Einsiedlerkrebs - Patrick Budgen - E-Book

Einsiedlerkrebs E-Book

Patrick Budgen

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  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Mit seinen Berichten vom Terroranschlag in Wien wurde er einem Millionenpublikum bekannt. Die Nominierung und Auszeichnung zu einem der besten Journalisten Österreichs war die Folge. Dabei hatte das Jahr für den ORF-Journalisten Patrick Budgen bitter begonnen. Zuerst bekam er eine Krebsdiagnose und dann kam auch noch der Lockdown. Jetzt, wieder gesund, erzählt er davon, wie im Leben alles anders kommen kann, als wir es erwarten. Seine zum Teil humorvollen Beobachtungen der menschlichen Natur im Ausnahmezustand sind berührend und eindrucksvoll. Eine höchst persönliche Geschichte, aber auch ein fesselndes Stück Zeitgeschichte.

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Seitenzahl: 212

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Patrick Budgen:Einsiedlerkrebs

Lektorat:Sophie Schagerl

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 edition a, Wienwww.edition-a.at

Cover und Gestaltung: Isabella Starowicz

ISBN gedruckte Ausgabe 978-3-99001-476-9

ISBN E-Book 978-3-99001-477-6

E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Für Mümi

Charlie Brown: Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy!

Snoopy: Stimmt, aber an allen anderen Tagen leben wir.

MONTAG, 2. NOVEMBER 2020DIENSTAG, 3. NOVEMBER 2020

Wo könnte man einen Allerseelentag passender beginnen als am Friedhof? Noch besser, am zweitgrößten Friedhof Europas. Es ist 5.45 Uhr, als ich im Stockdunkeln vor dem imposanten »Tor 2« des Zentralfriedhofes am Stadtrand von Wien ankomme. Es nieselt, es ist kalt, neblig und irgendwie gruselig. Nachdem die Halloweenparty coronabedingt heuer ausgefallen ist, hole ich sie eben hier nach. Verkleidet habe ich mich allerdings nicht. Es ist eine ziemlich unchristliche Uhrzeit, um einen christlichen Feiertag zu begehen.

Aber ich habe ein Date. Besser gesagt, gleich mehrere. Mit Falco, Udo Jürgens, Beethoven und insgesamt sieben österreichischen Präsidenten. Zugegeben: Die Konversation bei dieser morgendlichen Zusammenkunft – ohne Kaffee, um diese Uhrzeit hat hier leider noch nichts geöffnet – werde ich allein am Laufen halten müssen. Aber das ist auch mein Job. Gemeinsam mit meinen Kollegen von Kamera und Ton melde ich mich gleich drei Mal live in unsere Frühstücks-TV-Sendung, um passend zum »Gedenktag an Verstorbene« von hier zu berichten. Meine Interviewpartnerin, eine junge Fremdenführerin, erzählt mir dabei viel Wissenswertes über den Friedhof und seine Bewohner. Etwa, dass er zu Beginn Imageprobleme hatte und man deshalb Promis aus anderen Friedhöfen der Stadt aus- und hier wieder eingegraben hat. Der Tod muss tatsächlich ein Wiener sein.

Mittlerweile ist es neun Uhr vormittags. Meine Reportagen für heute sind beendet, die nächsten für morgen früh müssen organisiert werden. Das Thema liegt auf der Hand: Corona. So wie schon die letzten Monate kommt auch unsere Sendung nicht ohne das Virus und seine Auswirkungen aus. Der Anlass diesmal heißt »Lockdown light« – Gewicht zunehmen wird man in dieser Zeit wohl trotz des an kalorienarme Produkte erinnernden Namen. Weil die Infektionszahlen massiv in die Höhe schießen, hat die Bundesregierung die Gangart wieder verschärft. Geschäfte dürfen zwar offen bleiben, doch es gelten ab morgen Ausgangsbeschränkungen. Das heißt konkret: Zwischen zwanzig Uhr und sechs Uhr früh darf man sein eigenes Zuhause nur verlassen, wenn man wirklich muss, um zur Arbeit oder zum Arzt zu gehen.

Für meine Freunde und Familie ist das eine echte Belastungsprobe. Schon wieder Lockdown. Schon wieder eingesperrt fühlen. Schon wieder so gut wie niemanden sehen. Ich bin wohl am gelassensten von allen. Denn mich kann so ein verordnetes Zuhausebleiben in diesem Jahr wahrlich nicht schrecken. Monatelang war ich quasi in meiner Wohnung eingesperrt. Ausgang hat es nur für Krankenhausbesuche gegeben. Dazu ständig die Gedanken daran, ob ich jemals wieder gesund werde, gepaart mit der optischen Verwandlung in einen glatzköpfigen Sumoringer – vermutlich dennoch ein leichtgewichtiger. Pah. Was kann mir da ein Lockdown schon anhaben? Und so bereite ich für den kommenden Morgen ein Gespräch mit einem Sprecher des Innenministeriums vor. Wann darf wer hinaus? Wie wird die Polizei das Ganze kontrollieren? Braucht man eine Bestätigung des Arbeitgebers? Alles Fragen, die mich und, so hoffe ich, auch das Publikum interessieren. Am frühen Nachmittag ist mein Arbeitstag vorbei. Das denke ich zu diesem Zeitpunkt zumindest. Tatsächlich wird es der längste meines Lebens gewesen sein.

Es ist kurz nach zwanzig Uhr, als ich mich gemütlich ins Bett kuschle. Herrlich. Bei diesen Frühdiensten werden Erinnerungen an die Kindheit wach. Während ich mich damals mit Händen und Füßen gewehrt habe, so zeitig schlafen zu gehen, genieße ich es heute umso mehr. Es bleibt mir auch keine Wahl. Wenn der Wecker um 4.15 Uhr läutet und ich halbwegs ausgeschlafen aussehen will, heißt es um spätestens 20.30 Uhr »Gute Nacht« sagen. Wie immer vorm Schlafengehen checke ich am Handy noch die Nachrichtenlage. Auch auf Twitter. Plötzlich, um exakt 20.13 Uhr, poppt auf dem Account eines bekannten heimischen Journalisten folgende Nachricht auf: »Heftige Schießerei am Schwedenplatz. Polizeigroßeinsatz«.

Okay. Was ist da los? Der Journalist in mir ist auf einmal überhaupt nicht mehr müde. Ganz im Gegenteil. Sofort rufe ich den Chef unserer Nachrichtensendung »Wien heute« an, um ihm von dem Vorfall zu erzählen. Nach einem kurzen Telefonat steht fest: Ich fahre in die Innenstadt, um mir das genauer anzusehen. »Dann kann ich das in der Frühsendung gleich authentisch schildern. Das wird wohl das Thema sein, statt der neuen Lockdown-Regeln«, sage ich ihm, während ich aus dem Bett steige und mir ein weißes Hemd und Jeans anziehe, Socken auch, ein bisschen schwierig mit dem Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Was mich in dieser Nacht erwartet, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nicht einmal ansatzweise. Ich schnappe mir ein paar leere Blätter Papier, einen Kugelschreiber, werfe mir meinen Mantel über und rufe mir ein Taxi. In den Schlagzeilen um 20.30, die gerade im Radio laufen, als der Wagen mich Richtung Tatort bringt, ist noch nichts von einer Schießerei zu hören. In den sozialen Medien, die ich am Handy abrufe, tauchen aber immer mehr Bilder, Videos und Infos auf. Von großräumigen Absperrungen ist die Rede und auch von Menschen, die sich vor Schüssen in Lokale gerettet haben. Als ich diese Zeilen lese, merke ich, wie mein Puls steigt und Blut in meinen Kopf schießt.

Das klingt plötzlich nicht mehr nach einer Schießerei zwischen verfeindeten Banden, woran ich zuerst dachte, sondern offenbar nach einem Amoklauf oder Ähnlichem. Der Taxifahrer, der erst merkt, dass etwas nicht stimmt, als wir ständig von Einsatzfahrzeugen überholt werden, lässt mich vor einer Polizeiabsperrung neben dem Ringturm aussteigen. »Bringen Sie sich sofort in Sicherheit. Sie können hier nicht bleiben!«, schreit mich ein uniformierter, junger Beamter an, als ich mich nach meinem Kameramann umschaue. Er hatte Rufbereitschaft und sollte hier irgendwo bereits erste Aufnahmen machen. Als der Polizist merkt, dass ich beruflich hier bin, senkt sich seine Aufgeregtheit merklich. Die Anspannung ist ihm aber nach wie vor anzumerken.

Als ich meinen Kollegen gefunden habe, legen wir sofort los. Doch mehr als Aufnahmen von Absperrbändern, vorbeirasenden Einsatzfahrzeugen und Polizisten in Uniform bekommen wir hier nicht. Mein Handy läutet. Eine Regieassistentin der »Zeit im Bild«, der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes, ist dran. »Es läuft gerade eine Sondersendung. Wir möchten zu dir schalten. Bist du bereit?«, fragt sie mich, während bei ihr im Hintergrund laute und aufgeregte Stimmen zu hören sind. Das war wohl eher eine rhetorische Frage. Noch bevor ich sie beantworten konnte, hatte ich auch schon die Stimme von Armin Wolf im Ohr. Der in Österreich bekannteste Nachrichten-Anchorman fasst gerade die wenigen Informationen zusammen, die es zu dem Zeitpunkt gibt, ehe ich schon meinen Namen höre. »Für uns in der Innenstadt ist Patrick Budgen. Was ist Ihr aktueller Wissensstand?«, höre ich durch meine Bluetooth-Kopfhörer, die mit meinem Handy verbunden sind. Zum Glück habe ich kurz davor einen Pressesprecher der Polizei erreicht, der mir erste Ermittlungserkenntnisse bestätigen konnte. Und so konnte ich Armin Wolf und den Zusehern zu Hause von »mehreren bewaffneten Tätern« und »einem Toten« berichten. Außer meinen persönlichen Eindrücken von der bedrückenden und aufgeladenen Stimmung in der Innenstadt war noch nicht viel mehr drin. Trotzdem habe ich gefühlt zwei Minuten lang gesprochen und geschildert, bis die Stimme am anderen Ende der Leitung mit einem »Danke, Patrick Budgen aus der Innenstadt« signalisiert, dass ich nicht mehr auf Sendung bin. Das wäre also geschafft.

Während ich meine mit ersten Notizen beschmierten Zettel zusammensammle, wird mir die Tragweite dieses Ereignisses langsam bewusst. Es handelt sich offenbar um einen Anschlag, auch wenn das Motiv zu diesem Zeitpunkt völlig unklar ist. Viele Städte weltweit haben so etwas schon erlebt. Nizza. Paris. Berlin. London. Madrid. Brüssel. Wien war diesbezüglich bisher eine Insel der Seligen. Bis heute. Ich stelle mich also auf eine lange Nacht ein. Nur: Wie soll ich hier vor den Absperrungen zu mehr Informationen kommen? Kurzerhand fasse ich einen Entschluss. Mein Kameramann, ein Kollege – er hatte uns zuvor per Motorrad die sogenannte Live-U gebracht, ein System für TV-Live-Schaltungen in Form eines Rucksackes – und ich gehen schnellen Schrittes den mittlerweile gespenstisch leeren Ring entlang. Unser Ziel: die Zentrale der Wiener Polizei, ein paar hundert Meter entfernt vom Tatort. Durch meine mittlerweile 15-jährige Arbeit im ORF-Landesstudio weiß ich, dass dort ein Einsatzstab mit Vertretern aller relevanten Organisationen tagt, wann immer es kleinere, oder wie heute, größere Katastrophen gibt.

Nach wenigen Minuten stehen wir vor verschlossenen Türen. Der Eingang der Landespolizeidirektion, wie sie hochoffiziell heißt, ist mit dicken Stahltüren verschlossen. Ob das immer so ist oder speziell heute, weiß ich nicht. Einladend sieht jedenfalls anders aus. Und erwartet werden wir hier wohl auch nicht. Trotzdem drücke ich einen der beiden Knöpfe auf der Gegensprechanlage, neben dem »Inspektion« steht. Nach wenigen Sekunden meldet sich eine sonore Männerstimme, die in breitem Wienerisch »Ja, bitte?« sagt. »Patrick Budgen vom ORF ist hier«, erwidere ich. Noch bevor ich erklären kann, warum ich hier bin und was ich möchte, ertönt ein lautes Surren und die große, graue Tür öffnet sich.

Etwas verwundert treten meine Kollegen und ich ein und sehen im neongrellen Licht des karg wirkenden Foyers bereits ein bekanntes Gesicht. Es ist der Bürgermeister der Stadt mit seinen engsten Beratern, der gerade in den Aufzug steigt, offenbar in Richtung Stabsleitung. »Hier bin ich richtig«, sagt mir meine innere Stimme. Hier kann und werde ich zu relevanten Informationen kommen. Davor muss ich aber wohl noch jede Menge Überzeugungskraft an den Tag legen. Vor allem bei der Pressechefin der Polizei. Der Portier hat sie offenbar über unsere Anwesenheit informiert und sie scheint nicht wirklich amüsiert darüber, als sie die Treppen zu uns herunterkommt. Noch bevor sie Luft holen kann, um etwas vermutlich Vorwurfsvolles zu sagen, erkläre ich ihr unseren unangekündigten Spontanbesuch. »Ich habe ungefähr fünfzig Mal bei diversen Pressesprechern angerufen. Es hat leider niemand abgehoben, deshalb sind wir hier. Wir brauchen dringend ein Statement von offizieller Seite. Es schwirren so viele Gerüchte herum, wir brauchen unbedingt Fakten«, sage ich, vermutlich etwas zu aufgeregt und in ziemlich hohem Tempo. Doch statt mich abzuwimmeln und vor die Tür zu komplimentieren, entgegnet die etwa Vierzigjährige, für die Verhältnisse freundlich: »Ich werde schauen, was ich tun kann«, dreht sich um und verschwindet wieder in Richtung ersten Stock. Nur zwei Minuten später läutet mein Handy, dessen Akku bereits jetzt fast leer ist. Die Sprecherin ist am Telefon. »In zehn Minuten bekommt ihr jemanden vom Innenministerium zum Interview. Ihr seid die Ersten«, sagt sie mit ganz ruhiger Stimme. »Vielen Dank fürs Organisieren«, entgegne ich, lege auf, um sofort darauf den Newsroom darüber zu informieren. »Sobald du einen Interviewpartner hast, schalten wir zu dir«, sagt die erfahrene Redakteurin mit ihrer tiefen Stimme, die in dieser Nacht plötzlich zur Chefin vom Dienst und verantwortlich für diese Sondersendung geworden ist.

Aus den zehn Minuten werden fünfzehn. Achtzehn. Zwanzig. Meine zahlreichen Anrufe bei der Sprecherin – den Akku kann ich dankenswerterweise im Pausenraum der Polizistinnen und Polizisten hier laden – bleiben unbeantwortet. Mindestens genauso oft ruft mich die Kollegin im ORF-Zentrum an. »Hast du schon wen? Alle warten auf dieses Interview! Wann ist es so weit?«, fragt sie mich freundlich, aber bestimmt. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit (in Wirklichkeit waren es wohl zwanzig Minuten) kommt der neue Pressesprecher des Innenministeriums die Stiegen herunter. Mit Hemd, Sakko, perfekt gestylter Frisur und ernstem Blick. Ich kenne den Mann in meinem Alter beruflich schon seit Jahren, er war davor bei der Polizei, so angespannt habe ich ihn allerdings noch nie gesehen. Viel Zeit für Smalltalk bleibt nicht. Wie begrüßen uns und während er sich den Kragen seines weißen Hemdes richtet, rufe ich am Regieplatz an. »Der Sprecher des Innenministeriums ist jetzt bei mir. Ihr könnt jederzeit zu uns schalten«, sage ich der Regieassistentin am anderen Ende der Leitung.

Keine sechzig Sekunden später sind wir live. Ich habe mir auf einem meiner mittlerweile zerknitterten A4-Blätter von daheim Notizen mit möglichen Fragen gemacht, doch die brauche ich gar nicht. Intuitiv frage ich meinen Interviewpartner nach und nach zu den schrecklichen Ereignissen ab. »Was sind die neuesten Erkenntnisse? Ist es ein Terroranschlag? War es ein Einzeltäter? Stimmt das Gerücht, dass der Mann einen Sprengstoffgürtel umgeschnallt hat? Wie viele Tatorte gibt es?« Souverän antwortet mein Gegenüber sachlich und ruhig auf jede einzelne meiner Fragen. Und auch ich fühle mich innerlich ruhig. Hochkonzentriert, aber ruhig. Vor ein paar Monaten wäre ich in diesem Moment wohl aufgeregt gewesen. Vielleicht sogar nervös. Doch die vergangenen Monate haben mich verändert. Die Herausforderungen, Ängste und Sorgen, mit denen ich konfrontiert war, haben mich irgendwie geerdet. Am Ende des rund zehnminütigen Gesprächs wissen die Zuschauer – es sind bereits über zwei Millionen zu dem Zeitpunkt – und ich wesentlich mehr. Vor allem gibt es nun valide Informationen, direkt aus dem Einsatzstab, und keine Gerüchte oder Mutmaßungen wie davor.

Kaum signalisiere ich dem Sprecher, dass unser Interview vorbei ist, verabschiedet er sich und verschwindet wieder in Richtung ersten Stock des alten Gebäudes. Die kommenden Stunden melde ich mich fast halbstündlich in die Sondersendung. Einmal mit dem Bürgermeister vor dem Mikrofon. Dann vom Burgtheater, wo Zuschauerinnen und Zuschauer seit Stunden ausharren und nicht hinausdürfen. Dann spreche ich mit dem Chef der Wiener Berufsrettung, der die Situation am Tatort schildert. Und kurz vor zwei Uhr früh schließlich nochmal mit dem Stadtchef, der die traurige Nachricht eines weiteren Todesopfers verkündet. Am Ende waren es insgesamt vier Zivilisten, die ihr Leben verloren haben.

Gegen halb drei Uhr früh ist mein Arbeitstag zu Ende. Fast 24 Stunden lang bin ich zu diesem Zeitpunkt schon auf den Beinen. Müdigkeit? Fehlanzeige. Viel zu aufgewühlt und voller Adrenalin bin ich, als mich mein Kameramann dankenswerterweise durch die leeren Straßen nach Hause bringt. Auf dem Weg dorthin schaue ich das erste Mal in meinen WhatsApp-Posteingang, auf Twitter und in meine Mailbox. Wow. Alles geht fast über. Ich habe dutzende Nachrichten bekommen. Von Freunden, Familie, ehemaligen Volksschulkolleginnen und -kollegen und auch Arbeitskolleginnen und -kollegen, die ich zu einem großen Teil gar nicht persönlich kenne. Sie alle gratulieren mir zu meiner Berichterstattung und zu den Interviews. Erst jetzt wird mir langsam bewusst, wie viele Menschen bei dieser Sendung zugeschaut haben müssen.

Zuhause angekommen wartet mein Freund Alex mit einem Glas Rotwein auf mich. Er ist auch die ganze Nacht aufgeblieben und hat die Sendungen im Fernsehen verfolgt. »Du warst großartig«, sagt er mir, als ich mich mit einem lauten Seufzer auf die Couch fallen lasse. Mein Job beeindruckt ihn sonst – zum Glück – relativ wenig. Viel Zeit zum Reflektieren und Austauschen haben wir aber nicht. Denn in einer Stunde muss ich wieder aufstehen. Die Frühstücks-TV-Sendung, für die ich ja eigentlich ein Interview zum Thema »Lockdown light« geplant hatte, fällt aus und macht Platz für eine stundenlange Sondersendung, die bereits um 5.45 Uhr beginnt. Und so verlasse ich frisch geduscht nach einer knappen Stunde Halbschlaf wieder das Haus, um an den Tatort zurückzukehren.

Alles ist weiterhin abgesperrt, allerdings nicht so großräumig wie noch in der Nacht. Und so kommen mein Kameramann, ein anderer Kollege, und ich deutlich näher zum Ort des Geschehens. Überall sind Einschusslöcher, neonfarbene Markierungen der Polizei und auch Blutflecken zu sehen. In weißen Schutzanzügen gekleidete Männer und Frauen der Tatortgruppe markieren vorsichtig Spuren und fotografieren jeden einzelnen Winkel. Es ist ein gespenstisches Bild. Nach und nach bekommen die Informationen der letzten Nacht ein trauriges Angesicht. Neben uns haben noch andere TV-Journalisten und Fotografen Aufstellung genommen. Bis elf Uhr Vormittag berichte ich hier über die neuesten Erkenntnisse. Über die Tatortarbeit. Darüber, dass die Polizei jetzt doch nur von einem Einzeltäter ausgeht. Und auch über die Zahl der Verletzten, die sich mittlerweile auf 24 erhöht hat.

Langsam spüre ich die Müdigkeit in meinen Knochen. Ich bin aber gleichzeitig stolz auf sie. Noch vor wenigen Monaten hat sich der Weg vom Bett ins Bad wie ein Marathon angefühlt. Jetzt bin ich seit fast dreißig Stunden auf den Beinen und im Einsatz und mein Körper spielt noch immer brav mit. Am Nachmittag bin ich noch als Gast in eine Talkshow eingeladen, um über meine Erlebnisse in der Nacht zu berichten. Um 19 Uhr bin ich dann endlich daheim und wirklich hundemüde. Kurz vor dem Schlafengehen schaue ich nochmal auf mein Handy. Nein, zum Glück keine Schreckensmeldung auf Twitter. Es ist eine SMS, die mich freut. »Habe bei der Wahl zu den Journalisten des Jahres gerade für dich gestimmt«, schreibt mir ein bekannter Pressesprecher. Waaaas? Ich kann es gar nicht glauben. Doch man hat mich für meine Berichterstattung in der Terrornacht offenbar tatsächlich nachträglich für den Preis nominiert. Und das ausgerechnet in dem Jahr, das für mich alles andere als preisverdächtig begonnen hat.

DIENSTAG, 4. FEBRUAR 2020

Corona liegt in der Luft. Genauer gesagt, die Angst davor. Und zwar in 10.000 Metern Höhe. Ich sitze im Flugzeug am Heimweg aus Thailand. Zwei Wochen Mutter-Sohn-Urlaub liegen hinter mir. Zum Glück ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was vor mir liegt. Meine knapp siebzigjährige Mum hat ihre Atemschutzmaske bereits nach zehn Minuten wieder abgelegt. »Ich krieg da doch überhaupt keine Luft. Das ist ein Blödsinn«, stellt sie entnervt fest. Ich lasse meine während des gesamten zehnstündigen Fluges aufgesetzt. Am Flughafen in Bangkok hat uns die Corona-Welle erfasst. Fast alle der Passagiere, nicht mehr nur asiatische, tragen einen Mund-Nasen-Schutz. Beim ewig langen Warten auf unsere Maschine – ich werde künftig nur noch direkt fliegen – schildere ich meinen Freunden per WhatsApp die für mich völlig irreale Situation: »Oida, in Bangkok am Flughafen schaut‘s aus wie auf einer Seuchenstation, alle haben eine Maske auf – ich auch ;)«. Gruppenzwang funktioniert auch am Beginn einer Pandemie. Denn bis zum Rückflug ist Corona bei uns während der vergangenen 14 Tage zwischen Sonne, Strand und Phat Thai kaum Thema gewesen. Ab und zu haben wir über chinesische Touristen gescherzt, die mit Mundschutz am Strand spazieren gegangen sind. Das war‘s aber auch schon.

Viel stärker hat mich etwas anderes beschäftigt: Meine »Dippel« am Hals, wie ich sie bis dahin genannt habe. Vor drei Monaten habe ich auf der linken Seite zum ersten Mal einen kleinen Knoten gespürt. Hypochonder wie ich bin, bin ich damit sofort zu meiner Hausärztin gegangen. »Nicht schlimm. Kommt nur von einem Infekt«, so ihre recht rasche Diagnose. Seitdem bin ich mit meinen angeschwollenen Lymphknoten – mittlerweile spüre ich vier davon ziemlich groß – beim Ultraschall gewesen, zwei Mal beim Blutbild und beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Das Fazit: kein Grund zur Sorge. »Die Schwellungen kommen höchstwahrscheinlich von einer bakteriellen Infektion«, so hat der Fachdoktor die hohen Entzündungswerte in meinem Blut beurteilt und mir Antibiotika verschrieben.

Mit ihnen und der Hoffnung im Gepäck, dass diese gesundheitliche Geschichte damit erledigt ist, bin ich also nach Kho Lanta gereist. Jeden Tag drücke ich an meinem Hals herum und rede mir ein, dass die Knoten kleiner werden. Leider Fehlanzeige. Es ändert sich genau gar nichts. Und mit jedem Tag am Traumstrand male ich mir den Albtraum weiter aus. Was ist, wenn das Ganze doch etwas Ernstes ist? Warum gehen diese verdammten Lymphknoten nicht weg? Meine Mutter versucht mich täglich mit ihrem gegoogelten Halbwissen aus dem Internet zu beruhigen. »Das ist ganz bestimmt nichts Schlimmes. Da spricht alles dagegen«, betet sie mir wie ein Mantra vor. Ich merke trotzdem, dass mit mir etwas nicht stimmt. Als ich im Pool meine abendlichen Bahnen ziehe, rede ich sogar laut mit mir selbst und stelle mir die Frage: »Was ist los mit dir? Warum bist du dauernd so müde und fühlst dich nicht gut?«. Eine Antwort auf diese Fragen bekomme ich in diesem Urlaub leider (oder zum Glück?) nicht mehr. Beim Landeanflug auf Wien beschließe ich schließlich, mich sofort gründlicher durchchecken zu lassen. Nachdem die Antibiotika nicht gewirkt haben, muss der Grund für die Knoten an meinem Hals schließlich irgendwo anders liegen.

Als meine Mutter und ich samt unseren Koffern – wir haben schon wieder viel zu viel mitgenommen – in die Empfangshalle des Flughafens kommen, wartet schon mein Vater auf uns. Er hat – so wie alle anderen hier am Flughafen – keine Maske auf, warum auch, und belächelt uns für unser »Mitbringsel« aus Thailand. Corona ist hier also noch nicht gelandet. Nicht einmal in den Köpfen. In meinem eigenen ist in den nächsten Tagen auch recht wenig Platz dafür …

MITTWOCH, 12. FEBRUAR 2020

Gerade noch bin ich gemütlich durchs Leben geschippert, plötzlich befinde ich mich mitten auf hoher See, die leider nicht vergleichbar ist mit dem warmen Meer in Thailand. Die Wellen peitschen mir kalt ins Gesicht, alles wackelt, dreht sich und macht es mir nicht einfach, fest am Boden zu stehen. Während weltweit (nur) etwas mehr als 45.000 Menschen an der neuen Lungenkrankheit COVID-19 erkrankt sind und das neue Virus in den Hauptnachrichten nicht einmal eine Kurzmeldung ist, bin ich seit heute mit einer völlig anderen Diagnose konfrontiert. Vor drei Tagen hat man mir de facto gesagt, dass ich Krebs habe. Krebs. Ein Wort, das ich schon so oft verwendet habe, das mir dabei aber immer ganz weit weg vorgekommen ist. Krebs, das trifft doch nur die anderen. Krebs, das haben alte Leute oder die, die ungesund leben, viel rauchen und trinken, sich nicht von der Couch bewegen. Aber jetzt bin ich es. 36, eigentlich kerngesund, mitten im Leben und bis jetzt unverwundbar, zumindest gefühlt.

Noch ist nicht klar, was genau da in meinem Körper schlummert. Eine bösartige Erkrankung der Lymphknoten nennt es der Arzt beim Gespräch nach den ersten Untersuchungen. Ein Gespräch, von dem man immer annimmt, dass man es selbst nie führen muss. Aber plötzlich sitze ich da in dem kleinen, eher schmucklos eingerichteten Büro des Ober-Krebs-Kapazunders und höre genau das, wovor ich mich mein Leben lang gefürchtet habe. Als Hypochonder hatte ich mir im Laufe der Jahre schon allerhand Krankheiten vorgestellt. Von Meningitis über mehrere Gehirntumore bis hin zu einer Blinddarmentzündung. Aber plötzlich ist es kein Hirngespinst mehr, plötzlich ist es wirklich da, ganz echt und es betrifft mich. In nur wenigen Tagen habe ich im Krankenhaus nun mehr Untersuchungen absolviert als in den 35 Jahren davor zusammen. Mir wurde gefühlt ein Liter Blut abgenommen, ich wurde von Kopf bis Fuß geröntgt und zuletzt hat man mich noch samt radioaktivem Material im Körper für dreißig Minuten in eine Röhre gesteckt. Das ist wohl nicht nur für einen ängstlichen Menschen wie mich ein absoluter Albtraum, einer, der aber nach dem Aufwachen in der Früh leider nicht aufhört.

Die genaue Diagnose steht in zwei Tagen fest. So wie es aussieht, dürfte es eine Form von Lymphdrüsenkrebs sein. »Unter Ärzten heißt es, wenn man sich einen aussuchen kann, dann den«, hat mir der Chefradiologe nach der Untersuchung gesagt. Und auch der Onkologe ist optimistisch, dass man die bösen Zellen in meinem Körper gut behandeln beziehungsweise sogar ganz heilen kann. Trotzdem macht mich die Ungewissheit wahnsinnig. Was kommt auf mich zu? Wie lange werde ich eine Chemotherapie brauchen? Fallen mir die Haare aus? Und die am meisten belastende Frage: Werde ich daran sterben? Zum ersten Mal in meinem Leben klopft der Tod an meine Tür. Zugegeben noch ganz leise, aber er verschafft sich zum ersten Mal Raum in meinem Leben und dieses Gefühl ist, ich kann es nicht anders beschreiben, scheiße.

Die Tage über versuche ich mich so gut es geht abzulenken. Meine Familie und meine Freunde kreisen seit der Diagnose wie eine Armee aus Schutzengeln um mich herum, sprechen mir Mut zu und sind für mich da. Ein wirklich schönes Gefühl. Auch weiter entfernte Freunde und Kollegen, die davon erfahren haben, melden sich plötzlich. Wobei sich manche SMS fast schon wie Nachrufe oder Kondolenzschreiben lesen, was nicht wirklich stimmungsaufhellend wirkt. Auch wenn ich rational weiß, dass die Chancen, diese Krankheit zu überleben, sehr hoch sind, bleibt die Angst in mir drinnen. Ich hoffe sehr, dass die genaue Diagnose und der Behandlungsplan diesen Zustand zumindest etwas ändern. Denn ich will leben, lachen und weiter die Welt sehen. Und mich nicht von einem Krebs, wie immer er auch heißt, davon abhalten lassen. Dass mich daran in nächster Zeit nicht nur der Krebs, sondern auch ein neuartiger Virus hindern wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht.

DONNERSTAG, 13. FEBRUAR 2020

Prack. Zack. Bumm. Früher als erwartet ist die endgültige Diagnose da. Per Telefon gibt es die erste Auskunft von einem überaus einfühlsamen Arzt, den ich ab jetzt wohl öfter sehen werde. Auch wenn man noch so sehr damit rechnet, es zu hören ist doch noch einmal etwas anderes: »Der Verdacht hat sich leider bestätigt, Sie haben eine bösartige Lymphdrüsenerkrankung«, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ist es ein Hodgkin?«, frage ich fast in seine letzte Silbe hinein. »Ja, ist es«, sagt er. Völlig absurderweise entfährt mir ein Jubelschrei. Denn der Hodgkin – ein Name, den ich davor noch nie gehört habe – gilt als der am besten heilbare unter den Lymphdrüsenkrebsarten mit einer Heilungschance von über neunzig Prozent, das hatte ich bereits im Vorfeld gegoogelt.