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Wenn das nicht die Chance aufs Abenteuer seines Lebens ist! Mitten in der Nacht fliegt Jasper mit einer Drohne übers Meer, denn zu Hause fühlt er sich im Stich gelassen. So landet er auf der Insel der Schlasocks. Schnarnas und Trütass gibt es dort auch. Aber was sind das nur für seltsame Monster, die nicht wissen, was ein Kind so macht? Kann Jasper das Rätsel dieses geheimnsivollen Ortes knacken? Mit viel Fantasie und Witz und einer gehörigen Portion Mut schafft er es, diesen monströs müden Haufen aufzumischen und Freundschaften zu schließen. Doch dann gerät plötzlich die ganze Insel in größte Gefahr. Wenn überhaupt noch etwas hilft, dann die Hoffnung, dass sie alle gemeinsam anpacken ...
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eine ungeheuerliche Reise
Wenn das nicht die Chance zum Abenteuer seines Lebens ist! Mitten in der Nacht fliegt Jasper mit einer Drohne übers Meer, denn zu Hause fühlt er sich im Stich gelassen. So landet er auf der Insel der Schlasocks. Schnarnas und Trütass gibt es dort auch. Alles ungeheuerliche Nichtstuer! Mit einer gehörigen Portion Fantasie, Witz und Mut schafft es Jasper, diesen monströs müden Haufen aufzumischen und Freundschaften zu schließen. Doch dann gerät plötzlich die ganze Insel in größte Gefahr. Knackt Jasper das Rätsel dieses geheimnisvollen Ortes? Und werden sie sich gemeinsam retten können?
Wo die gar nicht so wilden Schlasocks wohnen, sind die verrücktesten Überraschungen nicht weit!
Eine Geschichte von James-Krüss-Preis-Gewinner Nils Mohl
Meisterlich illustriert von Michael Roher
Nils Mohl
Mit Illustrationen von Michael Roher
… und der Aufbruch mit Halb-halb-Gekribbel ins wohl spannendste Abenteuer seines bisherigen Lebens
Hoch, hoch oben und ganz allein reist Jasper über das Meer der Langeweile. Ob es früher mal auf Weltkarten verzeichnet war? Jasper hat es geprüft: In seinem Atlas lässt es sich nicht finden. Dabei handelt es sich um ein spektakulär schönes Meer.
Dieses Blau!
Bis zum Horizont.
Das Festland liegt inzwischen in weiter Ferne. Jasper schmeckt den Salzgeschmack auf den Lippen und spielt mit der Zungenspitze an seinem losen Wackelzahn, der schon ziemlich lose sitzt.
Über seinem Kopf drehen sich Rotoren. Jaspers Füße baumeln in der Luft. Ein Sicherheitsbügel wie in einer Achterbahn sorgt dafür, dass Jasper nicht hinabstürzen kann. Er klammert sich daran fest, während er nach unten schaut.
Obwohl es nicht viel zu sehen gibt. Nur Wasser, so weit das Auge reicht. Und einen offenen Schnürsenkel. Wild flattert er im Wind.
Das Fluggerät heißt Drohnatella.
Noch nie zuvor ist Jasper geflogen.
In keinem Flugzeug oder Hubschrauber.
Und schon gar nicht mit einer Passagierdrohne.
In der Hosentasche spürt er sein Schildkrötenfeuerzeug. Das ist gut. Er trägt auch einen kleinen Rucksack mit Proviant auf dem Rücken, doch mehr hat Jasper nicht mitgenommen bei seinem Aufbruch mitten in der Nacht.
Inzwischen klettert die Sonne weiter und weiter in die Höhe, und die letzten dünnen Wölkchen verflüchtigen sich am Himmel. Bis vor wenigen Stunden hätte Jasper sich nicht träumen lassen, so eine Reise zu erleben. Es kribbelt im Bauch. Ein Kribbeln von der Sorte halb-halb.
Halb freudige Neugierde.
Halb aber auch Mulmigkeit.
Wenn stimmt, was man ihm erzählt hat, lauern im Meer eine Menge Gefahren. Mörderische Haie, Seeschlangen und Feuerquallen. Jasper weiß auch von Strudeln, manchmal riesengroß, die einen in die Tiefe hinabziehen, sollte man in deren Sog geraten. Für die Rettung ist dann alles zu spät.
Darüber macht er sich allerdings gerade noch die wenigsten Sorgen.
Denn was hier passiert, hätte nie passieren sollen. Dieses Abenteuer war gar nicht für Jasper bestimmt, sondern für einen anderen Jungen. Außerdem kennt Jasper das Ziel überhaupt nicht: Drohnatella steuert sich selbst.
… wo nämlich der echte Anfang der Geschichte spielt (und sich auch klärt, wieso Jasper ins Unbekannte aufbricht)
In den verwilderten Gärten flattern erschrocken ein paar Vögel auf, als Jasper durch die enge Nebenstraße nach Hause flitzt. Üppig wuchert das Gestrüpp auf den verlassenen Grundstücken, selbst durch den Asphalt haben sich inzwischen überall Gräser und Pflanzen gebohrt.
Jasper hüpft über ein paar Pfützen, biegt ab und nimmt dann schnell die beiden Stufen hoch zum letzten bewohnten Haus der Siedlung.
Der Rucksack landet drinnen gleich an der Garderobe im Flur.
Ab in die Küche.
Der Kühlschrank springt beim Öffnen rumpelnd an, und darin herrscht erschreckende Leere, aber zum Glück ist das Licht sowieso kaputt. Im Eisfach liegt allerdings noch dies eine rote Wasserlutscheis. Das hat Jasper sich für heute aufgespart: Hinter das Schuljahr kann ein Haken, die Ferien beginnen, die nächsten Wochen sind frei.
Für seine ältere Schwester Bonnie leider nicht. Und sie macht auch kein großes Geheimnis daraus, dass ihr der Stress langsam über den Kopf wächst: »Manchmal frage ich mich wirklich, wie es mit allem weitergehen soll«, sagt sie. Sie zählt das letzte Kleingeld am Tisch und guckt sich in der Küche um, als könnten die vergilbten Tapeten an der Wand ihr eine Antwort geben.
»Warum rufst du Paul nicht an?«, fragt Jasper.
»Wir sind sauer aufeinander«, sagt Bonnie.
Sie sieht so dünn aus. Also stellt er sich an den Herd, während er das letzte Stück Lutscheis zwischen den Zähnen zerbeißt und sie zum Duschen im Bad verschwindet. Ein großer Koch ist Jasper allerdings nicht.
Als Bonnie später mit nassen Haaren am Tisch sitzt, stochert sie nur in den Spiegeleiern, die er ihr vorsetzt. Sie waren zu lange in der Pfanne. Sie sind nicht nur am Rand schwarz, sondern auf der ganzen Unterseite. »Ich bin auf Spezialdiät«, sagt sie entschuldigend.
Jasper nickt: »Ich verstehe. Kein verkohltes Essen. Aber Diät heißt ja nicht, dass man gar nichts isst. Ich versuch’s noch mal. Lust auf Ei, Teil zwei?«
»Immer schlagfertig wie ein Schneebesen, dieser junge Küchenchef«, sagt Bonnie, »aber danke, ich mag gerade gar nichts.«
»Kannst du wenigstens einen Toast mit Honig essen? Nur für mich. Sonst musst du demnächst noch mit Schwimmweste duschen, wenn du nicht eines Tages mit dem strudelnden Wasser im Abfluss verschwinden willst.«
Ihr Blick sagt: Ach, Jasper, du bist doch nur ein Kind.
Jasper weiß: Er ist nur ein Kind.
Er holt die Packung mit dem Toast und das Honigglas. Fast leer. Beides.
Jasper seufzt. Und kurz darauf gleich noch einmal. Denn Bonnie sitzt nicht mehr am Tisch, als die Brotscheibe aus dem Toaster hüpft. Bonnie liegt auf dem abgeschabten Ledersofa. Kopfschmerzen. Er lässt die Jalousie ein Stück herunter.
Vom Fenster aus sieht er die anderen Hütten der Siedlung. Schief und halb zerfallen. Bald werden sie abgerissen. Jede einzelne bis hinauf zur alten Mühle. Der graue Ort soll schöner werden.
»Willst du nicht raus, ein bisschen spielen?«, fragt Bonnie. »Und sag jetzt nicht, es ist niemand zu sehen.« Sie murmelt es ins Sofakissen.
»Es ist niemand zu sehen«, sagt er.
Er geht trotzdem raus, nachdem er ihr ein Glas Wasser und eine Tablette gebracht hat. Sie schenkt ihm dafür einen Pustekuss zum Abschied.
Jasper schlendert durch die Siedlung runter an den Kanal, lässt ein paar Steine übers Wasser ditschen, stöbert anschließend eine Weile auf den verlassenen Grundstücken herum. Er kennt die Löcher in den Zäunen. Mag es, durch die meterhohen Gräser zu laufen. Sie kitzeln an den nackten Armen, riechen nach Sommer.
Brennnesseln und Disteln umkurvt er. Klettert schließlich auf einen Baum und hangelt sich rüber auf das Dach einer Garage. Er streckt sich dort oben lang aus. Spielt mit der Zunge an seinem wackligen Milchzahn herum. Und tagträumt. Umschwirrt von Bienen und Hummeln.
Wie viele Insekten wären stark genug, eine Hütte mit Garage in die Luft zu heben? Er stellt sich das vor: die summende, vibrierende Wolke. Wie sie die rissige Fassade umhüllt, um schließlich samt dem kompletten Gebäude in den Himmel aufzusteigen. Der leere Platz, der zurückbleibt. Die Ameisen und Asseln am Boden, die verdutzt nach oben schauen. Völlig erstaunt, wo das ganze Tageslicht auf einmal herkommt.
Jasper hangelt sich über die Dachrinne zurück nach unten, begibt sich auf die Suche nach Schätzen. Einmal hat er dieses Feuerzeug in Form einer kleinen Schildkröte gefunden. Er trägt es seither immer in der Hosentasche bei sich. Eine andere großartige Entdeckung war eine sehr laute Eieruhr. Und der vermutlich wertvollste Fund ein echter Silberring. Der ist dann ein Weihnachtsgeschenk für Bonnie geworden.
Jasper hat eine Menge schönen Schnickschnack zusammengetragen im Laufe der Zeit. Allerdings war er in den verwilderten Gärten inzwischen schon so oft auf Schatzsuche, dass kaum noch spektakuläre Beute winkt. Wenn er Glück hat, findet er ein paar neue Kronkorken für seine Sammlung und ein paar Pfandflaschen.
Er hat heute Glück. Jasper findet tatsächlich beides. Seine Ausbeute ist an diesem Tag so gut, dass das Pfandgeld am Ende für eine Packung Nüsse im Supermarkt reicht.
Auf dem Rückweg über die löchrige Straße sieht Jasper, dass an der Treppe zum Mühlenhügel ein glitzerndes Auto parkt. Fast doppelt so groß wie die üblichen Klapperkisten, die früher vor den alten Hütten standen, bevor die Bewohner das Weite gesucht haben.
Jasper sieht einen Mann mit Goldknopf-Jacke und eine Frau im Sommerkleid. Von der Frisur bis zu den Schuhen wirkt alles an ihnen ganz enorm elegant. Allerdings machen sie auch einen ganz enorm genervten Eindruck. Sie stehen vor der geöffneten Hintertür des Wagens. Neben ihnen parkt ein bunt karierter Trolley. Sie warten offensichtlich darauf, dass sich jemand von der Rückbank nach draußen bewegt. Aber es passiert nichts.
Jasper kennt die beiden und winkt.
Jasper weiß auch, wer auf der Rückbank sitzt.
Doch niemand winkt zurück. Nicht die beiden Erwachsenen. Auch nicht der Junge, auf den sie einreden.
»Das ist so peinlich«, giftet die enorm elegante Frau ins Innere des Wagens, »wenn du keinen Bock hast hierzubleiben, hättest du dir das vielleicht vorher überlegen sollen.«
»Tja«, ergänzt der enorm elegante Mann, »auf das Waldcamp hattest du keinen Bock, die Kanutour war dir zu anstrengend, die Sprachreise zu öde. Da kannst du jetzt die Arme verschränken, so viel du willst, du wusstest, worauf das hinausläuft. Zack, jetzt schwing den Hintern mal flott da raus, Sportsfreund.«
Auf der Rückbank tut sich nichts. Eine Stille wie kurz vor dem ersten Blitz und Donner eines Gewitters. Jasper hört auf zu winken. Es gibt genug Neuigkeiten, mit denen er Bonnie überraschen kann.
Gleich beim Öffnen der Haustür hat Jasper das Gefühl, ganz andere Räume zu betreten. Er kann sofort die veränderte Atmosphäre spüren.
Musik!
Wenn das Radio läuft und den tropfenden Wasserhahn übertönt, ist das sowieso immer ein gutes Zeichen. Und wenn Bonnie tanzt, scheint die ganze Wohnung in ein anderes Licht getaucht, in dem selbst der Staub fröhlich mitzutanzen scheint. Die Kopfschmerztablette hat offenbar gewirkt.
»Bin ich froh, dass es dir besser geht«, sagt Jasper.
Bonnie nickt: »Ein kleiner Tanz, junger Mann?« Sie verneigt sich, streckt die Hand aus.
Natürlich macht er mit. Er stellt die Packung Nüsse auf dem Tisch ab. Und während sie über den knarzenden Boden wirbeln und sich drehen wie in einem Karussell, vermeldet Jasper nebenbei, dass Ferienbesuch an der Mühle angekommen ist: »Honz verbringt die Ferien wieder hier!«
»Oha. Wer hätte das gedacht«, staunt Bonnie, »sein armer Großvater.«
»Ach«, sagt Jasper, »die Eiche wird sich schon was einfallen lassen.«
»Stimmt auch wieder. So schnell bekommt den Alten keiner klein. Die Eiche heißt schließlich nicht zufällig die Eiche.«
»Leicht wird es allerdings nicht.« Jasper verdreht die Augen: »Honz wollte nicht mal aus dem Auto aussteigen.«
Bonnie lacht. »Dieses Kind. Weißt du noch letztes Jahr?« Sie ist stehen geblieben und hält sich die Seite, so muss sie lachen.
Ihre Wangen glühen. Jaspers Wangen aber auch. Das spürt er. »Das ist doch nicht normal, Honz!«, sagt er mit verstellter Stimme. Er spannt alle Muskeln im Körper an, stapft umher, wie die Eiche das gerne tut. »Antriebslos wie so ein leeres Schneckenhaus!«, schimpft er weiter. Kneift die Augenbrauen zusammen, als wäre er höchstpersönlich der baumlange Mann mit der immer sonnengebräunten Vollglatze und dem weißen Bart: »Hängst herum wie Teebeutel in einer leeren Kanne! Was ist bloß los mit euch jungem Volk?!«
Bonnie stimmt ein: »Meine Güte! Träger als der Tränensack eines tranigen Tattergreises! Muss man auch erst mal schaffen. Als wenn es nicht genügt, dass die meisten Erwachsenen so sind. Na, herzlichen Glückwunsch. Weißt du, was du bist, Honz? Du bist ein lahmer Lutscher!«
Jasper und Bonnie lachen sich Bauchschmerzen.
Sie haben es genau vor Augen, wie der Alte und sein Enkel sich in die Haare bekommen haben. Am Anfang der Ferien hat Honz alle seine elektronischen Geräte abgeben müssen. Jeden Tag hat er sie zurückverlangt. Und ist schließlich in Streik getreten.
Bonnie sagt: »Honz ist aber manchmal auch eine Nummer. Wie schade. Früher habt ihr so toll miteinander gespielt.«
Jasper erinnert sich: »Das Jahr mit der Waldhöhle war super! Und das Jahr, als wir die Eiche im Tauziehen geschlagen haben. Zu zehnt.«
»Und mit meiner Hilfe«, sagt Bonnie. Sie ballt die Faust und hebt das dünne Ärmchen wie ein angeberischer Boxer.
Jaspers Augen leuchten: »Das war stark.«
»Wir waren stark.« Sie streicht ihm über den Kopf. »Und mal sehen, was dieser Sommer so bringt. Auch ohne Tauziehen. Die Eiche ist ja immer für eine Überraschung gut. Und wer weiß, wer weiß, vielleicht lässt sich auch mit Honz wieder mehr anfangen.«
»Hm. Glaubst du? Schön wär’s. Vorhin war mal wieder niemand draußen. Die meisten anderen Kinder sind verreist.«
Bonnie nickt und schaut traurig: »Oder hängen an den Geräten. Schlaffe Socken, trübe Tassen alles«, sagt sie.
»Schnarchnasen«, sagt Jasper.
»Okay, lass mal gucken, ob seine Eltern den sturen lahmen Lutscher Honz inzwischen aus dem Auto gezerrt haben.«
Sie gehen ans Fenster. Schauen zunächst raus. Und dann schauen sie sich an. Es kostet Beherrschung, nicht gleich wieder loszuprusten.
Die offene Wagentür. Der karierte Trolley auf dem Fußweg. Alles noch wie vorhin. Nur der enorm elegante Mann und die enorm elegante Frau haben ihre Position aufgegeben.
Die Eltern von Honz sitzen jetzt auf der Holztreppe zum Mühlenhügel und rühren in Kaffeetassen. Vermutlich hat die Eiche ihnen das heiße Getränk serviert. Und Kuchen zur Stärkung. Von ihm selbst sind allerdings nur die Spitzen seiner schwarzen Holzclogs zu sehen. Der Rest wird von den üppigen Hagebuttensträuchern am Hang verdeckt.
Ob die Eiche wohl schmunzelt oder eher grollt?, fragt sich Jasper still. Laut sagt er: »Honz sitzt noch im Auto.«
»Dagegen ist es mit dir ja echt das reinste Kinderspiel.« Bonnie lächelt.
Und weil die Lage auf der Straße vorläufig unverändert bleibt, verlieren sie bald die Lust am Beobachten. Jasper überredet seine Schwester dafür zu einem Spiel. Sie hocken im Schneidersitz am Boden. Jasper sucht aus seiner Flaschendeckelsammlung 24 Paare zusammen.
»Zeit für Kronkorken-Memory«, sagt er.
»Eine Runde«, sagt Bonnie.
»Zwei, wenn ich die erste gewinne.« Jasper hält ihr die Hand hin. »Und für jedes gefundene Pärchen gibt es zwei Nüsse als Belohnung. Abgemacht?«
Bonnie schlägt ein.
Sie ist ziemlich gut in dem Spiel. Jasper allerdings noch einen Tick besser. Besonders bei Runde zwei.
»Okay, Revanche«, fordert Bonnie. Und während sie die Kronkorken für Runde drei mischen und neu verteilen, sagt sie dann: »Ich habe mir etwas überlegt. Es kann so einfach nicht weitergehen. Ich werde das Rad verkaufen.«
»Was?!« Jasper pustet sich die langen Ponyfransen aus der Stirn.
»Morgen, nachdem ich dir die Haare geschnitten habe, fahre ich in die Stadt. Ich habe sowieso wieder die Spätschicht. Ich breche einfach früher auf und versuche mein Glück.«
Sie hat einen Job als Nachtwächterin in einem Kaufhaus. Drei Rundgänge muss sie durch die Etagen machen. Es passiert nie etwas. Und sie kann während der Arbeit ihre Geschichten aufschreiben.
»Nein, nicht auch noch das Rad«, sagt Jasper.
Bonnie schiebt die Kronkorken zu einem Haufen zusammen: »Wir können das Geld wirklich gebrauchen«, sagt sie, »ich muss ja nebenher auch noch mein Studium fertig bekommen. Und wenn ich einen guten Preis raushandeln kann für das Rad, gehen wir auch einmal ins Kino. Versprochen.«
Jasper verschränkt die Arme vor der Brust: »Geld für dies, Geld für das. Wer hat sich das nur ausgedacht?«
Bonnie tut überrascht. »Ach, das warst nicht du?«
»Haha.« Jasper kneift den Mund zusammen, verschränkt die Arme: »Ich weiß, ich weiß. Wir sind arm und ich bin nur ein Kind.«
Bonnie sagt nichts dazu. Widerspricht nicht. Natürlich nicht.
Als sie das große Auto der enorm eleganten Eltern von Honz endlich mit enorm unelegant quietschenden Reifen wegfahren hören, ist die Sonne längst untergegangen. Nach dem Zähneputzen schaut Jasper noch einmal durch die Jalousie: Auf dem Hügel scheint alles ruhig zu sein. Der Mond hängt wie ein Guckloch in einem Zaun am Nachthimmel über der Mühle. Friedlicher geht’s fast nicht. Eine Sternschnuppe könnte vielleicht noch fallen.
In der nächsten halben Minute fällt keine. Jasper schlüpft unter die Decke, rollt sich fest in den Stoff ein, legt sich auf die Seite, zieht die Beine an.
Am Boden liegen seine Socken, umgestülpt, jede Socke eine Mischung aus verrenktem Wurm und missglücktem Knetkunstwerk. Als Jasper kleiner war und seine Eltern abends vorm Fernseher saßen, hat Bonnie sich diese Sockenbällchen manchmal geschnappt und in sprechende Handpuppen verwandelt. Lili Links und Rex Rechtsfuß hießen die. Jasper hat sie so getauft. Und Lili Links und Rex Rechtsfuß haben mit lustigen Stimmen Witze erzählt, gestritten und schief gesungen, sie haben sich angerülpst und abgeknutscht und unter großem Protest auch Jasper einmal dicke Schmatzer verpasst. Immer abwechselnd.
Bei dem Gedanken zieht Jasper die Bettdecke noch enger um seinen Körper. Er wünschte, Bonnie würde bei ihm sein. Aber sie sitzt draußen vor der Hütte auf den Stufen. Mit Paul. Jasper mag Bonnies Freund eigentlich, trotzdem hätte er sie manchmal lieber wieder ganz für sich allein. Gerade jetzt.
Die beiden flüstern, damit Jasper nichts hört.
Jasper hat allerdings gute Ohren. In Sachen Belauschung vom Bett aus macht ihm so schnell keiner was vor.
»Ich kann nicht mit dir in die Stadt ziehen. Einfach so. Nicht ohne Jasper. Wie hast du dir das gedacht?«, flüstert Bonnie.
Jasper sieht es vor sich, wie Paul mit den Schultern zuckt.
»Wir lassen uns was einfallen«, flüstert Paul zurück.
»Eine gute Antwort wäre gewesen: Wir nehmen ihn mit.«
»Klar. Die Wohnung ist aber zu eng für drei.«
Pause.
»Dann geht es eben nicht«, entscheidet Bonnie.
»Müsst ihr hier nicht sowieso in ein paar Monaten raus?«, fragt Paul. »Und dann? Was passiert dann? Was willst du nach dem Fahrrad verkaufen? Entschuldigung, ich will nicht, dass wir uns schon wieder streiten.« Paul stöhnt. »Ich möchte helfen. Ich mache mir Sorgen. Große Sorgen.«
»Ich habe mir das alles auch nicht so ausgesucht.«
Paul stöhnt noch einmal: »Natürlich kannst du nichts dafür, dass ihr ohne Eltern auskommen müsst. Das ändert nur leider nichts daran, dass deine Kräfte auf Dauer auch nicht für alles reichen.«
Lange, lange Pause.
Bonnie sagt: »Ich glaube ja, eines Tages schwimmt ein Blauwal in den Kanal. Wusstest du das, Paul? Das Tier hat ein Lungenvolumen von 3.000 Litern. Und jetzt schnalze mit der Zunge: Damit füllt er 750 Luftballons mit einem Atemzug. Mit diesen Ballons könnten wir davonfliegen und schauen, wohin uns der Wind trägt. Ist das nicht die Lösung?«
»Gute Idee. Wir müssen nur hoffen, dass es der Heliumwal ist, der kommt.«
Der eingerollte Jasper ertappt sich beim Lächeln. Und kurz darauf ertappt er sich dabei, wie das Lächeln schlagartig aufhört: »Ich fahre morgen in die Stadt«, sagt Bonnie, »und ich kann mir das Internat ja zumindest mal angucken. Bis meine Geschichten zu Büchern werden, sind wir am Ende sonst wirklich noch verhungert.«
»Ich will dir nichts einreden«, sagt Paul, und Jasper hört die Erleichterung in Pauls Stimme, »aber es könnte wirklich ein Glück für deinen Bruder sein. Er ist klug. Gute Schüler haben die Chance, dort umsonst zu wohnen. Und in den Ferien kommt er uns besuchen.«
Jasper wagt nicht, sich zu rühren. In seinen Ohren rauscht es. Er liegt einfach unbeweglich auf seiner Matratze und hat die Augen fest zugekniffen. Und auch als er die Augen später langsam wieder öffnet, kann er kaum etwas sehen. Angestrengt lauscht er ins Dunkel.
Er spürt es. Er ist nicht allein im Raum. Bonnie und Paul sind vor einiger Zeit runter an den Kanal gegangen, erinnert er sich. Hand in Hand, da ist er sich ziemlich sicher. Sie haben bestimmt vergessen, die Tür abzuschließen. Leichtes Spiel für jedes Monster.
Jasper hält den Atem an. Vielleicht übersehen sie ihn?
Er könnte die Monster nicht beschreiben. Er erkennt nur Umrisse. Groß sind sie, die Schattenwesen, größer als Paul, größer sogar als die Eiche, schätzt er, und sie haben farbige, leuchtende Pupillen. Sie wollen ihn entführen, das weiß er. Und sie werden nicht aufhören, nach ihm zu suchen. Sie werden die Hütte nicht verlassen, ehe sie ihn gefunden haben. Und sie haben die Witterung aufgenommen. Kommen näher …
Und näher.
Noch näher.
Also will Jasper sich, bevor sie nach ihm greifen können, aus seiner Bettdecke befreien. Vielleicht kann er sie überraschen und fliehen. Schnell und mit einem Ruck rollt er sich zur Seite. Und wird wach, als er von der Matratze auf den Boden plumpst. Zum Glück haben sie das Bettgestell schon letzten Monat verkauft.
Die Haare stehen Jasper nach der Nacht wild zu Berge, als er am Morgen ungewöhnlich still am Küchentisch hockt.
Bonnie erzählt er selten etwas von den Träumen.
Aber wahrscheinlich ist es verdächtig, dass er nur im Pampf-Frühstück stochert, obwohl es mit Abstand seine Leibspeise ist. Zwieback, gemuste Banane, geriebener Apfel, garniert mit etwas Puderzucker. Er lässt die Hälfte stehen, als Bonnie ihn ins Bad ruft.
Er klettert auf das Brett, das sie über die Lehnen des Drehstuhls gelegt hat. Eins von Jaspers Fundstücken: Der Stuhl mit der zerschlissenen Sitzfläche stammt von den verlassenen Grundstücken nebenan.
Jasper hat ihn Bonnie geschenkt.
Sie hat vorher immer auf der Couch gelegen, um ihre Geschichten aufzuschreiben. Jetzt schiebt sie jeden Morgen den Stuhl an die Fensterbank und schreibt dort.
Und alle drei Wochen kommt eben ein Brett auf die Lehnen, und dann stutzt Bonnie ihm die Haare.
Wie heute.
Bonnie summt ein Lied, während sie ihm die Ohren freischneidet und vorne die Spitzen kürzt. Dann sagt sie plötzlich: »Du hast wieder Albträume gehabt.«
Es ist keine Frage. Sie weiß es einfach immer. Und Bonnie deshalb anzuschwindeln, gelingt Jasper fast nie.
»Nein«, sagt er trotzdem und fühlt, wie er rot geworden ist. »Zumindest keine schlimmen.«
»Doch hast du.«
Jaspers Unterlippe beginnt ein bisschen zu zittern. Er zuckt mit den Schultern: »Bin ich verrückt?«
Sie lässt die Schere ein paarmal auf- und wieder zuschnappen. »Du hast viel Fantasie. Verrückt wäre, nicht wild zu träumen.«
»Aber es ist nicht schön, sich zu fürchten«, sagt Jasper, »ich frage mich im Traum manchmal, ob ich träume, aber weiß es nicht. Wenn alles so echt wirkt, ist es besonders gruselig.«
Bonnie schnippelt eine Franse im Nacken weg. Eine kitzelige Stelle. Jasper schüttelt es einmal kurz. »Pass auf«, sagt Bonnie, »wenn du träumst, aber du dir nicht sicher bist, ob du träumst, gibt es einen Trick.«
»Ich weiß. Mich kneifen«, sagt Jasper.
»Nein … Du musst etwas malen. Mal etwas im Traum. Auf Papier. Oder zur Not auf den Boden. Präg dir gut ein, was du gemalt hast. Dann dreh dich weg. Und schau wieder hin. Hat sich das Bild verändert, dann träumst du.«
»Das klingt wirklich verrückt«, sagt Jasper.
»Probier’s aus«, sagt Bonnie, »Bilder kann man im Traum nur einmal sehen.«
»Warum ist das so?«
»Keine Ahnung. Spielt ja auch keine Rolle. Wenn du weißt, dass du träumst, brauchst du jedenfalls keine Angst mehr zu haben. Wenn du weißt, dass du träumst, dann kannst du aufwachen und alles ist gut.«
Sie hält Jasper den Spiegel vor die Nase. »Sahen so die Monster in deinen Träumen aus?«
»Haha.«
»Wächst alles wieder!«