Die Holzpyjama-Affäre - Patrick Budgen - E-Book

Die Holzpyjama-Affäre E-Book

Patrick Budgen

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  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

TV-Journalist Alexander Toth hat genug von Dauerstress und Informationsüberflutung und will in seinem neuen Job am Wiener Zentralfriedhof zur Work-Life-Balance finden. Da fährt ein Auto vor der Bestattung Wien vor und auf der Rückbank sitzt ein Toter, mit dem manches nicht stimmt. Toth sieht nur noch eine Chance, seinen inneren Frieden zu finden: den Fall zu lösen.

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Seitenzahl: 204

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Die Holzpyjama-Affäre

Ein Wiener Zentralfriedhofs-Krimi

Patrick Budgen: Die Holzpyjama-Affäre

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover/Illustration: Bernd Ertl

Satz/Illustration: Anna-Mariya Rakhmankina

Autorenfoto: Lukas Beck

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Europa

12345—26252423

ISBN: 978-3-99001-683-1

eISBN: 978-3-99001-684-8

Patrick Budgen

Die Holzpyjama Affäre

Ein WienerZentralfriedhofs-Krimi

edition a

»Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.«

Heinrich Heine

Inhalt

Montag, 7.02 Uhr

Montag, 9.05 Uhr

Montag, 11.36 Uhr

Montag, 12.21 Uhr

Montag, 14.23 Uhr

Montag, 16.02 Uhr

Montag, 22.06 Uhr

Dienstag, 9.12 Uhr

Dienstag, 12.04 Uhr

Dienstag, 14.23 Uhr

Dienstag, 17.28 Uhr

Mittwoch, 8.04 Uhr

Mittwoch, 10.14 Uhr

Mittwoch, 11.58 Uhr

Mittwoch, 13.49 Uhr

Mittwoch, 14.20 Uhr

Mittwoch, 15.23 Uhr

Mittwoch, 19.54 Uhr

Mittwoch, 21.41 Uhr

Donnerstag, 9.11 Uhr

Donnerstag, 10.45 Uhr

Donnerstag, 11.34 Uhr

Donnerstag, 12.29 Uhr

Donnerstag, 13.34 Uhr

Donnerstag, 15.02 Uhr

Donnerstag, 15.15 Uhr

Donnerstag, 22.19 Uhr

Freitag, 7.04 Uhr

Freitag, 8.48 Uhr

Freitag, 11.03 Uhr

Freitag, 13.34 Uhr

Freitag, 15.11 Uhr

Freitag, 16.41 Uhr

Freitag, 18.03 Uhr

Halt!

Kurzinterview mit dem Autor

Diese Luft. Diese herrliche Luft. Ich weiß nicht, wann ich sie zuletzt so genießen konnte. Der Duft der Pinienwälder mischt sich dazu, und durch das offene Autofenster strömt sie wie durch mich hindurch. Ich fühle mich seit langem wieder so richtig frei. Wie ein junger Mann. Nichts tut mir weh. Sogar auf der abgewetzten Rückbank meines Wagens habe ich keine Rückenschmerzen mehr. Nichts zwickt. Gar nichts.

Seit dem unerwarteten Ereignis vor einigen Stunden ruhe ich in mir. Ich habe es nicht kommen sehen. Anfangs habe ich mich noch dagegen gewehrt, aber ich war zu schwach. Dann war es geschehen.

Und jetzt diese Luft und diese Stille. Da ist nur das monotone Geräusch des Autos, das mit 150 Stundenkilometern dahinfährt. Niemand will etwas von mir. Niemand spricht mit mir. Niemand glaubt, mich unterhalten zu müssen. Die meisten meinen so etwas gut, aber es kann trotzdem nerven. Ich rede überhaupt nicht so gern. Auch nicht über die großen und wichtigen Sachen. Jedenfalls nicht über die Schönen. Durch das Reden lösen sie sich irgendwie auf und verschwinden aus dem Herzen. Wenn sie weg sind, bleibt einem alten Menschen die Einsamkeit. Die Frau am Steuer umklammert das Lenkrad etwas fester als sonst. Sie fährt unsicherer. Mir ist das egal. Ich könnte mit ihr rund um die Welt fahren. Ich genieße ihre Gesellschaft, auch in dieser schrägen Situation. Ich bin tiefenentspannt. Von mir aus könnte diese Autofahrt ewig dauern.

Montag, 7.02 Uhr

Er war nur den Bruchteil einer Sekunde unaufmerksam gewesen und hätte beinahe einen heftigen Zusammenstoß verursacht. Doch bevor Alexander Toth seinem Vordermann einen unfreiwilligen Stoß gab, hatte er sich eingebremst und war mit seinem Gefährt zum Stehen gekommen. Puh. Das war knapp. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sich vor ihm eine lange Kolonne gebildet hatte. Sie erinnerte ihn an den täglichen Stau auf der Südosttangente, in dem er in seinem früheren Job mindestens drei Jahre seiner Lebenszeit verschwendet hatte.

Aus dem alten Radio tönte »Always look on the Bright Side of Life« von Eric Idle. Dieser Monty-Python-Song verlieh der frühmorgendlichen Szenerie eine besondere Ironie. Denn strahlend war hier in diesem neonbeleuchteten Keller wenig, und das Leben hatte zumindest die Hälfte der Teilnehmer dieser Karawane schon hinter sich.

Wie jeden Tag in der Früh holten die Bestatter hier ihre erste »Fuhr« aus der mit einer großen, silbernen Tür verschlossenen Kühlkammer. Davor bildete sich täglich eine morbide Warteschlange, in der sich ein Rollwagen mit Sarg an den nächsten reihte.

»Wo sind wir denn mit den Gedanken, Herr Journalist?«, schnauzte Karl in seine Richtung und klopfte dabei mit seinen wulstigen Fingern auf Toths Rollwagen. Karl, ein Bestatter, dessen Bauch aussah, als hätte er zwei Urnen verschluckt, nahm Toth seit seinem ersten Arbeitstag hier am Wiener Zentralfriedhof auf die Schaufel. Zum Glück nicht auf die der Totengräber. Toth spürte, wie sein blasses Gesicht rot anlief, wie immer, wenn ihn etwas ärgerte, und er fand, dass das in Kombination mit seinen vielen Sommersprossen nicht gerade vorteilhaft aussah.

Er war nervös wie bei seinen allerersten Live-Einstiegen, die er einst als Journalist fürs Fernsehen absolviert hatte. Denn er hatte sich fest vorgenommen, keine Fehler zu machen. Nicht heute. Er wusste, dass alle Augen auf ihn und seine Arbeit gerichtet waren. Nach mehr als vier Monaten bei der Bestattung Wien samt Blitzkurs zum Bestatter war er heute erstmals auf sich allein gestellt.

»Bei den Nachrichten im Fernsehen hat deine Gesichtsfarbe immer entspannter gewirkt«, setzte Karl, der seit dreißig Jahren dem Tod täglich ins Auge sah, nach.

»Die Maskenbildnerin war bei der Chefin hier leider nicht drin«, konterte Toth, der sich trotz hohen Adrenalinspiegels glücklicherweise wie immer auf seine Schlagfertigkeit verlassen konnte.

Seine erste Kundin bekam von dem kleinen Schlagabtausch nichts mit. In einem faltenfrei gebügelten, zartrosa Sommerkleid lag sie da, als Toth wie vorgeschrieben kontrollierte, ob er für seine erste Trauerfeier die Richtige aus dem Kühlhaus abholte. Die Aufschrift am Eichensarg stimmte mit dem Namen und dem Geburtsdatum auf dem kleinen Zettelchen an der großen Zehe der Frau überein. Die Nägel der in hohem Alter Verstorbenen waren für ihre letzte Reise pink lackiert.

Als er, wesentlich langsamer als seine Kollegen, den Sarg wieder schloss und die Schrauben anzog, wurde ihm klar, dass er nun wirklich in seinem neuen Leben angekommen war. Vor einem Jahr hatte er alles hingeschmissen. Seine Karriere. Seine Leidenschaft. Sein altes Ich. Toth war Journalist mit Leib und Seele gewesen.

Fast sein ganzes Berufsleben lang hatte er Nachrichten und Schlagzeilen gejagt, um sie dann seinem Publikum zu verkünden. Zunächst als Reporter. Später auch als Moderator. Toth war der Bluthund in der Redaktion gewesen. Fast zu jedem Grätzel der Stadt hatte er eine meist blutige Geschichte auf Lager. Hier ein Doppelmord. Da ein tödlicher Verkehrsunfall. Dort eine Geiselnahme.

Durch seine guten Kontakte war er meist zeitgleich mit der Polizei am Tatort und kam so schneller als die Konkurrenz zu den Informationen und Zeugeninterviews, die er für seine Berichte brauchte. Er liebte es, sich bei Nachbarn durchzufragen, neue Erkenntnisse aus Ermittlern herauszukitzeln und dann alles wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Ein Puzzle, das jeden Abend Hunderttausende Zuschauerinnen und Zuschauer vor den Fernsehgeräten bestaunen konnten.

Toth war ein Workaholic gewesen. Immer im Einsatz. Immer das Handy am Ohr oder das Tablet vor Augen. Er hatte stets Angst gehabt, etwas Wichtiges zu verpassen, und hatte so sein eigenes Leben verpasst. Denn das bestand irgendwann nur noch aus täglich vier Stunden Schlaf, drei Liter Kaffee und seiner Arbeit.

Es ging sogar so weit, dass er eines Morgens auf Twitter las, dass es draußen geschneit hatte, bevor er auf seinen tiefverschneiten Balkon direkt vor seinem Bett blickte. Irgendwann fühlte er sich so ausgebrannt wie die Kerzenreste in der Schachtel neben dem Lastenaufzug, auf den er mit seiner schweigsamen Kundin im ärmellosen Sommerkleid gerade wartete. Zum Glück konnte sie nicht mehr frieren, denn im Keller vor den Kühlkammern hatte es gerade einmal zwölf Grad.

Es war ihm zu viel geworden. Alles. Sein Job. Sein Leben. Sein Drang nach Nachrichten. Letzterer führte sogar dazu, dass Toth bei seinem letzten Einsatz als TV-Reporter einen international gesuchten Doppelmörder stellte. Nachdem die Polizei den Tatort am Stadtrand freigegeben hatte, legte er sich in seinem türkisfarbenen Renault Twingo auf die Lauer, weil er im Gespür hatte, da könnte noch etwas passieren. Und tatsächlich. Um zwei Uhr morgens irrte eine dunkle Gestalt rund um das Haus jenes Ehepaares, das hier vor wenigen Stunden getötet worden war.

Toth zückte sein Handy, rief seinen Kontaktmann Chefinspektor Herbert Berger bei der Polizei an und meldete den Verdächtigen. Toth wurde in den Wochen darauf als Held gefeiert und mit Auszeichnungen überschüttet. Sogar eine goldene Anstecknadel des Bürgermeisters, die er kurz darauf verlor, bekam er überreicht. Aufmerksamkeit, die er über sich ergehen ließ, die ihn aber noch mehr stresste und ihn einen Entschluss fassen ließ.

Nach zwanzig Jahren im Mediengeschäft hatte er das Gefühl, sein Leben an sich vorbeiziehen zu sehen. Kein Ruhm und kein Geld konnten dieses deprimierende Gefühl stoppen. Drei Monate hatte er sich krankschreiben lassen, bevor er seinen Job an den Nagel hängte. Er sehnte sich nach Ruhe. Nach geregelten Arbeitszeiten. Nach Digital Detox. Nach Beschäftigung mit sich selbst. Nach Work-Life-Balance.

So wurde es Friedhof statt Fernsehen. Ein alter Bekannter hatte ihm von der offenen Stelle als Bestatter erzählt. Toth hatte, wenn gerade kein Mord passiert war, was auch hin und wieder vorkam, von zahlreichen Promi-Begräbnissen berichtet. Erste Reihe fußfrei. Es war seine zweite Leidenschaft. Schauspieler, Sängerinnen, Politiker. Für viele von ihnen gab es Zeremonien, bei denen die Kaiserfamilie in der Kapuzinergruft blass vor Neid geworden wäre.

Der gerade eben pensionierte Ober-Bestatter, der diese Trauerfeiern organisiert hatte, war über die Jahre sein Freund geworden und hatte ihm zum Wechsel in die Branche mit dem todsicheren Geschäftsmodell geraten. Der Zentralfriedhof als ruhiger und atemberaubend schöner Arbeitsplatz voller Natur, den Toth auch von den Besuchen seines verstorbenen Journalisten-Mentors Otto Wurm kannte, hatte ihn schließlich von dem gewagten Schritt überzeugt, obwohl nicht alle in seinem Umfeld sonderlich begeistert davon gewesen waren.

Vor allem seine Mutter Leopoldine hatte ihn mit allen Registern der mütterlichen Überzeugungskraft davon abzubringen versucht. Vergeblich. Sein Sturschädel, der ihm beruflich schon unzählige Türen geöffnet hatte, öffnete auch das berühmte Tor 2 zum Zentralfriedhof, auf dem er nun in seinem dunkelgrauen Arbeitstalar mit dem Aufzug nach oben zu den Trauerhallen fuhr.

Alle Bestatter bekamen um sieben Uhr Früh ihre Aufträge zugeteilt. In der handgeschriebenen Liste standen bei Toth heute gleich vier Verstorbene, die er zu verabschieden hatte. Mit der Pink-Lady am Rollwagen machte er sich auf zu seiner ersten eigenen Trauerfeier.

Er hievte gerade einen großen Kranz mit rosa Rosen, die der Ehemann der Verstorbenen bestellt hatte, auf einen der Ständer, als es laut miaute. Miau, miau. Der Katzenlaut erfüllte die gesamte weißmarmorierte Halle. Hektisch griff Toth in die rechte Tasche seiner schwarzen Arbeitshose, fischte sein Handy heraus und ärgerte sich, dass er es nicht auf lautlos gestellt hatte. Alte Berufskrankheit.

Früher hatte er nichts verpassen dürfen. Zu keinem Zeitpunkt.

Er bemerkte, wie der dicke Karl und ein anderer Kollege aus der Nachbarhalle herüberlugten, ihre Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Er war der Neue. Er war der aus dem Fernsehen. Toth war klar, dass er hier damit keinen Beliebtheitswettbewerb gewinnen würde.

Doch er hatte sich dafür entschieden und diesen Entschluss auch nicht bereut.

»Lieber Alex! Du weißt, ich hätte dich lieber weiter im Fernsehen gesehen. Aber ich wünsche dir toi, toi, toi für deinen ersten richtigen Arbeitstag bei der Bestattung heute. Ich hoffe, du findest die Ruhe, die du dir gewünscht hast. Hab dich sehr lieb. Deine Mama«, stand in der WhatsApp-Nachricht, die die schlafende Katze in Toths Smartphone geweckt hatte.

Ganz hatte seine Mutter seinen beruflichen Wechsel also noch nicht akzeptiert, dachte sich Toth, als er die Nachricht ein zweites Mal las. Aber immerhin hatte sie sich gemerkt, wie man Emojis verschickte. Der neuerliche Crashkurs nach dem Abendessen am Wochenende hatte sich also ausgezahlt.

Als er alle Blumenkränze drapiert und die großen, weißen Kerzen angezündet hatte, war er zufrieden. Alles sah schön und würdig aus. Wie es die Hinterbliebenen bestellt hatten. Toth war ganz sicher, dass dies der erste ruhige Tag in seinem bisherigen Berufsleben werden würde.

Montag, 9.05 Uhr

Seine für einen Mann zierlichen Hände wirkten auf dem schwarz glänzenden Untergrund noch blasser, als sie eigentlich waren. Toth hob die Urne in Form eines Fußballes aus dem Regal, um sie dem passionierten Kicker zu präsentieren.

Zwischen zwei Begräbnissen hatte er sich den Beratungstermin in der modernen Zentrale der Bestattung, die gleich vis-à-vis vom Friedhof lag, eingeteilt. Alles hier war hell und freundlich, mit viel Glas und Bildschirmen an den Wänden. Es sah fast so aus wie in einem dieser Kapsel-Kaffee-Geschäfte, nur dass die Gefäße, die zum Verkauf standen, hier größer waren. Und sie waren leer. Zumindest noch.

»Wissen Sie, ich lebe für meinen Verein und sterbe für meinen Verein«, sagte der rundliche, kleine Mann mit dem weißen Schnauzer. »Als ich in der Zeitung gelesen habe, dass es jetzt Urnen in Fußballform gibt, in den Farben meines Klubs, wusste ich, ich muss hier her.« Er war im Fußballdress gekommen.

Toth überreichte ihm die Urne. »Gute Wahl«, versuchte er ihn mit seiner fernsehgeschulten Stimme zu bestärken.

»Das ist derzeit unser Verkaufsschlager.«

»Meine Frau weiß nicht, dass ich hier bin«, erklärte der Fußballfan mit hörbarer Emotion in der Stimme. »Sie würde das nicht verstehen. Aber jetzt, wo ich mir vorstelle, dass das hier mein letztes Zuhause wird, weiß ich, dass es richtig ist, vorzusorgen. Auch wenn es hoffentlich noch dauert, bis ich ins Gras beiße.« Er reichte Toth die Urne zurück, vorsichtig, als handle es sich um ein rohes Ei.

»Wunderbar. Erledigen wir noch rasch den Papierkram, dann gehört das gute Stück Ihnen«, antwortete Toth. Er war stolz, an seinem ersten richtigen Arbeitstag ausnahmsweise einen lebenden Kunden glücklich machen zu können.

Sie gingen zu Toths Büro zurück. Der Mann erzählte ihm, warum er lieber verbrannt als begraben werden wolle. »Ich war auf Kur, und nach den Schlammpackungen habe ich gewusst, die Erde ist nix für mich«, sagte er, als Toths Blick hängengeblieben war. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Szenerie, die sich direkt vor dem großen, gläsernen Portal der Bestattung abspielte, einzuordnen.

Im ersten Moment sah es aus wie einer dieser Flashmobs, über die Toth immer wieder berichtet hatte, bei denen sich Menschen verabredeten, um sich scheinbar zufällig zu einer Kundgebung zusammenzurotten. Doch das war es nicht. Rund um einen alten Mann im Rollstuhl hatten sich gleich mehrere von Toths Kolleginnen und Kollegen versammelt, Bestatter im dunklen Talar, aber auch zwei Kolleginnen vom Empfang und seine deutsche Chefin Bärbel Hansen. Neben ihnen bemerkte Toth eine zierliche, schwarzhaarige Frau, die gerade mit zwei uniformierten Polizisten im Gespräch war. Sie wirkte aufgeregt.

Toth lenkte seinen Blick noch einmal zurück zu dem Mann im Rollstuhl. Gegen den Greis, der offenbar noch seinen Pyjama trug, sah er selbst aus wie frisch aus dem Karibik-Urlaub heimgekehrt, auch wenn er bei solchen Gelegenheiten eher rot als braungebrannt war. Mit einem Blick streifte er seine eigene blasse Hand, in der er bereits einen schwarzen Bestattungskugelschreiber für die Unterzeichnung des Urnen-Kaufvertrages hielt.

Beim genaueren Hinsehen erkannte Toth noch ein Detail an dem Rollstuhl. Ein schwarzer Rucksack, aus dem durchsichtige Schläuche herausragten. Solche Sauerstoff-Flaschen hatte er in seiner Zeit als Rettungssanitäter während seines Zivildienstes oft gesehen. Vielleicht sollte jemand den Regler auf Maximum drehen, um die Gesichtsfarbe des Mannes zu verbessern, dachte Toth, als ihn der Fußballfan aus seinen Gedanken riss. »Wo ist denn nun Ihr Büro?«, fragte er ungeduldig.

»Folgen Sie mir bitte. Es ist gleich hier rechts ums Eck«, antwortete Toth gedankenverloren.

Nachdem die schwarz-blaue Fußballurne ihren Besitzer gewechselt hatte, packte der Kunde sie in eine Sporttasche und verließ mit stolzer Brust, als hätte er soeben einen Pokal gewonnen, Toths Büro. Neugierig wollte Toth vor den Eingang treten, um zu sehen, was da rund um den Mann im Rollstuhl im Gange war. Doch da erfüllte ein sonores Klingeln den Raum. »Bestattung Wien, Alexander Toth am Apparat, was kann ich für Sie tun?«, meldete er sich vorschriftsgemäß, als er den Hörer des im Gegensatz zum Gebäude nicht mehr topmodernen Telefonapparats abhob. … »Ja, Sie haben richtig gehört. Der bin ich.« … »Nein, ich arbeite nicht mehr beim Fernsehen, ich bin jetzt Bestatter.« … »Das ist lieb von Ihnen. Aber ich bin ganz glücklich hier. Was kann ich denn für Sie tun?«

Nach etwa 15 Minuten war das Kunden- beziehungsweise Fangespräch beendet. In die Trauer der älteren Dame am anderen Ende der Leitung hatte sich eine Mischung aus Aufregung und Bewunderung darüber gemischt, dass sie tatsächlich gerade mit dem Alexander Toth telefoniert hatte. Mit dem Schwiegermutter-Traum aus dem Fernsehen, der seit einem Jahr nicht mehr am Bildschirm zu sehen war. »Ewig schade«, hatte die Witwe befunden.

Ein Blick auf die Uhr riss Toth aus seinem Ausflug in sein altes Leben. Er musste los. Die nächste Beerdigung stand an. Er hatte noch jede Menge vorzubereiten. Es ging wieder um Fußball, diesmal um einen verstorbenen Fußballtrainer, der sich für einen ganz normalen Sarg entschieden hatte.

Als Toth den dunkel verkleideten Glaskasten der Unternehmenszentrale verließ, erinnerte nur noch die zierliche Frau, die vorhin so aufgeregt gewesen war, an den kleinen Menschenauflauf, den er so aufmerksam beobachtet hatte. Alle anderen waren verschwunden. Der Mann im Rollstuhl. Die Polizei. Und auch seine Chefin. Letzteres störte ihn am allerwenigsten.

Toth hatte es sich in seiner langen Journalistenkarriere angewöhnt, Menschen binnen Sekunden zu scannen und einzuschätzen. Die Frau vor ihm, die mit dem Rücken an einem uralten, silbernen Volvo lehnte, wirkte nach wie vor angespannt und müde. Ihre Augenringe hatten beinahe die Farbe ihrer pechschwarzen Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Das Einzige, das ungewöhnlich hell an ihr funkelte, war ein wahrscheinlich wertvoller Ring mit einem roten Stein, den sie am linken Ringfinger trug. Er glitzerte im Tageslicht, als sie nervös an ihrem grauen Wollpullover herumzupfte. Toth hatte zwar keine Ahnung von Mode, aber dass es sich im Gegensatz zu dem Ring um ein eher billiges Exemplar handelte, erkannte sogar er. Mit der anderen Hand hielt sie ihr Handy ans Ohr.

Irgendjemand sprach sehr laut mit ihr.

Toth konnte zwar nicht verstehen, worum es ging, aber er hörte, dass der oder die viel zu sagen hatte. Mit möglichst langsamen Schritten ging er an ihr vorbei. Der tote Fußballtrainer würde ihm wohl nicht davonlaufen. Er wollte es sich zwar nicht richtig eingestehen, aber seine Neugierde gab ihm eine Art inneren Befehl, zumindest kurz die Stimme der Frau zu hören. Möglicherweise konnte er sich damit einen Reim darauf machen, was es mit dem Polizeieinsatz auf sich hatte.

Nun erhob die Frau, die ihn offensichtlich nicht bemerkte, ihre zittrige Stimme. »Nein, das habe ich der Polizei natürlich nicht erzählt«, sagte sie. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Ich sorge dafür, dass sie nicht in falsche Hände gerät.«

Montag, 11.36 Uhr

Einen Vorteil hatte es, dass Toth fast zwei Jahrzehnte lang beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen und damit in einem großen, staatsnahen Betrieb gearbeitet hatte. Er kannte diesen Brauch schon, der ab exakt elf Uhr Vormittag sicht- beziehungsweise hörbar wurde. »Mahlzeit!«, »Mahlzeit!«, »Mahlzeit«, erklang es von da an überall. Egal, ob er wie gerade eben auf dem Weg zum Mittagessen war oder zu einer Beerdigung. Auf den Gängen genauso wie zwischen den Gräbern. Die Bestattungsmitarbeiter grüßten einander genau wie die Fernsehleute ab dem späten Vormittag mit einem im breiten Wienerisch lang gezogenen »Mahlzeit!«. Er selbst hatte es gezählt neunmal gesagt, bis er tatsächlich am Tisch der Betriebskantine saß und sein weibliches Gegenüber ebenfalls mit »Mahlzeit« begrüßte.

Toth und Marie-Theres saßen direkt an der Glasfront mit Blick auf den zweitgrößten Friedhof Europas. Hätte die Bestattung Wien nicht ohnehin eine verlässliche Einnahmequelle, hätte sie das Betriebsrestaurant wohl ohne Mühe als Touristenattraktion vermarkten können.

In die Geräuschkulisse aus klappernden Plastiktabletts, der Fritteuse, in der heute Kartoffel-Wedges brieten, und den unzähligen »Mahlzeit«-Rufen mischte sich etwas mehr Stimmengewirr als sonst. Anders als in der malerischen Kulisse gegenüber herrschte die ewige Ruhe hier zwar nie, doch irgendetwas war anders als sonst. Das spürte Toth. »Was ist denn hier heute los? Irgendwie wirken alle so aufgeregt. Gabs eine Gehaltserhöhung, von der ich nichts weiß?«, fragte Toth seine Mittagspausenbegleitung.

»Was bist du für ein Journalist? Hast du nicht mitbekommen, was da heute vor dem Haus los war?«, fragte ihn Marie-Theres etwas forsch, während sie sich eine gekonnt aufgewickelte Gabel Spaghetti Bolognese vom Menü 2 in den Mund schob.

Marie-Theres Ehrenfels war Toths Lieblingskollegin. Zugegebenermaßen war sie auch die Einzige, die ihm als Außenseiter von Anfang an ohne Vorurteile begegnet war. Sie hatte ihn zwar aus dem Fernsehen gekannt, sich aber nicht gewundert, dass jemand nach so vielen Jahren einmal etwas anderes machen wollte. Die 37-Jährige war selbst eine »Job-Hopperin«. Yogalehrerin, Heilmasseurin, Fremdenführerin, Schweinezüchterin. Ihr Lebenslauf war beachtlich bunt. Es war ihre Form der Sinnsuche und wohl auch der Rebellion gegen ihre Familie, eine Ärztedynastie mit blauem Blut, die sie gern im weißen Kittel in einer Privatordination in der Innenstadt gesehen hätte.

Jetzt trug die gutaussehende Frau mit den langen, gelockten, blonden Haaren Schwarz. Von Berufs wegen. Denn Marie-Theres war seit einigen Monaten die einzige weibliche Sargträgerin der Bestattung Wien. Fast zeitgleich mit Toth hatte sie hier angefangen und die anderen belächelten sie genauso wie ihn. Ein Schicksal, das sie zusammenschweißte. Zumindest musste so keiner von ihnen allein beim Mittagstisch sitzen.

»Das glaubt dir ja keiner, wenn du das erzählst«, berichtete Marie-Theres. »Stell dir vor, da hat heute jemand eine Leiche hergebracht. Direkt zu uns vor die Tür. Wie wahnsinnig ist das denn bitte?«

»Eine Leiche?«, fragte Toth.

»Eine Leiche im Rollstuhl. Einen toten alten Mann. Seine Pflegerin war angeblich mit ihm im Urlaub in Italien, wo er gestorben ist. Sie hat das dort nicht gemeldet. Neeeeeein. Sie hat ihn einfach ins Auto gepackt und hierher zu uns gebracht. Das musst du dich trauen.«

»Deshalb also war er so bleich. Ich dachte mir noch, der schaut nicht sehr gesund aus.«

»Was? Du hast ihn gesehen? Und du sagst mir nichts?« Marie-Theres redete jetzt so laut, dass sich der Totengräber hinter ihr, der Menü 1, Wiener Schnitzel mit Wedges aß, genervt umdrehte.

»Ich hatte gerade einen Kunden. Außerdem geht mich das nichts an«, versuchte Toth die Diskussion zu beenden.

Marie-Theres kam jetzt erst so richtig in Fahrt. »Ich habe von einem Fall gehört, bei dem ein Mann in Amerika seine Frau mit Tabletten umgebracht und sie dann ins Bett gelegt und zugedeckt hat. So als würde sie schlafen. In der Früh hat er dann die Rettung gerufen und gesagt, sie sei nicht mehr aufgewacht. Sie wollten sie schon beerdigen. Stell dir vor. Die Tochter der Frau hat aber nicht lockergelassen, und so sind sie bei der Obduktion draufgekommen, dass sie umgebracht wurde …«, erzählte Marie-Theres mit aufgeregter Stimme.

»Du hörst zu viele True-Crime-Podcasts. Und außerdem: Was hat das mit dem Mann im Rollstuhl zu tun?« Toth wusste, dass die Antwort wie aus der Pistole geschossen kommen würde.

»Meinst du das ernst? Du hast doch jahrelang über Mordfälle berichtet und mit der Polizei zusammengearbeitet. Kommt dir das nicht verdächtig vor? Da stimmt doch was nicht. Warum ruft die Frau in Italien nicht einfach die Rettung, wenn der ganz normal gestorben ist?«

»Meinst du die dunkelhaarige, zierliche Frau? Die mit dem slawischen Akzent?«, fragte Toth vorsichtig.

»Hast du die auch gesehen, oder wie?«

»Nur kurz. Wie eine Mörderin hat sie jedenfalls nicht ausgesehen«, sagte Toth und schob den Gedanken an den bemerkenswerten Ring zur Seite, der sich ihm unwillkürlich aufdrängte. Und den an die merkwürdigen Sätze, die er sie hatte sagen hören. Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Wie viele Tote musst du heute noch schultern?«, fragte er.

»Ist das dein Ernst? Willst du nicht wissen, was mit dem alten Mann passiert ist? Wo ist dein Journalisten-Ethos? Hast du den auch schon begraben?« Marie-Theres wirkte jetzt richtig zornig.

»Ich bin kein Journalist mehr«, knurrte Toth. »Das weißt du. Ich habe viel zu viel Zeit an Tatorten verbracht und mit Ermittlern und Zeugen geredet. Das ist vorbei. Ich bin hier, weil ich endlich ein ruhiges, entspanntes Arbeitsleben genießen will. Das lass ich mir von einem Hirngespinst nicht nehmen. Punkt.« Toth merkte, dass er nicht mehr ganz so gelassen klang wie bei seinem Verkaufserfolg am Vormittag.

»Okay. Ich fasse zusammen: Herrn Alexander Toth, dem langjährigen Topjournalisten und Aufdecker ist es herzlich egal, wenn ein alter Mann heimtückisch ermordet und vor seinen Augen eingegraben wird. Bravo. Ich hoffe, deine Work-Life-Balance dankt es dir. Von mir kriegst du jedenfalls keinen Orden dafür«, blaffte Marie-Theres. Toth trank den letzten Schluck seines Cola Light aus, nahm sein Tablett mit der Hälfte seiner Spaghetti, beugte sich über den Tisch ganz nah zu Marie-Theres und sagte: »Meine Liebe, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Ich bin Bestatter und kein Ermittler, und wenn mich das Schicksal verfolgt, sage ich trotzdem nein.« Nachdem er das weiße Plastiktablett in den dafür vorgesehenen Ständer geschoben hatte, drehte er sich noch einmal zu Marie-Theres um. »Mahlzeit!«, rief er ihr zu.

Montag, 12.21 Uhr

Dass er vor einigen Jahren noch einen Halbmarathon in weniger als zwei Stunden gelaufen war, merkte Toth nicht mehr. Schon die 200 Meter, die zwischen den beiden Trauerhallen lagen, ließen ihn etwas außer Atem kommen und schwitzen.

Die Herbstsonne hatte für Ende Oktober noch erstaunlich viel Kraft. Seine Kondition hatte er in jenem Fitness-center gelassen, für das er zwar weiterhin monatliche Mitgliedsbeiträge zahlte, das er aber seit Ewigkeiten nicht mehr von innen gesehen hatte. Was sich auch an seinem leichten Bauchansatz zeigte.