Die Jahre ohne dich - Tania Schlie auch bekannt als SPIEGEL-Bestseller-Autorin Caroline Bernard - E-Book
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Beschreibung

Eine mutige Frau, die niemals aufgibt: Der Familiengeheimnis-Roman »Die Jahre ohne dich« von Bestseller-Autorin Tania Schlie als eBook bei dotbooks. Hamburg in den 50er Jahren. Ihr Leben scheint vorbestimmt – sie soll früh heiraten, Kinder bekommen, eine brave Hausfrau und Mutter werden … Elisabeth ist nicht bereit, sich zu fügen: Tief in sich spürt sie diesen Hunger nach mehr – sie will das Sägewerk ihres Vaters am Ufer der Elbe weiterführen, jeden Tag den Duft der afrikanischen Hölzer genießen und in der rauen Männerwelt bestehen. Doch nur Theo von Waren, der Hafenmeister mit den strahlend grauen Augen, ist bereit, der jungen Frau Respekt für ihren Ehrgeiz zu zollen und sie zu unterstützen. Noch dazu plagen Elisabeth rätselhafte Träume, in denen sie ein unbekanntes Mädchen sieht, dass ihr doch auf rätselhafte Weise vertraut zu sein scheint. Gibt es in ihrer Familie ein Geheimnis, von dem sie nichts ahnt? Ein Lesevergnügen von Tania Schlie über eine ebenso starke wie mutige Frau, die unbeirrt ihren Weg zum Glück sucht – auch wenn sie weiß, dass dieser mehr als steinig ist … Jetzt als eBook kaufen und genießen – der bewegende Familiengeheimnis- und Schicksalsroman »Die Jahre ohne dich« von Tania Schlie, ursprünglich veröffentlicht unter dem Pseudonym Greta Hansen. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 557

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Über dieses Buch:

Hamburg in den 50er Jahren. Ihr Leben scheint vorbestimmt – sie soll früh heiraten, Kinder bekommen, eine brave Hausfrau und Mutter werden … Elisabeth ist nicht bereit, sich zu fügen: Tief in sich spürt sie diesen Hunger nach mehr – sie will das Sägewerk ihres Vaters am Ufer der Elbe weiterführen, jeden Tag den Duft der afrikanischen Hölzer genießen und in der rauen Männerwelt bestehen. Doch nur Theo von Waren, der Hafenmeister mit den strahlend grauen Augen, ist bereit, der jungen Frau Respekt für ihren Ehrgeiz zu zollen und sie zu unterstützen. Noch dazu plagen Elisabeth rätselhafte Träume, in denen sie ein unbekanntes Mädchen sieht, dass ihr doch auf rätselhafte Weise vertraut zu sein scheint. Gibt es in ihrer Familie ein Geheimnis, von dem sie nichts ahnt?

Über die Autorin:

Tania Schlie, geboren 1961, studierte Literaturwissenschaften und Politik in Hamburg und Paris. Bevor sie anfing zu schreiben, war sie Lektorin in einem großen Verlag. Heute lebt sie als erfolgreiche Autorin in der Nähe von Hamburg.

Bei dotbooks veröffentlicht Tania Schlie, die auch unter den Namen Greta Hansen und Caroline Bernard erfolgreich ist, die Romane »Der Duft von Rosmarin und Schokolade«, »Der Duft von Sommerregen«, »Die Spur des Medaillons«, »Eine Liebe in der Provence«, »Ein Sommer in Bonneville«, »Die Liebe der Mademoiselle Godard«, »Elsas Erbe« und »Zwischen uns der Ozean«.

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eBook-Neuausgabe August 2019

Copyright © der Originalausgabe 2015 Piper Verlag GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Vibrant Image Studio und shutterstock/Nejron Photo

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-436-2

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Tania Schlie

Die Jahre ohne dich

Roman

dotbooks.

Mit dir werde ich an jedem Ort der Welt glücklicher sein als ohne dich im Paradies.

Kapitel 1

Um sie herum drängten sich Menschen in dunklen Wintermänteln. Sie trugen schwere Koffer und schoben Kinderwagen vor sich her, und sie strebten alle in dieselbe Richtung. In einiger Entfernung sah sie über den Hüten und pelzbesetzten Mützen Dampf aufsteigen. Das musste die Lokomotive sein, denn ihre Mutter hatte gesagt, sie würden eine Reise mit dem Zug machen. Sie hörte spitze, empörte Schreie, die Wut oder Schmerz ausdrückten. Jemand stieß sie mit etwas Hartem, Kantigem zwischen die Schulterblätter. Sie wollte einen Schritt nach vorn machen, um dem Druck auszuweichen, aber das war unmöglich. Es waren zu viele Menschen um sie herum, die alle vorwärts wollten. Ihre wollene Unterwäsche kratzte erbärmlich auf der Haut, und sie musste dringend auf die Toilette. Es stank durchdringend nach fettigem, feuchtem Stoff und Körperausdünstungen. Sie begann lautlos zu weinen. Der Schweiß lief unter der gestrickten Mütze hervor über die Stirn. Er brannte salzig in den Augen, aber sie konnte ihn nicht abwischen, denn keinesfalls durfte sie die Hand loslassen, die sie verbissen umklammerte. Das war das Allerwichtigste, nur das zählte: die Hand festhalten. Doch jemand drückte mit seinem ganzen Gewicht auf ihren Arm, um sie zum Loslassen zu bewegen und sich durch die entstehende Lücke zu drängeln. Sie packte noch fester zu, bis sich ihre kleine Hand verkrampfte und sie voller Entsetzen spürte, wie die Kraft aus ihren Fingern wich. Schnell versuchte sie, ihre Finger wieder mit den anderen zu verschränken wie beim Gebet, doch die Handflächen waren schweißnass und rutschig. In all der Panik fühlte sie plötzlich, wie es ihr warm und klebrig zwischen den Beinen herunterlief. Dadurch war sie für einen Moment abgelenkt, und die Finger der anderen Hand lösten sich noch ein Stückchen weiter von ihren. Sie wollte sie erneut packen, aber da berührten sich nur noch ihre Fingerspitzen, dann war auch dieser letzte Kontakt abgerissen. Ihre Hand fiel schlaff herunter, und sie brannte wie Feuer ...

Elisabeth hörte ihren eigenen Schrei, als sie erwachte. Keuchend setzte sie sich im Bett auf und schlug die Decke zurück. Erleichtert atmete sie aus und griff nach dem Wasserglas, das neben ihr auf dem Nachttisch stand. Das machte sie immer so, wenn sie diesen Traum hatte: Sie trank einen Schluck kühles Wasser, um richtig wach zu werden und die letzten Spuren des Albtraums zu vertreiben. Sie hatte ihn schon unzählige Male gehabt, und es hatte Zeiten gegeben, an denen er sie in dieser oder einer anderen Form beinahe jede Nacht heimgesucht hatte. Immer ging es darum, dass sie in einer bedrohlichen Menschenmenge stand und verzweifelt jemanden festzuhalten versuchte. Aber nie gelang es ihr. Jedes Mal aufs Neue entglitt ihr die Hand, und sie blieb allein und verzweifelt zurück.

Sie wusste noch genau, wann diese Träume angefangen hatten sie zu quälen, nämlich genau vor fünf Jahren, im September 1945, an dem Tag, als sie mit ihrer Mutter in Hamburg angekommen war.

Die Stadt war die letzte Station ihrer Flucht gewesen, die im bitterkalten Januar des letzten Kriegsjahres in Leba an der westpreußischen Ostseeküste unweit von Danzig begonnen hatte. Damals waren es zwanzig Grad unter null gewesen, sie hatte ihre Fingerspitzen und die Zehen nicht mehr gespürt, so erbarmungslos hatte die Kälte zugeschlagen. Als sie in Hamburg an der Hand ihrer Mutter aus dem Zug stieg, trug sie den dick gefütterten Wintermantel und die doppelt gestrickten Fäustlinge in einem Koffer bei sich, denn inzwischen war es Sommer und schwülwarm. Während der Monate davor hatte Elisabeth in Viehställen und Eisenbahnwaggons, auf Planwagen und unter freiem Himmel geschlafen, sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre monatelange Reise hier an der Elbe ein Ende haben sollte. Denn damals glaubte sie, dass das Leben nur aus endlosen Märschen, aus dem Warten an Bahnhöfen bestand und aus der Unsicherheit, nie zu wissen, wo man an diesem Tag schlief und ob man etwas zu essen bekam.

Ihre Mutter, Marietta Hermann, hatte eine Cousine in der Stadt, die ihr zu Weihnachten geschrieben hatte, sie könnten bei ihr unterkommen. Das letzte Stück Weges ab Lübeck hatten sie erneut in einem Zug zurückgelegt. Als sie in Hamburg ankamen, flogen Möwen über ihre Köpfe hinweg, denn der Bahnhof hatte kein Dach mehr. Marietta war früher einige Male in Hamburg gewesen, doch sie erkannte in dieser Trümmerlandschaft nichts wieder. Nicht einmal die großen Verkehrsadern waren noch auszumachen. Die Stadt war unter meterhohem Schutt begraben, auf dem Menschen ungelenk umherstolperten. Marietta nahm die Alster und die Reste der Bahngleise, um sich zu orientieren. Als sie nicht mehr weiterwusste, trat sie an einen britischen Militärposten heran, um nach dem Weg zu fragen. Der Mann warf einen mitleidigen Blick auf Elisabeth, dann wandte er sich ohne ein Wort ab.

»Die Sieger dürfen nicht mit den Besiegten reden«, sagte Marietta kalt und ging weiter. Elisabeth war müde und hätte gern einen Moment gerastet, doch ihre Mutter zerrte sie weiter hinter sich her.

Mühsam fragte sich Marietta durch, bis sie in der Nähe des Schlachthofs ankamen. Sie war zunehmend aufgeregt und besorgt. »Hier muss es doch sein«, sagte sie immer wieder. Dann blieb sie so abrupt stehen, dass Elisabeth gegen ihre Hüfte prallte. Vor ihnen lag ein komplett zerstörter Straßenzug. Nur das Haus mit der Nummer 20 stand noch, und Marietta konnte sich ausrechnen, wo die Nummer 28, das Haus ihrer Cousine, einmal gewesen sein musste. Sie kletterten über einen Berg aus Ziegeltrümmern, aus dem Balken und zerborstene Fensterrahmen ragten, hin zu den Resten der Brandmauern, an denen Nachrichten auf Pappkarton befestigt oder direkt mit Kreide an die Wände geschrieben waren, die vom Schicksal der Bewohner erzählten. Familie Nostitz: alle tot. Hans und Lore Bergner: nach Bremen verzogen. Nachrichten von Ernst und Hannelore Wegener bitte an Else Wegener, Schulterblatt 37 usw. Elisabeth, die erst fünf Jahre alt war und noch nicht lesen konnte, hörte, wie ihre Mutter den Inhalt der Zettel vor sich hin murmelte.

Eine der Nachrichten wiederholte sie einige Male, woraus Elisabeth schloss, dass sie die Cousine ihrer Mutter betraf: Almuth Carstens: vermisst seit Januar 1945

Ihre Mutter setzte sich erschöpft auf ihren Koffer, und Elisabeth ließ sich neben sie fallen. Sie war müde, und ihr fielen die Augen zu.

Ein Mann näherte sich ihnen. Es war später Nachmittag, und er trug eine Aktentasche. Er sah aus wie jemand, der auf dem Heimweg von der Arbeit war. Er blieb vor ihnen stehen und beugte sich hinunter, als er zu sprechen begann.

»Mein Name ist Nikolaus Michelsen. Ich könnte eine Haushälterin brauchen«, sagte er. »Ich biete Kost und Logis. Na ja«, fügte er mit einem bitteren Lächeln hinzu, »die Kost ist eher schmal.«

Marietta Hermann sah ihn prüfend an, dann stand sie ein wenig unbeholfen auf, zog Elisabeth an der Hand hoch, und sie folgten dem Mann ein paar Straßen weit Richtung Neuer Pferdemarkt.

»Hier wäre es«, sagte der Mann. Das Haus war wie durch ein Wunder bis auf ein paar Einschusslöcher völlig unbeschädigt. Elisabeth staunte, als sie die Wohnung im zweiten Stock betraten. Hier war alles heil und stand an seinem Platz. Das hatte sie schon lange nicht mehr gesehen.

Marietta ging langsam durch die drei Räume. Dann drehte sie sich zu Nikolaus Michelsen um: »Wo werden wir schlafen, meine Tochter und ich?«, fragte sie.

»Sie nehmen das Schlafzimmer. Ich bleibe im Wohnzimmer.«

Sie nickte. Sie war einverstanden.

Elisabeth fand alles märchenhaft schön und luxuriös. Und das Beste: In einer Schublade unter dem Herd lagen einige Kartoffeln und eine Zwiebel, im Küchenschrank eine fast volle Packung Würfelbouillon. Marietta machte sich daran, das Gemüse zu putzen, um eine Suppe zu kochen. In einer Anrichte fand sie eine bestickte Decke und Stoffservietten, die sie auf den Tisch legte. Nikolaus Michelsen registrierte das mit einiger Verwunderung, dann lächelte er.

In der folgenden Nacht schlief Elisabeth zum ersten Mal seit Monaten in einem richtigen Bett, noch dazu unter einer Daunendecke, in deren Bezug sich die Federn bauschten. In der anderen Ecke des Zimmers lag ihre Mutter in ihrem Bett.

Bereits in dieser ersten Nacht spürte Elisabeth, dass sich etwas verändert hatte: In den Monaten zuvor hatte ihre Mutter sie jede Nacht in den Armen gehalten. Sie war zwar oft hungrig und erschöpft eingeschlafen, aber dafür hatte sie immer die Arme ihrer Mutter um sich gespürt. Jetzt lag sie allein hier, und trotz des dicken Federbetts war ihr kalt.

Sie hatte das Gefühl, ein Band sei gerissen, und in dieser Nacht kam der Traum zum ersten Mal.

Nikolaus Michelsen war Hamburger durch und durch, und er sprach auf eine Art, die Elisabeth noch nie gehört hatte, die sie aber mochte und die sie zum Lachen brachte. Ihre Mutter nannte er »Morietta«, wobei er das »R« rollte, und er stolperte über den spitzen Stein, trennte also »s-t« und »s-p« beim Sprechen, und benutzte komische Redewendungen wie »Sieh's wohl!« und »Soll ich heute später kommen, komme ich heute später«, obwohl er meinte: »Wenn ich heute später komme ...«. Zum Saubermachen sagte er »Aufklaren«, eine Pause war für ihn »Fofftein«, und wenn sie irgendwohin wollten, forderte er sie auf: »Nu man los!«.

Als er Marietta fünf Monate nach ihrer Ankunft fragte, ob sie ihn heiraten wolle, willigte sie ohne Zögern ein. Sie hatte seine ruhige, besonnene Art zu schätzen gelernt und sich auch daran gewöhnt, dass er manchmal ein wenig unbeholfen wirkte, was auch daran lag, dass er bisher nie verheiratet gewesen war und keine Erfahrung mit Frauen hatte.

»Warum nicht?«, wollte Marietta wissen.

»Es hat sich nicht ergeben«, antwortete er. »Da war mal jemand, aber dann kam der Krieg ...« Mehr sagte er nicht zu dem Thema.

Einen Mann, der gut zu ihr und Elisabeth war, mehr erwartete Marietta nicht mehr vom Leben. Und sie wusste sehr genau, dass sie Glück hatte, einen Mann zu finden, der bereit war, ihr und ihrer Tochter ein Zuhause zu geben und sie obendrein noch ehrbar zu machen, indem er sie heiratete. Das war nur den wenigsten der vielen Kriegerwitwen in Deutschland vergönnt. Die meisten lebten in sogenannten »Onkel-Ehen«, und man sah auf sie und ihre Kinder herab. Aber viele dieser Frauen konnten es sich einfach nicht leisten, erneut zu heiraten und damit auf ihre Witwenrenten zu verzichten.

Marietta hatte ihre ganze Kraft gebraucht, es bis in den Westen zu schaffen, nun konnte sie nicht mehr und wollte nur noch Ruhe und Sicherheit. Sie wollte die Verantwortung für ihre Tochter abgeben, die für sie allein zu groß geworden war. Nikolaus adoptierte Elisabeth und nahm sie als seine Tochter an. Elisabeth wuchs in der Gewissheit auf, seine Tochter zu sein und dass sie sich in Hamburg wiedergetroffen hätten, nachdem sie für einige Zeit voneinander getrennt gewesen waren. Nikolaus mochte das Mädchen, außerdem ging er selbstverständlich davon aus, später eigene Kinder mit Marietta zu haben. Er hätte alles getan, damit Marietta ihn heiratete. Er vergötterte sie, und mehr als einmal beglückwünschte er sich dazu, dass er sie quasi vom Bürgersteig aufgelesen und mit zu sich nach Hause genommen hatte. »Ich wusste damals schon, dass du mich glücklich machen würdest«, sagte er gern.

Nikolaus' Mutter Elsemarie war dagegen, dass ihr Sohn eine aus dem Osten heiratete, und sie verbarg ihren Unwillen darüber auch nicht. Zwei Monate nach Mariettas Ankunft war sie zu ihrem Sohn gezogen, da ihre eigene Wohnung einsturzgefährdet war. Elsemarie bezog ein winziges Zimmer auf der halben Etage, das vor dem Krieg als Abstellkammer gedient hatte. Aber die Küche teilte sie mit ihnen, und sie war den größten Teil des Tages oben in der Wohnung. »Um zu helfen«, wie sie sagte. In Wahrheit wollte sie die Fremde unter Beobachtung haben. Man wusste ja nie mit diesen Flüchtlingen ...

»Sie ist zu schön für dich, und sie kommt aus gutem Hause. Was hast du ihr denn zu bieten?«, fragte sie. »Und außerdem ziehst du einen Bastard groß.«

»Ich biete ihr meinen Schutz und meine Liebe, und damit wirst du dich abfinden müssen«, gab er zur Antwort. »Und Elisabeth wird wie meine eigene Tochter aufwachsen. Sie ist erst fünf und wird alles vergessen, was vorher war.« Davon war er überzeugt.

Zudem war er fest entschlossen, es zu einem bequemen Wohlstand zu bringen und Mariettas Ansprüchen in einigen Jahren gerecht zu werden, denn er wusste von ihrer Herkunft.

Einige Zeit, nachdem er sie bei sich aufgenommen hatte, erzähle sie ihm von dem großen Haus an der Ostseepromenade in Leba und von ihrem Mann, der Rechtsanwalt in Danzig gewesen war. Er war vor Stalingrad gefallen. Davor hatten sie Pferde gezüchtet, die Preise bei Rennen gewonnen hatten. Je länger er zugehört hatte, umso schweigsamer war er geworden, und sie hatte das bemerkt.

»Ich möchte dich nicht mit meinem alten Leben belasten«, sagt sie. »Das alles ist Vergangenheit, ich werde nie wieder darüber reden. Schon allein, um es Elisabeth leichter zu machen.«

Es war unübersehbar, dass Marietta aus einer anderen Schicht kam als er selbst. Sie hatte eine höhere Bildung als er, aber sie bemühte sich, das nicht zu deutlich zu zeigen. Ihre natürliche Eleganz schüchterte ihn manchmal ein, aber er machte das mit seiner Fürsorglichkeit wett. Außerdem war er auf dem Weg nach oben. Zwar stammte er aus kleinen Verhältnissen und war gleich zu Anfang des Krieges verwundet und in der Folge kriegsuntauglich gestellt worden. Das hatte ihm jedoch einen Vorsprung vor anderen verschafft, und den hatte er genutzt, um aus eigener Kraft im Hamburger Hafen eine Sägerei auf die Beine zu stellen.

Am Anfang vergaß Marietta manchmal ihr Versprechen. Ihr entschlüpfte ab und an eine Bemerkung, die ihre vornehme Vergangenheit verriet. »Bei uns zu Hause hatten wir am Wochenende immer mindestens zehn Gäste.« Sie erwähnte regelmäßige Reisen nach Berlin und sogar Paris und sprach von Theaterpremieren und silbernen Salzfässchen. Wenn sie ihren Fauxpas bemerkte, presste sie die Lippen aufeinander und verstummte.

Die beiden Kostüme, die sie in ihrem Koffer mitgebracht hatte, waren aus bestem Stoff gefertigt und ließen sich, obwohl sie über Monate getragen worden waren, problemlos aufarbeiten und enger machen. Außer ihrer Kleidung hatte sie eine kleine Leinwand des Expressionisten Karl Schmidt-Rottluff in ihrem Gepäck, der gemeinsam mit seinem Kollegen Max Pechstein zum Malen oft in Leba geweilt hatte und auch zu Gast im Haus ihres Mannes gewesen war. Das Bild hatte etwa die Größe eines aufgeschlagenen Buches, und es zeigte Marietta in einem dunklen Kleid mit Perlenkette.

Sie hing sehr an diesem Bild, das sie auch während der ganzen Jahre, als es als »entartet« geschmäht worden war, nicht von der Wand genommen hatte. Als die Niederlage absehbar war, hatte sie es aus dem Rahmen gelöst und die Leinwand, in eine alte Tischdecke gewickelt, mit auf die Flucht genommen. Neben einigen Fotos war es alles, was sie aus ihrem früheren Leben gerettet hatte. Niemals hätte sie sich davon getrennt. Alles andere, der Schmuck und die Wertpapiere, waren ihr auf der Flucht entweder gestohlen worden oder sie hatte sie gierigen Hausbesitzern und Bauern für einen Platz zum Schlafen und etwas Warmes zum Essen in den Rachen werfen müssen.

»Da kann ja jeder kommen und behaupten, was er alles gehabt hat! Hat ja schließlich niemand gesehen. Alles, was ich weiß, ist, dass du mit nichts hier angekommen bist«, zischte Elsemarie, als Marietta eines Abends ihre Vorsicht vergaß und die Mahagonitäfelungen im Herrenzimmer erwähnte.

»Mutter, hör auf damit!«, wies Nikolaus sie zurecht.

Elisabeth stand auf. »Es ist spät, ich ziehe mich zurück«, sagte sie.

»Bei uns heißt das ›Ins-Bett-gehen«‹, rief Elsemarie ihr nach.

Marietta war fest entschlossen, sich in ihr neues Leben an der Seite von Nikolaus Michelsen zu fügen. Sie wusste ja, dass es pures Glück gewesen war, ihn zu treffen. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie immer wieder an das mächtige, turmgeschmückte Herrenhaus mit der umlaufenden Veranda an der Ostsee denken musste, an ihren groß gewachsenen Mann mit den weltläufigen Manieren, an die abendlichen Gesellschaften und die Reisen und all das andere. Dann überfiel sie ein namenloser Schmerz über das Verlorene. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und träumte sich zurück in ihr altes Leben, das so wohlgeordnet gewesen war. Zurück zu den gediegenen, auf Hochglanz polierten Möbeln, dem großen Esstisch vor dem Kamin, auf dem die Gedecke mit dem Zwiebelmuster perfekt ausgerichtet waren. Sie fragte sich, wer jetzt wohl von diesen blauweißen Tellern aß, wer das schwere Besteck in der Hand halten mochte. In Leba hatte es zu ihren Pflichten gehört, am Morgen mit der Köchin abzusprechen, was es am Abend zu essen geben sollte.

Hier stand sie stundenlang für ein paar Lebensmittel Schlange und wusste nicht, was sie noch abbekommen würde. Marietta fühlte sich heimatlos, ihre alte Welt war untergegangen, in die neue wusste sie sich nicht einzugliedern. Wenn sie sich anstrengte, dann gelang es ihr zu funktionieren, aber sobald sie in ihren Bemühungen nachließ, überkamen sie abgrundtiefe Traurigkeit und eine nagende Unsicherheit, wie sie sich zu verhalten hatte.

Und dann war da noch etwas, das sie mehr vermisste als alles andere. Sie versuchte die Erinnerung daran fortzuschieben, bevor es zu spät war, bevor ihre Gedanken nur mehr um das eine, das liebste kreisten, das nicht mehr da war. Dann war sie der Verzweiflung und dem Wahnsinn nahe. In diesen schwärzesten Momenten war sie dankbar für die Mühsal des Alltags in der zerstörten Stadt, die sie auf Trab hielt und ihr keine Zeit zum Grübeln ließ.

Am Vorabend der Hochzeit ertappte Nikolaus sie beim Nachhausekommen, wie sie in sich gekehrt auf dem Sofa saß. An ihren zuckenden Schultern konnte er erkennen, dass sie weinte. Er trat näher. Sie hatte einige Fotos, nicht mehr als drei oder vier, vor sich im Schoß liegen. Als sie ihn bemerkte, schob sie sie hastig zusammen und legte ihre Hände darüber.

Ihr flehender Blick hielt ihn davon ab, Fragen über die abgebildeten Personen zu stellen. Später, dachte er bei sich. Wenn sie länger hier ist und ihre Wunden verheilt sind, dann werde ich sie fragen.

Doch nach diesem Ereignis verschwanden die Fotos ebenso wie das kleine silberne Amulett, das Elisabeth während der Monate der Flucht um den Hals getragen hatte und auf dem ihr Name und ihr Geburtsdatum eingraviert waren. Nikolaus war im Grunde seines Herzens ganz froh darüber.

Mariettas Porträt mit der Perlenkette ließ er heimlich rahmen und hängte es am Hochzeitstag im Wohnzimmer auf. In den folgenden Monaten hätte das Bild als Tauschware gegen Kinderkleidung oder Streichhölzer auf dem Schwarzmarkt gute Dienste leisten können, doch niemand wagte auch nur daran zu denken, desgleichen zu tun.

Elisabeth ging aus einem Instinkt heraus seit ihrer Ankunft in Hamburg einen anderen Weg als ihre Mutter. Anstatt sich im Alten, in peinigende Erinnerungen an die Vergangenheit zu verlieren, stürzte sie sich mit Leidenschaft in die Gegenwart. Als würde sie ahnen, dass ihr Leben leichter werden würde, je eher sie in Hamburg und in ihrem neuen Leben ankam. Wenn Marietta etwas von Leba oder Danzig erzählte, dann ging Elisabeth davon aus, dass ihre Mutter von ihrem Elternhaus sprach, und sie hörte nicht richtig hin. Für sie fing ihr Leben mit der Ankunft in Hamburg an, die Zeit davor hatte zu existieren aufgehört. Als sie im darauffolgenden Jahr in die Schule kam, hatte sie das Amulett und alles, was in Leba gewesen war, ganz tief im Bodensatz ihrer Erinnerung vergraben. Vergraben unter den vielen neuen Eindrücken, vergraben unter dem Wunsch zu leben und sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Dazu gehörte auch, dass sie »Michelsen« als ihren Nachnamen ansah und Nikolaus als ihren Vater.

Kapitel 2

Elisabeth mochte ihre neue Heimat Hamburg. Die Trümmerberge und die Knappheit an allem, was lebensnotwendig war, nahm sie als gegeben hin, sie kannte es ja nicht anders. Sie war gern am Fluss, wo ihr Vater im Oberhafen, unweit des Hauptbahnhofs, seine Sägerei hatte. Die Kontorräume gingen zur Straße hinaus, auf der anderen Seite lag die Elbe. Durch ein wuchtiges Holztor gelangte man von der Straße in den rechteckigen Hof. Rechts wurden die eingehenden Stämme gelagert, auf der linken Seite befanden sich die beiden Hallen. In der einen stand die Gattersäge, in der anderen wurden die Stämme vermessen, gekennzeichnet, entrindet und weiterverarbeitet. Das fertig gesägte Holz wurde bis zum Abtransport am Ende des Hofs gelagert. Ein einfaches Schienensystem sorgte dafür, dass das Holz per Hand auf Loren vom Hoftor zur Entrindung geschoben werden konnte.

Wenn man sie ließ, saß Elisabeth stundenlang im Büro ihres Vaters auf der breiten Fensterbank, die Füße untergeschlagen, und sah auf das glitzernde Wasser hinaus. Sie kannte bald die Flaggen der Schiffe aus aller Herren Länder und konnte auch verschiedene Schiffstypen voneinander unterscheiden.

Auf der anderen Seite des Hafenbeckens standen die rot geklinkerten, mit Türmen verzierten Speicher mit ihren grünen Kupferdächern. Von dort wehten die unterschiedlichsten Gerüche zu ihr herüber. Es roch nach Kaffee, nach scharfem Pfeffer, nach Tee, manchmal auch nach nasser Wolle, wenn die Orientteppiche feucht geworden waren. Diesen Geruch mochte sie nicht, und sie rümpfte jedes Mal die Nase darüber. Sie konnte von ihrem Platz aus sehen, wie die Waren in Säcken von den Schiffen hoch hinauf in die einzelnen Böden gehievt wurden. Oben standen die Männer in den offenen Luken und zogen die Säcke mit Enterhaken zu sich heran.

Diesem Treiben konnte sie stundenlang zusehen, ohne sich zu langweilen. Der Anblick des Flusses beruhigte sie.

»Du hast früher schon gern aufs Wasser gesehen«, meinte ihre Mutter einmal, als sie sie im Büro des Vaters abholte. »Ich musste deinen Kinderwagen immer so hinstellen, dass du auf das Wasser hinuntersehen konntest.«

»Welches Wasser denn?«, fragte Elisabeth, doch ihre Mutter wandte den Blick ab und antwortete nicht.

Wenn ihr Vater einen Rundgang durch die Sägerei machte, dann nahm er sie mit und befahl ihr, sich dicht bei ihm zu halten. Allein durfte sie die Hallen nicht betreten, weil es für ein kleines Mädchen zu gefährlich war. Das Kreischen der Säge, wenn einer der riesigen Stämme auf dem Tisch hindurchgeschoben wurde, um ihn nach und nach in Bretter und Balken zu teilen, war ohrenbetäubend. Aber Elisabeth hielt sich nie mehr die Ohren zu, nachdem die Arbeiter sie, als sie es beim ersten Besuch in der Halle getan hatte, ausgelacht hatten. Neben den Geräuschen, die hoch und singend waren und plötzlich abrissen, wenn der Stamm das Ende des Sägeblatts erreichte, mochte sie die Gerüche. Sie waren durchdringend und würzig, es duftete nach Harz und manchmal nach verbranntem Holz, wenn das Sägeblatt stecken blieb und sich verkeilte. Das war immer ein besonders gefährlicher Moment. Es kam schon mal vor, dass das Blatt riss und unter dem Druck wie ein Geschoss durch die Halle flog. Nikolaus Michelsen wurde dann fuchsteufelswild und schrie die Arbeiter an der Säge an, gefälligst besser aufzupassen. Meistens waren in einem solchen Fall die Spaltkeile, die am Ende der Säge dafür sorgten, dass die gesägten Bretter sich nicht verkeilten, nicht richtig gesetzt oder der ganze Stamm war nicht sorgfältig genug im Gatterwagen eingespannt und verrutschte während des Sägevorgangs.

Zu dem Geruch des Holzes kam der der beiden dampfenden, schwitzenden Haflingerpferde Hans und Lore. Sie zogen die Stämme vor die Säge und die fertig gesägten Bretter ins Lager. Die schweren Tiere mussten mächtig arbeiten, um die meterlangen Balken zu transportieren. Ihre Hinterlassenschaften lieferten in den ersten Jahren nach dem Krieg wertvollen Brennstoff.

Als sie im August 1946 in die erste Klasse der Schule in der Ludwigstraße kam, begann für Elisabeth ein neues Leben, und das hatte auch mit Hanna Wolnik zu tun.

Es war den Eltern verboten, die Kinder bis vor das Klassenzimmer zu bringen, also verabschiedete Marietta sich unten auf der Straße von ihrer Tochter. Elisabeth ging langsam die Treppe in den ersten Stock hinauf, vorbei an Einschusslöchern und dem mit groben Balken ausgebesserten Treppengeländer. Vor dem Raum blieb sie zögernd stehen.

Da kam ein Mädchen auf sie zu und nahm sie einfach an der Hand. Das fremde Mädchen reckte das Kinn nach oben, stolzierte ins Klassenzimmer und ging an den anderen Kindern vorbei bis zur letzten Bank. Dort setzte sie sich und zog Elisabeth auf den freien Platz neben sich.

Als Frau Harmsen, die Lehrerin, einige Minuten später eintrat und sie alle aufstehen mussten, um sie zu begrüßen, wusste Elisabeth schon, dass ihre Nachbarin Hanna Wolnik hieß.

Hanna trug Kleidung, die ihr zu groß und an mehreren Stellen ausgebessert war. Ihre Schuhe waren geflickt und im Grunde nicht viel mehr als mit Weckringen um die Füße gewickelte Sohlen. Ihre Hände waren schmutzig, und sie roch streng. Und sie hatte das dickste Haar, das Elisabeth je gesehen hatte. In zwei langen blonden Zöpfen fiel es ihr bis fast auf die Hüften.

Als Elisabeth in der Pause ihr Schmalzbrot auspackte, starrte Hanna darauf wie auf einen Schatz. Und nicht nur sie, viele Kinder in der Klasse waren offensichtlich hungrig. Elisabeth klappte die Stulle auseinander und reichte die eine Hälfte, auf der mehr Schmalz war, Hanna, die sie in zwei großen Bissen verschlang. Danach leckte sie sich die Lippen und grinste Elisabeth an.

»Freundinnen?«, fragte sie.

»Freundinnen!«, gab Elisabeth zurück.

Hanna kannte sich in dem Viertel aus wie in ihrer Westentasche. Sie kannte jeden Schlupfwinkel, jedes Versteck in den zerstörten Häusern, und sie zeigte Elisabeth einen verbotenen Weg mitten durch die Trümmer, der sie viel schneller zum Neuen Pferdemarkt nach Hause brachte. Hanna war mutig. Wenn einer der anderen Schüler sie als Flüchtlingskind beschimpfte und behauptete, der Esel habe sie im Galopp verloren, dann stürzte sie sich auf ihn, auch wenn er größer war.

Elisabeth verstand nur halb, was damit gemeint war. Als Frau Harmsen die Klasse fragte, wer von den Kindern Flüchtling oder Kriegswaise sei, stand sie nicht auf wie Hanna und einige andere. Sie fühlte sich weder als Flüchtling noch als Waisenkind. Und dass sie von ihrem Pausenbrot abgab, überzeugte auch alle anderen, dass sie keins von beidem war.

Doch Elisabeth ahnte, dass die Vorsicht ihrer Mutter, die sich zu Hause möglichst auf Zehenspitzen bewegte und sich still und unauffällig benahm, etwas mit diesem Wort zu tun hatte. Sie hörte ihre Oma über die Flüchtlinge schimpfen, die sich überall breitmachten, über das Polackenpack, das ihre Blumenvasen umstellte und neue Gardinen aufhängte und alles wegfraß.

Hanna wohnte in einer der Baracken, die auf dem zerstörten Gelände einer ehemaligen Wurstfabrik errichtet worden waren. Als Elisabeth sie das erste Mal dorthin begleitete, war sie fassungslos. Es war unglaublich eng und niedrig, ungemütlich und schmutzig. Und Hannas Mutter jagte sie gleich wieder hinaus, weil kein Platz war. Ihr Vater löschte Schiffe im Hafen und arbeitete oft nachts. Deshalb versuchte er tagsüber zu schlafen und brauchte Ruhe.

»Wo ist denn dein Bett? Ich habe es nicht gesehen«, fragte Elisabeth, als sie wieder im Freien waren.

»Meine Geschwister und ich teilen uns eins. Das ist gemütlich und schön warm.«

Hanna konnte auf Bäume klettern wie ein Affe, was sie leider nicht oft zeigen konnte, denn es gab nur noch ganz wenige Bäume in der Stadt. Sie waren den Bomben, den Flammen oder den illegalen Feuerholzbeschaffungsaktionen der Hamburger zum Opfer gefallen. Weil Hanna federleicht war, trugen sie auch die ganz dünnen Äste, und sie kam an die Früchte der Eichen ganz oben heran. Sie sammelte die Eicheln, röstete sie im Ofen und zertrümmerte die Früchte dann zwischen Steinen und verkaufte das Ganze als Ersatzkaffee. Sie lungerte an den Bahndämmen herum und klaute Kohlen. Und wenn man nicht aufpasste, dann stahl sie auch Äpfel und alles, was nicht angebunden war. Sie hatte immer Hunger, und ständig liefen ihre beiden jüngeren Geschwister ihr hinterher. Hanna hatte auch noch einen älteren Bruder, der nicht mehr zur Schule ging und ebenfalls im Hafen arbeitete.

Darum beneidete Elisabeth sie am meisten: dass sie eine Schwester hatte. Hannas Schwester Lotte war ein kleines Mädchen, das gern lachte, mit den gleichen blonden Zöpfen wie ihre Schwester und zwei Grübchen auf den Wangen. Elisabeth mochte sie vom ersten Augenblick an, genauso wie sie Hanna sofort gemocht hatte. Und sie beneidete Hanna darum, dass immer jemand bei ihr war, dass sie nie allein war. Sogar nachts im Bett. Wenn die Wolnik-Geschwister irgendwo auftauchten, dann war klar, wer das Sagen hatte. Niemand traute sich an sie heran, um sie zu ärgern oder ihnen das Schulbrot zu klauen – wenn sie denn eines dabeihatten.

Als ihr Vater erfuhr, dass sie mit einer aus der alten Wurstfabrik spielte, wurde er wütend.

»Ich will nicht, dass du dich weiterhin mit ihr abgibst. Sie ist ein Flüchtlingskind«, schimpfte er. »Bestimmt hat sie Läuse, und du wirst auch welche bekommen!«

»Sie ist die Einzige in der Klasse, die nett zu mir ist«, begehrte Elisabeth auf. »Sie ist meine Freundin!«

»Ich will das nicht, Punktum!«, rief ihr Vater.

»Was ist ein Flüchtlingskind?«, fragte Elisabeth später ihre Mutter, als diese gerade den Abwasch erledigte. Aber die überging wie so oft die Frage ihrer Tochter und schrubbte weiter den ohnehin schon sauberen Topf.

Marietta zog sich immer mehr in sich zurück. Die Erledigung der wichtigsten Dinge im Haushalt, das ständige Schlangestehen um Essbares oder Heizmaterial, das Kochen mit minimalen Stromzuteilungen, dazu die Sorge um ihre Tochter und der ewige Streit mit ihrer Schwiegermutter raubten ihr die letzten Kräfte. Oft, wenn Elisabeth aus der Schule kam, lag sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, die Augen zur Decke gerichtet, und starrte einfach nur vor sich hin.

Am Anfang vermisste Elisabeth schmerzlich die frühere Innigkeit, die sie mit ihrer Mutter verbunden hatte. Seit sie Hanna kannte, wurde es aber besser, und sie nutzte die träumerische Abwesenheit ihrer Mutter aus, um sich heimlich weiter mit ihrer Freundin zu treffen. Es kam für sie nicht infrage, dem Verbot ihres Vaters Folge zu leisten. Dazu mochte sie Hanna viel zu gern.

Heimliche Treffen wurden noch einfacher, als Elsemarie ungefähr ein Jahr nach ihrer Ankunft starb. Elisabeth trauerte nicht um sie. Sie hatte zwar Oma Elsemarie zu ihr sagen müssen, aber sie hatte nicht wie eine Enkelin gefühlt. Besonders die Kälte gegenüber ihrer Mutter hatte sie gestört. Egal was Marietta getan hatte, Oma Elsemarie hatte etwas daran auszusetzen gehabt. Nicht einmal die gute Rote-Bete-Suppe hatte sie gemocht!

»So etwas kennen wir hier in Hamburg nicht!«, hatte sie spitz angemerkt und den Teller von sich geschoben.

Dabei war dies Elisabeths Lieblingsgericht. Der Geschmack auf der Zunge weckte in ihr eine Sehnsucht, die sie nicht benennen konnte.

Elisabeth trug zwar keinen Hausschlüssel um den Hals wie die Schlüsselkinder, bei denen niemand zu Hause war, wenn sie aus der Schule kamen, aber sie war fortan trotzdem an vielen Nachmittagen auf sich allein gestellt, weil ihre Mutter nicht ansprechbar war. Sie lernte, diese Freiheiten zu genießen. Sie wurde mutiger und selbstbewusster, auch da Hanna es ihr vorlebte. Weil sie keinen Bruder hatte, den man ihr vorziehen konnte, wurde der Gedanke für sie selbstverständlich, dass sie eines Tages in der Sägerei das Sagen haben würde. Für sie und Hanna gab es keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen, und so bemerkte sie nicht einmal, dass in der Sägerei weit und breit keine Frau war.

Nur bei einem bestimmten Ereignis erwachte Marietta aus ihrer Lethargie: wenn die Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes im Radio liefen.

Immer schon fünf Minuten vor der Zeit schaltete sie den Apparat ein und saß konzentriert davor. Sie hätte die Stimme des Sprechers Joachim Fuchsberger unter Tausenden erkannt, so oft hatte sie ihr schon gelauscht. Im Radio wurden auch die Namen und Aufenthaltsorte von Kindern verlesen, die während der Bombardierungen oder der Flucht vor den Russen von ihren Eltern getrennt worden waren. Dreihunderttausend, nach anderen Angaben sogar fünfhunderttausend waren es, die allein auf den Straßen herumirrten oder in Kinderheimen untergekommen waren. Viele von ihnen waren erst zwei oder drei Jahre alt, zu klein, um ihren Namen oder den von Eltern oder Geschwistern zu wissen.

Mit monotoner Stimme wurden endlose Listen von Namen verlesen, Altersangaben, Fundorte und besondere Kennzeichen wie etwa Muttermale. Der seltsam leiernde, immer gleiche Tonfall der Stimme stand in himmelschreiendem Kontrast zu den Schicksalen, die sich hinter den verlesenen Namen verbargen, zu den Hoffnungen, mit denen die Hörer vor den Apparaten saßen.

»Warum hörst du dir das an?«, fragte Nikolaus eines Abends. »Komm doch lieber ins Bett, es ist spät.«

»Meine Cousine«, gab Marietta zurück. »Ich hoffe immer noch, etwas über ihren Verbleib zu erfahren.«

»Deine Cousine? Du hast mir doch erzählt, dass du sie vor dem Krieg höchstens ein paar Mal gesehen hast. Manchmal glaube ich, du suchst nach jemand ganz anderem«, brummte Nikolaus.

Im Winter wurde es in den Klassenzimmern bitterkalt, Eiskristalle bildeten sich an den Fenstern. Dafür gab es mittags eine Schulspeisung. In großen Kübeln wurde die Suppe angeliefert: Erbsen-, Keks- oder Schokoladensuppe. Für viele Kinder in Elisabeths Klasse war die Gulaschkanone das wichtigste Requisit im Klassenraum. Einige kamen nur deshalb überhaupt in die Schule.

Die Temperaturen in diesem Winter lagen wochenlang bei unter minus zwanzig Grad. Die Stadtverwaltung richtete zwar Wärmestuben ein, doch den Leuten in den Baracken und Nissenhütten half das nicht. Dort stand das blanke Eis auf dem Boden, von der Decke hingen Eiszapfen.

Elisabeth nahm Hanna mit zu sich nach Hause, wenn ihr Vater nicht daheim war. In der Wohnung war es zwar auch nicht richtig warm, aber immerhin fror das Wasser nicht in den Leitungen. Marietta nahm ihre Anwesenheit kaum wahr.

Elisabeth wagte nicht, ihre Mutter zu fragen, warum sie so traurig war. Sie fürchtete sich vor der Antwort.

Wenn sie abends allein in ihrem Bett lag, wünschte sie sich eine Schwester wie Hanna. Tief in ihrem Inneren wusste sie, wie sich das anfühlte: jemanden zu haben, der ganz dicht bei ihr war, dem sie alles erzählen konnte, auch die unangenehmen und die peinlichen Dinge, jemanden, der alles verstand, auch ohne viele Worte, weil er dasselbe erlebte. Mit einer Schwester könnte sie über das unverständliche Verhalten der Mutter sprechen.

Manchmal erklang aus dem Wohnzimmer nebenan Musik, französische Chansons wurden dort auf dem Plattenspieler abgespielt. Dann wusste Elisabeth, dass es ihrer Mutter gut ging. Dann tanzten ihre Eltern und tranken weißen Rheinwein, den ihre Mutter so mochte. In solchen Nächten schöpfte Elisabeth Mut und schlief mit leichtem Herzen ein. In anderen Nächten kam der Albtraum.

Kapitel 3

»Ich muss dir etwas sagen.« Marietta wartete, bis die letzten Takte von Que sera, sera verklungen waren, dem Lied, das 1957 häufig aus dem Radio schallte. Jetzt wurde ein Weihnachtslied gespielt. Der Baum stand schon geschmückt vor dem Fenster, morgen war Heiligabend.

Sie löste sich aus Nikolaus' Armen und zog ihn mit sich auf das mit türkisfarbenem Bouclé bezogene Sofa. Es war neu, ebenso wie der Grundig-Fernseher und das Auto, das vor dem Haus parkte. Ludwig Erhard hatte den Deutschen ein Wirtschaftswunder versprochen, und jetzt, ein gutes Jahrzehnt nach Kriegsende, sah es so aus, als würde sich dieses Versprechen für viele erfüllen.

Marietta atmete tief ein. Heute würde sie es ihm sagen, weil heute ein Tanztag war und sie sich stark genug fühlte. An den Tagen zuvor hatte sie nicht die notwendige Kraft gehabt. Das, was sie zu sagen hatte, machte ihr Angst, weil sie befürchtete, dem Kommenden nicht gewachsen zu sein.

»Dann muss es ja wichtig sein«, sagte er mit einem Lächeln zu ihr, »wenn du es mir nicht beim Tanzen sagen kannst. Was kommt, das kommt, so heißt es doch auch in dem Lied, das wir gerade gehört haben. Was ist es denn?«

»Wir werden ein Kind haben.« Sie sagte den Satz schnell, um es endlich hinter sich zu haben. Jetzt, wo sie es gesagt hatte, war es in der Welt, und sie konnte es nicht länger vor sich selbst verleugnen.

Er sah sie perplex an. »Jetzt? Nach so vielen Jahren? Wir sind seit über zehn Jahren verheiratet. Ich habe immer gedacht, ich ... es sei nicht möglich.« Er sah auf seine Füße hinunter, was er immer tat, wenn er nachdachte. Dann lachte er auf, zog sie stürmisch vom Sofa hoch und wirbelte sie durch das kleine Wohnzimmer. Er küsste sie auf den Mund. »Danke, Marietta. Damit machst du mich zum glücklichsten Mann der Welt.«

Niemand hatte mehr damit gerechnet, dass die Ehe von Nikolaus und Marietta mit einem Kind gesegnet werden würde, am allerwenigsten Nikolaus. Er war inzwischen Mitte vierzig, und Marietta war siebenunddreißig, ein spätes Alter für die Mutterschaft. Doch als sie ihm die Nachricht mitteilte, da war sein Glück vollkommen.

In den folgenden Wochen umsorgte er seine Frau und nahm ihr jede noch so kleine Anstrengung ab, denn um zu erkennen, dass Marietta von schwacher Konstitution war, brauchte er keinen Arzt. In den Jahren, die seit der Hochzeit vergangen waren, war sie immer stiller und kränklicher geworden. Manchmal musste er an eine Kerze denken, die zu wenig Sauerstoff bekam und langsam verlosch. Vor allem ihre Stimmungsschwankungen und die plötzlichen Anfälle von Traurigkeit machten ihn ratlos. Irgendetwas fehlte ihr, und er litt darunter, dass er es ihr nicht geben konnte. Sie verließ oft tagelang das Schlafzimmer nicht und lag bei geschlossenen Vorhängen im Bett. Wenn er sie so sah, fragte Nikolaus sich unwillkürlich, wie sie es ganz allein geschafft hatte, sich und ihre Tochter von Pommern nach Hamburg zu bringen. Und er fragte sich, ob er schuld an ihrem Zustand war. Vielleicht hatte seine Mutter recht gehabt und er konnte seine Frau nicht glücklich machen, einfach, weil sie zu verschieden waren und er sie nicht verstand.

All diese Zweifel kamen nun wieder hoch. Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen, denn darüber sprach ein Mann nicht – so seine Meinung. Aber er hoffte, dass die Schwangerschaft Marietta neuen Lebensmut geben würde. Wenn er an Gott geglaubt hätte, hätte er sogar dafür gebetet.

Auch Elisabeth hoffte, diese neue Aufgabe werde ihre Mutter fröhlicher machen. Sie selbst hatte es aufgegeben, ihre Mutter aus ihrer Lethargie herausholen zu wollen. Wenn Marietta ihre schwachen Tage hatte, wie sie und ihr Vater es nannten, dann ließ man sie am besten in Ruhe. Aber sie freute sich unbändig darauf, endlich auch ein Geschwisterchen zu haben, obwohl sie mit ihren siebzehn Jahren schon beinahe erwachsen war.

»Oh, Hanna, ist das gemütlich hier!«, rief Elisabeth begeistert, als sie hinter ihrer Freundin das Zimmer im neuen Ledigenheim in Hamm betrat, in dem Hanna seit Kurzem wohnte. Neugierig sah sie sich um.

Jeder Winkel des kleinen Raums, den Hanna sich mit einer Mitbewohnerin teilte, war vollgestellt. Tagsüber waren die Matratzen unter bunten Decken verborgen, die Bettwäsche verschwand in halbhohen Bettkästen, auf denen Fotos von Filmstars und Schlagersängern standen. Unter den Betten stapelten sich flache Kisten und Kartons. Auf Regalen über Hannas Bett waren ein Radio, Wecker, Lebensmittel und Zeitschriften untergebracht. An der Wand hing an einem Nagel ein Tennisschläger, darunter lehnte eine Gitarre an der Wand. Der Raum konnte durch einen von Wand zu Wand reichenden Vorhang geteilt werden.

»Dafür haben wir gekämpft, eigentlich ist es nicht erlaubt, heimfremde Möbel mitzubringen«, sagte Hanna, die Elisabeths bewundernden Blick bemerkte. »Aber so haben wir wenigstens ab und zu Ruhe voreinander, stimmt's, Rita?«

Rita, eine kleine, rundliche Frau mit rötlichem Kraushaar, saß auf dem zweiten Bett und nickte. Elisabeth gab ihr die Hand, dann ließ sie sich neben Hanna auf das Bett fallen, wobei die Sprungfedern qualvoll quietschten. Rita drehte das Radio an und suchte den amerikanischen Sender, es roch nach Parfüm und leicht nach Zigarettenrauch, obwohl rauchen im Heim streng verboten war.

Hanna war überglücklich, hier wohnen zu dürfen. Endlich hatte sie die Baracke hinter sich gelassen, in der ihre Familie immer noch lebte. In den letzten Jahren hatte sie noch zwei weitere Schwestern bekommen, nie gab es genug Platz für alle. Immer wenn eines der älteren Kinder auszog, kam ein Kleines hinterher. Aber vor zwei Monaten hatte sie als Packerin bei Werner Otto angefangen, und für die ledigen Mitarbeiterinnen gab es dieses Mädchenheim. Das Regime war streng, aber Hanna hatte es noch nie gestört, die Regeln zu übertreten.

»Erst mal diesen blöden Kittel ausziehen«, rief sie und schleuderte das graue Etwas von sich. »Der passt überhaupt nicht zu meinem Teint!« Sie hielt Elisabeth eine Schachtel mit Likörpralinen hin.

»Die waren gerade im Sonderangebot. Sind mit Eckes Edelkirsch. Probier mal!«

»Mit Alkohol?«, fragte Elisabeth.

Hanna lachte. »Klar! Schmeckt man aber nicht.«

Elisabeth zerbiss die herbe Schokolade und spürte ein köstliches, süßes Brennen am Gaumen. »Die kauft meine Mutter auch manchmal. Ich wusste gar nicht, wie lecker die sind!«

»Manchmal muss man sich eben was gönnen«, gab Hanna zurück.

»Du ... hast die doch bezahlt, oder?« An Hannas Gesichtsausdruck sah Elisabeth, dass dem nicht so war. »Mensch, lass dich bloß nicht erwischen. Dann fliegst du hier gleich wieder raus.«

»Ach was. Die erwischen uns nicht. Nicht wahr, Rita? Für die sind wir viel zu schlau.«

Rita nickte, während sie kaute. »Auf unsere Vorarbeiterin!«, rief sie und nahm sich eine weitere Praline aus der Schachtel. »Die ist so was von streng. ›Wer vor dem Frühstück schon singt, fliegt nachmittags raus.‹ Solche Sprüche bekommen wir von ihr zu hören.«

»Streng und von gestern«, rief Hanna dazwischen. »›Wenn du glaubst, du bist allein, mache dir die Nägel rein.‹ Und wehe, sie erwischt dich, wie du in den Spiegel guckst. ›Nur eitle Mädchen sehen in den Spiegel!«‹, äffte sie die Vorarbeiterin nach. »Na ja, lange mach ich das nicht mehr mit. Stundenlang vor den Packtischen stehen, und dieser blöde Bindfaden schneidet dir in die Finger. Manchmal sind die Pakete so schwer, dass man sie kaum anheben kann. Wenn wir wenigstens Radio hören dürften!«

»Pah, wir dürfen ja nicht mal reden bei der Arbeit!«, meldete sich Rita zu Wort.

Elisabeth musste nachfragen: »Wie meinst du das, du machst das nicht mehr lange?«

Hanna stand auf und drehte sich so gut, wie das kleine Zimmer es zuließ: »Ich will die Kleider vorführen, für den Katalog, du weißt schon. Meinetwegen auch die Küchenmaschinen.«

»Ehrlich?«

»Glaubst du, ich kann das nicht?«

»Doch, ich glaube, dass du das kannst. Du kannst doch alles!«, gab Elisabeth zurück.

Und das meinte sie auch so. Als Hanna die Anstellung beim Otto-Versand an Land gezogen hatte, war das wie ein Hauptgewinn gewesen. Es war der Traum vieler Mädchen und Frauen, in dem rasch expandierenden Unternehmen zu arbeiten. Jeder kannte den Otto-Katalog. Besonders nachdem die Sammelbestellungen eingeführt worden waren, bei denen Nachbarn oder Freunde fünf Prozent Rabatt erhielten, wenn sie gemeinsam bestellten, gab es in beinahe jedem Haushalt den Katalog. Hanna saß nun an der Quelle für Kleidung und Haushaltswaren und wusste über alle neuen Erfindungen und die neueste Mode bestens Bescheid. Aber die Arbeit an der Packstation war körperlich anstrengend und eintönig. Hanna wollte das nicht mehr lange machen. Falls es mit dem Traumjob als Modell nicht klappen sollte, wollte sie zumindest ins Büro versetzt werden. Deshalb belegte sie einen Abendkurs im Maschineschreiben.

An den anderen Abenden ging sie aus, und manchmal kam Elisabeth mit. Sie gingen in die Musikklubs auf der Reeperbahn, wo auf winzigen Bühnen laute und schnelle Musik gespielt wurde und wo viele Matrosen und englische Soldaten viel Geld in der Tasche hatten, das sie gern für ein paar Stunden mit einem hübschen blonden Mädchen ausgaben. Hanna war sehr hübsch. Ihre langen Zöpfe hatte sie abgeschnitten, und ihr dickes Haar fiel ihr in Wellen bis in den Nacken. Wenn sie ausging, toupierte sie den Hinterkopf und drehte sich Locken in die Seitenpartien. »Herrenwinker«, nannte sie die lachend. Sie war von einer zupackenden Fröhlichkeit und nutzte jede noch so kleine Gelegenheit, sich zu amüsieren. Außerdem war sie eine sehr gute Tänzerin, und viele Männer waren stolz darauf, sich mit ihr auf der Tanzfläche zu zeigen.

Seit sie nicht mehr in der Enge der elterlichen Wohnung ausharren musste und eigenes Geld verdiente, blühte sie auf. Sie gab zwar einen Teil des Gehalts ihren Eltern, es blieb aber noch genug über, um auszugehen und sich schöne Kleider und kleine Extravaganzen leisten zu können.

Elisabeth beneidete Hanna glühend um ihre Unabhängigkeit. Nur zu gern hätte sie mit ihr getauscht. Aber ihre Eltern hatten bestimmt, dass sie nach der Mittelschule noch ein Jahr auf einer Hauswirtschaftsschule in der Armgartstraße verbringen sollte. Die Schule hatte einen guten Ruf bei den Eltern »höherer Töchter«. Die meisten Abgängerinnen kamen aus gutem Elternhaus, und mit dem Zeugnis dieser Schule in der Tasche machten sie gute Partien.

Elisabeth hasste die Schule von ganzem Herzen. Nur die Aussicht, dass sie schon bald wieder von ihr befreit sein würde, ließ sie überhaupt hingehen. Sie fand keinen Zugang zu den anderen Mädchen in der Klasse, für die es in Ordnung war, Kochen, Nähen und Einmachen zu lernen.

»Puddinggymnasium«, lachte Hanna, und Elisabeth schnitt ihr eine Grimasse.

An einem Freitag gingen sie zu dritt ins Kino und sahen einen Liebesfilm. Alle drei weinten um Sissi und verliebten sich auf der Stelle in Karlheinz Böhm. Mit tränenfeuchten Augen standen sie später wieder auf der Straße.

»Also, wenn ich mal heirate, wenn«, verkündete Hanna mit aller Entschiedenheit, »dann werde ich eine Ehe führen wie Sissi. Ich will nur einen Mann, den ich liebe und der mich auf Händen trägt.«

»Ich auch. Was denkst du denn?«, gab Elisabeth zurück, aber im Stillen ahnte sie, dass Hanna in dieser Sache wie in allen anderen kompromissloser sein würde als sie selbst. »Und du?«, fragte sie Rita.

Die machte einen Schmollmund und zog ihre sommersprossige Stirn kraus. »Hauptsache, er ist fleißig und kann mir etwas bieten. Einen Fernseher zum Beispiel! Das wäre was. Und gut aussehen muss er! So wie Rock Hudson.«

Sie hatten natürlich Giganten gesehen und kannten sich aus. »Wenn schon, dann wie James Dean. Ich steh auf blonde Männer«, sagte Hanna. »Und jetzt kommt. Wir gehen schwofen.«

»Ich muss nach Hause«, sagte Elisabeth.

»So ein Quatsch. Deine Mutter merkt doch sowieso nicht, ob du da bist oder nicht«, entfuhr es Hanna.

Sie hatte recht. Seit sie ein Kind erwartete, lebte Marietta noch mehr als früher in ihrer eigenen Welt. Sie schaffte es gerade noch, morgens das Frühstück zu machen und ein Abendbrot zu richten, den Rest des Tages zog sie sich zurück und war nicht ansprechbar. An den Sonntagen, wenn auch ihr Mann zu Hause war, nahm sie sich etwas zusammen, aber sie zog sich immer häufiger zurück. Elisabeth war froh über die ungewohnten Freiheiten, die ihr dieser Umstand bot. Sie lächelte ihre Freundinnen provozierend an und sagte schließlich: »Na gut. Aber dann gehen wir ins ›Café Keese‹. Da wollte ich immer schon mal hin.«

Sie wusste, dass Hanna, die fast alle Ausgehlokale kannte, dort noch nicht gewesen war. Man musste nämlich einundzwanzig sein, um hineinzukommen.

Vor dem Eingang stand ein Schild mit der Aufschrift »Ball paradox«. Der Portier winkte sie durch, ohne nach ihrem Alter zu fragen.

Durch eine Schwingtür gelangten sie in den Saal. Sie schluckten, als sie die üppigen Chrysanthemensträuße und die Grünpflanzen vor den großen Fenstern sahen. Auf den Tischen lagen gestärkte weiße Decken, die Mitglieder der Band, die gerade eine Pause machten, trugen weiße Hemden und sogar Fliegen.

»Das ist ja wie sonntags bei uns zu Hause!«, flüsterte Elisabeth.

»Kein Wunder, dass der Portier uns reingelassen hat. Hier sind ja viel mehr Männer als Frauen. Die brauchen Frischfleisch«, schimpfte Hanna.

»Ist doch ganz nett«, sagte Rita.

Sie standen unschlüssig in der Tür, und alle Blicke waren neugierig auf sie gerichtet. Zum Glück fing die Kapelle wieder an zu spielen, und die Frauen im Saal standen auf und gingen über die Tanzfläche, um die Männer aufzufordern. Die Herren saßen allein oder zu zweit an Tischen. Einige von ihnen taten so, als würde sie das Geschehen gar nicht interessieren, während andere nervös auf ihren Stühlen herumrutschten.

»Hier fordern die Frauen auf?«, fragte Rita und kicherte. »Da können die Männer mal sehen, wie das ist, wenn einen keiner holt.«

»Daher der Name, Ball paradox, verstehst du?«, gab Hanna spitz zurück.

Sie hatten sich kaum an einen freien Tisch gesetzt, da stand schon ein beflissener Kellner vor ihnen. »Die Damen wünschen?«, fragte er und fuhr dabei mit einer schneeweißen Serviette über die völlig krümelfreie Tischdecke.

Hanna fasste sich als Erste. »Dreimal Sekt, bitte.«

Es wurde ein sehr lustiger Abend. Elisabeth hatte außer in der Tanzstunde und beim Abschlussball noch nie mit einem Mann getanzt. Nur mit Hanna in ihrem winzigen Zimmer, wo nicht genügend Platz war. Sie waren jünger als die meisten anderen Frauen, und die Männer rissen sich darum, von ihnen aufgefordert zu werden. Einer von ihnen war besonders vorwitzig. Er machte durch Handbewegungen und gespielte Verzweiflung auf sich aufmerksam, bis Rita ihn aufforderte. Und dann tanzte sie den ganzen Abend mit ihm. Er hieß Alfred und war Tischlergeselle. Er war klein und drahtig und ließ gern seine Muskeln spielen.

Ein Mann um die dreißig lud Elisabeth an seinen Tisch ein und spendierte ihr ein weiteres Glas Sekt, der süß war und auf der Zunge klebte. Als er beim nächsten Tanz seine Hand in Richtung ihres Pos gleiten ließ, ließ sie ihn einfach mitten auf der Tanzfläche stehen und ging an ihren Tisch zurück.

»Ich glaube, ich muss jetzt wirklich nach Hause«, sagte sie.

»Obwohl du gerade einen Tänzer gefunden hast?«, rief Rita überrascht.

»Der war doch viel zu alt für mich!«, gab Elisabeth empört zurück.

»Also, ich bleibe noch«, sagte Rita mit glänzenden Augen. »Ich habe Alfred noch einen Tanz versprochen.«

Ostern 1958, kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag, schloss Elisabeth die Schule mit einem eher mittelmäßigen Zeugnis ab. Sie konnte jetzt Nachspeisen zubereiten, Torten backen und bekam eine gerade Naht hin. Sie war aber fest gewillt, dieses Wissen nur im Ausnahmefall zu nutzen. Sie hatte andere Pläne.

Schon am nächsten Tag ging sie noch vor ihrem Vater in die Sägerei. Sie setzte sich an seinen Schreibtisch, stützte die Ellenbogen auf und sah sich um. Einer der Arbeiter klopfte und betrat das Büro.

»Chef noch nicht da?«

Sie schüttelte den Kopf. »Was gibt es denn?«

»Ach, das hat Zeit«, sagte der Mann und ging wieder.

Natürlich werden die Männer sich an mich gewöhnen, dachte sie, als sie wieder allein war. Schließlich war sie auch bisher oft im Büro gewesen und hatte ihrem Vater geholfen, denn er hatte immer noch keine Sekretärin. Nur einmal die Woche kam Frau Weninger und machte die Buchhaltung und schrieb ein paar Briefe und Rechnungen.

Für Elisabeth stand außer Frage, dass sie hier arbeiten würde. Es war nicht schwer gewesen, ihren Vater von ihren Plänen zu überzeugen. Nikolaus war stolz darauf, wie viel Interesse seine Tochter für seine Arbeit zeigte, und außerdem war sie schon seit Kindertagen ohnehin beinahe jeden Tag im Kontor. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er es lieber gesehen hätte, wenn ein Sohn seine Geschäfte weiterführen würde. »Aber bis es so weit ist«, sagte er in Gedanken an die Schwangerschaft seiner Frau, »kannst du die Stellung halten.«

Mit dieser Reaktion konnte Elisabeth leben. Was sie schockierte, war die Ablehnung ihrer Mutter, die alles tat, um ihrer Tochter die Idee auszureden, einen Beruf zu ergreifen.

»Eine Frau gehört doch ins Haus! Nicht ins Berufsleben und schon gar nicht in eine Sägerei. Das ist eine Männerwelt, und Frauen sollten sich dort fernhalten, damit sie ihren Liebreiz nicht verlieren«, meinte Marietta, während sie Sahne in winzigen Klecksen auf einer Mandarinentorte verteilte.

Elisabeth baute sich erbost vor ihr auf und zwang ihre Mutter, sie anzusehen. »Aber Mama! Ich will doch nicht an der Säge stehen. Dafür haben wir ...«

»Wir?«

»... dafür hat Vater seine Leute. Ich will ins Kontor, ich will organisieren, Preise aushandeln ...« Dass sie insgeheim davon träumte, einmal selbst nach Afrika zu fahren, um sich die Wälder anzusehen, aus denen die Bäume kamen, die in der Sägerei zerteilt wurden, sagte sie lieber nicht, weil sie sich denken konnte, wie ihre Mutter dazu stehen würde.

»Man wird dir gar nicht zuhören. Wer verhandelt denn schon mit einer Frau? Glaub mir, das gibt Falten, und nachher will dich kein Mann mehr. Die Welt ist schon ganz richtig eingeteilt, wie sie ist. Die Männer gehen aus dem Haus, verdienen Geld, und die Frauen schaffen ein Heim, in das der Mann abends nach getaner Arbeit gern zurückkehrt. Aber wenn du so weitermachst, wird sich kein Mann für dich interessieren.« Weil sie noch ein wenig Sahne in der Spritztüte übrig hatte, setzte ihre Mutter einen großen Klecks in die Mitte der Torte.

Elisabeth sah ihre Mutter empört an. Was redete sie da? Von der Arbeit im Büro bekam man doch keine Falten! »Wo sind die Männer denn die ganzen Jahre über gewesen? Sieh dich doch mal auf den Hamburger Straßen um: Dort leisten Frauen Schwerstarbeit, in den Fabriken, im Straßenbau, als Schaffnerinnen, in allen möglichen Berufen. Viele von ihnen leben allein, weil ihre Männer gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft sind. Und sie verdienen nicht nur das Geld, sie haben nebenbei auch noch Kinder. Und bemühen sich obendrein, trotzdem ein schönes Heim zu schaffen!« Das mit dem gemütlichen Heim war ihr im Moment nicht so wichtig, aber das andere: »So wie diese Frauen will ich auch sein, stark und eigenständig!«

»Diese Frauen sind in einer Notsituation, und sie tun mir leid. Ich bete zu Gott, dass ich nie wieder so etwas erleben muss. Bei uns ist glücklicherweise alles so, wie es sich gehört. Und so soll es auch bleiben. Warum willst du dich mit einer Ausbildung oder der Berufstätigkeit abplagen? Du heiratest doch ohnehin! Sieh lieber zu, dass du einen Mann findest. Schließlich gibt es kaum noch welche.« Als Marietta die Bestürzung in Elisabeths Gesicht las, versuchte sie einzulenken. »Glaub mir, ich meine es nur gut mit dir.« Damit war für sie dieses Gespräch beendet. Sie ging zur Spüle hinüber, um das benutzte Geschirr abzuwaschen.

Elisabeth blieb fassungslos zurück. Seit wann dachte ihre Mutter so? Sah sie denn nicht, was um sie herum geschah? Was andere Frauen leisteten? Zum ersten Mal fühlte sie so etwas wie leise Verachtung für ihre Mutter, die zu Hause herumsaß und ihre Malaisen pflegte und der immer gleich alles zu viel wurde. Wo war nur ihr Stolz geblieben, ihr Mut, ihr Organisationstalent? Wann war das alles auf der Strecke geblieben? Ihre Mutter konnte wunderbar die Schwache spielen, die männliche Hilfe brauchte, sie gab Nikolaus das Gefühl, ohne ihn nicht zurechtzukommen. Das schmeichelte ihm, aber Elisabeth spürte auch eine gewisse Resignation bei ihrem Vater, wenn er von der Arbeit nach Hause kam und Marietta lag matt auf dem Sofa.

Vor allem aber kränkte sie die Haltung ihrer Mutter persönlich. Wie konnte sie davon ausgehen, dass ihre Tochter genauso dachte wie sie? Wie kam sie auf den Gedanken, sie wäre ebenso schwach, immer leidend und auf Hilfe angewiesen? So war sie nicht, und so wollte sie auch nicht sein.

In der Sägerei hatte sich in den Jahren seit Kriegsende sehr viel gewandelt. Nikolaus hatte eine Entrindemaschine und eine neue Gattersäge gekauft. Sie arbeitete mit vier Sägeblättern gleichzeitig und konnte dünnere Stämme in einem Arbeitsgang zerteilen. Weil der Strom schon lange nicht mehr rationiert war und es keine Stromsperren mehr gab wie in den ersten Nachkriegsjahren, lief die Säge praktisch den ganzen Tag. Hans und Lore und auch ihre Nachfolger waren längst ausgemustert worden. Neuerdings wurden die Stämme über Flaschenzüge in den Gatterwagen gehoben. Besonders stolz war Nikolaus auf seinen blitzblanken Greifstapler, der mit einer Art Zange Stämme anhob. Dafür hatten sie früher mindestens vier Mann gebraucht. Der Chef ließ es sich nicht nehmen, sich auch selbst auf den Stapler zu schwingen. Elisabeth hatte es ebenfalls versucht und sich gar nicht so ungeschickt angestellt, wie ihr Vater anerkennen musste.

Die Sägerei Michelsen hatte sich auf den Handel mit westafrikanischen Hölzern spezialisiert, die wegen ihrer Langlebigkeit und Feuchtebeständigkeit im Möbel- und Fensterbau, aber auch für Dalben, Eisenbahnschwellen und Telefonmasten eingesetzt wurden. Der Bauboom in der Hansestadt, in der mit Volldampf die immer noch sichtbaren Kriegsschäden beseitigt wurden, und auch die vielen Schiffsneubauten, für deren Decks man robustes Holz brauchte, bescherten ihm volle Auftragsbücher. Das Gelände im Oberhafen wurde langsam zu eng. Manchmal mussten sie die Hölzer auswärts lagern. Das machte die Arbeit komplizierter, weil alles genau vorausgeplant werden musste. Und natürlich teuer, weil sie Miete für die Lagerplätze zahlen mussten.

Nikolaus Michelsen gehörte zwar nicht zu den Industriekapitänen wie der Reeder Willy Schlieker oder Werner Otto, aber er und seine Familie lebten ganz gut von der Sägerei, und im Sommer fuhren sie regelmäßig für drei Wochen nach Timmendorf an die Ostsee.

Dank des Wohlstands ihres Vaters konnte Elisabeth auch abends ausgehen, ohne sich große Sorgen darum machen zu müssen, ob sie auch genug Geld dafür hatte.

Die meisten der Kaschemmen, die sie gern aufsuchte, lagen in den Souterrains auf der Reeperbahn. Man ging ein paar Stufen hinunter zum Eingang, und nicht wenige Hamburger waren überzeugt, er würde direkt in die Hölle führen. Elisabeth fand dagegen, dass es in diesen verrauchten, stickigen, dunklen Räumen himmlisch zuging.

Sie drängte sich hinter Hanna durch die dicht stehende Menge, die am Rand der Tanzfläche stand und den Tanzenden zusah. Hanna steuerte einen freien Platz am Tresen an und winkte Elisabeth, ihr zu folgen. Es war zu laut, um sich zu unterhalten. Sie lächelte dem jungen Mann, der neben ihr stand, zu, damit er ein bisschen rückte, dann hatten beide genug Platz, um den tanzenden Paaren zuzusehen. Der Rhythmus der Musik fuhr ihnen in die Beine, sie konnten gar nicht anders, als sich im Takt zu bewegen. Besonders gelungene Tanzfiguren wurden mit Applaus quittiert. Sobald ein Paar völlig erschöpft die Tanzfläche verließ, nahm ein anderes umgehend seinen Platz ein.

Elisabeth wandte sich dem Barkeeper zu und bestellte zwei Eierlikör Flip, in die auch immer noch etwas Schärferes gemixt wurde. Sie mochte das Zeug im Grunde nicht, aber Alkohol gehörte zu diesen Abenden, an denen alles erlaubt war. Und das bunte Schirmchen war todschick und gab einem etwas zum Spielen in die Hand.

»Prost!«, rief sie Hanna zu und hob ihr Glas.

»Auf uns!«, schrie Hanna zurück.

»Wo ist eigentlich Rita?« Elisabeth nutzte eine kleine Pause der Musiker, um sich zu unterhalten.