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Wenigstens der Tod ist noch witzig. Zumindest dann, wenn der prominente ORF-Moderator Patrick Budgen tatsächlich geschehene Begräbnispannen zu pointierten, kurzen Geschichten verarbeitet. Erzählt hat sie ihm Peter Holeczek, Leiter der zentralen Kundenservicestelle der Bestattung Wien. Wie kamen die Bowlingkugeln in den Sarg? Was ist im Branchen-Jargon ein Big Mac? Und warum umkreiste ein toter Schauspieler im Sarg das Burgtheater? Budgen beantwortet solche Fragen beschwingt und erheiternd und nimmt dabei dem Tod den Schrecken.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Patrick Budgen:
Schluss – mit lustig
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover: Bastian Welzer
Satz und Illustrationen:
Anna-Mariya Rakhmankina
Lektorat: Andrea Wendl
Die Namen der beteiligten Personen wurden aus Datenschutzgründen geändert.
Gesetzt in der Premiera
Gedruckt in Deutschland
1 2 3 4 5 — 25 24 23 22
ISBN: 978-3-99001-626-8
eISBN: 978-3-99001-627-5
PATRICK BUDGEN
WAHRE WIENERBEGRÄBNISGESCHICHTEN
VORWORT
PARTYBOOT
BILDSCHÖN
IL SILENZIO
STATTLICHES ANDENKEN
AUF UND DAVON
VORSICHT GLATTEIS!
BLINDE LIEBE
FAMILIENZUSAMMENFÜHRUNG
STÜRMISCHE RACHE
EINEN »BIG MAC« BITTE!
LOST AND FOUND
ZU KURZ
BOXENSTOPP
IN STELLUNG
STRADA DEL TODE
DER HEISSE STUHL
ROSENKRIEG
LUFTDICHT VERPACKT
»STRIKE«
BÄRENSTARK
KONTROLLE IST BESSER
VÄTERCHEN FROST
UNFREIWILLIGER MAULWURF
GUTEN MORGEN!
HELLSEHER
GROSSER BAHNHOF
FEUER UND FLAMME
GEISTERSTUNDE
»POP«-KONZERT
HINTEN OHNE
ROHER DIAMANT
VERBOTENER REISEPROVIANT
FEUCHTER ALBTRAUM
DER GIGANT
SALLY
PARISER SPITZ
PRUNKSTÜCK
MASSGESCHNEIDERT
LETZTER SCHLUCK
KUSCHELMONSTER
ABER BITTE MIT RASEN!
HOCHWÜRDEN MIT WÜRDE
LEBERKÄS-JUNKIE
HAPPY END
FALSCHE FÊTE BLANCHE
ZIMMER OHNE AUSSICHT
ALLES DRAN?
DICK IM GESCHÄFT
FINGERSPITZENGEFÜHL
SCHÖNE BESCHERUNG
IM FALSCHEN FILM
TELEFONJOKER
MATCHBALL
DIE LIEBE FAMILIE
GEISTERFAHRER UNTERWEGS
APPLAUS, APPLAUS
GRAVUR OHNE AMOUR
ARMY OF LOVE
EINSAMER ALTMEISTER
VOM WINDE VERWEHT
BITTE RECHT FREUNDLICH!
MIT BRIEF UND SIEGEL
ZUM UMFALLEN
COOLER SOMMER!
PHILOSOPHISCHES OKTETT
ÜBERRASCHUNGSBESUCH
DAS ERBE DER STRUDELKÖNIGIN
SCHLECHTEN APPETIT!
NESTHOCKER
FÜR IMMER JUNG
LIEBE AUF DEN LETZTEN BLICK
GANZ ZUM SCHLUSS …
»Seine Aufgabe ist unsterblich, seine Kunden sind es nicht.« Mit diesem Satz begann ich mein Porträt über Peter Holeczek für unsere Allerheiligensendung von »Wien heute« im Jahr 2010. Zum Glück nicht auf seinem letzten Weg, sondern auf dem Weg durch seinen Arbeitstag am Zentralfriedhof begleitete ich damals einen Mann, für den der Tod seit langem allgegenwärtig ist. Holeczek ist seit 1994 bei der Wiener Bestattung, leitet die Kundenservicezentrale und gilt in der Branche als »Promi-Bestatter«. Udo Jürgens, Peter Alexander, Elizabeth T. Spira, Niki Lauda, Fritz Muliar, Johanna Dohnal, Helmut Zilk, … Die Liste seiner Kundinnen und Kunden ist lang und liest sich wie das Who is Who der heimischen Kultur- und Politikszene. Aber auch im wahrsten Sinne des Wortes Normalsterbliche zählen zur Klientel des gelernten Maschinenschlossers. Trotz beruflich bedingt ernster Miene steckt in dem heute 61-jährigen Wiener viel schwarzer Humor. Das war mir schon bei unserem ersten Treffen klar, als mir Peter fast nebenbei die unglaublichsten Geschichten aus seinem Alltag erzählte. Jedes Mal, wenn wir uns bei einem neuen Begräbnis sahen, das er organisierte und von dem ich berichtete, kamen neue Bonmots dazu.
»Irgendwann sollten wir ein Buch daraus machen«, sagte ich damals lapidar zu ihm.
»Das ist zu heikel. Das können wir erst machen, wenn ich in Pension gehe«, war seine Antwort darauf. Im Laufe der Jahre sprachen wir immer wieder darüber. Er erzählte mir neue Geschichten und ich notierte mir die ein oder andere. Als sein Ruhestand langsam in greifbare Nähe rückte (bis Ende 2023 hat er noch), wurden die Pläne für unser Buch allmählich konkret. Wir holten die Genehmigung seines Arbeitgebers ein und machten uns an die Arbeit. Als mir Peter nach und nach die skurrilsten Geschichten schrieb und erzählte, blieb mir immer öfter der Mund offen. Ich konnte kaum glauben, was sich rund um Trauerfeiern und Begräbnisse alles abspielt.
Peter befragte auch seine erfahrenen Kolleginnen und Kollegen zu deren Erlebnissen und ich recherchierte bei zahlreichen privaten Wiener Bestattungsunternehmen. Das Ergebnis, das wirklich zum Totlachen ist, haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, nun vor sich. 71 Kurzgeschichten (wie die legendäre Straßenbahnlinie 71, die zum Zentralfriedhof fährt), die zeigen, dass es auch am Lebensende ordentlich menschelt. Und dass die Menschen, die sich um unseren Abschied kümmern, ihren Humor zum Glück nicht begraben haben.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen!
Patrick Budgen
Unscheinbar war sein zweiter Vorname. Denn Peter war das Paradebeispiel für einen angepassten Mann. Zumindest in seinem Job.
Täglich kam er in einem schlecht geschnittenen, (meist) grauen Anzug ins Büro eines großen Spitalsbetreibers, wo er seit zwanzig Jahren als Chef-Bilanzbuchhalter arbeitete. Seine wenigen Haare über die Glatze gekämmt, stets bleich wie ein Grottenolm und dabei sehr wortkarg – so kannten ihn seine Kolleginnen und Kollegen.
Von seiner privaten Leidenschaft ahnten sie nichts: Denn Peter war ein Raver. Er liebte das Pulsieren der lauten Elektromusik, zu der er wie wildgeworden nächtelang tanzen konnte. Für Außenstehende musste es aussehen wie ein epileptischer Anfall. Doch auf den Partys, die teilweise in aufgelassenen Fabrikhallen oder ehemaligen Bunkern stattfanden, waren ohnehin nur Gleichgesinnte.
Jahrelang hatte Peter gebraucht, bis er den »Melbourne Shuffle« richtig draufhatte. Nun beherrschte der 39-Jährige diesen Tanzstil besser als seine Vorbilder auf Youtube, zu deren Videos er stundenlang trainiert hatte.
Mia, Fabian und Jakob waren Peters Raverfreunde. Gemeinsam reisten sie an die entlegensten Orte, sogar bis nach Brasilien, um an den angesagtesten Raves teilzunehmen. Es war in Rio, als Peter auf der Tanzfläche ausrutschte und noch kurz zuckte, als ob es zu seinen »Moves« gehören würde. Doch es sollte sein letzter Rave sein.
Zu Hause angekommen mussten seine Freunde (zu seiner Familie hatte er keinen Kontakt mehr) das Begräbnis für ihren Party-Peter organisieren. Weil er nahe der Donau gewohnt und das Wasser geliebt hatte, entschieden sie sich für eine Donaubestattung.
Bei der Vorbesprechung beim Bestatter schwärmten Mia und die anderen von Peters Tanzkünsten und seiner Liebe zur Musik. Sehr zur Verwunderung der routinierten Mitarbeiterin wurde aber weder eine Musikanlage noch eine Band gebucht. Es sollte alles in einem sehr kleinen Rahmen und möglichst schlicht sein, beteuerten Peters Freunde.
Am Tag der letzten Reise waren die wenigen Trauergäste vollbepackt von oben bis unten. Fabian hatte eine riesige Box unter seinem Arm, Mias Unterarme waren vor lauter Kabel nicht zu sehen und Jakob hatte in seiner Sporttasche eine Nebelmaschine mit. Wortlos betraten sie das Deck des kleinen Schiffes und bauten rund um Peters Urne ihr Equipment auf. Als sie ablegten, drückte Mia auf den Play-Knopf und es ertönte plötzlich ohrenbetäubende Technomusik aus der mitgebrachten Soundanlage. Eine Bestattung mit Bass.
Während die anwesenden Arrangeure aus dem Staunen gar nicht mehr herauskamen, verwandelte sich die Trauerfeier zu einem richtigen Rave. Die Köpfe wurden wie wild geschüttelt, die Hüften kreisten und Arme und Hände bewegten sich zum schnellen Takt in der Luft. Als das kleine Bestattungsboot stoppte, um Peters Asche ins Wasser zu lassen, pausierte die Partygemeinschaft die Musik und hielt kurz inne.
Wie bei Donaubestattungen üblich, bekamen sie eine Urkunde mit Peters letzten Flusskoordinaten und einen maritim geschmückten Kranz überreicht. Kurz danach ging die Party weiter. Währenddessen begann Peters Öko-Urne, sich langsam aufzulösen. Sie war aus einem speziellen Material, das keine Rückstände im Wasser hinterlässt. Farblos, wie Peters Eindruck im Büro.
Der neue, rosarote Frotteebademantel kratzte etwas auf ihrer empfindlichen Haut, als sie in der weitläufigen Garderobe den Stoffgürtel vorn zuknotete. Brigitte hatte ihn extra für das Wellness-Wochenende mit ihren Mädels bestellt.
Ihre »Mädels« waren allesamt über siebzig Jahre alt und seit Jahrzehnten die besten Freundinnen der pensionierten Friseurin.
Für ihren Kurztrip hatte die Weiberrunde, wie sie sich selbst nannten, eine spezielle Therme ausgesucht. Ein Ressort, zu dem nur Frauen Zutritt hatten. Männer, und damit auch viele Sorgen und Probleme von Gitti und den anderen, mussten draußen bleiben.
Brigitte war zum vierten Mal geschieden und wollte die neu gewonnene Freiheit feiern. Schon zum Frühstück gab es für die für ihr Alter noch immer sehr attraktiven Frauen zwei Flaschen Prosecco, danach wurde am Liegestuhl durch bunte Magazine geblättert und über Promi-Männer gelästert (vor allem über deren Figur), bevor es gemeinsam zum Nägel-Machen im hauseigenen Beautysalon ging. Brigitte hatte ein knalliges Orange ausgesucht, mit dem die junge, ungarische Nageldesignerin ihre langen Krallen bepinselte.
Als sie das fertige Werk beäugte, stieg eine innere Zufriedenheit in ihr auf. Brigitte fühlte sich so schön wie schon lang nicht mehr und das gab ihr zusätzliche Motivation für den nächsten Tag. Denn da stand der eigentliche Grund für den Ausflug in das Wellness-Refugium bevor.
Obwohl sie das Langschläferfrühstück gebucht hatte, stellte Gitti den Wecker. Um 7.30 Uhr vibrierte ihr Handy und gab sanfte Harfenklänge von sich. Zwei Stunden hatte Gitti eingeplant, um sich herzurichten.
Sie steckte mit viel Können die vorgeheizten Heißwickler in ihr Haar, legte ein dramatisches Abend-Make-up auf (die Fortbildung hatte sich ausgezahlt) und versuchte, sich zwischen den beiden Kleidern zu entscheiden, die sie von zu Hause in einem eigenen Kleidersack mitgenommen hatte. Die Wahl fiel auf das schwarze Paillettenkleid mit dem tiefen Ausschnitt. Die Farbe schien ihr dem Anlass entsprechend die passende zu sein.
Kurz nach halb zehn klopften Brigittes Freundinnen wie ausgemacht an die Zimmertür. »Toll siehst du aus«, sagten sie übereinstimmend und bewundernd. Die vier Frauen gingen gemeinsam in die großzügige Lobby des Ressorts, wo ein großer, roter, satinbezogener Couchsessel stand. Ihn hatten die Frauen als Kulisse ausgesucht. Brigitte nahm Platz, überschlug die Beine und setzte ihr schönstes Lächeln auf. Vanessa stand schon mit der Digitalkamera ihres verstorbenen Mannes bereit und drückte ab.
Einmal. Zweimal. Dreimal.
Nach etwa zwanzig Minuten hatte sie hunderte Fotos von Brigitte geschossen. Bei zahlreichen Gläsern Prosecco und Martini gustierten die Frauen und sahen sich ein Bild nach dem anderen auf dem kleinen Bildschirm der Kamera an.
Da war es. Das perfekte Foto, auf dem Brigitte lasziv und etwas verträumt dreinschaute, wie Brigitte Bardot in Höchstform. Dieses Bild würde alle ihre Ex-Männer bereuen lassen, sie mit Sekretärinnen und Studentinnen betrogen zu haben.
Das Foto für ihren Partezettel war im Kasten.
Relativ still ist es bei Begräbnissen meistens. Das liegt wohl in der Natur der Sache. Bei dieser Trauerfeier war die Totenstille aber besonders eindrucksvoll. Es war ein kalter Wintertag, minus zehn Grad, und der Schnee hatte die meist dunklen Granitplatten und Grabsteine in eine schaurigschöne, weiße Decke gepackt.
Margarete hatte den Winter und die Kälte gehasst. Gut, dass sie eingeäschert in ihrer Urne davon nichts mehr mitbekam. Die ewig alleingebliebene Querflötenspielerin eines großen Orchesters war ein Sommerkind gewesen. Sie hatte das Meer und den Sand gemocht. Und die Ruhe. Auf ihren Urlaubsplänen waren deshalb auch ausschließlich Adults-only-Hotels gestanden. Kinderlos sein musste schließlich auch seine Vorteile haben.
Passend zum Ruhebedürfnis der Bläserin hatten ihre Musikerkollegen das Stück für ihren Abschied ausgesucht. »Silenzio« sollte es sein, eines der meistverkauften Instrumentalstücke der Welt. Hauptsächlich gespielt in jeder Militärbasis in den USA und auf jedem Friedhof von Wien.
Gustav, der Trompeter der Truppe, hatte sich bereit erklärt, das Solo für die Verstorbene zu spielen. Neben seinem Instrumentenkoffer hatte der weißhaarige Mann noch ein kleineres Täschchen dabei.
»Ein alter Musikertrick«, erklärte er dem Bestatter, als er den fragenden Blick auf den Inhalt seines Mitbringsels bemerkte. »Der Speichel friert bei dieser Kälte sehr schnell ein. Da muss man mit Schnaps etwas nachhelfen, damit das nicht passiert«, sagte er und nahm einen kräftigen Schluck aus dem silbernen Flachmann.
Während die Trauergäste sich nach und nach versammelten, griff Gustav fast im Dreivierteltakt zu seinem »Schmieröl«. Als würde er jede und jeden Einzelnen begrüßen und auf Margarete anstoßen.
»Meinen Sie, es ist sehr gescheit, vor dem Spielen noch mehr zu trinken?«, versuchte der Bestatter die sich anbahnende Situation abzuwenden.
»Keine Sorge, uns Musiker haut so schnell nichts um«, war die lapidare Antwort darauf.
Nachdem die salbungsvollen Worte gesprochen (sie war immer für alle da) und alle Blumen abgelegt (hoch im Kurs diesmal die Aufschrift »Letzte musikalische Grüße«) worden waren, ging es für Margarete in ihrer schwarzen Urne Richtung Grab.
Als alle rundherum versammelt waren, holte Gustav tief Luft und brachte mit seinen schiefen Tönen beinahe den Schnee zum Schmelzen. Aus dem Silenzio wurde eine Symphonie des Grauens, die nicht nur in den geschulten Musikerohren schmerzte. Am Ende wünschten sich alle nur eines: SILENZIO! Ruhe.
Für die einen lebt ein verstorbener Mensch im Herzen weiter, andere haben gern auch etwas von ihm oder ihr in der Hand. In diesem Fall war es ein recht delikates Erinnerungsstück, das eine Witwe von ihrem Göttergatten ausgesucht hatte.
Die Frau Mitte vierzig, blondiertes Haar, pinke Lippen und eine Stimme wie Tina Turner zu ihren besten Zeiten, saß in dem kleinen Büro des Bestatters.
Ihr René sei nach kurzer, schwerer Krankheit im Spital verstorben, berichtete sie unter Tränen, die sie sich immer wieder mit bunten Taschentüchern wegwischte, die mit Mickey-Mäusen bedruckt waren.
Wie es das Protokoll vorsah, rief der Mitarbeiter im zuständigen Krankenhaus an. Es wäre nicht Österreich, würden nicht auch nach dem Tod jede Menge Formalitäten auf den Betroffenen beziehungsweise seine Hinterbliebenen warten.
Wie groß war René, wie schwer, hatte er infektiöse Krankheiten, et cetera. All das musste abgeklärt werden, bevor die offizielle Freigabe ausgestellt werden konnte, den Leichnam abholen zu lassen.
Als der Berater sich von der Spitalsmitarbeiterin am anderen Ende der Leitung verabschieden wollte, fiel ihm die trauernde Witwe ins Wort. »Halt! Bitte sagen Sie den Leuten im Spital, dass ich so gern das Piercing meines Mannes als Andenken hätte. Das sollen sie bitte aufheben, ich hole es mir dann ab.«
Wie gewünscht deponierte der Berater in seiner trockenen Art (die bei diesem Job wohl nötig war) diesen Wunsch und erntete kurz darauf einen lauten Lacher, der selbst durch den Hörer im ganzen Raum zu vernehmen war und die Kundin, die mittlerweile das dritte Taschentuch in den Händen hielt, zusammenzucken ließ.
»Das einzige Piercing, das unser Patient hier hat, ist auf seinem besten Stück. Bei der Bauart kann ich mir gut vorstellen, dass sie das gern als Erinnerung mit nach Hause nehmen will«, sagte die Kollegin von der Pathologie. Der Berater von der Bestattung presste seine Lippen fest aufeinander, um nicht laut loszulachen, schaffte es dennoch, ein hörbares Dankeschön hervorzubringen, und beendete das Telefonat.
»Das Piercing von Ihrem René wird selbstverständlich aufgehoben, wir werden veranlassen, dass Sie es bekommen«, sagte er zu seiner Kundin, über deren Gesicht ein sanftes Lächeln und so etwas wie Erleichterung zog.
Die Erinnerungen an einen verstorbenen Menschen sind eben nicht nur im Herzen, sondern auch im Kopf abgespeichert. Und damit diese Bilder nicht gänzlich erlöschen, hilft zumindest dieser Frau seither ein kleiner (oder eben nicht so kleiner), silberner Ring, den sie jetzt als Anhänger an ihrer Halskette trägt. Also doch irgendwie im oder am Herzen.
Ein giftgrüner Duftbaum der Sorte »Caipirinha« baumelte im Fahrtwind wild vom Rückspiegel. Schon in seiner Zeit als Taxifahrer hatte Günter diesen bunten »Frischekick« immer mit an Bord gehabt. Der Geruch entführte ihn gedanklich an seinen Lieblingsurlaubsort in die Dominikanische Republik und der Wunderbaum war ein willkommener Startschuss für Smalltalk mit seinen Fahrgästen gewesen. (Trinken Sie gern Caipirinha?)
Sein heutiger Passagier war nicht sonderlich gesprächig. Denn er lag waagrecht im Laderaum des Leichenwagens, mit dem Günter und sein Kollege auf großer, letzter Fahrt unterwegs waren.
Seit er vor zehn Jahren bei der Bestattung angefangen hatte, war es noch nie nötig gewesen, einen Verstorbenen so weit zu transportieren. 1.200 Kilometer waren es bis zum Ziel in Süditalien. Damit Günter und sein Kollege vor lauter Müdigkeit keinen Unfall bauen und sich gleich zu ihrem schweigsamen Mitfahrer dazulegen konnten, wurde vom Disponenten eine Übernachtung eingeplant.
Vor der kleinen Pension in Turin parkten die beiden den auf Hochglanz polierten, schwarzen Wagen und gönnten sich eine Familienpizza und danach ein Tiramisu. Dolce Vita darf auch im Sterbebusiness nicht fehlen.
Doch die süßen, italienischen Träume wurden am nächsten Morgen blitzschnell zu Albträumen. Als Günter und sein Kollege nach einem kargen Frühstück (»das können die hier nicht«) ihre Tour fortsetzen wollten, trauten sie ihren Augen nicht.
Der Wagen war weg. Wie vom Erdboden verschluckt.
Sie gingen mehrmals ums Haus, doch da war nichts. Die Limousine und sein schweigsamer Fahrgast waren verschwunden, gestohlen worden. Günter merkte, dass der Angstschweiß langsam, aber sicher aus seinem Schnauzbart perlte. Mit ihrem dürftigen Italienisch versuchten die beiden, dem Besitzer der Pension die Lage zu schildern.
»Auto futscho. Großes Problemo.«
Die verständigten Polizisten teilten die Panik der Wiener Bestatter nicht. Ruhig und gelassen telefonierten sie lautstark vor sich hin und waren sichtlich amüsiert über den ungewöhnlichen Diebstahl.
Nach vier Stunden (die Günter vorgekommen waren wie vier Tage) meldete sich schließlich ein Mitarbeiter des örtlichen Friedhofs. Die Unbekannten hatten offenbar schnell bemerkt, was sie da im Laderaum transportierten, und das Diebesgut wohl aus schlechtem Gewissen gleich zu seinem Bestimmungsort gebracht. Wenn auch nicht zu dem Richtigen. Autoradio samt CD-Player (und Günters Lieblingsscheibe von Helene Fischer) waren weg und ein Fensterglas ausgebaut. Der Gast im Laderaum aber war nicht davongelaufen. Und auch der Wunderbaum hing am Rückspiegel. Glück im Unglück.
Monika hatte ihren Mann Karl-Heinz schon oft umfallen gesehen. Einmal sogar aus Angst vor einer großen Spinne. Ein anderes Mal war es die Hitze bei einem Thailand-Urlaub gewesen, und unzählige Male der Umstand, dass der »Kortschi« wieder einmal zu tief ins Glas geschaut hatte. Gelegenheiten dazu boten sich dem leidenschaftlichen Wirt genügend, er saß schließlich direkt an der Quelle. Oder besser gesagt am Zapfhahn.
Über vierzig Jahre lang hatten Moni und Kortschi ihr Beisl in einem Vorstadtbezirk geführt. Die Tische waren fast immer voll gewesen. Die Gäste auch. Moni hatte sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, sie trank nie besonders viel. Um 22 Uhr machte sie sich meist auf den Weg nach Hause, während für Karl-Heinz der Abend da erst richtig begonnen hatte. Auch in jener Nacht. Doch der Anfang war für ihn diesmal auch das Ende gewesen.
Während er gerade einen seiner schlüpfrigen Witze erzählt hatte (er kannte genau fünf, für jeden Werktag einen), schmerzte es ihn in der Brust. Kaum fasste er sich an sein Herz, hörte dieses auch schon auf zu schlagen. Die zwei Packungen Zigaretten und zwei Flaschen Wein pro Tag hatten ihre Rechnung präsentiert.
Monika merkte erst in der Früh, dass ihr Kortschi nicht wie sonst schnarchend neben ihr lag. Sie hatte ihr Handy ausgeschaltet und deshalb keinen der zahlreichen Anrufe der betrunkenen Stammgäste gehört.
Am Tag des Begräbnisses waren die Stammgäste vollzählig angetreten. Moni hatte für den Beginn absichtlich neun Uhr gewählt, damit sich die Promillegrenze der Trauernden im überschaubaren Rahmen halten würde.
Es war ein kalter Wintertag, die Wege am Friedhof vereist und rutschig. Zum Aufwärmen hatte Richie eine Flasche Grappa und fünfzig kleine Plastikbecher mitgenommen. Er kannte Kortschi am längsten und wollte stilecht noch einmal auf seinen alten Freund anstoßen. So stand die ganze Trauergemeinschaft Spalier für den Urnenträger, der die Überreste des Wirtes in Richtung Grab trug. Obwohl der junge Mann der einzige (neben Monika) war, der keinen Schluck Grappa trank, kam er plötzlich ins Wanken. Der sportliche Bestattungsmitarbeiter versuchte noch, das Gleichgewicht wiederzufinden, doch die Eisplatte unter seinen Füßen war zu glatt gewesen. Er machte fast einen doppelten Rittberger (Katharina Witt wäre neidisch geworden), die Urne samt Kortschi rutschte ihm aus der Hand und landete mit einem lauten Knall am Boden. Die Asche verteilte sich daraufhin dort, wo der Winterdienst offenbar vergessen hatte, zu streuen. Wie aus einem Reflex heraus versuchte Witwe Monika, die ihren Mann also noch einmal hatte fallen sehen, den Staub mit ihren bloßen Händen einzusammeln. Ihr Schwiegersohn meinte daraufhin nur lapidar: »Los des, sonst zahst eam wieder ham.«