Die Liebe der Mademoiselle Godard - Tania Schlie auch bekannt als SPIEGEL-Bestseller-Autorin Caroline Bernard - E-Book
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Beschreibung

Wenn großes Glück und tiefer Schmerz aufeinandertreffen: »Die Liebe der Mademoiselle Godard« von Bestsellerautorin Tania Schlie als eBook bei dotbooks. Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Suzanne Godard stammt aus einfachen Verhältnissen und muss sich gegen viele Wiederstände durchsetzen, um ihren Traum zu verwirklichen und Fotografin zu werden. Nun ist für sie endlich die Zeit gekommen, das kleine, verträumte Fayence in der Provence zu verlassen, um in Cannes das Meer zu fotografieren. Doch es ist nicht nur die Unendlichkeit des Himmels und der Wellen, die Suzanne hier den Atem raubt, sondern ein Paar dunkelblaue Augen, das sie mal neugierig, mal herausfordernd und immer liebevoll anblitzt: An der Seite von Robert scheint sie die eine große Liebe gefunden zu haben. Doch dann nimmt der Journalist das Angebot an, von der Jungfernfahrt eines Ozeanriesens zu berichten, der Titanic … Ein Roman über Aufbruch und Abschied, über Suzannes neues Leben in Paris, über Künstler und Bohemiens – und über die Hoffnung, dass alles, was passiert, Teil eines großen Plans ist, an dessen Ende das Glück auf uns wartet. Jetzt als eBook kaufen und genießen – »Die Liebe der Mademoiselle Godard« von Tania Schlie, ursprünglich veröffentlicht unter dem Pseudonym Greta Hansen und dem Titel »Auf der Suche nach dir«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Suzanne Godard stammt aus einfachen Verhältnissen und muss sich gegen viele Wiederstände durchsetzen, um ihren Traum zu verwirklichen und Fotografin zu werden. Nun ist für sie endlich die Zeit gekommen, das kleine, verträumte Fayence in der Provence zu verlassen, um in Cannes das Meer zu fotografieren. Doch es ist nicht nur die Unendlichkeit des Himmels und der Wellen, die Suzanne hier den Atem raubt, sondern ein Paar dunkelblaue Augen, das sie mal neugierig, mal herausfordernd und immer liebevoll anblitzt: An der Seite von Robert scheint sie die eine große Liebe gefunden zu haben. Doch dann nimmt der Journalist das Angebot an, von der Jungfernfahrt eines Ozeanriesens zu berichten, der Titanic …

Ein Roman über Aufbruch und Abschied, über Suzannes neues Leben in Paris, über Künstler und Bohemiens – und über die Hoffnung, dass alles, was passiert, Teil eines großen Plans ist, an dessen Ende das Glück auf uns wartet.

Über die Autorin:

Tania Schlie, geboren 1961, studierte Literaturwissenschaften und Politik in Hamburg und Paris. Bevor sie anfing zu schreiben, war sie Lektorin in einem großen Verlag. Heute lebt sie als erfolgreiche Autorin in der Nähe von Hamburg.

Bei dotbooks veröffentlicht Tania Schlie, die auch unter den Namen Greta Hansen und Caroline Bernard erfolgreich ist, die Romane »Der Duft von Rosmarin und Schokolade«, »Der Duft von Sommerregen«, »Die Spur des Medaillons«, »Eine Liebe in der Provence«, »Ein Sommer in Bonneville«, und – auch als Sammelband unter dem Titel »Auf den Flügeln der Hoffnung« erhältlich – »Elsas Erbe«, »Zwischen uns der Ozean« und »Die Jahre ohne dich«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2018

Dieses Buch erschien erstmals 2012 unter dem Titel »Auf der Suche nach dir« und dem Autorenpseudonym Greta Hansen bei Piper.

Copyright © der Originalausgabe 2012 Piper Verlag GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, und Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Gaspar Janos, Noon Bu Sin und Roman Sigaev

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-433-1

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Tania Schlie

Die Liebe der Mademoiselle Godard

Roman

dotbooks.

Prolog

Am 23. Februar 1890 erschütterte ein schweres Erdbeben die ligurische Küste bis hinunter nach Nizza. Die Bewohner hatten am Vorabend das Ende des Karnevals gefeiert. Und plötzlich, bei Tagesanbruch, begann die Erde unter ihnen zu beben, Mauern wankten und stürzten ein, die Glocken begannen zu läuten, Möbel tanzten durch die Zimmer, Bilder fielen krachend von den Wänden. Die Menschen, die ein paar Stunden zuvor noch fröhlich auf den Straßen getanzt hatten, stürzten jetzt aus ihren Häusern, um ihr Leben zu retten.

In dieser Nacht entschloss sich in dem kleinen Ort Fayence, ungefähr dreißig Kilometer landeinwärts, ein kleines Mädchen, auf die Welt zu kommen. Für seine Mutter und die Hebamme blieb keine Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Zum Donnern des Erdbebens kamen die Schreie der Gebärenden, die in den letzten Wehen lag. Um sechs Uhr morgens war dann plötzlich alles ruhig. Ein Morgen brach an, der in seiner Süße und Stille ganz außergewöhnlich war, und die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. In einer allerletzten Kraftanstrengung bahnte sich das Mädchen seinen Weg ins Leben und betrachtete aus riesigen blauen Augen das Chaos um sich herum, ohne einen Laut von sich zu geben, so als wollte es die Ruhe nicht stören.

»Sie soll Suzanne heißen«, flüsterte ihre Mutter.

Sie lehnte sich erschöpft in die Kissen zurück. Sie hätte glücklich sein können über die Geburt ihrer Tochter. Aber ihr Herz war schwer. Denn sie wusste, sie würde nicht lange über sie wachen können. Einen Monat vielleicht noch oder zwei, so lange, wie ihr Mann sie noch im Haus dulden würde.

Sie hatte den bittersten Fehler ihres Lebens begangen, als sie sich mit dem Verlobten ihrer Schwester eingelassen hatte. Damit hatte sie das Glück ihrer Familie zerstört. Ihr eigenes, das ihres Mannes Patrick, das ihrer Schwester Madeleine. Und vor allem hatte sie ihre kleine Tochter unglücklich gemacht, die ohne Mutter aufwachsen würde.

Kapitel 1

Suzanne stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Augen auf die Höhe des münzgroßen Astlochs in der hölzernen Schuppentür zu bringen. Abwechselnd sah sie mit dem linken und dem rechten Auge hindurch, wodurch sich der Bildausschnitt verschob. Sie sah hinaus in den Garten, wo die Olivenbäume in Reihen auf dem terrassierten Gelände wuchsen. Dicht vor der Tür stand der alte Feigenbaum. Der Blitz hatte den Stamm im letzten Jahr während eines Sommergewitters gespalten, und seitdem trug nur noch die eine Hälfte des Baums Früchte. Die andere war abgestorben.

Sie hob leicht den Kopf und folgte mit dem Blick dem schwarz verkohlten Haupttrieb, der wie ein gichtiger Finger zum Himmel wies. Vor dem leuchtend grünen Gras, das mit weißen Margeriten und rotem Mohn übersät war, wirkte er doppelt tot. Suzanne drehte den Kopf, wobei ihre Nasenspitze über das raue Holz fuhr, und ein neuer Bildausschnitt erschien: Die rechte Hälfte des Baums trug weißrosa Blüten. Suzanne trat von einem Bein auf das andere und betrachtete abwechselnd den Tod und das Leben. Als hätte sie eine der Tafeln vor Augen, die in der Schule im Magazin hingen und mächtige Bäume im Wandel der Jahreszeiten zeigten.

Aber die Schule war für Suzanne, die im Februar siebzehn Jahre alt geworden war, Vergangenheit. An Ostern war sie entlassen worden.

Während sie weiterhin durch das Guckloch spähte, achtete sie darauf, ihre Kleidung nicht zu beschmutzen. In dem niedrigen Anbau, der aus denselben dicken, verputzten Felssteinen bestand wie das Haus und als Remise für Gartengeräte und ausgemusterte Möbel diente, war es staubig, der Fußboden war durch Hühnerkot verunreinigt. Als Kind war Suzanne oft hier gewesen, wenn sie allein sein wollte. Sie wusste selbst nicht, was sie an diesem heißen Tag hier suchte. Vielleicht die verschiedenen Perspektiven, die das merkwürdige Guckloch ihr bot.

»Suzanne! Suzanne Godard, wo bist du? Verflixtes Mädchen, nun komm endlich!«

Suzanne zuckte unwillkürlich zusammen, obwohl sie wusste, dass ihre Tante sie nicht sehen konnte. Sie verließ ihren Rückzugsort und schlug mit der flachen Hand auf die Falten ihres rehbraunen Rocks, für den Fall, dass sich dort doch ein paar Spinnenfäden verfangen haben sollten.

Vor dem Haus wartete ungeduldig, aber wie immer in kerzengerader Haltung, ihre Tante Madeleine. Trotz der Junihitze trug sie über dem schwarzen langärmeligen Kleid eine dunkle knielange Jacke mit Puffärmeln. Das Haar hatte sie rund um den Kopf gelegt, sodass es einem Nest glich, darauf saß ein riesiger, mit dunklen Pompons und Seidenblüten geschmückter schwarzer Hut. Vor der Brust hing wie immer an einer langen Kette das Medaillon, das ein Bildnis ihrer Mutter enthielt und auf der zweiten Seite ein Jesusbild.

Ihre Tante Madeleine war zu pompös gekleidet für den Fünfhundert-Seelen-Ort Fayence. Sie hätte viel eher nach Paris gepasst, in einen der eleganten Teesalons auf der Rue de Rivoli. Suzanne fand, dass Madeleine Mons eine schöne Frau war, auch wenn sie schon fast vierzig Jahre alt war. Trotz der vielen Verehrer, die sie stets umgeben hatten, hatte sie nie geheiratet. Stattdessen war sie nach dem Tod ihrer Schwester bei Suzannes Geburt in das Haus ihres Schwagers gezogen, um sich um ihre Nichte zu kümmern. Madeleines extravaganter Kleidungsstil passte nicht zu ihrer Gottesfürchtigkeit und Unnahbarkeit. Viele in Fayence hielten sie für wunderlich, man tuschelte hinter ihrem Rücken, aber niemand hätte sich getraut, offen über sie zu lachen. Die Leute grüßten sie respektvoll, und die Kinder hatten ein bisschen Angst vor ihr. Ihr einziger Vertrauter im Dorf war der Pfarrer, und sie verpasste keinen Gottesdienst, schon weil sie die Orgel spielte.

Madeleine winkte Suzanne mit einer ungeduldigen Armbewegung zu sich heran.

»Jetzt aber rasch, wir wollen doch nicht zu spät zur Messe kommen.«

Suzanne warf einen Blick auf den Turm der Kirche Saint Jean Baptiste, der sich hoch über ihrem Kopf vor dem leuchtend blauen Himmel abhob. Noch zehn Minuten bis zum Gottesdienst, sie mussten sich tatsächlich beeilen.

Das Haus ihres Vaters lag am Dorfrand. Um zur Kirche zu gelangen, mussten sie den Hügel hinaufsteigen, auf dem Fayence thronte, denn Saint Jean Baptiste befand sich fast ganz oben, am Marktplatz. Wie auch die Nachbardörfer hatte Fayence einst als römische Verteidigungsanlage gedient, dann hatten die Bischöfe von Fréjus ein wehrhaftes Schloss gebaut, von dem allerdings nur noch das Sarazenentor übrig geblieben war. Von dort und dem nahe gelegenen Uhrturm aus bot sich ein grandioser Blick auf die Umgebung, und man konnte sehen, wie die Gassen und Straßen sich spiralförmig um den Berg wanden. Zwischen den roten Hausdächern, die sich wie die Platten einer Rüstung übereinanderschoben, waren kleine Grünflächen zu sehen und dazwischen die Spitzen einzelner Bäume. Am Rand des Ortes standen die Häuser weiter auseinander, und es gab Olivengärten, durch die sich vereinzelt kleine Straßen schlängelten. In der Ferne erhob sich der nächste Hügel mit dem Nachbardorf.

Als sie ein wenig außer Atem den Marktplatz erreichten, erklangen bereits die Glocken der Kirche und hielten die Gläubigen zur Eile an. Vor dem Café am Markt, im Schatten der großen Platanen, saßen einige Männer vor einem kleinen Schwarzen und einem Glas Rotwein. Auch Caspar Michaud war unter ihnen, ihr Nachbar, dem die Ölmühle an der Straße nach Fréjus gehörte. Suzanne sah, wie er den Hut zum Gruß lüpfte und dabei sein weißes Haar präsentierte, das ihm störrisch vom Kopf abstand. Als Madeleine Mons bemerkte, dass ihre Nichte zurücklächelte, zog sie sie energisch weiter.

Suzanne seufzte.

Caspar war in ihre Tante verliebt, so lange sie denken konnte, doch Madeleine ignorierte ihn mindestens ebenso lange.

***

Als sie nach dem Gottesdienst wieder ins Freie traten, traf die Hitze sie unvermittelt. Vor dem Café erhob sich Caspar Michaud, vielleicht mutig geworden durch den kleinen Roten, den er sich genehmigt hatte, und kam auf sie zu.

»Sie sehen heute wieder ganz bezaubernd aus, Mademoiselle«, sagte er und zog noch einmal den Hut.

Tante Madeleine würdigte ihn keiner Antwort und beschleunigte ihre Schritte.

»Warum bist du nicht ein bisschen freundlicher zu ihm?«, fragte Suzanne, als sie außer Hörweite waren. »Monsieur Michaud ist doch ein netter Mann.«

»Morgens schon im Café sitzen, wenn alle anderen in die Kirche gehen«, murmelte ihre Tante nur und schüttelte den Kopf.

Lass das Essen bald vorüber sein, dachte Suzanne, als sie eine Stunde später mit Tante Madeleine und ihrem Vater am Tisch in der Küche saß. Die Küche mit dem großen offenen Herd war der zentrale Raum des Hauses. Rechts davon lagen zwei Zimmer, das Wohnzimmer und daneben das Schlafzimmer von Tante Madeleine. Auf der anderen Seite gab es ein Badezimmer mit einer Sitzwanne – ein großer Luxus in Fayence – und einen Vorratsraum, zu dem einige Stufen hinunterführten. Suzannes Großvater hatte den ersten Stock auf der einen Seit aufmauern lassen, was dem Haus ein seltsames Aussehen gab. Zur Straße hin sah es aus wie ein zweigeschossiges Haus, und auf der Gartenseite zog sich das Dach tief hinunter. Oben befanden sich zwei kleine Schlafzimmer, eines davon gehörte Suzanne.

Das Fleisch war zart und mit frischem Thymian gewürzt, die Kartoffeln goldgelb. Und dennoch schmeckte es Suzanne nicht richtig. Am Tisch wurde wenig gesprochen, denn ihr Vater, Patrick Godard, war wortkarg und sagte kaum einmal einen ganzen Satz. Er arbeitete in der Seidenspinnerei im benachbarten Seillans, und als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, meinte eine Nachbarin, ihr Vater sei so still, weil er den ganzen Tag mit den stummen Raupen zu tun habe. »Er hat es ihnen abgeguckt«, sagte sie aufmunternd, und tatsächlich hatte die Vorstellung Suzanne eine Zeit lang getröstet. Als Kind hatte sie unter der Kälte gelitten, die im Haus herrschte. Ihr Vater war in sich gekehrt und schwerblütig und hatte seiner Tochter kaum Beachtung geschenkt, woran sich bis heute nichts geändert hatte.

Seit sie nicht mehr zur Schule ging, war die Situation noch bedrückender geworden. Ein Tag verlief so ereignislos wie der nächste. Wenn sie ihre Hausarbeit erledigt hatte, suchte sie sich ein unbeobachtetes Plätzchen und las, aber mit der Zeit wurde die Lektüre ihr langweilig. Wenn sie an die Zukunft dachte, wurde ihr ganz übel. Einige Mädchen, die mit ihr die Schule verlassen hatten, waren bereits verlobt, ein oder zwei Glückliche besuchten nun das Lehrerinnenseminar in Draguignan. Den meisten ging es aber wie ihr: Sie blieben zu Hause und arbeiteten in der Landwirtschaft oder im Haushalt mit, bis sie einen Mann fanden. Suzanne konnte sich so ein Leben nicht vorstellen. Ganz abgesehen davon, dass sie sich fragte, wie in einem abgelegenen Ort wie Fayence ein passender Heiratskandidat auftauchen sollte.

Suzanne sah zu ihrer Tante, die ihr gegenübersaß. Madeleine hielt Messer und Gabel, als seien sie chirurgische Bestecke, ihre Haltung war tadellos.

Endlich schob ihr Vater seinen Teller von sich. Er stützte seine riesigen Hände auf den Tisch, stand auf und schob dabei seinen Stuhl mit einem hässlichen Geräusch über den Steinfußboden zurück. Patrick Godard war ein kräftiger Mann, wenngleich nicht dickleibig, mit einem Riesenschädel unter wirren dunklen Haaren. Es war schwer vorstellbar, dass dieser beinahe grobschlächtige Mann sein Leben winzigen Lebewesen widmete. Neben den Raupen in der Spinnerei waren das seine Bienen, deren Körbe hinter dem Haus aufgestellt waren. Dorthin ging er jetzt, denn die Sonntagnachmittage widmete er der Imkerei und durfte dabei nicht gestört werden.

Suzanne konnte es kaum erwarten, ebenfalls den Tisch zu verlassen. Sobald sich Tante Madeleine den letzten Bissen Apfelkompott in den Mund geschoben hatte, stand Suzanne auf, um den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen.

Als sie damit fertig war, rief sie: »Ich gehe dann«, und verließ rasch das Haus.

Ihr Ziel lag fast genau auf der gegenüberliegenden Seite des Hügels. Sie hätte auch den Weg durch die Ebene nehmen können, aber sie entschied sich für die Abkürzung über den Berg. Sie wandte sich nach rechts und bog in eine winzige schattige Gasse ein, die steil aufwärts führte. Manchmal waren Stufen in den felsigen Weg gehauen, und rechts und links neben der nur wenige Schritte breiten Gasse schraubten sich die Häuser in die Höhe. Die Fensterläden waren gegen die Mittagshitze geschlossen, kein Laut drang zu ihr heraus. Suzanne lächelte in sich hinein, als sie die Wäsche bemerkte, die von einer Leine, die über ihrem Kopf von einem Fenster zum anderen gespannt war, schlaff herabhing. Wäsche am Tag des Herrn! Wie gut, dass ihre Tante das nicht sah.

Die Gassen waren menschenleer. Menschen und Tiere verdösten die heißen Mittagsstunden. Nur eine Katze lief vor ihr her und verschwand in einem Durchlass einer hölzernen Tür. Nach der nächsten Windung verbreiterte sich der Weg zu einem kleinen Platz. Dort stand neben dem Waschhaus der gemauerte Brunnen, an dem die Dorfbewohner Wasser holten und wo die Frauen die Wäsche wuschen. Suzanne überquerte den stillen Platz und bog in eine weitere Gasse ein, die ebenso steil wie die erste hinauf, nun den Berg wieder hinunter führte. Sonnenflecken tanzten auf dem Sand, auf einem Stein sonnte sich eine kleine Echse. Sie hatte die letzten Häuser erreicht und nahm einen Hohlweg, der sich in den Feldern verlor. Eine Pfütze war vom Gewitterregen der letzten Nacht übrig geblieben, und am Rand des flachen Wassers tummelten sich Hunderte weißer Schmetterlinge. Als Suzanne vorüberging, flatterten sie auf und in einer Wolke um sie herum. Noch ein paar Minuten, und sie hatte das Haus der Familie de Coligny-Senas erreicht, das in der Ebene lag.

Als sie durch das Gartentor ging, hörte sie bereits die Stimmen der drei Schwestern, die sich wie üblich lautstarke Wortgefechte lieferten. Erleichtert atmete Suzanne auf und blieb stehen.

»Jetzt bin ich an der Reihe, gib mir sofort den Ball!«, rief Ernestine, die Jüngste.

»Hol ihn dir doch!«, gab Camille zurück und lief lachend davon.

»Könnt ihr nicht mal leise sein, ich versuche hier zu lesen!« Das war die Stimme von Sophie, der Ältesten, die immer meinte, die Vernünftige spielen zu müssen.

Ein Wort gab das andere, die Mädchen jagten sich durch den Garten, lachten und schimpften. Und in ihrer Mitte saß seelenruhig Madame de Coligny-Senas, ihre Mutter, und stickte.

Camille hatte sie entdeckt und kam auf sie zugelaufen. »Da bist du ja endlich. Hat der Drache dich nicht gehen lassen?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie zurück zu den anderen.

Suzanne folgte ihr langsam über den gepflegten Rasen. Madame de Coligny-Senas bemerkte sie und winkte ihr zu.

»Ist schon gut«, rief sie herüber und meinte damit, dass Suzanne nicht extra zu ihr gehen müsste, um sie förmlich zu begrüßen.

Suzanne seufzte, als sie die düstere, schweigsame Stimmung in ihrem eigenen Elternhaus mit dem ewig lärmenden, lachenden, liebevollen Familienleben ihrer Freundin Camille verglich. Manchmal glaubte sie, dass Camille ihr das Leben gerettet hatte. Zumindest hatte sie ihr gezeigt, dass es nicht immer ernst und still zugehen musste. Vor acht Jahren war Camille in ihre Klasse gekommen. Sie hatte sich neben Suzanne gesetzt und war von da an nicht mehr von ihrer Seite gewichen.

Camilles Familie war von Draguignan nach Fayence gezogen. Allein der Name der Stadt klang wie ein Versprechen in Suzannes Ohren, denn aus Draguignan stammte auch ihre Mutter. Camille machte ihre Tage reich. Endlich hatte auch sie jemanden, mit dem sie reden konnte, lachen, Unerlaubtes tun. Camille wusste vielmehr vom Leben als Suzanne, die nie aus Fayence herausgekommen war. Sie war Protestantin und ging am Sonntag in die Kirche von Seillans. Dass Tante Madeleine Camille aus tiefstem Herzen verabscheute, war kein Wunder.

»Diese kleine Heidin«, schimpfte sie. »Immer muss sie widersprechen, und frech ist sie. Aber kein Wunder, bei der Mutter ...«

Damit spielte sie darauf an, dass Camilles Mutter mit ihren drei Töchtern allein lebte, obwohl sie keine Witwe war, wie man sich im Dorfladen erzählte.

»Wahrscheinlich ist sie geschieden. Oder noch schlimmer!«, meinte Tante Madeleine.

»Was ist denn noch schlimmer als geschieden?«, wollte Suzanne wissen, doch ihre Tante blieb ihr die Antwort schuldig.

Suzanne und Camille waren so verschieden, wie zwei Mädchen nur sein konnten. Suzanne war brünett mit einem Stich ins Rostrote, klein und zart, während Camille rabenschwarzes Haar und eine kräftige, fast ein wenig jungenhafte Statur hatte. Viel früher als Suzanne hatte sie lange Röcke getragen und die Taille geschnürt. Suzanne hatte daraufhin Tante Madeleine so lange beschwatzt, bis auch sie Erwachsenenkleider genäht bekam. Camille traute sich alles und überredete Suzanne zu Dingen, die sie allein nie gewagt hätte. Sie und ihre Schwestern waren meistens fröhlich, zumindest gut gelaunt, und manchmal frech gegenüber ihrer Mutter, die ihnen dann aber nur mit dem Zeigefinger drohte.

Weihnachten bei den de Coligny-Senas war ein üppiges Fest der Freude mit vielen Geschenken und gutem Essen. Das große Haus summte dann vor Geschäftigkeit, ein Zimmer war abgesperrt, weil sich hinter der Tür die Gaben und duftende Kekse verbargen. Alles war üppig geschmückt und hell erleuchtet, es roch nach Gewürzen und Geheimnissen. Als Suzanne zum ersten Mal an Weihnachten ihre Freundin besuchte, konnte sie nur staunen. Sie kannte Weihnachten nur als Fest der getragenen Reue und des Kirchgangs.

»Was ist denn mit dir, du Traumsuse? Nun komm schon, wir wollen eine Partie Boule spielen. Und später muss ich dir unbedingt noch ein Buch geben,« meinte Camille und riss damit ihre Freundin aus ihren Gedanken.

Bei dem Buch handelte es sich um den ersten der Claudine-Romane. Abends im Bett schlug Suzanne ihn auf. Eine Welle der Zärtlichkeit für Camille überkam sie, als sie den Namen der Freundin in ihrer energischen Schrift auf der ersten Seite entdeckte. Was sie dann las, war eine Offenbarung. Sie glaubte, das Buch sei nur für sie geschrieben worden. Claudine hatte einen Vater, den Schnecken mehr interessierten als seine Tochter. »Und bei meinem Vater sind es Seidenraupen!«, rief sie aus, als sie die Passage las. Diese Claudine war respektlos und weigerte sich, den Konventionen ihrer Familie und des Dorfes zu gehorchen. Sie verliebte sich in ihre Lehrerin und träumte davon, Karriere beim Theater in Paris zu machen. Suzanne las die ganze Nacht, und nach der letzten Seite schlug sie das Buch mit einem Knall zu. Ihre Welt hatte sich verändert. Sie wollte sein wie Claudine, zumindest würde sie es versuchen.

***

Madeleine hätte den Honig, den ihr Schwager produzierte, ebenso gut in Fayence verkaufen können. Alle Bauern boten ihre Erzeugnisse auf dem lokalen Markt feil. Doch Madeleine Mons hätte sich niemals neben ihre Nachbarn auf den Markt gestellt. Also packte sie ein paar Mal im Jahr die Honiggläser und eine Holzkiste auf einen Handkarren und machte sich auf nach Seillans. Dort gab es einen wöchentlichen Markt, einen Friseur und ein Geschäft für Weißwäsche und Schuhe sowie das Fotogeschäft von Monsieur Felix.

An einem Mittwoch Ende Juni machten Madeleine und Suzanne sich früh am Morgen auf den Weg, bevor die große Hitze einsetzte, und erreichten den Marktplatz von Seillans gegen acht Uhr. Der Platz war auf einer Seite von einer schroffen felsigen Erhebung begrenzt, auf deren Spitze die Häuser der oberen Stadt lagen. Auf der anderen Seite des Marktes lag die Seidenspinnerei, in der Suzannes Vater arbeitete.

»Wir nehmen den Platz da drüben am Brunnen, da haben wir den Schatten der Bäume für uns«, meinte Madeleine bestimmt.

»Du weißt doch, dass das der Platz der alten Francine ist«, gab Suzanne zu bedenken, die sich noch gut an den Streit beim letzten Mal erinnern konnte.

Doch Madeleine ließ sich nicht beirren und baute ihren kleinen Stand, der lediglich aus der umgedrehten hölzernen Kiste mit den Honiggläsern darauf bestand, neben dem Brunnen auf.

Honig verkaufte sich nicht besonders gut, denn es gab viele Imker in der Gegend. Madeleine machte das jedoch mit ihrem Charme wett. Sie schmeichelte den Damen und schenkte den Herren ein Lächeln. Suzanne dachte bei sich, dass Caspar Michaud ein glücklicher Mann wäre, hätte sie ihn nur ein einziges Mal mit diesem Lächeln bedacht.

Gegen elf Uhr hatte sie das letzte Glas verkauft. Madeleine zählte ihr Geld und lud die Kiste wieder auf den Handkarren.

»Wir haben noch etwas vor«, sagte sie dann.

»Du meinst die Kapelle?«, fragte Suzanne. Madeleine nutzte den Besuch in Seillans nämlich häufig, um vor der belgischen Marienstatue in der Kapelle von Nôtre-Dame-de-Montaigu zu beten. Auch Fayence hatte eine Kapelle, die fast tausend Jahre alt war und am Fuß des Ortes, auf dem Weg nach Seillans lag. Doch mit der Kapelle war es wie mit dem Markt. Die in Fayence war der Tante nicht besonders genug.

Heute hatte Madeleine aber etwas anderes im Sinn. Sie ließ den Handkarren am Brunnen stehen und ging auf die Seite des Marktplatzes, wo sich die Straße den Berg hinaufschlängelte. Dort an der Ecke befand sich in einem dreistöckigen, schmalen Haus das Fotogeschäft von Monsieur Felix.

»Du lässt ein Porträt von dir machen?«, fragte Suzanne. »Warum?«

»Warum nicht?«, entgegnete ihre Tante knapp und stieß die Tür des Ladens auf.

Suzanne hatte noch nie einen vergleichbaren Geruch wahrgenommen. Es roch nach warmem Staub, der im Licht der Sonne in goldenen Flöckchen vom Tresen aufstob, als sie den Laden betraten. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, wurde der Raum wieder in sepiafarbenes Dämmerlicht getaucht. Die fehlende Helligkeit schärfte die anderen Sinne und ließ den Geruch von Metall deutlicher hervortreten. Daneben roch Suzanne etwas leicht Säuerliches, als würde Kupfer in der Sonne heiß werden. Sie hob das Kinn und blähte die Nasenflügel, um den Duft begierig einzuatmen.

Die Wände des kleinen Raums waren gespickt mit gerahmten Fotografien und Diplomen. Im Hintergrund verwehrte ein leicht verschlissener Paravent in Gelbtönen den Blick in einen weiteren Raum. Suzanne fragte sich gerade, was dort wohl sein mochte, als sie den älteren Mann bemerkte, der still hinter dem Tresen stand und sie freundlich anlächelte. Er hatte sehr dichtes weißes Haar, das ihm bis fast auf die Schultern reichte. Jetzt kam er mit merkwürdig kurzen Tippelschritten hinter seinem Verkaufstisch hervor. Als er vor ihr stand, stellte Suzanne fest, dass er viel kleiner war als sie selbst. Das muss Monsieur Felix sein, dachte sie. Jedes Kind hatte schon von ihm gehört, weil er kein Franzose war, aber bereits seit Jahrzehnten hier in der tiefsten französischen Provinz lebte. Und nun lernte sie ihn persönlich kennen.

»Meine Verehrung, die Damen«, sagte der kleine Mann und deutete eine leichte Verbeugung an. Er sprach die Vokale sehr weich aus und rollte das R. Suzanne erinnerte sich, gehört zu haben, dass er vor vielen Jahren aus Russland in die Provence gekommen war. Deshalb wurde er auch bei seinem Vornamen genannt, denn sein Nachname war so kompliziert, dass er den Leuten hier nicht fehlerfrei über die Lippen ging.

»Na, gibt es denn so etwas?«, rief er aus und ergriff die Hand, die Tante Madeleine ihm hinhielt, um einen formvollendeten Handkuss darauf zu hauchen. Dann nahm er Suzannes Hand, und sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Rasch zog sie die Hand zurück. Sie hatte noch nie einen Handkuss bekommen, geschweige denn einen richtigen Kuss.

»Ist denn schon wieder ein Jahr ins Land gegangen?«, rief Monsieur Felix aus. »Wie die Zeit vergeht. Aber ich versichere Ihnen, Madame Mons, Sie sehen keinen Tag älter aus. Im Grunde weiß ich gar nicht, warum Sie ein weiteres Porträt wollen. Sie könnten durchaus das vom letzten Jahr verwenden, und niemand würde einen Unterschied bemerken.«

Suzanne sah verblüfft von Monsieur Felix zu ihrer Tante. Sie hatte nicht gewusst, dass Madeleine sich jedes Jahr fotografieren ließ, und sie hatte auch noch nie eine der Aufnahmen zu Gesicht bekommen. Wofür brauchte sie sie? Und noch etwas registrierte sie verblüfft: Monsieur Felix nannte ihre Tante Madame, eine Anrede, die sie sich von jedem anderen strikt verbat.

»Und die junge Dame?«, fragte Monsieur Felix und zwinkerte Suzanne dabei freundlich zu.

»Das ist meine Nichte«, sagte Madeleine. »Sie begleitet mich.«

»Ihre Nichte, ganz entzückend. Also ein Doppelporträt?«

Madeleine runzelte die Stirn.

»Nein, nein, von mir kein Foto. Aber darf ich zusehen, wie Sie es machen?«, sagte Suzanne schnell, denn sie bemerkte Madeleines Verunsicherung. Zwar hätte sie ganz gern ein Foto von sich besessen, doch gemeinsam mit ihrer Tante ...

Der alte Fotograf nickte und sagte dann, zu Madeleine gewandt: »Wie wäre es heute einmal mit einem anderen Hintergrund? Ich habe eine griechische Säule aus Gips anfertigen lassen. Sie könnten sich danebenstellen, das würde Ihr klassisches Profil betonen.«

Madeleine winkte ungeduldig ab. »So wie in jedem Jahr, bitte.«

Suzanne meinte zu hören, wie der Fotograf seufzte. »Wie Sie wollen, Madame. Ich richte nur rasch alles her.« Damit verschwand er hinter dem gelben Paravent. Suzanne blieb im Laden stehen und schaute sich unschlüssig um, doch da kam Monsieur Felix wieder hervor und winkte sie mit der linken Hand heran. »Kommen Sie, kommen Sie. Sie wollten doch zusehen.«

Im hinteren Raum befand sich das Fotoatelier. Dort standen neben verschiedenen Requisiten zwei wuchtige Standkameras, von denen die eine auf Rollen montiert war. Sie nahmen einen Großteil des Raums ein. In einer Ecke hing ein Spiegel, vor dem ihre Tante, die ihnen gefolgt war, sich das Haar richtete und den schwarzen Hut zurechtrückte. Währenddessen schob Monsieur Felix mit einiger Mühe einen schweren Lehnstuhl vor die rückwärtige Wand, dessen Lehne und Sitzfläche mit blauem Stoffbezogen waren, in den gelbes Eichenlaub gewebt war. Daneben stand ein kleinerer Paravent, auf den ein düsterer, monumentaler Eichenwald gemalt war; ein übertrieben perspektivisch gezeichneter Weg verlor sich in der Ferne. Suzanne bemerkte weitere Paravents, die an die Wand gelehnt waren, und trat näher, um sie zu betrachten. Einer zeigte eine weiße Balustrade vor einer Terrasse und dahinter einen aufgerichteten Bären, der ziemlich Furcht einflößend wirkte. Auf den anderen waren gemalte Figuren zu sehen, die an der Stelle des Gesichts Löcher hatten. Wenn die Kunden ihre Köpfe hindurchsteckten, glichen sie dadurch Ludwig XIV. oder dem Präsidenten der Republik.

»Da ist ja die griechische Säule«, entfuhr es ihr, als sie ihren Blick in eine Ecke schweifen ließ.

Monsieur Felix hatte den Sessel in die richtige Position gewuchtet und richtete sich etwas kurzatmig wieder auf. »Sie ist schön, nicht wahr? Ich habe sie selbst nach einer Abbildung in einem Buch gezeichnet und geformt.«

»Eine Bank in Marmoroptik würde gut dazu passen. Auf die könnten sich die Leute für das Foto setzen. Und ein Tigerfell wäre schön.« Sie wusste selbst nicht, wie ihr diese Idee gekommen war, und vor allem nicht, woher sie den Mut nahm, sie zu äußern.

Monsieur Felix sah sie überrascht an. »An die Bank hatte ich auch schon gedacht. Und die Idee mit dem Tigerfell gefällt mir.«

»Sie könnten ein Modell aus Holz bauen und es dann bemalen.«

Diesmal nickte er anerkennend.

»Sind Sie soweit?« Madeleine trat auf den Sessel zu.

»Zu Ihren Diensten, Madame. Nehmen Sie Platz.«

Madeleine setzte sich und drapierte die Falten ihres Kleides um sich herum. Dann neigte sie sich leicht nach links und legte den linken Unterarm auf die Lehne, die rechte Hand legte sie darüber. Dadurch zeigte ihr Gesicht nicht frontal zur Kamera, sondern war leicht im Profil zu sehen. Ihr Blick ging nach links an Monsieur Felix vorbei und bekam so etwas Strenges, aber auch Geheimnisvolles. Unbeweglich verharrte sie in genau dieser Haltung.

Suzanne bewunderte ihre Tante dafür, wie selbstverständlich sie diese Pose einnahm, die sie interessant und melancholisch wirken ließ.

Monsieur Felix machte sich inzwischen hinter der größeren der beiden Kameras zu schaffen, die auf einem dreibeinigen Gestell stand. Er legte sich ein schwarzes Tuch über den Kopf und hielt mit der rechten Hand eine Lampe in die Höhe.

»Achtung! Jetzt!«, sagte er dann. Es blitzte. Suzanne erschrak, aber ihre Tante saß immer noch völlig regungslos in dem Sessel.

Dann erhob sie sich langsam und ging wieder in den vorderen Raum.

»Aber wie kommt denn jetzt das Foto aus diesem Kasten?«, fragte Suzanne.

»Suzanne, sei bitte nicht so neugierig«, kam die Stimme ihrer Tante aus dem Nebenraum.

»Bitte, lassen Sie sie doch. Es ist doch gut, wenn die Jugend wissbegierig ist«, beschwichtigte Monsieur Felix sie. Zu Suzanne gewandt, fügte er hinzu: »Das Foto ist auf dieser Platte.« Damit zog er eine viereckige Glasplatte aus der Kamera. »Und es muss entwickelt werden. Dazu brauche ich Dunkelheit und ein bisschen Chemie.« Wieder zwinkerte er Suzanne zu. »Das ist meine persönliche Zauberei«, flüsterte er.

»Wie aufregend!«, sagte Suzanne. »Darf ich zusehen?«

»Das wird leider nicht möglich sein. Das Entwickeln dauert seine Zeit, und ich mache es meistens gegen Abend oder während der Mittagspause, wenn keine Kunden in den Laden kommen.«

Suzanne war aufrichtig enttäuscht. Sie bemerkte den nachdenklichen Blick, mit dem der Fotograf sie ansah, als sie zusammen in den Verkaufsraum zurückkehrten.

»Wann ist das Bild fertig?«, fragte Tante Madeleine.

»Spätestens übermorgen. Ich lasse es Ihnen zukommen.« Dann wandte er sich wieder Suzanne zu. »Ich glaube, Sie haben ein gutes Auge. Haben Sie nicht Lust, bei mir zu arbeiten? Ich würde Ihnen alles beibringen, was ich kann.«

Suzanne spürte, wie sich die Härchen auf ihrem Unterarm aufrichteten und ein kalter Schauer ihre Haut überzog. Es fühlte sich an, als würden tausend Spinnen darüberlaufen. Vollkommen überrascht sah sie den alten Mann an, der auf der anderen Seite des Verkaufstresens stand und mit freundlichem Blick auf eine Reaktion wartete. Sie ahnte, dass dies einer jener magischen Augenblicke war, in dem sich ihre Zukunft entschied. Es gab nicht viele solcher Momente, und man musste sehr wachsam sein, um sie wahrzunehmen. Und dann musste man sehr behutsam damit umgehen, denn man konnte nie wissen, ob sie wiederkommen würden.

»Ich ...«, begann sie.

»Das ist natürlich Unsinn!« Die Stimme von Tante Madeleine durchschnitt Suzannes Träumereien scharf wie ein Messer. »Lieber Monsieur Felix, Ihr Angebot in allen Ehren, aber warum sollte Suzanne denn einen Beruf ergreifen? Sie hat doch bei uns alles. Und dann als Fotografin, also ...«

Entgegen seiner sonstigen Höflichkeit beachtete Monsieur Felix sie gar nicht. Er wartete nach wie vor auf eine Antwort von Suzanne.

Die ließ noch einmal die Atmosphäre des altmodischen Geschäfts auf sich wirken, sah die alte Standkamera mit dem schwarzen Tuch, den Paravent und die griechische Säule vor sich. Ihr Blick streifte die überall an den Wänden hängenden Fotos, meistens Porträts von Männern, Frauen und Familien, die allesamt würdevoll in die Kamera schauten. Immer noch wehten Staubflocken durch den Raum, die so schön golden leuchteten, wenn sie von der Sonne getroffen wurden. Noch einmal sog sie tief den Duft ein, der ihr, obwohl er trocken und leicht muffig war, verheißungsvoll erschien.

»Ich muss meinen Vater fragen«, brachte sie schließlich heraus.

Tante Madeleine schnappte entsetzt nach Luft, und Monsieur Felix nickte zufrieden.

»Wenn Sie sich entschließen können – was ich hoffe«, fügte er mit einem verschwörerischen Lächeln hinzu, »dann fangen Sie am 1. Februar an.«

***

Suzanne konnte ihre Ungeduld kaum bezähmen, als sie auf dem Nachhauseweg an der Seidenspinnerei von Seillans vorüberkamen. Am liebsten hätte sie ihren Vater sofort an seinem Arbeitsplatz aufgesucht, um ihm von Monsieur Felix' sensationellem Vorschlag zu berichten. Aber das war ausgeschlossen. Ihr Vater hätte sie nur verständnislos angesehen und wäre verärgert gewesen, wenn sie ihn von der Arbeit abgehalten hätte. Das wusste Suzanne aus bitterer Erfahrung. Es interessierte Patrick Godard einfach nicht, wenn seine Tochter etwas auf dem Herzen hatte.

Während des ganzen Rückwegs nahm Suzanne die Hitze nicht wahr. Am liebsten wäre sie den ganzen Weg gerannt. Der Gedanke, Fotografin zu werden, elektrisierte sie. Sie hatte zwar keine genaue Vorstellung davon, was sie für diesen Beruf können musste und worin er genau bestand, aber sie wusste instinktiv, dass er genau das Richtige für sie war. Sie wollte unbedingt herausfinden, wie es möglich war, dass die schwarz-weißen Fotos aus dem großen Apparat herauskamen. Sie konnte es kaum erwarten, das fertige Foto ihrer Tante zu sehen, weil sie feststellen wollte, ob sich die Art, wie sie sich in Szene gesetzt hatte, auf dem Foto wiederfinden ließ. Sie wollte wissen, ob die Kamera die Wahrheit sprach oder ob sie lügen konnte. Und zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte sie die Überzeugung, dass das Angebot, für Monsieur Felix zu arbeiten, eine Chance für sie war. Eine Chance, die sie sich auf keinen Fall entgehen lassen würde. Sie musste an die Claudine in den Romanen denken und fühlte eine Welle des Glücks in sich aufsteigen: Endlich hatte auch sie einen Traum, ein Ziel in ihrem Leben! Sie musste nur die Erlaubnis ihres Vaters bekommen und das halbe Jahr überstehen, bevor sie bei Monsieur Felix anfangen konnte.

***

»Na ja, Fotografin ist vielleicht besser als Köchin oder Hausmädchen«, meinte Camille mit einem Schulterzucken, als Suzanne ihr von Monsieur Felix und seinem Vorschlag erzählte. Die beiden saßen im Garten der Famille de Coligny-Senas. Sie hatten sich ein ruhiges Eckchen gesucht.

»Ich muss dir etwas sehr Wichtiges erzählen«, hatte Suzanne atemlos gerufen, kaum dass sie in der Tür gestanden hatte.

Jetzt war sie enttäuscht über die lahme Reaktion ihrer Freundin.

»In jedem Fall besser als nichts«, setzte Camille nach.

»Besser als nichts nennst du das?«, rief Suzanne aufgebracht. »Aber das ist doch endlich mal was anderes! Ich werde etwas lernen. Vielleicht kann ich später ein eigenes Fotoatelier aufmachen. Oder das von Monsieur Felix übernehmen. Er ist schließlich schon ziemlich alt.«

»Aber ausgerechnet Fotografin?«, gab Camille zu bedenken. »Das ist so wenig ... glamourös.«

»Aber warum sollte es denn glamourös sein? Wer will das denn schon?«

Camille tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Ich. Ich gehe nach Paris. Ich bleibe bestimmt nicht hier.« Sie bedachte Suzanne mit einem triumphierenden Grinsen.

Suzanne war jetzt richtig wütend. »Aber bisher bist du immer noch hier, oder irre ich mich? Und außerdem: In Paris brauchen sie bestimmt Fotografen, aber ob sie kleine unwissende Mädchen vom Land brauchen?«

»Das werden wir ja sehen!«

Beide schwiegen sich erbost an. Da war es wieder, dieses unangenehme Gefühl, das Suzanne manchmal beschlich, wenn sie mit Camille zusammen war. Sie sah vorsichtig zur Seite, aber ihre Freundin hatte den Blick abgewendet. Camille war ihre beste Freundin, die einzige, die sie überhaupt hatte, und ohne Camille wäre Suzanne bestimmt unglücklich gewesen. Aber Camille fühlte sich gut dabei, wenn Suzanne zu ihr aufsah, und sie konnte es nicht ertragen, wenn Suzanne anderer Meinung war.

Camille war die Erste, die das Schweigen nicht länger aushielt. »Was in aller Welt fängt deine Tante bloß mit diesen Fotos an? Und jedes Jahr macht sie ein neues?«, fragte sie.

Ohne hinzusehen, wusste Suzanne, dass ihre Freundin vor unterdrücktem Lachen fast platzte. Sie sah zur Seite. Camille schüttelte sich und prustete dann los.

»Ich weiß, warum sie das macht. Sie schickt die Fotos nach Amerika, um einen Mann zu finden. Das machen viele Frauen so. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass es in New York richtige Heiratsbörsen gibt und Männer sich aus dem Katalog eine Ehefrau in Europa bestellen.«

»Du glaubst doch selbst nicht, dass Tante Madeleine so etwas tun würde!«

Camille schüttelte den Kopf. »Du hast recht. Obwohl deine Tante immer für eine Überraschung gut ist«, sagte Camille. »Sie ist zwar wunderschön und hat viele Verehrer, hat aber nie geheiratet. Sie zieht sich an, als wolle sie in die Oper, geht dann aber in die Kirche. Sie glaubt an die Bibel, und gleichzeitig vertraut sie jedem dahergelaufenen Scharlatan, der ihr den Weltuntergang verspricht. War deine Mutter genauso? Ich meine, weil sie doch ihre Schwester war.«

Suzanne senkte den Blick. Sie redete nicht gern über ihre Mutter. Wie sollte sie über jemanden sprechen, über den sie praktisch gar nichts wusste? Und doch war ihre Freundin die Einzige, mit der sie darüber reden konnte, denn niemand verstand sie besser als Camille, die ohne Vater aufwuchs. Manchmal überlegten sie, was schlimmer war, ein Leben ohne Vater oder ohne Mutter. Sie waren übereingekommen, dass Suzanne ärmer dran war, denn sie hatte ihre Mutter nicht einmal kennenlernen dürfen. »Bei der Geburt gestorben«, so hieß es. Suzanne hatte das mitleidige Blicke eingebracht, geflüsterte Bemerkungen hinter vorgehaltener Hand, und die Ermahnung des Lehrers an ihre Mitschüler, »Rücksicht auf unsere arme Suzanne zu nehmen«.

»Bei der Geburt gestorben«, das hieß, niemanden zu haben, dem sie ihren geheimsten Kummer, die brennendsten Geheimnisse erzählen konnte. Niemanden, der ihr abends im Bett Geschichten erzählte und ihr Kinderlieder und Reime beibrachte. Niemand, der ihr liebevoll eine kühle Hand auf die Stirn legte, wenn sie krank war. Es hieß, dass immer etwas fehlte, dass sie nicht so war wie die anderen.

Bei Camille lagen die Dinge anders. Ihre Mutter hatte sich vor einigen Jahren von ihrem Vater scheiden lassen, weil er eine Mätresse hatte. Camille hatte Suzanne erst erklären müssen, was das Wort bedeutete. »Er hat meiner Mutter geschworen, dass er ihr von nun an treu sein würde, aber sie war zu verletzt«, hatte Camille gesagt. Doch ihr Vater lebte wenigstens, und einmal im Jahr fuhren sie und ihre Schwestern nach Draguignan, um ihn zu besuchen.

»Meiner Mutter wäre bestimmt niemals dieser Unsinn mit dem Weltuntergang eingefallen«, platzte es aus Suzanne im Brustton der Überzeugung hervor.

Die Bemerkung provozierte bei Camille einen neuerlichen Lachanfall. Vor sieben Jahren, als das neue Jahrhundert bevorstand, hatte Madeleine fest an den Weltuntergang geglaubt. »So steht es in der Bibel«, hatte sie gesagt. Tag für Tag hatte sie gebetet, stundenlang auf der Orgel gespielt und sich auf das Ereignis vorbereitet. Sie hatte alle Lebensmittel verbraucht und keine neuen gekauft, sie hatte sogar alle Hühner geschlachtet.

Suzanne war damals fast zehn Jahre alt gewesen. Sie hatte nicht genau verstanden, was passieren sollte, aber sie machte sich auf etwas ganz Schreckliches gefasst. Am letzten Abend des alten Jahrhunderts lag sie in ihrem Bett und betete. Trotz ihrer Angst schlief sie irgendwann ein, und als sie am Neujahrstag 1900 erwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, ob sie tot war oder noch lebte. Als sie es in der Küche rumoren hörte, stand sie vorsichtig auf. Es hätte sie nicht gewundert, wenn die Engel der Finsternis dort ihr Unwesen getrieben hätten. Doch am Herd stand ihr Vater und schimpfte, weil es weder Kaffee noch Milch gab. Suzanne war vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen.

Die Erinnerung an diesen Morgen ließ Suzanne tief aufseufzen. »Also gut«, meinte Camille schließlich, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. »Du wirst Fotografin, übernimmst den Laden von Monsieur Felix oder kommst zu mir nach Paris.«

Wieder seufzte Suzanne traurig. »Das erlaubt meine Tante nie.«

***

Wie Suzanne es erwartet hatte, kam es in den folgenden Wochen immer wieder zu erbitterten Streitigkeiten zwischen ihr und ihrer Tante, sobald die Sprache auf Monsieur Felix und ihren Wunsch kam, bei ihm zu arbeiten.

»Kommt nicht infrage«, sagte Madeleine. »Wozu soll das gut sein? Du bist ein Mädchen und wirst irgendwann heiraten. Und bis dahin bleibst du schön bei deinem Vater und mir. Es gibt genug zu tun im Haus und im Garten, und ich werde schließlich auch nicht jünger ... Und außerdem, was sollen die Leute sagen, wenn du den ganzen Tag mit einem Mann allein bist!«

»Tante Madeleine, er ist uralt!«, rief Suzanne und verfolgte hartnäckig ihr Ziel, zum ersten Mal in ihrem Leben. Je länger sie darüber nachdachte, um so wichtiger wurde für sie die Aussicht, Fotografin zu werden.

»Du hast nicht über mich zu bestimmen. Du bist nicht meine Mutter«, sagte sie leise, aber Madeleine hatte es dennoch gehört.

Sie schnappte nach Luft. »Nach allem, was ich für dich getan habe!«

Suzanne senkte den Blick und erwartete die übliche Litanei, die sie schon so oft gehört hatte.

Was sollte sie nur tun? Sie war noch minderjährig, und ohne die Einwilligung ihrer Tante oder ihres Vaters waren ihr die Hände gebunden. Sie hatte versucht, mit ihrem Vater zu reden, doch er hatte ihr nicht einmal richtig zugehört. Auch das hatte sie vorausgesehen. Patrick Godard war kein Mann für Gespräche. Früher sei ihr Vater anders gewesen, immer lustig und gern unter Menschen, das hatte ihr Caspar Michaud einmal gesagt. Aber nach dem Tod seiner Frau hatte er sich völlig zurückgezogen und verließ kaum noch das Haus. »Anfangs haben wir sogar befürchtet, er würde vor Kummer verrückt werden. Deshalb ist auch deine Tante Madeleine ins Haus gekommen, denn dein Vater hat sich geweigert, sich um dich zu kümmern, und du warst damals ja noch ein Baby.«.

»Es geht um meine Zukunft. Ich will hier nicht mein Leben vergeuden«, rief Suzanne und stellte den Teller mit einem lauten Knall auf den Tisch.

Madeleine fuhr wütend zu ihr herum. »Dein Leben vergeuden? Du meinst, so wie ich? Was wäre denn aus dir geworden, wenn ich einfach gegangen wäre?«

»Ich habe dich nicht dazu gezwungen«, wagte sie leise zu erwidern.

»Nein, du nicht. Aber deine Mutter, die hat sich aus dem Staub gemacht!« Ihre Stimme überschlug sich plötzlich, und Suzanne erschrak. Noch nie hatte sie ihre Tante so außer sich gesehen.

»Aber sie ist bei meiner Geburt gestorben. Das kannst du ihr doch nicht zum Vorwurf machen!«, rief Suzanne, die das seltsame Gefühl beschlich, dass hier etwas nicht stimmte.

Bevor ihre Tante etwas erwidern konnte, war die scharfe Stimme ihres Vaters zu hören: »Madeleine! Kein Wort mehr!« Mit einem warnenden Blick brachte er seine Schwägerin zum Schweigen.

Wann hat er das Zimmer betreten?, fragte sich Suzanne.

Stumm stand Madeleine auf und verließ mit steifen Schritten den Raum.

Suzanne glaubte nicht, was sie da sah und hörte. »Wie meint Tante Madeleine das, dass Mama sich aus dem Staub gemacht hätte?«, fragte sie ihren Vater. Angst kroch plötzlich in ihr hoch. Aus dem Staub machen, das hieß doch, sich seiner Verantwortung entziehen, abhauen. Ihre Mutter hatte kein Grab auf dem Friedhof von Fayence, aber auf ihre Fragen hin hatte ihr Vater ihr gesagt, sie sei neben ihren Eltern in Draguignan beerdigt. Suzanne hatte das nie infrage gestellt, bis heute.

»Bitte, Vater, sag mir, wie Tante Madeleine das gemeint hat«, bat sie.

»Gar nichts hat sie gemeint«, brummte er. »Und du gehst meinetwegen zu diesem Fotografen. Aber du kümmerst dich nach wie vor um die Hühner.«

Suzanne holte Luft, um etwas zu erwidern, doch er hob abwehrend seine riesigen Hände und brachte sie zum Schweigen.

»Schluss jetzt! Ich will es so«, sagte er und wandte sich ab. Er verließ das Haus und schloss die Tür hinter sich.

Suzanne blieb allein am Küchentisch zurück. Sie ahnte, dass an diesem Tag eine Gewissheit Risse bekommen hatte. Und sie wusste nicht, ob sie gerade einen Sieg errungen hatte oder ob etwas in ihrem Leben zerbrochen war.

Die nächsten Monate wurden Suzanne lang, und ungeduldig wartete sie auf den Jahreswechsel. Dann, am 1. Februar 1908, machte sie sich zum ersten Mal auf den Weg zu ihrer Arbeit nach Seillans. Sie war ganz aufgeregt und fühlte sich plötzlich sehr erwachsen. Am Vorabend hatte ihre Tante ihr ein neues Kleid hingelegt, das Kleid einer Erwachsenen, ein dunkler langer Rock zu einem gestreiften Oberteil. Und zum ersten Mal baumelte ihr Haar nicht in einem dicken Zopf auf dem Rücken. »Das geht in deinem Alter nicht mehr«, hatte Madame de Coligny-Senas zu ihr gesagt und ihr gezeigt, wie sie die Strähnen abteilen und zu einem dicken Knoten am Hinterkopf feststecken sollte. »Nicht zu fest, das wirkt alt, aber auch nicht allzu verspielt«, hatte sie gesagt und die Frisur mit einigen Haarnadeln befestigt.

Als sie an diesem für sie so wichtigen Morgen in den Spiegel sah, kam sie sich gereift vor. Die neue Frisur, die sie ungefähr so hinbekommen hatte, wie Camilles Mutter es ihr gezeigt hatte, und das neue Kleid ließen sie älter wirken. Sie warf sich selbst einen herausfordernden Blick zu und nahm das Schultertuch vom Stuhl. Vor dem Spiegel wollte sie sich den Schal in einer anmutigen Bewegung umwerfen, wie sie es bei ihrer Tante gesehen hatte, doch es misslang ihr. Sie verhedderte sich in dem Tuch und hätte beinahe ihre Frisur zerstört. Erst der zweite Versuch glückte. Noch ein letzter Blick in den Spiegel, und sie ging in die Küche hinunter, um noch schnell einen Kaffee zu trinken.

Als sie den Raum betrat, blickte ihr Vater auf und erstarrte. Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kieferknochen deutlich hervortraten. Suzanne las Erschrecken und Fassungslosigkeit in seinen Augen und sah ihn fragend an. Doch schnell hatte sich Patrick Godard wieder in der Gewalt. Er stand auf, um mit schweren Schritten ins Wohnzimmer zu gehen, und sie hörte, wie er eine Schublade öffnete und wieder schloss. Dann kehrte er in die Küche zurück.

»Für dich«, sagte er heiser und reichte ihr eine lederne Tasche, die auf der Vorderseite eine Stickerei in Rot und Gold hatte. »Für deinen Kittel und das Mittagessen.«

Suzanne war noch immer verwirrt von seiner heftigen Reaktion bei ihrem Anblick. Noch nie hatte ihr Vater sie auf diese Weise angesehen, es kam ihr sogar vor, als würde er sie zum ersten Mal richtig wahrnehmen. Gleichzeitig rührte sein Geschenk sie beinahe zu Tränen. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und wollte ihn umarmen, doch er wusste das zu verhindern. Mit einer schnellen Bewegung war er zurück am Tisch und ließ sich auf seinem Platz am Kopfende nieder, sodass sie nur noch seinen breiten Rücken sah und hörte, wie er geräuschvoll seinen Kaffee trank.

Als ihre Tante sie sah, schien auch sie zu erschrecken. »Du siehst aus wie sie«, entfuhr es ihr. In diesem Augenblick verstand Suzanne die Reaktion ihres Vaters: Er hatte für eine Sekunde geglaubt, seine Frau stehe vor ihm. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Eigentlich war es doch etwas Schönes, wenn eine Tochter ihrer Mutter ähnlich sah, oder nicht? Was verheimlichten Tante Madeleine und ihr Vater ihr?

Nachdenklich machte sie sich auf den Weg. Um sich abzulenken, versuchte sie sich vorzustellen, wie die Zusammenarbeit mit Monsieur Felix sein würde. Er war jedenfalls nett und herzlich, das hatte sie bei der ersten Begegnung gefühlt und auch bei dem Gespräch, das sie zur Einstellung mit ihm geführt hatte.

»Frag ihn, wie er richtig heißt«, hatte Camille ihr mit auf den Weg gegeben. »Ich will wissen, wie er ausgerechnet in so ein armseliges Dorf wie Seillans gekommen ist. Ich mache eine Romanfigur aus ihm.« Das war Camilles neueste Idee: Sie wollte Schriftstellerin werden und sortierte die Menschen in ihrer Umgebung danach ein, ob sie als Figuren taugten oder nicht.

»Und? Habe ich eine Chance, als Figur in einer deiner Geschichten aufzutauchen?«, hatte Suzanne gefragt.

Camille hatte den Mund verzogen und gemeint: »Du kannst eine Rolle als Landpomeranze bekommen.«

Als Suzanne sie daraufhin in die Seite geknufft hatte, hatte sie sich korrigiert. »Landpomeranze mit Entwicklungschancen.«

»Ich werde ihn nach seinem Namen fragen«, sagte sie zu sich selbst, während sie nun den anstrengenden Anstieg durch die Olivenhaine nahm. »Aber eines steht schon mal fest: Der Name Felix kommt von Glück.«

***

Die Monate vergingen, und Suzanne genoss jeden Tag ihrer Arbeit im Fotoatelier. Am schönsten waren die einsamen Stunden in der Dunkelkammer. Inmitten der fremden Gerüche und in der Dunkelheit fühlte sie sich glücklich und unbeschwert. Es grenzte für sie jedes Mal an ein Wunder, wenn sie das Fotopapier mit einer großen Pinzette im Entwicklungsbad hin und her schob und sich dann langsam erst die Umrisse und dann die Feinheiten eines Motivs zeigten. Viele der Porträtierten kannte sie, denn es waren Menschen aus den umliegenden Dörfern, ihre Nachbarn, ehemalige Klassenkameradinnen, die Familie des Bäckers, der den öffentlichen Ofen in der Rue du Grand Four betrieb und und und. Aber auf den Fotos sahen sie anders aus, würdevoller, ernster, manchmal leider auch, als hätten sie gerade den Schreck ihres Lebens bekommen. Sie waren nicht länger die kleinen Leute aus dem Dorf, nein, auf den Bildern strahlten sie Autorität aus.

Suzanne hängte die Abzüge zum Trocknen mit einer Klammer an eine Leine und betrachtete sie erneut intensiv. Eine Besonderheit in einem Gesicht nahm sie gefangen, die etwas zu weit auseinander stehenden Augen von Ludovine Germier, die den Tabakladen in Seillans betrieb. Ihr Blick ruhte abweisend und distanziert auf ihrem Mann und ihren fünf Kindern. »Ob sie sie jemals geliebt hat?«, flüsterte Suzanne vor sich hin und legte das Bild zu den anderen, die bereits getrocknet waren. Trotz der Dunkelheit bewegte sie sich in dem winzigen Raum völlig sicher zwischen den gespannten Leinen und den Chemikalienbehältern. Sie griff nie an einer Sache vorbei, wenn sie sie brauchte. Sie wusste genau, wo alles seinen Platz hatte.

Später würde sie die fertigen Aufnahmen in die Rahmen einlegen, die die Kunden bei der Porträtsitzung ausgesucht hatten. Die Nummern der Rahmen – es gab eine einfache Ausführung in Mahagoniholz und eine etwas teurere mit Silberauflage – standen mit Bleistift auf den Fotoplatten. Das Rahmen machte ihr Spaß, weil sie handwerklich präzise arbeiten musste, um die Rückwand, das Foto und die Glasabdeckung passgenau einzusetzen und dann mit zwei Metallspangen auf der Rückseite festzuspannen. Anschließend musste noch der Zettel mit der aufgedruckten Adresse von Monsieur Felix' Atelier aufgeleimt werden und in schönster Schrift das Aufnahmedatum dazugesetzt werden. Dann war alles fertig.

Die meisten Kunden waren stolz und zufrieden, wenn sie ihr fertiges Porträt abholten. Es kam nicht allzu oft vor, dass die Leute sich fotografieren ließen. Taufen, Hochzeiten, Jubiläen, ein runder Geburtstag, das waren die Gelegenheiten, zu denen man die Kosten für eine Porträtaufnahme auf sich nahm. In letzter Zeit kamen allerdings neue Kunden: junge Männer und Frauen, manchmal auch ganze Familien, die ein Foto von sich machen ließen, bevor sie die Gegend verließen. Einige gingen in die nächstgrößere Stadt, viele wanderten aber auch nach Amerika aus. Die Zeiten änderten sich eben, und niemand konnte mehr von der Seidenraupenzucht, dem Anbau von Oliven oder der Korkenmacherei leben. Die Dörfer rund um Fayence würden veröden, wenn nicht bald etwas geschah, denn die Leute wollten eine gesicherte Zukunft und die Annehmlichkeiten und Attraktionen, die es in den Städten gab. Einen Hauch dieser Welt brachten die ersten Ausländer mit, die den Weg von der Küste in die Dörfer im Landesinneren fanden. Das Geld saß ihnen locker, sie lachten und waren unbeschwert. Die Einheimischen wurden neugierig und neidisch, denn solch ein Leben konnten ihnen ihre abgelegenen Dörfer nicht bieten.

Erst in der letzten Woche hatte Suzanne einen Engländer fotografiert, der mit einer ganzen Entourage schöner junger Frauen und Männer in zwei Autos – allein das war eine Sensation! – in Seillans aufgetaucht war. Das ganze Dorf hatte fasziniert die Röcke der Frauen, die nur wadenlang waren und nur kleine Trippelschritte zuließen, und die lässigen Bewegungen der Männer, die weiße Hosen trugen, angestarrt. Der Engländer hatte im Café Essen, Wein und Champagner verlangt und ein gigantisches Trinkgeld gezahlt. Dann war er plötzlich auf die Idee gekommen, dass die ganze Gruppe sich im Studio von Monsieur Felix fotografieren lassen sollte. Das kleine Atelier hatte die vielen Menschen kaum fassen können, und vor den Schaufenstern hatten die Kinder sich neugierig die Nasen platt gedrückt. Suzanne hatte beobachtet, wie die Frauen sich die Lippen nachzogen und Puder auflegten, wie sie ihre Blusen und Kleider zurechtzupften und ein strahlendes Lächeln auflegten, bevor sie sich fotografieren ließen. Sie hatte fast ein Dutzend Aufnahmen machen müssen, bis endlich alle stillgehalten hatten. Dann hatte die ganze Bagage sich wieder auf den Weg nach Nizza gemacht – nicht ohne zu versprechen, im folgenden Monat wiederzukommen und diesmal über Nacht bleiben zu wollen. Dann wollte der Engländer auch die Fotos abholen, die er im Voraus bezahlt hatte. Seitdem kursierten im Ort Pläne, ein Restaurant und ein Hotel zu eröffnen, um an den reichen Ausländern zu verdienen. Denn nach und nach kamen immer mehr von ihnen an die Küste zwischen Nizza und Cannes, besonders im Winter, und besuchten auch das Hinterland. Und Maler folgten ihnen. »Sie sitzen mit ihren Paletten am Wasser und pinseln, was das Zeug hält«, erzählte der Bürgermeister, der schon einmal mit seiner Frau ans Meer gefahren war.

Suzanne schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Wenn sie die Fotos zu lange im Entwickler ließ, waren sie verdorben, und dann konnte Monsieur Felix, der ansonsten die Liebenswürdigkeit in Person war, sehr ungehalten werden.

»Die Leute vertrauen uns ihre Persönlichkeit an. Wir haben die Pflicht, pfleglich damit umzugehen.« Er zwinkerte ihr zu. »Damit sie wiederkommen.«

Kapitel 2

Antoine Cailloux stand vor dem Spiegel und rasierte sich.

»Verflucht«, schimpfte er, als das Messer die Haut ritzte, einen Zentimeter über seinem akkurat gestutzten Schnauzbart, der sein ganzer Stolz war. Ein dicker Blutstropfen trat aus der Wunde aus und lief das Kinn hinunter. Er beugte sich vor, um näher an den Spiegel heranzukommen, dabei prallte er mit dem Gesäß aber an die Wand hinter sich. Wieder stieß er einen Fluch aus. Er hasste dieses kleine, düstere Bad, das im Grunde nicht mehr war als eine bräunlich angelaufene Waschschüssel auf einem zerschlissenen Wachstuch, das früher einmal ein Rosenmuster gehabt hatte. Darüber hing ein halbblinder Spiegel, viel zu niedrig für seine Größe. Resigniert setzte er das Rasiermesser wieder an.

Sein Spiegelbild tröstete ihn jedoch über die Misslichkeiten hinweg, als deren Opfer er sich fühlte. Das dichte, sorgfältig pomadisierte Haar lag wie ein Helm um seinen Kopf und gab die hohe Stirn frei. Darunter lagen tiefblaue Augen, die die Frauen reihenweise verrückt machten. Wie auch sein Lächeln, das er jetzt im Spiegel trainierte. Ja, die Frauen liebten seine Augen und seinen Schnauzer, den niemand sonst in Fréjus so keck trug wie er.

Er überprüfte sorgfältig, ob er auch kein Haar übersehen hatte, spülte sich anschließend das Gesicht mit Wasser ab und trocknete es mit dem abgewetzten Handtuch, das neben dem Waschtisch hing und mehr grau als weiß war und kratzte. Dann drehte er sich um. um sein Rasierwasser von dem schmalen Bord zu nehmen, das er neben der Tür angebracht hatte. Dort bewahrte er seine Sachen auf, seinen Kamm, die Pomade und das Rasierwasser. Mit klatschenden Bewegungen verteilte er das Duftwasser auf den nunmehr glatten Wangen.

Im selben Moment flog die Tür hinter ihm auf und traf ihn hart im Kreuz. Er wurde nach vorn geschleudert und stieß sich den Oberschenkel am Waschtisch an.

»Du Schwein!«

Antoine fuhr herum. »Was fällt dir ein? Bist du verrückt geworden?«

»Du mieses Schwein! Warum konntest du deine Finger nicht von Odette lassen?«

Robert Cailloux, sein älterer Bruder, stand vor ihm und stützte die Hände rechts und links an die Wand, sodass Antoine nicht an ihm vorbei und das kleine Badezimmer verlassen konnte.

Antoine hob das Kinn und kniff wachsam die Augen zusammen. »Odette? Und was habe ich mit der zu tun? Ich weiß gar nicht, was du willst. Lass mich in Ruhe!«

»Sie ist schwanger! Ihr Vater hat es mir gerade erzählt.« Unbändige Wut schwang in Roberts Stimme mit.

Antoine hatte sich wieder im Griff. Sein Gesicht nahm einen betont gelangweilten Ausdruck an. »Sieh mal an, die kleine Odette ist schwanger. Hat ihr am Ende doch jemand einen Braten untergeschoben. Aber sie hat ja auch jeden rangelassen. Und was geht mich das an?«

Anstelle einer Antwort holte Robert aus, um seinem Bruder die Faust in den Magen zu rammen. Doch Antoine hatte den Schlag erahnt und sich leicht weggedreht. Roberts Hieb ging ins Leere. Antoine holte seinerseits aus und versetzte Robert einen Kinnhaken, der ihn taumeln ließ.

»Du wirst sie heiraten«, stieß Robert hervor und wischte sich das Blut von der Lippe.

Antoine sah ihn hochmütig an. »Soll sie doch beweisen, dass ich der Vater bin! Da kann ja jede kommen. Ich werde mir doch nicht mein Leben versauen, weil ich so ein Provinzflittchen heirate, das es mit jedem treibt.«

»Du bist ein verdammtes Schwein!«, wiederholte Robert.

Antoine sah ihn hasserfüllt an. »Ich bin vielleicht ein Schwein, aber dir hat man es auch leicht gemacht, keines zu sein. Der Herr Bruder hat ja schließlich studiert und ist etwas Besseres. Vom hohen Ross aus ist es einfach, den Moralapostel zu spielen. Wer hat denn auf dem Boot geschuftet, damit du in Marseille studieren durftest?«

Robert wollte etwas entgegnen, doch der Blick seines Bruders ließ ihn verstummen. Er ließ die Arme sinken und machte einen Schritt zur Seite. Antoine warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und strich sich mit der Hand über das Haar. Dann verließ er das Badezimmer.

Odette Martigny war schon das zweite Mädchen, dem Antoine Cailloux ein Kind gemacht hatte. Ein Jahr zuvor war es Julie Barbès gewesen. Auch da hatte Antoine alles abgestritten und die Frau kaltblütig als Flittchen hingestellt. Er hatte sogar einen Freund aufgetrieben, der schwor, ebenfalls etwas mit ihr gehabt zu haben. Julie hatte Fréjus in Schimpf und Schande verlassen. Aber mit Odette war das etwas anderes. Sie und Antoine waren seit dem Frühjahr ein Paar, und das ganze Dorf wusste Bescheid, auch wenn sie nicht offiziell verlobt waren.

Am Abend kam Odettes Vater zum alten Cailloux, um die Sache zu besprechen. Die beiden Männer beschlossen, dass Antoine Odette heiraten sollte, und zwar so schnell wie möglich. Antoine erklärte sich bereit, doch in derselben Nacht packte er seine Sachen und verschwand, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

»Ihm hat immer die Mutter gefehlt.« Sein Vater seufzte. »Vielleicht hätte sie ihm Anstand beigebracht«

Robert sagte nichts. In diesem Augenblick hasste er seinen Bruder aus tiefstem Herzen. Und der Hass und die Verachtung wurden noch größer, als in den folgenden Tagen, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass Antoine nicht mehr da war, Leute kamen und Geld forderten, das sie Antoine geliehen hatten, mal kleinere, mal größere Summen, aber in der Gesamtheit so viel, dass der alte Cailloux das Boot verkaufen musste, mit dem sein Sohn zum Fischen hinausgefahren war. Nur so konnte er den Forderungen nachkommen.

»Wenn ich ihn finde, bringe ich ihn um!«, rief Robert, als er mit seinem Vater vom Notar kam, der den Verkauf bestätigt hatte.

»Er wird nicht wiederkommen«, entgegnete sein Vater. »Und das ist vielleicht auch besser so.«

***