Die Jaguargöttin - Katja Brandis - E-Book

Die Jaguargöttin E-Book

Katja Brandis

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Beschreibung

Gestaltwandler-Fantasy vor atemberaubender Kulisse von Bestseller-Autorin Katja Brandis Im Dschungelkönigreich Elámon werden Gestaltwandler wie Gottheiten verehrt. Eine von ihnen ist die junge Jaguar-Wandlerin Kitana, die mit ihrer Familie ein sorgloses Leben im Tempel führt. Bis zu dem Tag, als eine Intrige des Ersten Priesters Kitanas heile Welt zerstört und sie zwingt, in den undurchdringlichen Urwald zu fliehen. Dort sucht sie Hilfe bei einem Clan von Panther-Wandlern, der zurückgezogen im Dschungel lebt und sowohl den Jaguargöttern als auch den Menschen misstrauisch gegenübersteht. Als Kitana den wilden, unberechenbaren Pantherjungen Ecco trifft, ändert sich alles für sie … Das neue Fantasy-Highlight von Katja Brandis, der Bestseller-Autorin der "Woodwalkers"- und "Seawalkers"-Reihen. Ein episches und emotionales Gestaltwandler-Abenteuer vor atemberaubender Regenwaldkulisse. Gedruckt auf Recycling-Umweltschutzpapier, zertifiziert mit dem "Blauen Engel". Weitere Jugendbücher von Katja Brandis im Arena Verlag: Khyona (1). Im Bann des Silberfalken Khyona (2). Die Macht der Eisdrachen Gepardensommer Koalaträume Delfin Team

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Seitenzahl: 630

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Weitere Bücher von Katja Brandis im Arena VerlagKhyona (1). Im Bann des SilberfalkenKhyona (2). Die Macht der Eisdrachen

Gepardensommer

Koalaträume

Delfinteam

Woodwalkers (1). Carags Verwandlung

Woodwalkers (2). Gefährliche Freundschaft

Woodwalkers (3). Hollys Geheimnis

Woodwalkers (4). Fremde Wildnis

Woodwalkers (5). Feindliche Spuren

Woodwalkers (6). Tag der Rache

Woodwalkers & Friends (1). Katzige Gefährten

Woodwalkers & Friends (2). Zwölf Geheimnisse

Seawalkers (1). Gefährliche Gestalten

Seawalkers (2). Rettung für Shari

Seawalkers (3). Wilde Wellen

Seawalkers (4). Ein Riese des Meeres

Seawalkers (5). Filmstars unter Wasser

Seawalkers (6). Im Visier der Python

Katja Brandis, Jahrgang 1970, hat Amerikanistik, Anglistik und Germanistik studiert und als Journalistin gearbeitet. Inzwischen hat sie zahlreiche Romane für Jugendliche veröffentlicht, zum Beispiel Khyona, Gepardensommer, Ruf der Tiefe oder White Zone. Ihre Fantasy-Reihen Woodwalkers und Seawalkers (ab 10 Jahren) sind regelmäßig auf den oberen Plätzen der Bestsellerlisten zu finden. Wichtig ist ihr, sich für Naturschutz und besonders die Bewahrung des Regenwaldes einzusetzen – das fließt oft in ihre Romane ein. Katja Brandis lebt mit Mann, Sohn und drei Katzen in der Nähe von München. www.woodwalkers.de | www.katja-brandis.de Youtube: Katja Brandis

Lagepläne vonElámon am Ende desBuches

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2022

© 2022 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieAutoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

Umschlagillustration und Innenvignetten: Claudia CarlsUmschlaggestaltung: Juliane LindemannLagepläne: Katja Brandis

E-Book ISBN 978-3-401-80999-1

Besuche den Arena Verlag im Netz:www.arena-verlag.de

Für Frank,den Meister der Worte

Vor tausend Jahren oder sogar mehr. In einem weit entfernten Land, das heute Yucatán genannt wird …

Prolog

Eigentlich jagte er lieber bei Nacht, wenn sein schwarzes Fell ihn tarnte. Dann bemerkten die Capybaras – die Wasserschweine – ihn zu spät und Momente danach spürte er ihr heißes Blut auf der Zunge. Doch diesmal hatte er keine Capybaras gefunden und musste bei Tageslicht weiter umherstreifen.

Dabei kam er den Siedlungen der Menschen näher, als er eigentlich wollte, und ihren Pfaden aus festgestampfter Erde, die durch den Wald führten. Noch vorsichtiger als sonst glitt er von einem Schatten zum nächsten, achtete darauf, dass niemand ihn sah. Bevor er umkehrte, bemerkte er etwas Seltsames. Zwei Männer mit einer Säge machten sich an einem Baum zu schaffen, sägten an einem dicken Ast herum, der über den Pfad reichte. Ein dritter Mann hielt Wache, er wirkte nervös. Was sollte das? Feuerholz brauchten sie offensichtlich nicht, denn als sie fertig waren, hing der Ast noch immer an Ort und Stelle.

Geht mich nichts an und interessiert mich auch nicht, dachte er und beschloss, am Fluss nach Beute Ausschau zu halten, vielleicht hatte er dort mehr Glück. Dumpfe Hitze lag über dem Regenwald, die Sonne stand hoch am Himmel und er sehnte sich nach Abkühlung.

Zu dieser Zeit sonnten sich die Kaimane am Ufer, am besten, er probierte es mal bei ihnen. Ihre Schnauze war voller fieser Zähne und als Mensch wäre er ihnen lieber aus dem Weg gegangen. Doch wenn er in seiner Panthergestalt war, konnte er sie besiegen. Wenn er schnell genug war. Wenn er sie erwischte, bevor sie ihn erwischten.

Dieser große Kaimanbursche da lag in der richtigen Position. Gleich wurde es ernst. Aber zuvor horchte er noch in sich hinein, versuchte festzustellen, ob das Reptil ein Waldläufer war, so wie er selbst. Nein, sagte sein Gespür. Gut!

Hunger wühlte in seinem Magen, aber schlimmer war der Ärger. Ärger darüber, was sein Bruder gesagt hatte, die Art, wie er das Wort Einzelgänger ausgesprochen hatte. Wo lag das Problem? Nie würde er den Clan im Stich lassen! Was machte es aus, dass er gerne allein jagte? Schwarze Jaguare waren schließlich keine Rudeltiere!

Er würde es ihnen zeigen, indem er auch diesmal eine fette Beute mit zurückbrachte.

Der Ärger machte ihn unvorsichtig und verpatzte ihm den Ablauf. Als er sich anschlich und losjagte, hatte die Echse ihn schon bemerkt und drohte ihm mit geöffnetem Maul, weil er ihr den Weg zum Wasser abgeschnitten hatte. Trotzdem stürzte er sich auf sie und versuchte, sie niederzuringen. Seine mächtigen Muskeln entluden ihre Kraft, seine Fangzähne senkten sich in den Panzer, bissen glatt hindurch, hielten fest.

Wütend wehrte sich der Kaiman und peitschte mit dem Schwanz umher, dass das Wasser spritzte. Verdammt, das Vieh war groß! Und er hatte den Griff nicht gut angesetzt, so konnte er es nicht töten.

Ganz kurz ließ er den Kaiman los, um seinen Griff neu – und diesmal richtig, am Kopf – anzusetzen. Zweiter Fehler. Das Reptil versuchte nicht etwa zu fliehen, sondern schnappte nach ihm und erwischte dabei seine Vorderpranke. Glühend heiße Schmerzen schossen durch seinen Körper.

Ich muss ihn erledigen. Jetzt! Sonst war’s das.

Ohne auf die Schmerzen zu achten, warf er sich nach vorne und biss zu. Der Kaiman dachte nicht daran, die Kiefer zu öffnen, und wand sich noch heftiger, versuchte wahrscheinlich, ihn tiefer ins Wasser zu ziehen und dort zu ertränken. Reptilienzähne rissen und zerrten an seiner Pranke.

Aber nun war er über dem Kaiman und konnte den Griff richtig ansetzen. Seine kräftigen Kiefer packten zu und der Kaiman erstarrte. Noch ein paarmal zuckte das Tier, dann war es vorbei. Schwer und schlaff hing das Reptil, das fast so groß war wie er selbst, in seinem Maul.

Doch selbst jetzt öffnete der Kaiman die verdammte Schnauze nicht! Und wenn man allein jagte, konnte einem auch niemand helfen. Er war zu weit weg, um einen von den anderen mit einem Ruf zu erreichen. Doch er hatte schon eine Idee.

Als er sicher war, dass sein Gegner tot war, ließ er den Kaiman los und verwandelte sich. Seine Menschengestalt war ihm nicht besonders wichtig, doch diesmal war sie vielleicht seine Rettung. Kaum dass er Hände hatte, versuchte er, dem Vieh mit einem herumliegenden Aststück die Schnauze aufzustemmen. Doch das war zu morsch und brach ab. Panisch krabbelten ein paar Ameisen weg, die darauf gesessen hatten, und aus den Bäumen am Fluss beobachtete ihn voller Interesse ein Schwarm Rabengeier. Vergesst es, dachte er. Heute ist NICHT euer Glückstag!

Das sahen die Geier anders, sie flogen und stolzierten näher heran. Ein paar von ihnen waren nur noch eine Pantherlänge entfernt und stritten sich lärmend, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Auch die anderen Kaimane waren darauf aufmerksam geworden, dass hier etwas Vielversprechendes geschah. Noch waren sie vorsichtig, doch er wusste, wie schnell sie sich bewegen konnten, wenn sie sich für den Angriff entschieden hatten.

Mit zusammengebissenen Zähnen schleifte er sich und seine Beute ein Stück weiter, wo er ein besseres Stück Treibholz zu fassen bekam. Mit dem klappte es.

Keuchend ließ er sich im Ufersand auf die Seite fallen und presste den blutüberströmten Arm an den Körper. Moskitos sirrten um ihn herum, senkten ihre Rüssel in seine Haut, doch er beachtete sie nicht. Er lebte noch, nur das zählte … nein, nicht nur. Das Reptil war nicht umsonst gestorben, von so viel Fleisch würde sein Clan tagelang leben können und vielleicht würde sich sogar sein Bruder zu einem lobenden Wort herablassen, wer konnte das wissen? Mühsam stand er auf, beugte den Kopf vor dem Kaiman und murmelte die traditionelle Formel des Respekts, bedankte sich und bat den Geist des Reptils, ihm zu verzeihen. Wie sollte er die Beute heimbringen? Das würde schwer werden, denn der Blutverlust hatte ihn geschwächt.

Um dem dreistesten der wartenden Kaimane klarzumachen, was hier Sache war, warf er ihm das Aststück auf die Schnauze. Die Geier schrie er an, bis sie aufflatterten.

Dann suchte er nach etwas, womit er seinen Arm verbinden konnte. Schließlich fand er einen Busch mit großen Blättern, von denen er wusste, dass sie ungiftig waren. Nachdem er eine Spinne davon heruntergescheucht hatte, riss er ein paar der Blätter ab, verband sich den Arm damit und zurrte das Ganze mit ein paar Rankpflanzen fest.

Dann hievte er sich seine Beute auf die Schultern und machte sich auf den langen Weg zurück zum Lager. Er hatte keine Ahnung, ob er es erreichen oder vorher zusammenbrechen würde.

Die Warnung

Als Kitana hörte, dass jemand vor der Tür ihres Wohnhauses den Begrüßungsruf ausstieß, war sie erstaunt. Normalerweise wagte niemand, sie – eine Jaguargöttin – so kurz vor einer Volksaudienz zu stören. Neugierig ging sie auf bloßen Füßen zum Eingang und schlug den Grasvorhang mit den hineingewebten Mustern zurück.

Sie erkannte die schmächtige, o-beinige Gestalt sofort: Es war Ilu, der junge Orakelpriester von Elámon. Wie üblich sah er schrecklich aus: Sein dünnes, fettiges schwarzes Haar hing ihm unordentlich in die Stirn, und da er Wasser mied und sich zur Reinigung nur mit Nussöl einrieb, schlug ihr aus seiner Richtung ein ranziger Geruch entgegen. Am liebsten wäre sie einen Schritt zurückgewichen.

Trotzdem lächelte sie ihm zu. Ilu war ein Schützling ihrer Familie, seit sie ihn vor drei Jahren (da war er dreizehn gewesen und sie vierzehn) entdeckt hatten. Er war mit sechs Geschwistern als Sohn eines Maisbauern aufgewachsen und man sah ihm an, dass er in seiner Kindheit nie genug zu essen bekommen hatte.

Als seine Mutter begriffen hatte, dass seine ungewöhnlichen Träume vielleicht etwas zu bedeuten hatten, hatte sie versucht, im Tempel von Chaak, dem Schlangengott, vorzusprechen. Doch die Priester dort hatten die beiden zerlumpten Bauern davongeschickt und mit letzter Kraft und Hoffnung hatten es Ilu und seine Mutter im Jaguartempel versucht. Zum Glück war ihr Vater gerade dort gewesen und hatte entschieden, die beiden anzuhören (und ihnen eine Portion Maisbrei mit Bohnen bringen zu lassen). Sofort hatte er begriffen, dass er ein neues Orakel vor sich hatte – endlich!

Seither war Ilu eine wichtige Persönlichkeit in Elámon, die anderen Priester erfüllten ihm jeden Wunsch. Aber er hatte nie vergessen, wem er all dies verdankte.

Zu Kitanas Überraschung erwiderte Ilu ihr Lächeln diesmal nicht. Im Gegenteil, er sah beunruhigt aus.

»Elámons Wohl«, sagte er förmlich. »Ich … ich muss euch etwas sagen. Euch Jaguargöttern. Es …«

»Willst du nicht reinkommen, Ilu?«, fragte Kitana freundlich und versuchte, flach zu atmen. Wirklich Pech, dass er vorhergesehen hat, dass er durch Wasser sterben wird … vielleicht kann ihm Papa noch mal versichern, dass Waschen ungefährlich ist?

Der junge Priester schüttelte den Kopf. »Nein … aber es ist wichtig …«

Beunruhigt blickte Kitana ihn an. »Hast du eine Vision gehabt?«

»Genau, und sie hatte etwas mit euch zu tun. Sie war düster … mir scheint, dass deiner Familie Unheil droht.«

Ein kaltes Kribbeln überlief Kitana. Bei manchen Kindern, die als Orakel infrage kamen, stellte sich heraus, dass sie nur die Vergangenheit sehen konnten. Doch Ilu war fähig, in die Zukunft zu blicken – und seine Visionen wurden meistens wahr. »Warte … äh, ich hole meinen Vater und meine Tante …«

»Nein, nein, ich muss wieder los … aber sage ihnen, sie sollen vorsichtig sein. Ihr alle müsst vorsichtig sein. Bitte!« Ilu blickte ihr noch einmal ins Gesicht – mit einem gequälten Ausdruck, wie ihr schien –, dann drehte er sich um und hastete davon.

Nachdenklich ging Kitana ihren Vater suchen, wurde aber von ihrer Tante Tova abgefangen, die einen geflochtenen Korb mit Bürsten, Federn, Bändern und Schmuck vor sich hertrug. »Setz dich, wir müssen dringend anfangen«, kommandierte sie.

»Ich muss erst mit Papa sprechen, es ist …«

»Dein Vater kleidet sich gerade zur Audienz um. Puh, war das eben Ilu am Eingang?«

Kitana nickte. »Er hatte eine neue Vision – irgendwas Ungünstiges für uns«, berichtete sie. »Aber er wollte nicht sagen, was er gesehen hat.«

»Noch mehr Unheil? Na wunderbar. Das kann warten, bis dein Vater sich fertig geschmückt hat«, entschied ihre Tante. »Setz dich jetzt endlich, damit wir anfangen können!« Sie blickte in ihren Korb und zögerte, anscheinend überfordert mit der Aufgabe, sich zwischen fünf verschiedenen Bürsten und Kämmen zu entscheiden.

Kitana gab vorerst auf und setzte sich, um sich für die Audienz verschönern zu lassen.

Ja, viel Glück hatten ihre Familie und Elámon in letzter Zeit nicht gehabt. Seit mehr als einem Jahr litt ihre Mutter an einer schweren Krankheit – ohne die Heilmittel aus dem Tempel des Vogelgottes wäre sie womöglich gestorben. Zwar herrschte gerade Frieden, weil der König ihres Stadtstaates eine Braut suchte (bislang vergeblich) und deshalb keine Eroberungspläne hatte. Aber in den letzten drei Jahren war die Regenzeit ungewöhnlich kurz gewesen oder ganz ausgefallen. Zwar wucherte der Dschungel wie eh und je, aber die vielen kleinen Maisfelder in der Umgebung waren vertrocknet und hatten dieses Jahr nur einen jämmerlichen Ertrag gebracht. Nun bangten alle, dass bald die neue Regenzeit begann – wenn sie wieder ausblieb, wäre das eine Katastrophe.

Sisilu Chaak – als Göttin für den Tag, Regen und Ernte zuständig und in zweiter Gestalt eine rot-weiß-schwarz gemusterte Milchschlange – klagte oft, dass sie die Gebete schon nicht mehr hören konnte und ihr vom vielen Weihrauch schwindelig wurde. Aber noch schlimmer war natürlich, dass sie nichts ändern konnte.

Jeder Tier-Mensch-Gott verfügte aus Gründen, die niemand kannte, nur über eine einzige magische Fähigkeit außer der, sich zu verwandeln. Meist zeigte sie sich in der Kindheit und verschwand dann nicht mehr, sobald sie erst einmal geweckt war. Kitana wusste, dass auch die Götter in anderen Stadtstaaten solche Fähigkeiten hatten und sie für das Wohl ihres Volkes einsetzten. Doch aussuchen konnte man sich weder diese Fähigkeit noch seine traditionelle Rolle, weil diese tief in den Köpfen der Menschen verankert war.

Sisilus magische Fähigkeit war es, die Klugheit zu steigern. Das nützt nicht gerade viel, wenn man hungert, dachte Kitana. Ich bin froh, dass wir Jaguargötter nicht für den Regen zuständig sind!

Sie hockte im Schneidersitz auf dem Boden und spürte, wie sie immer ungeduldiger wurde. Alles in ihr drängte sie danach, ihrem Vater von Ilus Warnung zu erzählen. Aber diese Ankleidezeremonie dauerte so lange, dass der Mais in dieser Zeit wahrscheinlich einen Fingerbreit gewachsen wäre … jedenfalls in normalen Jahren.

Während ihre Tante an ihrem langen nachtschwarzen Haar herumhantierte, streckte Kitana die Hand nach den Ohrringen aus grüner Jade aus, die vor ihr auf einem Tuch lagen.

»Halt still – wie soll ich sonst deine Haare richten?«, beschwerte sich ihre Tante Tova und stieß einen Schrei aus, als sich Kitanas mit Stoffbändern, Perlmuttstücken und bunt schillernden Federn arrangierte Frisur aufzulösen begann.

»Entschuldige – ab jetzt sitze ich so still wie auf der Lauer«, sagte Kitana und musste lächeln, als sie sah, dass ihrer stämmig gebauten und mit einer ausgeprägten Nase gesegneten Tante vor Aufregung Tasthaare auf den Wangen gesprossen waren. Tova hatte ihre Verwandlungen nicht im Griff, das war einer der Gründe, warum sie selten öffentlich auftrat. Eine Göttin mit Schnurrhaaren sah vielleicht niedlich aus, aber das war nicht der Sinn der Sache. Außerdem war ihre Fähigkeit, tiefe Einsicht zu verleihen, erstaunlich wenig gefragt.

Eine schlichte Verwandlungspanne hatte Ilu sicher nicht gemeint, dazu hatte er zu beunruhigt gewirkt. Seine Worte echoten in ihrem Kopf. Sage ihnen, sie sollen vorsichtig sein. Ihr alle müsst vorsichtig sein.

Als hätten sich alle abgesprochen, um Kitana von den sorgenvollen Gedanken abzulenken, tollte vom Aufruhr angelockt Elki herein, ihr Bruder, der erst neun Jahre zählte. Er war gerade in seiner Jaguargestalt, eine junge Raubkatze mit goldfarben und schwarz geflecktem Fell und hellgrünen Augen. Übermütig lief er auf sie zu und versuchte, kurz vor ihr einen Haken zu schlagen, was dazu führte, dass er den Boden unter den Pfoten verlor und gegen sie kullerte.

Kitana nutzte die Chance, Elki durchzukitzeln, während sie gleichzeitig so gut wie möglich den Kopf still hielt. Schnaufend vor Vergnügen wand sich Elki und Kitana kraulte ihn hinter den kätzchenhaft flauschigen Ohren. Was jagst du gerade?, fragte sie ihn von Kopf zu Kopf. Nur mich oder auch was anderes?

Vögel, behauptete Elki, stürzte sich auf die Federn und drückte sie mit den Pfoten auf den Boden. Dabei erwischte er ausgerechnet ihre Lieblingsdekorationsfeder, eine lange feuerfarbene.

»He!«, rief Kitana und zog sie ihm zwischen den Krallen heraus. Mit blitzenden Katzenaugen setzte Elki der Feder nach, doch ihre Tante packte ihn um den Bauch und beförderte das fauchende Fellbündel in den Pflanzendschungel des Innenhofs. »Raus mit dir – deine Schwester hat gleich ihre Volks-Audienz!«

Jaja, weiß ich doch, erwiderte Elki, sprang nach einem fliegenden Käfer und landete jaulend in einer Dornenranke.

Wehmütig blickte Kitana ihm nach. Noch ein Jahr, höchstens zwei, dann würde auch er seine offizielle Rolle einnehmen müssen. So wie sie damals. An ihrem zehnten Geburtstag hatten ihre Eltern ihr eröffnet, dass es vorbei war mit den aufgeschürften Knien und den unbeschwerten Tagen mit nur hin und wieder ein bisschen Unterricht in Schreiben, Lesen, Perlenzählen und Verwandlung.

Seither regierten Regeln ihr Leben. Göttinnen rennen nicht. Göttinnen weinen nicht. Göttinnen begeben sich nur makellos gekleidet in die Öffentlichkeit. Doch als Göttin konnte sie den Menschen auch helfen, ihnen Kraft und Zuversicht geben oder ihre Probleme lösen. Das machte die Einschränkungen mehr als wett.

Es wurde wieder ruhig im Zimmer; ihre kranke Mutter ruhte nebenan und von irgendwoher hörte Kitana ihren Großvater schnarchen. Ihr Vater richtete sich ebenfalls her – er würde den König von Elámon treffen.

»So, fertig«, verkündete Tova, strich sich über das verschwitzte Gesicht und stutzte. »Wieso hast du mir nicht gesagt, dass ich Schnurrhaare habe?«

»Hab sie selbst eben erst bemerkt«, log Kitana und ließ die Finger über ihre Kette aus schwarzer Jade gleiten, die mit Smaragden besetzt war. Kühl und glatt fühlte sie sich an, so wie die breiten Reife aus Goldkupfer um ihre Unterarme.

»Du bekommst vieles nicht mit«, sagte ihre Tante mit hochgezogenen Augenbrauen. »Oder ist dir etwa schon zu Ohren gekommen, dass Axar wieder in der Stadt ist?«

Wieder schoben andere Gedanken die an Ilus düstere Vorhersage beiseite. Kitana zwang sich, normal weiterzuatmen. Ein – aus, ein – aus. »Axar? Tatsächlich?«, fragte sie so beiläufig wie möglich. »Er war wirklich lange weg auf seiner Lernreise.«

»Ein volles Jahr!« Ihre Tante stieß die Luft aus. »Nur drei von fünf, die aufgebrochen sind, sind wohlauf zurückgekehrt. Ich habe gehört, ihre Kanus sind erst kürzlich in einem Gewitter gekentert.«

Hoffentlich merkte ihre Tante nicht, wie schnell ihr Herz gerade pochte. »Elámons Wohl! Welche Priester sind denn gestorben?«

»Weiß ich nicht genau.« Ihre Tante starrte missbilligend auf Kitanas Füße. »Diese Sandalen sind abgenutzt, hoffentlich bringt dir jemand ein paar hübsch bestickte neue als Opfergabe. Mit denen kannst du ohne Schande im Tempel vorbeigehen, wenn dich die Reise der Priester interessiert.«

»Vielleicht mache ich das«, antwortete Kitana ausweichend.

Oder vielleicht auch nicht. Du hast Angst davor, ihn wiederzusehen – weil es wahrscheinlich wehtun wird, warf sie sich vor.

Ihr Vater betrat den Raum, musterte sie und nickte ihr zu. »Meine Tana, dunkelschön wie die Nacht!«, sagte er lächelnd, doch dann wurde er wieder ernst. »So, ich mache mich auf den Weg – der König wartet nicht gerne. Er nutzt zurzeit mal wieder jede Gelegenheit für einen Wutanfall.«

Kem Balam war ein nicht besonders großer, aber kraftvoller Mann mit den gleichen glänzend schwarzen Haaren wie Kitana. Seine Augen, die ruhig und entschlossen blickten, waren nicht dunkelbraun wie ihre, sondern hatten als Mensch und Jaguar die tiefgoldene Farbe von Dschungelhonig. Seine Haut war dunkler als Kitanas und seine Nase stärker gebogen. Auf seinen Armen war ein Jaguar-Fleckenmuster zu erkennen, ganz leicht nur, im Sonnenschein sah man es am deutlichsten. Es war ein großer Vorteil, dass er genauso aussah, wie man sich einen Gott der Nacht und des Krieges vorstellt. Auch seine Fähigkeit, körperliche Stärke zu verleihen, war sehr beliebt beim Volk.

»Eben war Ilu da«, berichtete Kitana hastig. »Er hatte eine Vision, er meinte, sie bedeutet Unheil für uns.«

Ihr Vater runzelte die Stirn. »Hat er die Vision genauer beschrieben?«

»Nein, er hat nur gesagt, wir sollen in nächster Zeit vorsichtig sein.«

»Aber das sind wir doch eigentlich immer«, behauptete ihre Tante und versuchte vergeblich, die Bürsten so zu sortieren, dass sie wieder in den Korb passten.

»Vielleicht hat es etwas mit meiner Audienz zu tun«, meinte Kitanas Vater.

Klang plausibel. »Was besprecht ihr diesmal?«

»Seine dreimal verdammte Brautsuche«, knurrte Kem Balam und Kitana fiel auf, dass er sie auf eigenartige Weise musterte. Sofort raste das Blut mit heißer Empörung durch ihre Adern. »Er hat sich nicht etwa in den Kopf gesetzt, dass er mich heiraten will, oder?«

»Doch, das ist seine neuste Idee.« Ihr Vater seufzte tief. »Eine Göttin als Ehefrau würde seinen Status noch weiter erhöhen und natürlich rechnet er damit, dass eure Kinder göttliche Fähigkeiten von dir erben könnten. Würdest du ihn denn nehmen?«

»Nur, wenn der Mond vom Himmel fällt! Er ist schon über dreißig Jahre alt und außerdem …« Sie brauchte ihrem Vater nichts zu erklären, er kannte den König – einen sehr von sich überzeugten Wüterich, dessen Herz weniger seinem Stadtstaat gehörte als vielmehr den Ballspiel-Partien, die zu Ehren der Götter ausgetragen wurden. Eher würde ich Elámon verlassen, als diesen Kerl zu ehelichen!

Ihr Vater holte noch einmal tief Luft und Kitana versuchte in seinem Gesicht zu lesen, wie seine Meinung dazu war. Besonders enttäuscht wirkte er zum Glück nicht. »Habe ich mir fast gedacht. Du wärst mit Sicherheit unglücklich mit ihm.«

Unendlich erleichtert umarmte ihn Kitana. »Sag es ihm behutsam. Vielleicht war Ilus Vision, dass der König dich vor lauter Wut erdolcht.«

»Das würde selbst er nicht wagen … und nicht schaffen.« Ihr Vater teilverwandelte sein Gebiss und zeigte seine eindrucksvollen Fangzähne, so lang wie ihr Zeigefinger. »Mach dir keine Sorgen. Ich gehe auf dem Rückweg im Tempel vorbei und versuche Ilu zu entlocken, was genau er gesehen hat. Dann wissen wir mehr darüber, wovor wir uns in Acht nehmen müssen.«

Sie lächelten sich an und umarmten sich noch einmal.

Kitana fühlte sich besser – was auch immer ihnen drohte, ihr Vater würde sich darum kümmern und das Unheil abwenden, ganz sicher. Er hatte immer alles unter Kontrolle und befasste sich mit den wichtigen Dingen.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu Axar. Er war ihr Kindheitsfreund gewesen, sie waren praktisch zusammen aufgewachsen. Hatten wild hinter dem Chaak-Tempel im Schlamm gespielt, Eidechsen gefangen, sich Geschichten erzählt und sich an selbst gesammelten »heiligen Pilzen« furchtbar den Magen verdorben. Vor ihm hatte sie sich ganz unbefangen verwandeln können.

Er war ihr ungeheuer wichtig gewesen – und sie ihm anscheinend auch. Als ihre Familie geplant hatte, sie zur Ausbildung ein paar Jahre lang in einen anderen Stadtstaat zu schicken, hatte sie Tränen in seinen Augen gesehen.

Doch dann war es schwierig geworden zwischen ihnen. Mit vierzehn Jahren hatte er seiner adligen Verwandtschaft – viele Mitglieder der zwanzig Menschen zählenden Mondstein-Familie waren berühmte Krieger und Heerführer – gestanden, dass er kein Interesse am Kämpfen hatte. Er hatte seinen Eltern ihre Zustimmung abgetrotzt, dass er in einen Tempel eintreten durfte, um Sternenpriester zu werden. Axar hatte sich immer für die Bewegungen der Gestirne interessiert und konnte besser rechnen als jeder, den sie kannte.

Gleichzeitig hatte Kitana versucht, ihren eigenen Traum wahr zu machen und zu lernen, wie man Schriftzeichen meißelt und Tempel mit Geschichten schmückt. Doch ihre Familie hatte Nein gesagt; sie hätte genauso gut versuchen können, ein Stück Stein mittendurch zu beißen. Als Göttin brauchen wir dich, nicht als Bildhauerin!

Danach war es mit ihrer Freundschaft abwärtsgegangen – die Priester hatten ihn von ihr ferngehalten, weil es sich nicht ziemte, seine freie Zeit mit einer Göttin zu verbringen. Nach und nach war Axar durch die dreimal verfluchte Unterweisung immer ehrfürchtiger und förmlicher ihr gegenüber geworden. Hätte ich das irgendwie verhindern können? Nein, wahrscheinlich nicht.

Zeit für die Audienz. Kitana gab ihrer Tante, ihrer halb wachen Mutter und Elki einen Kuss, dann machte sie sich auf den Weg. Einmal tief durchatmen, den Rock und ihr mit edlen Steinen besetztes Schultertuch zurechtzupfen. Los. Ihre Eskorte aus vier Palastwachen wartete schon.

Mit gleichmäßigen Schritten und erhobenem Kopf – Göttinnen treten allzeit würdevoll auf – ging Kitana zwischen ihnen vom Haus ihrer Familie, das sie meist einfach das »Jaguarhaus« nannten, den kurzen Weg zum Jaguartempel. Er war etwa doppelt so hoch wie die Dschungelbäume und hatte die Form einer Pyramide mit abgeflachter Spitze. Alle vier Seiten bestanden aus genau dreihundert mit Inschriften verzierten Steinstufen, eine für jeden Tag des Jahres. Auf der Oberseite des Tempels, einer steinernen Plattform, zeigten sich die Götter bei Audienzen dem Volk; dort war der Opfer-Altar und auch ein Steinhäuschen erhob sich dort, das Allerheiligste. Nur Götter und Priester hatten Zutritt, doch besonders heilig fand Kitana es nicht, meist wurden darin einfach Materialien für die Audienz gelagert.

Wie immer in letzter Zeit schmerzte es Kitana, an den fast völlig verdorrten Mango- und Nussbäumen vorbeizugehen. Von den einstigen Grasflächen zwischen den Tempeln waren nur ein paar braune Halme und Staub übrig. Ein alter Gärtner, der ihr schon als Kind immer mal wieder eine Nuss oder Frucht geschenkt hatte, bemühte sich mithilfe eines Begleiters vergeblich, im Palastgarten zu retten, was zu retten war. Mitleidig lächelnd nickte sie ihm zu und er lächelte zurück.

In der Stadtmitte zwischen Jaguartempel und Königspalast war einiges los. Wie Ameisen in einer Reihe gehend bewegten sich Träger mit auf den Rücken geschnallten Wasserkrügen zu einem Verteilplatz, luden ihre Last ab und machten sich mit einem leeren Krug wieder auf den Weg. Eine lange Schlange von Menschen wartete schon geduldig auf das Wasser. Es war streng geregelt, wie viele Kellen jede Familie bekommen durfte, denn das kostbare Nass stammte aus einer Höhle mit Grundwasserteich, und falls die Dürre andauerte, würde dieser Vorrat noch eine Weile reichen müssen.

Noch gab es keine Hungersnot, noch reichten die Vorräte. Bürger von Elámon und Diener überquerten den Platz oder bildeten schwatzende Grüppchen, zwischen denen Kinder umherrannten. Von Kunden umlagerte Garküchen verkauften gefüllte Maisfladen und Truthahnspieße, der Duft von gebratenem Fleisch und gerösteten Kaschu-Nüssen wehte herüber. Eine von vier Trägern geschulterte Sänfte transportierte adlige Damen durch die Stadt. Vor einer Stele, die beim letzten Fest des Kaimangottes aufgestellt worden war, brachte ein grauhaariges Paar eine Schale mit undefinierbarem Inhalt als Opfer dar. Mit der Erweiterung des Vogelgott-Tempels auf der linken Seite ging es voran, dort arbeiteten verschwitzte Männer auf hölzernen Gerüsten und hämmerten Steinblöcke zurecht.

Vor dem Jaguartempel hatte sich eine Menschenmenge gesammelt, die respektvollen Abstand von den drei anwesenden Priestern hielt. Als die wartenden Leute – die meisten von ihnen trugen nur Lendenschurz und Sandalen – Kitana sahen, warfen sich ein paar von ihnen vor ihr auf den von der Sonne hart gebackenen Boden. Andere murmelten Gebete oder Lobpreisungen. Obwohl Kitana daran gewöhnt war, machte sie all das manchmal noch verlegen. Grüßend hob sie die Hand.

Die Priester, die sie gleich bei der Audienz betreuen würden, verbeugten sich ebenfalls tief vor ihr. Zwei als Helfer, ein anderer, der sie um einen halben Kopf überragte, als Leiter der Zeremonie.

Freundlich nickte Kitana ihnen zu … und erstarrte. Den hochgewachsenen jungen Priester mit den kurzen, ein wenig verstrubbelten braunen Haaren, der eintätowierten Jaguarsilhouette auf dem Oberarm und den klugen dunklen Augen kannte sie. Dieses Tattoo hatte er sich mit dreizehn selbst gestochen und ihr dabei geschworen, dass er sie nie vergessen würde, egal was ihre Eltern mit ihnen vorhatten.

Der Priester war Axar.

Niemand sah ihn, als er durch das Gebüsch neben dem Tempel kletterte. So wie immer. Für fast alle Menschen war er unsichtbar. Nur eine schlanke, kaum handlange braune Echse, die an einem Strauch oder Baumstamm hochhuschte oder zwischen den Blättern hervorlugte. Ein ganz gewöhnliches Tier. Jedenfalls auf den ersten Blick. Na ja, gut, auf den zweiten auch.

Sie wussten nicht, dass er ebenfalls ein Gott hätte sein können, wenn er gewollt hätte. Wollte er aber nicht. Zu anstrengend. Sah er aus wie jemand, der sich freiwillig von anderen Leuten beglotzen und bequatschen ließ?

Außerdem war es nicht so sein Fall, sich zu verwandeln. Das hatte sich nicht nur als nervtötend, sondern auch als peinlich herausgestellt. Wie beschafften sich andere Wandler etwas zum Anziehen, wenn sie ihre Menschengestalt einnahmen? Bei ihm klappte das nie im rechten Moment und er stand nach der Verwandlung vollkommen nackt da. Danke, nein.

Kurz beobachtete Yaddi, wie Kitana – das etwas stämmige Jaguarmädchen mit den grünen Ohrringen und der Prachtfrisur – die steilen Stufen der Pyramide hochstieg, flankiert von zwei Priestern und gefolgt von einem dritten. Sie war ziemlich hübsch mit ihrer glatten braunen Haut, ihrem dreieckigen Gesicht, das ein wenig an ihre Katzengestalt erinnerte, und ihren großen dunkelbraunen Augen. Normalerweise hätte er sich einen Spaß daraus gemacht, sie zu beobachten, wenn sie ohne einen Fetzen Stoff am Leib im heiligen Cenote schwamm, diesem versteckten Teich mitten im Regenwald. Doch ausgerechnet bei ihr ging das nicht, sie würde es merken. Das kannte er von sich selbst, er spürte andere Wandler schon, wenn sie noch viele Schritte entfernt waren.

Jede Menge Leute warteten am Fuß des Stufentempels darauf, dass sie bei der Audienz an die Reihe kamen. Ansonsten war nicht viel los heute. Markttag war erst wieder morgen und Händler aus anderen Stadtstaaten waren nur wenige da.

Gelangweilt blinzelte Yaddi in die Sonne, während er wie üblich nach gefährlichen Vögeln Ausschau hielt. Eins dieser Federviecher, die ihn nicht als tiefgründige, faszinierende Persönlichkeit schätzten, sondern nur als potenzielle Mahlzeit. Drecksbiester. Seuchen der Lüfte.

Bei den Reservoir-Teichen waren leider keine Mädchen, denen er zusehen konnte – das wenige Wasser, das darin noch herumschwappte, war voller Algen und roch brackig. Wer darin noch baden mochte, konnte es genauso gut in der eigenen Pisse tun. Zum Glück war er nicht darauf angewiesen, dieses Zeug zu trinken, Tau auf den Blättern reichte ihm.

Yaddi überlegte, ob er ein paar der Geschichten lesen sollte, die auf den Wänden der Tempel verewigt waren, entschied sich aber dagegen, als er einen der Jaguargötter zum Königspalast hinübergehen sah. Konnte interessant werden. Er huschte hinterher.

Oder versuchte es wenigstens.

Na, spionierst du mal wieder, Langschwanz? Die tiefe Männerstimme gehörte einem Dreipunkt-Rubin-Käfer, der ihn anscheinend aus dem Gebüsch beobachtet hatte. Jemand hatte die Rubine aus seinem Panzer herausgebrochen und das Schwarz seiner Deckflügel war matt und verkratzt vor Alter.

Äh, was? Spionieren? Ich doch nicht. Verlegen rannte Yaddi einen Blattstängel hoch.

Reg dich ab. Machen wir doch alle. Aber Kem Balam mag es nicht, wenn man ihn mit dem König belauscht. Also bleib entweder hier sitzen oder verzieh dich in den Wald, ja? Der Käfer setzte sich gemächlich in Bewegung. Auch er war natürlich ein Wandler, sonst hätten sie sich nicht von Kopf zu Kopf unterhalten können. Yaddi hatte ihn schon in der Gegend gesehen, er war ein Speichellecker der eingebildeten Jaguar-Wandler.

Sitzen bleiben?, gab Yaddi gereizt zurück. Du weißt schon, was ich bin, oder? Eine Echse wie er konnte ebenso wenig stillhalten, wie die Gestirne ihren Lauf verändern konnten. Er war schließlich kein Leguan, der behäbig irgendwo herumhockte und ab und zu mal ein Blatt fraß, das ihm fast ins Maul wuchs.

Der Käfer stutzte. Na gut, dann tänzel eben herum, Langschwanz. Aber anderswo.

Bin ja schon weg. Möge ein Tapir auf dich pissen! Beleidigt bewegte sich Yaddi am Rand des Dschungels entlang, der die Stadt umschloss. Immer auf der Suche nach einem schmackhaften Insekt, das nur darauf wartete, die Innenseite seines Magens kennenzulernen.

Hm, da war dieser Kem Balam schon wieder, das Gespräch schien nicht lange gedauert zu haben. Er wirkte zornig – hatte es Streit gegeben im Königspalast? Der Jaguarmann nahm seinen aufwendigen Kopfschmuck ab und drückte ihn einem Diener in die Hand, dann marschierte er mit langen Schritten in den Regenwald hinein. Und zwar allein! Er nahm einen der schmalen Pfade, die nach Westen führten.

Yaddi war kurz davor, ihm zu folgen, doch dann sah er direkt vor seiner Schnauze einen kleinen grünen Käfer sitzen und hatte Besseres zu tun.

Die Audienz

Es war nicht erstaunlich, dass sie Axar erst auf den zweiten Blick wiedererkannt hatte. Während des Jahres, das er unterwegs gewesen war, hatte sich der schlaksige Junge, der ein bisschen schielte, wenn er sich konzentrierte, zu einem muskulösen, selbstsicher wirkenden Mann entwickelt. Neue Narben zeichneten sich auf seiner kupferbraunen Haut ab und auf seinem Unterarm sah Kitana ein Tattoo, das sie noch nicht kannte – das Sternbild der Harpyie.

Axars Gesichtsausdruck war gelassen und respektvoll, als er sie anblickte. Doch in seinen Augen tanzte ein vergnügter Funke, anscheinend war ihm nicht entgangen, wie sie ihn gemustert hatte.

»Was machst du hier?«, flüsterte Kitana. »Heute sollte doch der Alte die Audienz leiten …«

»Ich habe mit ihm getauscht«, wisperte er zurück. »Komm, gehen wir, die Leute warten.«

Hätte ich ihn nicht erst mal begrüßen können? Wieso habe ich ihm nicht irgendetwas Nettes gesagt? Schließlich habe ich ihn vermisst! Aufgewühlt starrte Kitana ins Nichts, während sie zum Klang von Muschelhörnern und Trommeln die Stufen der Pyramide hochschritt, gefolgt von den drei Priestern.

Von der Plattform auf der Spitze hatte sie einen Ausblick über ganz Elámon – die vier großen Tempel rund um den Großen Platz und ein paar kleinere Tempel dahinter, die steinernen Paläste und Wohnhäuser der adligen Clans, den Ballspielplatz, die mit Palmstroh gedeckten Hütten der Handwerker, Händler und Schreiber. Das alles lag in einem Meer von Grün wie eine Insel.

Immer wieder stahl sich Kitanas Blick zu Axar.

»Willst du nicht den ersten Bürger hochbitten?«, fragte er, als seine Helfer die Weihrauchlampen entzündet hatten.

»Doch, ja.« Verlegen gab Kitana das Handzeichen. Wieso brachte dieser Kerl sie nur so durcheinander? Sie konnte sich kaum auf den Schreiber konzentrierten, der die Stufen erklettert hatte und nun ehrfürchtig vor ihr kniete und als Opfergabe ein Buch aus Bastpapier vor ihr ablegte. Zweimal musste sie ihn bitten, sein Anliegen zu wiederholen – ach so, er wollte nur einen gewöhnlichen Segen. Dafür war es üblich, die Hand zur Pranke zu verwandeln und ihn damit an der Schulter zu berühren.

Normalerweise fielen ihr die Verwandlungen leicht, doch diesmal weigerte sich ihre Hand, die menschlichen Finger aufzugeben. Dornig!

Kitana spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Eine Blamage konnte sie nicht gebrauchen, so was sprach sich sofort herum und konnte als Zeichen von Schwäche gedeutet werden.

Die beiden helfenden Priester blickten sich verstohlen an. Ihnen war nicht entgangen, dass irgendetwas sie verwirrte. Hoffentlich ahnten sie nicht, was!

Kitana brachte eine Jaguarpranke zustande, an deren Seite zwei gefleckte Menschenfinger herausragten. Es sah scheußlich aus. Der Schreiber bekam große Augen.

Mit aller Kraft konzentrierte sich Kitana darauf, wie die Pranke aussehen musste und wie sie sie vor ihrem inneren Auge schon sah. Diesmal klappte es.

»Gnade und Segen«, sagte Kitana erleichtert, das war die einfachste Formel dafür, dass sie das Opfer annahm. Dann berührte sie den Mann an der Schulter. Nur leider hatte sie vergessen, die Krallen einzuziehen, sie verhakten sich in seinem Gewand.

Der Schreiber keuchte vor Schreck, als Kitana nervös versuchte, sich zu befreien. Endlich schaffte sie es und der Schreiber hatte es sehr, sehr eilig, die Pyramide wieder hinabzuklettern. Sein teures Gewand hatte ein Loch an der Schulter.

Die Priester wirkten nun etwas nervös. Kein Wunder, ihre Göttin war dabei, die ganze Audienz zu verpatzen!

Kitana atmete tief durch, versuchte sich wieder zu beruhigen. Ab jetzt wird ganz sicher alles gut. Ich kann das, ich habe das schon tausendmal gemacht!

Die nächste Bittstellerin war eine junge Frau, der vor Aufregung die Knie zitterten. Sie trug ein Tongefäß mit kostbarem Chilikakao. Kitana hasste das Zeug. Alle Götter hassten es und verwendeten es meistens als Orchideendünger. Aber das würde sie sich natürlich nicht anmerken lassen.

»Unsere Gunst ist dir gewiss«, sagte Kitana freundlich, das war die noch etwas wohlwollendere Formel.

»Es … es … ist mir eine Ehre! Eine so große Ehre!«, stammelte die Frau und fiel beinahe rückwärts die Stufen hinunter.

Spontan tauschten Kitana und Axar einen halb amüsierten, halb gerührten Blick. Und plötzlich war die Verbindung zwischen ihnen wieder da. Kitana spürte, wie sie ganz ruhig wurde, und von einem Moment auf den anderen machte ihr die Audienz wieder Spaß.

Am Fuß des Tempels entstand ein kleines Gedränge. Kitana erkannte in der Menge der Wartenden Tzul, einen adligen Krieger aus der Obsidian-Familie; seine scharfen Gesichtszüge waren unverkennbar. Er diente zwar nur in der Palastwache, stolzierte aber durch die Stadt, als gehöre sie ihm. Sie hatte Gerüchte gehört, dass er vorgehabt hatte, ihr einen Heiratsantrag zu machen – ihr, einer Göttin! Ganz schön unverschämt. Doch zum Glück hatte er es bisher nicht gewagt.

Gerade wollte er den Fuß auf die erste Stufe des Tempels stellen, als Axar mit fester Stimme sagte: »Als Nächstes ist diese Bäuerin dort dran. Sie war schon lange vor Tagesanbruch da und wartet länger als du, Tzul.«

»Eine Bäuerin? Wen interessiert das?«, rief der junge Wachsoldat nach oben und spuckte aus.

»Mich«, sagte Kitana kalt, worauf Tzul nichts anderes übrig blieb, als sich zu verbeugen und zurückzutreten.

Dass die Frau mit dem Mädchen an der Hand keine Bäuerin war, merkte Kitana, als sie etwa die Hälfte der Stufen erklommen hatte. Es war Lale, eine junge Honigsammlerin, mit einem ihrer fünf Kinder, ihrer zehnjährigen Tochter Nicte (die klein war für ihr Alter, aber flink und aufgeweckt). Die beiden kamen regelmäßig und Kitana mochte ihre fröhliche Bescheidenheit. Doch diesmal wirkten sie überhaupt nicht fröhlich, sondern blass, mager und erschöpft. Ihre Opfergabe war nur ein kleines Glas Waldhonig.

»Göttin, kannst du mir helfen, über mich hinauszuwachsen?«, flüsterte Lale. »Mein Mann hat bei der Jagd nur Pech gehabt in letzter Zeit, durch die Dürre sind viele Tiere fortgewandert. Mein Jüngstes hat Bauchweh und schreit den ganzen Tag und die Honigernte war gering dieses Jahr. Ich schaffe es nicht mehr.«

»Das verstehe ich«, sagte Kitana mitleidig. Sie befahl einem der Priester: »Gib diesen Leuten nachher Wasser und Esswaren aus unseren Küchen, so viel sie tragen können. Aber jetzt geh erst einmal zu Tzul, dem Krieger, der dort unten steht. Er weiß, wie man jagt, und soll mit einem anderen Mitglied der Palastwache dieser Familie beistehen, damit genug auf den Tisch kommt.«

Doch sie wusste, dass das nicht reichen würde, dass diesmal ihre göttlichen Fähigkeiten gefordert waren. Sonst würde diese Frau es nicht mal die Pyramide hinunterschaffen. Kitana biss sich auf die Lippe, als sie sich an ihre Fehler im Umgang mit dieser Macht erinnerte. Seither überlegte sie noch gründlicher, wann und für wen sie sie einsetzte. Doch diesmal war der Fall klar, es konnte unmöglich falsch sein, dieser Frau zu helfen!

Kitana konzentrierte sich, blendete alles aus, sogar Axar, der in der Nähe stand und abwartete. Bis sie fühlte, dass sie bereit war. Dann legte sie beide Hände – inzwischen wieder menschlich – auf die Schulter der Frau, blickte ihr in die Augen und ließ die Kraft hinüberfließen, die sie in sich fand. Diese besondere Kraft, die manche Magie nannten und über die nur Götter verfügten.

Sofort spürte sie den Effekt, unter ihren Händen wurde der müde Körper wieder straff, die Muskeln spannten sich, Lales Augen wurden wieder klar und lebendig. Dankbar warfen sie und Nicte sich auf die Tempelplattform. Dann hob Nicte den Kopf. »Ich will mal so werden wie du«, sagte sie.

»Das … äh … freut mich sehr«, erwiderte Kitana ausweichend; das Mädchen hatte kein Jaguar-Erbe, sonst hätte es sich längst gezeigt. Und die Menschen verehrten nur Götter, die die Macht hatten, sich zu verwandeln. »Du kannst noch nicht schreiben und lesen, oder?«

Nicte schüttelte den Kopf, was Kitana nicht überraschte. »Damit könntest du anfangen. Wenn du magst, komm für Lektionen in den Jaguar-Tempel, die Priester werden dir Unterricht geben.«

»Mache ich.« Nicte strahlte, als sie und ihre Mutter sich wieder entfernten.

Eigentlich war es üblich, dass Priester keine Miene verzogen bei den Audienzen. Das interessierte Axar anscheinend nicht, er lächelte Kitana an, herzlich und voller Wärme.

Das brachte sie direkt wieder aus dem Gleichgewicht.

Tzul hatte ihr ein Holzkästchen voller Smaragde mitgebracht, doch Kitana ließ sich nicht anmerken, wie sie darüber dachte. »Erwarte dein Schicksal«, sagte sie nur.

Manchmal musste man die Bittsteller ein bisschen zappeln lassen, sonst wurden die Forderungen immer dreister.

Als die Volksaudienz nach vielen Stunden kurz vor Sonnenuntergang endete, war Kitanas Körper klebrig von Schweiß und neben den Priestern stapelten sich die Opfergaben. Darunter waren eine Schale mit wertvollem Kopal-Harz, ein über und über mit Jadeplättchen besetzter Schädel, der mal einem wichtigen Hofbeamten gehört hatte, eine Halskette aus großen dunkelgrünen Jadescheiben und – na also, ging doch – neue Ledersandalen.

Sie würde mitnehmen, was sie behalten wollte, der Rest würde Teil des Tempelschatzes werden. Den Schädel würde sicher Xunan, der Erste Priester, behalten – sie hatte gehört, dass er solchen Krempel sammelte. Außerdem trank er mit Vorliebe dieses Kakao-Gebräu, er konnte es gerne haben (die Orchideen brauchten gerade keinen Dünger).

»Ruh dich erst mal aus«, wisperte Axar. »Das war wieder ganz schön anstrengend, oder?«

Kitana nickte – und dann gab sie sich einen Ruck. »Trotzdem, ich will hören, was du erlebt hast«, flüsterte sie ihm zu, ließ ihre Stimme so leise klingen wie einen Windhauch. »In einer halben Stunde an unserem alten Treffpunkt?«

Würde er das Risiko eingehen und Ja sagen? Wenn jemand sie dort ertappte, konnte ihn das in Schwierigkeiten bringen.

Doch Axar zögerte nicht. Da die anderen Priester sie beobachteten, nickte er fast unmerklich, dann verbeugte er sich vor ihr. »Gepriesen sei der König und gelobt seien die Götter!«, sagte er, brachte sie zum Fuß der Pyramide und überließ sie ihrer Eskorte, die sie zurückgeleitete zum nahe gelegenen Wohnhaus der Jaguargötter, das sich hinter dem Tempel in den Wald schmiegte.

»Wie war es?«, fragte Danao, ihr Großvater, der auf dem Boden im Hauptraum saß, den Gehstock neben sich. Wie üblich umflatterte ihn sein Morphofalter, ein handtellergroßer Schmetterling, dessen Flügeloberseiten azurblau schimmerten. Weil Danao halb blind war, mussten Kitana oder Elki ihn manchmal führen oder ihm Bilder in den Kopf schicken, damit er sich zurechtfand. Sein über und über tätowierter Körper war gebeugt und abgemagert, aber er war noch munter und geistig klar. Er war schon seit Jahrzehnten ein beliebter Gott, der die magische Fähigkeit hatte, jedes Handelsgeschäft gelingen zu lassen. Es bereitete Danao ein diebisches Vergnügen, dass sich viele Legenden um ihn rankten.

»Ist gut gelaufen«, sagte Kitana. »Ein paar Wünsche musste ich von mir abtropfen lassen, aber das ist ja immer so.«

Ihr Großvater schien ihr kaum zuzuhören, er blickte in den Innenhof, in dem eine steinerne Statue seines Götter-Ichs mit Jaguarkopf thronte. »Gottsein ist manchmal ein dreckiges Geschäft«, brummte er plötzlich.

Erstaunt blickte Kitana ihn an. »Was meinst du damit? Ist doch toll, wenn man den Leuten helfen kann.«

Damit war das Gespräch leider beendet, weil Tova hereinkam und über die Jadekette in »Ohs« und »Ahs« ausbrach. Sie liebte Schmuck und nahm es jedes Mal übel, wenn solche wertvollen Stücke bei Zeremonien in den großen Cenote, Elámons heiligen Teich, geworfen wurden. Nichts, was in seinen Tiefen versank, sah das Tageslicht jemals wieder.

»Ist Papa noch nicht zurück?« Kitana blickte sich um, bemerkte aber nur ihren kleinen Bruder, der – inzwischen wieder als Junge in Menschengestalt – versuchte, aus einem Stück Holz ein Kanu zu basteln. Da er nicht sehr geschickt mit den Händen war, sah es aus wie ein Mittelding zwischen einem Ast und einem Beißknochen.

»Nein, er ist noch nicht zurück, das Treffen dauert lange diesmal. Bestimmt will das alte Warzenschwein unbedingt seinen Willen durchsetzen«, knurrte Danao und ließ den Falter auf seinem Zeigefinger landen.

»Ungewöhnlich, dass die beiden sich so lange besprechen«, sagte Kitana und plötzlich fielen ihr Ilus Worte wieder ein. Ihre Sorgen kehrten zurück.

Ihr Großvater zog die Augenbrauen hoch, als sie ihm von der Vision des Orakelpriesters erzählte. »Unheil, soso. Hoffentlich hat der kleine Stinker nicht vorhergesehen, dass ich in die Unterwelt eintrete. Darauf habe ich noch keine Lust, das Essen ist garantiert mies dort.« Genüsslich leerte er einen Krug Balche, ein leicht berauschendes Getränk aus Mais und der Rinde eines heiligen Baumes.

»Du? Unterwelt? Ich würde nicht drauf wetten, dass sie dich dort haben wollen«, spottete ihre Tante Tova.

Kitana versuchte, ihren Vater mit einem geistigen Ruf zu erreichen. Ohne Erfolg. Das lag vermutlich an ihr, im Gedankenrufen war sie nie gut gewesen – wenn sie es schaffte, damit eine Baumlänge zu überbrücken, war das schon viel. Doch auch Danao schüttelte den Kopf, er hatte ebenfalls keinen Kontakt bekommen.

»Vielleicht schottet er sich ab, weil er sich konzentrieren muss«, meinte ihr Großvater.

Kitana ging in den Nebenraum zu ihrer Mutter und sah, dass sie mit halb geschlossenen Augen unter ihrer Decke ruhte. Als Kitana ihr einen Kuss auf die kühle, feuchte Stirn gab, regte sie sich. »Warst du zufrieden mit der Audienz, mein Kätzchen?«, fragte Ximena und lächelte mühsam. Sie war nicht groß und wirkte jünger, als sie war – vielleicht durch die großen dunklen Augen und ihre für eine Jaguar-Wandlerin zierliche Gestalt. Von der Art her war sie ruhig, aber entschieden, so auch jetzt.

»Es gab ein bisschen Ärger mit Tzul, aber das ist ja nichts Neues. Ich habe ihn in den Wald geschickt, da ist er erst mal gut aufgehoben.« Während sie erzählte, entfernte Kitana ihren aufwendigen Kopfputz und überlegte, ob genug Zeit war, sich zu waschen. Leider nein. Wenn sie es rechtzeitig zum Treffpunkt mit Axar schaffen wollte, musste sie bald los. Soll ich den anderen von ihm erzählen? Nein, besser, es bleibt erst mal geheim, dass wir uns sehen.

Doch sie hatte ihre Mutter unterschätzt.

»Verbirgst du etwas vor mir?«, fragte sie sanft.

»Äh …«

»Erzähl es mir irgendwann, ja?«

»Versprochen«, sagte Kitana und wandte sich um, als sie Schritte hörte.

»Ihr redet aber nicht etwa über mich?«, fragte eine melodische, weibliche Stimme. Hinter ihr stand Karali, die in zweiter Gestalt ein Tukan war, in der Stadt als Verkörperung der Göttin Mo galt und deswegen Karali Mo genannt wurde. Sie war eine schöne junge Frau, die es genoss, sich verehren zu lassen, und sich in Wutanfälle hineinsteigern konnte, wenn König und Volk ihr nicht gaben, was sie forderte. Das fand Kitana ziemlich anstrengend, doch sie respektierte die Vogelgöttin als Freundin ihrer Mutter, und da Karalis besondere Fähigkeit das Heilen war, verzieh sie ihr die Launen.

»Gut, dass du da bist, Karali!«, rief Tante Tova. »Könntest du mal durch die Gegend fliegen und schauen, ob du unseren Hausherrn siehst? Er macht sich gerade rar …«

»Warum sagt ihr ihm nicht, was sich gehört?«, scherzte ihre Nachbargöttin. »Männer müssen parieren, sage ich immer. Jaja, schon gut, ich fliege los und schaue, ob ich ihn sehe.«

Kitana überließ die Frauen ihrem Gespräch, zog sich im Nebenzimmer rasch ein schlichtes hellbraunes Kleid über und behielt als Schmuck nur ihre Jade-Ohrringe, dann verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg.

Axars und ihr geheimer Treffpunkt war zu ihrer Kinderzeit einer der Baumriesen gewesen, die sich im Wald erhoben – es hätte fünf Männer gebraucht, um den Stamm mit den Armen zu umspannen. Kaum jemand wusste, dass der Stamm hohl war, weil Kletterpflanzen die Öffnung verbargen. Sie hatte den Baum immer mal wieder besucht, während Axar im Tempel beschäftigt oder auf seiner großen Reise gewesen war. Es war ein guter Ort, um an ihn zu denken.

Etwa auf halbem Weg zu ihrem Treffpunkt stutzte sie. Moment mal, dieses Gefühl kannte sie … war hier ein Wandler in der Nähe? Anscheinend. Doch wer war er und wo verbarg er sich? Ein Mensch war er gerade nicht, sonst hätte sie ihn gewittert oder gehört – selbst in ihrer Menschengestalt hatte sie sehr scharfe Sinne.

»Es ist nicht sonderlich höflich, dass du dich versteckst«, sagte sie zum dichten Gewirr aus Blättern und Lianen, das sie umgab. Manche Bäume hatten wegen der Trockenheit ihre Blätter abgeworfen, doch die meisten waren noch grün. Ihr Blick tastete über die senkrechten Brettwurzeln eines Baumes, mit denen er vermied, das Schicksal eines umgestürzten Artgenossen zu teilen. Auf dessen halb vermoderten Ästen wucherten rot-grüne Bromelien und eine Orchidee mit winzigen violetten Blüten. Ein Kolibri inspizierte sie kurz und schwirrte dann weiter zu ergiebigeren Nektarquellen. War das der Wandler? Vermutlich nicht, er beachtete sie ebenso wenig wie die Blattschneiderameisen, die vor ihren Füßen ihre grüne Beute transportierten.

Nur zu deiner Information, ich verstecke mich nicht, ich bin einfach hier, erklang es plötzlich in ihrem Kopf. Es war die Stimme eines Jungen.

Ihre Augen erfassten eine Bewegung. Eine hell- und dunkelbraun gemusterte Echse mit peitschenförmigem Schwanz und langen Zehen zischte einen Zweig hoch und blickte sie an.

Kitana nickte dem fremden Wandler grüßend zu. »Wie heißt du? Ich kenne dich nicht.«

Ihr gebt euch nur mit anderen Göttern ab, was? Und ich bin kein Gott, weil ich nicht verehrt werden will und mir das, was ihr macht, zu anstrengend ist. Ein Wandler zu sein, reicht mir. Die großen Augen der Echse betrachteten sie skeptisch. Übrigens kenne ICH DICH. Du heißt Kitana und hast dir früher einen Spaß daraus gemacht, Eidechsen zu fangen! Was genau hast du dir dabei gedacht?

Eisen und Tränen

»Was ich mir dabei gedacht habe, Eidechsen zu fangen?« Das Mädchen wirkte nicht verlegen. »Hat eben Spaß gemacht. Tut mir leid. Immerhin, ich habe sie nicht gefressen. Wie alt bist du eigentlich?«

Yaddi jagte ein großes Blatt hinab. Trotz allem gefiel es ihm, mit jemandem zu reden – allein wurde es manchmal langweilig. Fünfzehn Jahre, glaube ich, antwortete er schließlich. Übrigens, dein Freund wartet schon auf dich. Er hat gerade an seiner Achsel geschnuppert, ich glaube, er macht sich Sorgen, ob er für dich gut riecht.

»Das, mein Lieber, geht dich gar nichts an.« Das Mädchen ließ ihn nicht aus den Augen, was ein etwas unheimliches Gefühl war. Er durfte keinen Moment lang vergessen, dass sie ein großes Raubtier war. »Bist du dieser Kerl namens Yaddi? Einer der anderen hat erzählt, dass er dich getroffen hat, ist aber schon eine Weile her.«

Ah, welch Ruhm!, erwiderte Yaddi und kratzte sich mit einem seiner langen Zehen über dem Auge. War es das Federvieh mit dem Riesenschnabel? Oder der fette Käfer?

»Du magst wohl keine Gesellschaft, was? Ich aber. Deshalb treffe ich mich jetzt mit Axar. Tu mir einen Gefallen und belausch uns nicht, ja?«

Und was, wenn ich es doch mache?

Sie teilverwandelte ihr Gebiss, sagte aber unschuldig: »Ich weiß nicht. Hast du einen Vorschlag?«

Dann gibst du mir eine fette Raupe aus?

»Besser, ich bringe dir eine getrocknete Eidechsenhaut vom Markt mit«, sagte Kitana, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich muss los. Gepriesen sei Elámon!« Sie hob die Hand zum Gruß und ging weiter.

Gepriesen sei Elámon? Wie daneben war das denn! Was gingen ihn diese Stadtstaaten an? Oder, wenn man schon beim Thema war, diese ganzen Wandler, die sich als Götter aufspielten?

Trotzdem, ob er wollte oder nicht … das Mädchen tat ihm leid.

Sie wusste noch nicht, was er wusste.

Kitana sah, dass Axar neben »ihrem« Baum auf dem Boden hockte. Auch er hatte sich umgekleidet und trug nun einen schlichten Lendenschurz. Einen Moment lang beobachtete Kitana ihn, während das Blut schnell in ihren Adern kreiste. Lautlos sog sie seine Witterung ein. Die war ähnlich wie früher und doch ein bisschen anders – männlich-herber, mit harzigen Untertönen vom Weihrauch.

Er zuckte zusammen, als sie ihm auf die bloße Schulter tippte. »Kitana! Wolltest du, dass ich vor Schreck tot umfalle?«

Nur knapp konnte Kitana ein Schnurren unterdrücken. »Ach? Ein Wunder, dass du deine Reise überlebt hast, wenn dich schon so was fast umbringt.« Mit klopfendem Herzen ließ sie sich in seiner Nähe nieder, nah genug, dass sie ihn gut beobachten konnte – aber nicht so nah, dass sie sich versehentlich berühren würden. »Vielleicht solltest du mal deine Ohren putzen. Ich habe mich nicht mal angeschlichen.«

Sie konnte kaum fassen, dass keine Verlegenheit zwischen ihnen war. Es war fast wie früher. »Ich habe gehört, ihr seid in einem Gewitter gekentert – und du hasst doch Gewitter!« Ihr Blick glitt zum hohlen Baumstamm neben ihnen. »Weißt du noch, wie du dich früher dadrin versteckt hast, weil du eine Todesangst vor Blitz und Donner hattest?«

Seine weißen Zähne leuchteten auf, als er lächelte. »Ja, weiß ich noch. Du hast netterweise versucht, mich zu beruhigen. Hat sogar gewirkt. Als wir neulich in diesem Sturm gekentert sind, hatte ich hauptsächlich Angst, dass mein Geschenk für dich untergehen würde.«

»Geschenk?« Kitana fühlte sich hin- und hergerissen. Wie nett, dass er an mich gedacht hat! Aber ich bekomme jeden Tag Opfergaben und habe nicht viel Verwendung für noch mehr Gegenstände. Neugierig war sie trotzdem – schließlich kannte kaum jemand sie so gut wie er …

Axar griff hinter sich und brachte ein Lederbündel zum Vorschein, in das drei längliche Gegenstände gewickelt waren. Gespannt rollte sie sie heraus und staunte über drei etwa handlange mattgraue Stäbe mit unterschiedlich geformtem Ende. Sie wusste sofort, was das war. »Axar! Das sind ja …«

»Ich wusste nicht, ob du immer noch gerne Schriftzeichen in den Stein hämmern willst, aber ich dachte, ich riskier’s mal«, sagte er mit einem schiefen Lächeln.

»Sind die etwa aus Eisen?« Kitana war beeindruckt. Wie schwierig und teuer es gewesen sein musste, diese Werkzeuge zu beschaffen! Es gab fast keine Metalle in ihrer Heimat, Messer und Werkzeuge waren gewöhnlich aus Feuerstein oder – wenn man es sich leisten konnte – aus Obsidian. Eisen hatte Kitana noch nie gesehen, sie kannte nur Kupfer und das war für die Steinbearbeitung zu weich.

Gerührt ließ sie die Finger über ihre neue Bildhauerausrüstung gleiten; er hatte sogar ihr Namenszeichen darin einprägen lassen. Was für ein wunderbares Geschenk. Etwas, das bewies, dass er sie und ihre Träume ernst nahm.

»Danke!« Spontan zog sie ihn an sich. Wie gut sich sein Körper anfühlte, die festen Muskeln unter seiner von der Sonne gewärmten Haut. Nur mit Mühe konnte sie sich daran hindern, darüberzustreichen.

Kurz umarmte er sie zurück und atmete aus, entspannte sich, doch dann zog Axar sich behutsam zurück und blickte sich um. Auch ihm war klar, dass sie Ärger bekommen konnten, wenn man sie so zusammen sah. »Es wäre so viel leichter, wenn ich kein Priester wäre … dann könnte niemand etwas gegen unsere Freundschaft sagen«, murmelte er. »Manchmal zerreißt mich das fast, kannst du das verstehen?«

Alarmiert blickte Kitana ihn an. »Du bist gerne Sternenpriester, wirf das bloß nicht weg. Wir sind einfach weiterhin vorsichtig, ja?« Behutsam legte sie die Werkzeuge beiseite und blickte ihn an. »Jetzt erzähl!«

Und Axar erzählte. Niemand konnte das so gut wie er. Er berichtete, wie sie an fernen Orten unzählige Wunder gesehen und Götter getroffen hatten, die man hier nur dem Namen nach kannte. Leider hatten er und die anderen Priester keinen von ihnen dazu verlocken können, mitzukommen nach Elámon.

»Sie hatten kein Interesse an einem eigenen Tempel bei uns?«, fragte Kitana und ihr Priesterfreund schüttelte den Kopf.

Während Kitana zuhörte, fragte sie sich, ob Axar auf dieser Reise eine Frau gefunden hatte. Vielleicht … bestimmt … hatte er unterwegs nur angenommen, was ihm als gut aussehendem, starkem jungem Mann angeboten worden war. Wieso auch nicht? Er und sie waren nur Freunde, er schuldete ihr keine Treue.

Kitana kratzte sich an einem Mückenstich, um Axar nicht ansehen zu müssen. Nein, auf keinen Fall frage ich ihn nach so was – ich will es nicht hören!

Axar erzählte nichts von anderen Frauen. Er berichtete, wie sie einen ihrer Helfer an eine Giftschlange verloren hatten. Wie sie von feindlichen Kriegern angegriffen worden waren und sich durch den Sprung einen Wasserfall hinab gerettet hatten. Wie lange sie ohne Proviant überlebt hatten, bis sie zum nächsten freundlich gesinnten Dorf gelangt waren. Wie sie nach viermal zwanzig Tagesreisen an der berühmten Höhle des Kaimangottes angekommen waren, wo ihr Auftrag lautete, für die Seele der kürzlich verstorbenen Königsmutter zu beten und zu opfern. »Doch unsere Opfer – Edelsteine und ein frisch erlegter Tapir – sind vom Hüter des Totenreichs nicht angenommen worden«, berichtete Axar grimmig. »Eher im Gegenteil, jedenfalls ist ein Teil der Höhlendecke heruntergebrochen und hat einem aus unserer Gruppe den Schädel eingeschlagen.«

Fasziniert und betroffen lauschte Kitana … doch nach einer Weile wurde sie unruhig. »Übrigens ist heute früh Ilu zu uns gekommen – er hat Unheil vorhergesehen und hat gesagt, wir sollen vorsichtig sein«, berichtete sie ihm. »Ich habe also nicht vor, in nächster Zeit in irgendwelche Höhlen zu gehen.«

Ein Ruck ging durch Axar. »Ilu, der Orakelpriester, hat das gesagt – und du hast die Audienz trotzdem abgehalten? Was ist mit deiner Familie, ist sie in Sicherheit?«

Sie blickten sich an und Kitana spürte, wie ein Schauer sie durchlief. Es fühlte sich an, als hätten sich Gewitterwolken vor die Sonne geschoben.

Rasch stand sie auf und nahm ihre neuen Werkzeuge. »Ich muss zurück.«

Wortlos nickte Axar, er blickte sie besorgt an. »Soll ich dich begleiten?«

Kitana schüttelte den Kopf. »Sonst musst du mehr Fragen beantworten, als gut für dich ist. Und das will ich nicht.« Xunan, der Erste Priester des Jaguartempels, war ein unangenehmer Mensch, der seine Untergebenen tyrannisierte und Vertraulichkeiten gegenüber Göttern (oder noch schlimmer, Göttinnen) nicht schätzte.

Ein letztes Mal trafen sich ihre Augen. »Schön, dass du zurück bist«, sagte Kitana – es fühlte sich so gut an, dass sie sich wiedergefunden hatten!

In seinem Blick las sie ein Echo.

Dann lief sie los.

Das Haus der Jaguargötter war ein Gebäude am Außenrand von Elámon, direkt hinter dem Tempel und nur wenige Meter vom Wald entfernt. Nichts durfte dahinter gebaut werden, niemand durfte sie dort unaufgefordert besuchen oder stören. Doch diesmal hörte Kitana aufgeregte, fremde Stimmen aus ihrem Wohnbereich dringen. Was war da los?

Ihre Schritte beschleunigten sich wie von selbst. Drinnen fand sie ihre gesamte Familie versammelt: Ihre Mutter war totenblass, aber gefasst; Tova wirkte völlig aufgelöst, Elki hatte glasige, geschockte Augen. Kitanas Großvater Danao blickte grimmig drein und schenkte dem Morphofalter, der ihn umflatterte, keinen Blick.

Zwei Menschen standen mitten im Raum, den eigentlich kein Fremder betreten durfte – es waren Tzul, der junge Krieger aus der Palastwache, und Nicte, das Kind der Honigsammler-Familie. Alle beide waren blass und wirkten erschüttert, sogar der sonst so arrogante Tzul.

»Was ist passiert?«, schrie Kitana sie alle an, sie bekam kaum Luft, ihr ganzer Körper hatte sich verkrampft. Ihre Mutter ging auf sie zu und versuchte, die Arme um sie zu legen, doch Kitana schüttelte sie ab.

»Kem Balam, unser großer Jaguargott, ist zurückgegangen in die Unterwelt, aus der er stammt«, verkündete Tzul. »Wir sind Zeugen geworden.«

Verständnislos blickte Kitana ihn an, am liebsten hätte sie ihm die Krallen durchs Gesicht gezogen. »Was, wie? Sagt mir doch einfach, WAS LOS IST!«

»Wir haben gesehen, wie dein Vater im Wald von einem herabstürzenden Ast erschlagen worden ist«, sagte Nicte und brach in Tränen aus.

Auch Götter können sterben

Ihr Vater. Tot? Eine kalte Welle des Entsetzens raste durch Kitana hindurch. Sie wollte brüllen, mit aller Kraft den Schmerz herausbrüllen, doch kein Ton kam aus ihrer Kehle, nur ihre Lippen öffneten sich ein wenig. Kraftlos, kalt fühlte sich ihr ganzer Körper an.

Bilder huschten durch ihren Kopf. Ihr Vater Kem Balam, lächelnd, die goldenen Augen warm vor Stolz. Meine Tana, dunkelschön wie die Nacht! Sein konzentrierter Blick. So, ich mache mich auf den Weg – der König wartet nicht gerne. Seine teilverwandelten Zähne, seine Kraft, das Jaguar-Fleckenmuster auf seiner Haut.

Bei jenem Abschied habe ich ihn zuletzt gesehen. Es war das letzte Mal und ich habe es nicht gewusst. Das LETZTE MAL! Der Schmerz versuchte sie niederzuwerfen, scharf wie eine Obsidianklinge war er, und sie wehrte sich nicht gegen ihn.

Wieso atmeten sie alle weiter? Wieso war der Mond aufgegangen, als wäre nichts geschehen? Wieso sangen die Zikaden im Regenwald? Die Welt war doch dabei unterzugehen. Nein, sie war schon untergegangen.

Ihre Mutter war zu Boden gesunken, Elki fest im Arm, Tante Tova hatte die Hände ineinander verschränkt, die teilverwandelten Krallen bohrten sich tief in ihre Haut. Kitanas Großvater weinte nicht, er starrte nur blicklos ins Nichts. Zwei Söhne hatte er gehabt – der eine, Kitanas Onkel, war zwar als gewöhnliches Kind geboren worden, aber dennoch mehr Tier als Mensch gewesen. Er hatte sich entschieden, als Jaguar im Dschungel zu leben, nie hatten sie ihn wiedergesehen. Und nun hatte er auch den anderen Sohn verloren. Ihren Vater. Kem Balam.

»Ich muss ihn sehen«, sagte Kitana und packte Tzul am Arm. »Bringt mich zu ihm! Wir gehen. Jetzt sofort. Jetzt, habt ihr verstanden?«

Selbst als Mensch sah sie hervorragend im Dunkeln, doch da sie nicht wusste, wo der Unfall passiert war, musste sie warten, bis die aufgeregten Priester und Palastwachen Fackeln organisiert hatten. Jeder einzelne Moment war unerträglich.