, was drin ist. Dann sehen wir weiter.«

»Lass los!« Das Herz schlug ihr bis zum Hals, sie war wie gelähmt. War es schon schlimm genug, dass sie auf so viel Gier nicht vorbereitet war, viel schlimmer war, dass Arndt es zuließ, wie Hans Goltz mit ihr umsprang. Er machte nicht einmal den Versuch dazwischenzugehen, stattdessen nickte er verständnisvoll.

»Nun merkst du erst, Schwester, was Sache ist, wie?«, meinte er und legte Hans Goltz begütigend den Arm auf die Schulter, damit dieser von Hanna abließ. »Dabei ist alles ja nur halb so schlimm.«

»Schau an, auf einmal?«

Hans Goltz ließ Hanna los und bückte sich nach seiner Axt.