Die kalte Braut - Stefan Bouxsein - E-Book

Die kalte Braut E-Book

Bouxsein Stefan

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Beschreibung

Sie hat ihren Freund erschlagen und sie gehörte zum inneren Zirkel von World Consulting. Das international agierende Beratungsunternehmen aus den USA strebt die Weltherrschaft an. Sie war eine kalte Braut. Ein internes Synonym für eine Top-Beraterin, die kriminelle Organisationen mit Politik und Wirtschaft vernetzte. Siebels und Till ermitteln, aber die Täterin sagt kein Wort zur Tat. Stattdessen erzählt sie von ihren wirren Träumen, in denen sie immer ein weißes Brautkleid trägt und völlig verrückte und abscheuliche Dinge tut. Die Kommissare entschlüsseln nach und nach diese wirren Traumgeschichten und stoßen auf ein bundesweites Netzwerk an dubiosen Unternehmensberatern. Im Laufe der Ermittlungen kommen Siebels und Till einer internationalen Verschwörung auf die Spur.

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Samstag, 21. Februar 2009

Stefan Bouxsein

Die kalte Braut

Kriminalroman

Der Autor

Stefan Bouxsein wurde 1969 in Frankfurt/Main geboren. Studium der Verfahrenstechnik und des Wirtschaftsingenieurwesens an der FH Frankfurt. Seit 2006 verlegt er seine Bücher im eigenen Traumwelt Verlag.

Bisher erschienen von Stefan Bouxsein:

Krimi-Reihe mit Siebels und Till:

Das falsche Paradies, 2006

Die verlorene Vergangenheit, 2007

Die böse Begierde, 2008

Die kalte Braut, 2010

Das tödliche Spiel, 2011

Die vergessene Schuld, 2013

Die tödlichen Gedanken, 2014

Die Kronzeugin, 2015

Projekt GALILEI, 2018

Seelensplitterkind, 2021

Der böse Clown (Kurzkrimi), 2014

Außerdem:

Kurz & Blutig (Vier Kurzkrimis), 2015

Humor: Idioten-Reihe mit Hans Bremer:

Der nackte Idiot, 2014

Hotel subKult und die BDSM-Idioten, 2016

Erotischer Roman von Susann Bonnard:

Die schamlose Studentin, 2017

Mein perfekter Liebhaber, 2019

Erfahren Sie mehr über meine Bücher auf:

www.stefan-bouxsein.de

© 2021 by Traumwelt Verlag

Stefan Bouxsein

Johanna-Kirchner-Str. 20 · 60488 Frankfurt/Main

www.traumwelt-verlag.de · [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Nuilani – Design und Kommunikation, Ralf Heller

www.nuilani.de · [email protected]

Lektorat: Stefanie Reimann

Titelbild: Adobe Stock

ISBN 978-3-939362-09-8

3. Auflage, 2021

1

Es ist ein wunderschöner, sonniger Wintertag. Keine Wolke bedeckt den strahlend blauen Himmel. Ich bin allein und genieße die Aussicht hoch oben auf der Spitze des Gletschers. Schnee und Eis bedecken die Landschaft, soweit das Auge reicht. Es ist kalt, sehr kalt. Ich trage nur ein weißes Brautkleid, aber ich spüre die Kälte nicht. Ich genieße sie. Ich stelle mich auf meine Skier und beginne mit der Abfahrt. Im schnellen Tempo jage ich den Gletscher hinunter. Ich bin eins mit dem Eis. Alles ist weiß, mein Brautkleid, der Schnee und das Eis. Schnell und wendig umfahre ich alle Hindernisse und spüre diese Euphorie in mir. Ich fühle mich unverwundbar. Niemand kann mich aufhalten.

Doch plötzlich, ich bin schon ein ganzes Stück hinabgefahren, gesellt sich ein anderer Skifahrer zu mir. Ich ignoriere ihn und fahre konsequent meine Spur. Doch er bleibt dicht neben mir. Wir kommen an einem Tableau an und halten inne. Ich betrachte ihn mir nun genauer. Er sieht sehr nett aus. Mir wird warm. Es entwickelt sich ein Gespräch zwischen uns. Er scheint gar nicht zu bemerken, dass ich nur mein weißes Brautkleid trage. Wir lernen uns kennen und erstaunt stelle ich fest, dass ich ihn mag. Die Sonne glitzert im weißen Pulverschnee und ich spüre, wie er allmählich schmilzt. Wir lachen gemeinsam und fahren noch ein Stück zusammen den Berg hinunter. Dabei wird mir immer wärmer. Nach einer weiteren kurzen Abfahrt halten wir wieder an. Dann fasse ich einen Entschluss. Ich reiße mir das Brautkleid vom Leib und stehe nackt vor ihm im Schnee. Die Sonne scheint auf meine Haut und ich spüre so etwas wie Liebe. Er betrachtet mich verwundert, mustert mich von Kopf bis Fuß. Plötzlich dreht er sich um und fährt weiter den Berg hinab. Er lässt mich nackt im Schnee stehen und sucht sich seinen eigenen Weg. Ich schaue ihm hinterher und beginne zu frieren. Zum ersten Mal spüre ich die Kälte. Sie durchdringt mich bis auf die Knochen.

»Wissen Sie, was das Komische an diesem Traum war?«

Siebels saß am Krankenbett von Sabine Lehmann und schüttelte verneinend den Kopf.

»Es war die Kälte. Sie konnte mir nichts anhaben. Ich war immun gegen die tiefen Temperaturen. Erst als er ohne mich weitergefahren war, spürte ich auf einmal diese Kälte. Auch wenn ich aufwache, fühle ich mich, als würde ich in einem Eisschrank sitzen. Obwohl ich genau weiß, dass es nur ein Traum war. Ein immer wiederkehrender Traum. Einer von so vielen. Ich habe noch nie jemandem von diesen Träumen erzählt. Sie sind der Erste. Möchten Sie auch die anderen Träume hören?«

Siebels nickte stumm, aber Sabine Lehmann schlief vor seinen Augen ein.

Der Arzt wollte sie für eine Woche zur Beobachtung im Krankenhaus behalten. Nach der ersten Untersuchung hatte er ihr eine völlige Erschöpfung bescheinigt. Siebels stand auf und verließ das Krankenzimmer. Draußen vor der Tür saß ein Beamter in Uniform. Nun würde die Polizei für die ganze Woche einen Beamten vor dem Krankenzimmer von Sabine Lehmann postieren müssen. Siebels war eigentlich nur gekommen, um ein Geständnis von dieser entkräfteten Frau entgegenzunehmen. Das Geständnis, dass sie eine Mörderin war. Nun ging er mit leeren Händen und dem komischen Gefühl, der erste Mensch zu sein, der von ihren Träumen erfuhr.

2

Montag, 02. Februar 2009, 18:05 Uhr

Siebels saß müde am Schreibtisch und tippte seinen Bericht in den PC. Vom Krankenhaus war er direkt ins Präsidium gefahren. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er den Traum von Sabine Lehmann so detailgetreu wie möglich niederschreiben musste.

Staatsanwalt Jensen hatte ihm am Tag zuvor die Ermittlungen zu dem Fall übertragen. Till, Siebels jüngerer Teamkollege, lag mit Grippe im Bett und Siebels war Anfang des Jahres dazu verdonnert worden, seine exorbitant hohe Anzahl von Überstunden abzubauen. Da war so ein klarer Fall wie der von Sabine Lehmann genau das Richtige für das dezimierte erfolgreiche Duo der Frankfurter Mordkommission, hatte Jensen am Tatort erläutert.

Der Tatort war die Wohnung von Sabine Lehmann. Die 34-jährige hatte selbst die Polizei gerufen, bevor sie die Überdosis Schlaftabletten zu sich nahm. Dass die Polizei vor ihrem Tod eintraf, war weibliches Kalkül, hatte Jensen spekuliert. Sven Müller war der Lebenspartner von Sabine Lehmann. Sein Tod war eingetreten, bevor der Anruf bei der Polizei einging. Auf seinem Schädel hatte die mutmaßliche Täterin Sabine Lehmann eine leere Weinflasche zertrümmert. Die Obduktion stand noch aus, aber der Gerichtsmediziner Pauli hatte wenig Zweifel an Todesursache und Tathergang.

Doch Siebels zweifelte daran, nachdem er den Traum von der Skifahrt abgetippt hatte, sich zurücklehnte und eine Zigarette anzündete. Er hatte keinen Grund zum Zweifeln. Jedenfalls keinen vernünftigen. Nur dieses vage Gefühl, dass da noch mehr war, im Fall Sabine Lehmann.

Charly kam fröhlich pfeifend in Siebels Büro gelaufen. »Hat sie gestanden?«, fragte er mehr beiläufig und setzte sich auf den Stuhl des grippeerkrankten Till.

»Nein«, seufzte Siebels.

»Sie streitet es ab?«

»Nein. Sie träumt merkwürdige Dinge.« Siebels druckte seinen Bericht aus und reichte ihn Charly hinüber. Charly wiederum händigte Siebels einen kleinen Stapel Papier aus. Es handelte sich um die Ergebnisse seiner heutigen Bemühungen im Fall Lehmann. Charly unterstützte Siebels und Till bei Bedarf mit Hintergrundrecherchen und fütterte die beiden mit Informationen, die er mit viel Fleiß und nicht immer legalen Mitteln zusammentrug. Der Computerfreak war offiziell EDV-Spezialist bei der Frankfurter Polizei.

Siebels überflog die Papiere von Charly und zog dabei tief an seiner Zigarette. Das Mordopfer Sven Müller war 32 Jahre alt, als freier Journalist und Buchautor tätig und Träger der Blutgruppe Null.

»Die Blutgruppe hat hier nix zu suchen, die gehört in den Obduktionsbericht«, rügte Siebels seinen Kollegen.

»Nackiges Skifahren gehört hier aber auch nicht rein, das gehört bestenfalls in den Bericht des Psychologen«, konterte Charly. »Außerdem wollte der frischgebackene Vater doch schon längst mit dem Rauchen aufgehört haben, oder?«

»Habe heute schon fünf Mal damit aufgehört«, erklärte Siebels und schaute wieder in Charlys Papiere. Sabine Lehmann arbeitete seit vier Jahren als selbstständige Consultant und war Partnerin bei Paulsen und Partner.

»Muss das nicht Consultine heißen?«, erkundigte sich Siebels und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Wenn schon, dann Consultess. Das ist schließlich ein renommierter Job.«

»Was genau hat sie denn so Renommiertes getan? Was ist eigentlich eine selbstständige Partnerin?«

»Paulsen und Partner ist eine der renommiertesten Gesellschaften der Branche. Exakt heißt der Laden Paulsen und Partner UVI-Consulting. U steht für Unternehmensberatung, V für Vermögensberatung und I für Immobilienberatung. Herr Paulsen hat die Gesellschaft 1996 gegründet und nach dem Franchisesystem aufgebaut. Jeder Partner ist Franchisenehmer, also rechtlich selbstständig, aber eingebunden in ein vorgegebenes Konzept. McDonald’s funktioniert zum Beispiel auch so.«

»Und das Opfer, Sven Müller, hast du über den auch schon was rausgefunden?«

»Aber klar. Der war freier Journalist und Buchautor. Meistens schrieb er über brisante Themen aus Wirtschaft und Politik. Enthüllungsautor wurde er auch genannt. Hat unter anderem für den Spiegel, Stern und Focus geschrieben. Den Korruptionsfall bei der Marburger Baubehörde hat er vor drei Jahren aufgedeckt und letztes Jahr war er verantwortlich für den ruhmlosen Abgang von Staatssekretär Meier wegen der illegalen Waffenlieferungen nach Aserbaidschan.«

»Hat er auch aktuell an einem brisanten Thema recherchiert?«

»Das weiß ich nicht. Bevor so etwas publik wird, halten sich Journalisten ja gern bedeckt, verständlicherweise.«

»Klingt logisch. Und wenn es was aktuell Brisantes geben sollte, werden wir das am ehesten auf seinem Computer finden.«

»Wir?«

»Ich sagte doch: Computer. Das ist dein Hoheitsgebiet. Du weißt schon, Passwort knacken und so. Morgen früh fahren wir in seine Wohnung. Und die Wohnung von Sabine Lehmann schauen wir uns bei Gelegenheit auch noch an. Das war gestern mit der Spurensicherung alles so hektisch. Den Tatort betrachten wir uns noch mal in Ruhe.«

»Wir?«

»Keine Sorge, die hat bestimmt auch einen Computer.«

»Jensen hat aber was von Geständnis und Fall abgeschlossen erzählt, wenn ich richtig informiert bin.«

»Sie hat aber nicht gestanden, sondern geträumt.«

»Das ist natürlich ein Argument.«

»Dann treffen wir uns morgen früh um zehn Uhr in der Wohnung von Sven Müller. Wo ist die eigentlich?«

»In der Ginnheimer Landstraße 112. Eigentumswohnung.«

Siebels notierte sich die Adresse und verabschiedete sich von Charly.

Till saß vor der Kloschüssel und röhrte wie ein Hirsch. Aber der erhoffte Schleimausstoß hielt sich in Grenzen. Stattdessen flossen ihm vor Anstrengung die Tränen über die Wangen. Seine Bronchien fühlten sich wie geteert an und dieser Teer erwies sich als absolut resistent gegen die schleimlösende Medizin, die Johanna ihm seit zwei Tagen einflößte. Er gab auf und schleppte sich erschöpft in sein Bett zurück. Er schloss die Augen und überlegte sich, wer ihm diesen Virus übertragen hatte. Im Revier hatten in der letzten Woche fast alle geschnieft und gehustet. Aber nur er war so erbärmlich und kraftlos vor der Kloschüssel gelandet. Er tippte auf Staatsanwalt Jensen. Jensen hatte sich für drei Tage krankgemeldet. Dann führte ihn sein erster Weg ins Büro von Siebels und Till. Der Virus hatte ihn dermaßen niedergestreckt, das konnte nur von Jensen gekommen sein. Till sann auf Rache, als Johanna, seine Freundin und derzeitige Pflegerin, ins Zimmer kam.

»Na, geht es besser?«

»Ebola«, krächzte Till.

»Ebola?«

»Ja, der Virus. Kannst du den besorgen? Im Reagenzglas?«

»Lass mich mal Fieber messen.«

»Nein, Fieber ist vorbei.«

»Aber du fantasierst doch.«

»Ich muss mich rächen. An Jensen. Der hat mich angesteckt. Er hat den Virus in unser Büro geschleppt.« Till hustete beim Krächzen. »Ich kippe ihm den Ebolavirus in seinen Kaffee. Auge um Auge, Virus um Virus.«

»Aha. Ob das im Kaffee funktioniert, glaube ich aber nicht. Ebolaviren übertragen sich bei direktem Körperkontakt oder über Kontakt mit Körperausscheidungen infizierter Personen. Die findest du aber bestenfalls in Afrika.«

»Dann fahre ich halt nach Afrika.« Till schloss die Augen und schlief ein.

Dienstag, 03. Februar 2009, 10:00 Uhr

Siebels öffnete die Tür der Wohnung mit dem Schlüssel des Opfers. Gefolgt von Charly betrachtete er sich kurz die Räume. Er stellte sich vor, wie Sven Müller das letzte Mal in seinem Leben diese Zimmer genutzt hatte. Wie er seine Wohnung verließ, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er sie nie wieder betreten würde, dass stattdessen zwei Beamte der Mordkommission in seine Intimsphäre eindringen würden.

»Da steht ja das gute Stück«, stellte Charly fest und ging in das Zimmer. Zweifelsohne ein Arbeitszimmer, vollgestopft mit Aktenordnern. Im Faxgerät lag ein Papier. Siebels nahm es heraus, während Charly den Rechner hochfuhr.

»Die Kopie einer Todesanzeige«, stellte Siebels mit dem Blatt in der Hand fest. »Detlev Wurmbach, geboren am 5. Dezember 1973, gestorben am 6. Januar 2005.«

»Zum Glück habe ich ein Entschlüsselungsprogramm dabei, der Rechner ist gut geschützt«, murmelte Charly vor sich hin.

»Das Fax ist vom Sonntag. Warum bekommt Müller an seinem Todestag eine vier Jahre alte Todesanzeige gefaxt?«

»Vielleicht hat es was mit seinen Recherchen zu tun? Wenn ich die Kiste hier gekapert habe, suche ich mal nach Wurmbach-Dateien. Wer ist denn der Absender?«

»Steht nicht drauf, nur die Faxnummer als Kennung. Aber das bekommen wir bestimmt schnell raus.« Siebels nahm ein leeres Blatt Papier vom Schreibtisch, schrieb etwas darauf und faxte es an den Absender der Todesanzeige.

»Was machst du denn da?«, wollte Charly wissen.

»Kontakt aufnehmen. Ich habe meine Handynummer notiert und um dringenden Rückruf gebeten.«

»Gute Idee. Jetzt bin ich richtig neugierig, wer sich da meldet.«

»Ich auch. Ich schaue mich mal in den anderen Zimmern um.« Siebels ging in die Küche. In der Spüle stand noch benutztes Geschirr und auf dem Küchentisch eine halb volle Weinflasche und ein Weinglas. Im Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Siebels fragte sich, warum Müller nicht mit seiner Freundin Sabine Lehmann zusammengezogen war, und ging ins Schlafzimmer. Ein ungemachtes schmales Bett und bergeweise schmutzige Wäsche erwarteten ihn dort. An der Wand über dem Bett hing ein gerahmtes Foto. Sven Müller und Sabine Lehmann unter Palmen.

»Ich bin drin«, rief Charly vom Arbeitszimmer aus. Als Siebels hinter Charly stand, hatte der schon sein nächstes Erfolgserlebnis vorzuweisen. »Schau mal hier. Er hat über diesen Wurmbach ein kleines Exposé angelegt. Detlev Wurmbach, Diplom-Volkswirt, nach seinem Studium im Juni 2000 von Paulsen und Partner angeheuert. Sechsmonatiges Partnerprogramm absolviert. Im März 2001 eigenständiges Büro eröffnet. Seminarbesuche durchgehend von 2001 bis 2004. Stetig steigende Umsätze mit dem Beratungsbüro. Selbstmord im Januar 2005. Hinterließ Schulden von knapp 200.000 Euro.«

Siebels pfiff leise durch die Zähne. »Ziemlich hohe Schulden für einen jungen aufstrebenden Berater.«

»Vielleicht war das der Grund für seinen Selbstmord?«

»Sieht jedenfalls so aus, als hätte Sven Müller auch an anderen Partnern von Paulsen ein reges Interesse gehabt.«

»Ein Bi-Sexueller, der auf Paulsens Partner steht? Bizarr, bizarr.«

»Blödmann. Jedenfalls ist der Fall um einiges interessanter, als es Jensen sich vorgestellt hat.«

Plötzlich schrie ein Baby. »Was ist das denn?«, fragte Charly entsetzt. »Hier muss noch ein Baby in der Wohnung sein.« Kaum hatte er den Satz hektisch ausgesprochen, verstummte er kopfschüttelnd. Siebels hatte sein Handy aus der Tasche gezogen und nahm das eingehende Gespräch entgegen. Am Gesprächsverlauf erkannte Charly, dass es sich bei dem Anrufer um den Absender der Todesanzeige handeln musste. Siebels verabredete sich mit ihm für 18:00 Uhr in einer Kneipe an der Bockenheimer Warte.

»Nun erzähl schon«, drängte Charly, als Siebels das Gespräch beendet hatte.

»Andreas Wurmbach, der ältere Bruder von Paulsens verstorbenem Partner. Er wurde von Müller vor zwei Wochen kontaktiert. Mehr wollte er am Telefon nicht erzählen.«

»Und ich soll jetzt alles über Paulsen und Partner rausfinden, richtig?«

»Charly? Seit wann kannst du Gedanken lesen?«

»Bei deinen Gedanken ist das ganz einfach. Dachte ich jedenfalls, bis ich eben deinen neuen Klingelton gehört habe. Das nächtliche Geschrei von deinem Kleinen genügt dir wohl nicht?«

»Das war die Idee von Sabine. Sie meinte, ich würde mich auf diese Weise schneller daran gewöhnen, wenn der Kleine mitten in der Nacht losbrüllt.«

»Aha. Und? Funktioniert es?«

»Wenn er nachts losbrüllt, suche ich jetzt erst mein Handy und dann sein Fläschchen. Ich bin also besänftigt, wenn der Kleine schreit, weil es dann kein nächtlicher Anruf von Jensen ist.«

»Psychologisch sehr gut durchdacht«, feixte Charly.

»Meine psychologischen Kenntnisse probiere ich jetzt in der Praxis aus. Ich fahre ins Krankenhaus zu Sabine Lehmann. Vielleicht kann sie mir zu diesem Wurmbach etwas erzählen.«

3

Sabine Lehmann lag regungslos in ihrem Krankenbett und starrte an die Decke. Ein Polizeibeamter saß vor der Zimmertür und langweilte sich bei der Bewachung der mutmaßlichen Mörderin.

»Guten Tag, Frau Lehmann«, begrüßte Siebels die Verdächtige höflich.

»Ja, es ist ein guter Tag«, antwortete sie und lächelte versonnen. »Ein ruhiger und friedlicher Tag. Schön, dass Sie mich wieder besuchen kommen.«

»Möchten Sie mir etwas erzählen?«

»Was denn?« Sabine Lehmann schaute Siebels erstaunt an. Siebels schaute nicht weniger erstaunt zurück.

»Können Sie sich an Ihr letztes Treffen mit Sven Müller erinnern?«

»Ich kann mich nur an meine Träume erinnern. Alles andere ist wie ausgelöscht. Haben Sie über meinen Traum nachgedacht?«

»Ich habe ihn sogar aufgeschrieben, damit ich nichts vergesse.«

»Das ist gut«, seufzte Sabine Lehmann.

»Kannten Sie einen Herrn Wurmbach? Detlev Wurmbach?«

»Der ist tot.«

»Sie kannten ihn also? Wissen Sie, wie er sich das Leben genommen hat?«

»Vielleicht hat er auch so komische Träume gehabt?«

Siebels wurde langsam ärgerlich. »Frau Lehmann, Sie stehen unter dem Verdacht, Ihren Lebensgefährten Sven Müller getötet zu haben. Sven Müller hat sich für den Selbstmord von Detlev Wurmbach interessiert. Herr Wurmbach war wie Sie ein Partner von Paulsen. Sie sollten mir langsam was erzählen.«

»Ja, ich erzähle Ihnen am besten meinen Wüstentraum. Der ist sehr merkwürdig.«

Bevor Siebels etwas erwidern konnte, legte Sabine Lehmann los.

Der goldene Wüstensand glitzert in der hochstehenden Sonne. Soweit das Auge reicht, ist nur der feine glänzende Sand zu sehen, aufgetürmt zu erhabenen Dünen. Er brennt unter meinen nackten Füßen, doch ich spüre keinen Schmerz. Zielstrebig laufe ich durch die Wüste, immer der Sonne entgegen. Bekleidet bin ich mit einem weißen Brautkleid. Sein Weiß ist trotz meines Wüstenmarsches so rein und klar wie das Blau des wolkenlosen Himmels. Ich bin schon seit Stunden unterwegs, ohne einen Tropfen Wasser, ohne einem Menschen begegnet zu sein, ohne Rast und ohne Kompass. Ich schaue nicht nach links und nicht nach rechts, mein Blick geht starr geradeaus, immer auf die nächste Düne gerichtet. Endlich, nach unzähligen überquerten Dünen, erblicke ich einen Menschen. Ich stehe auf der Spitze des Sandberges und atme erleichtert durch, bevor ich die Düne wieder herabsteige. Unten sitzt eine alte Frau in einem Schaukelstuhl und wippt bedächtig im Sand. Als ich vor ihr zum Stehen komme, mustert sie mich von Kopf bis Fuß. Ihre schwarze Haut ist von der Sonne gegerbt.

»Da bist du ja endlich«, spricht sie mich vorwurfsvoll an. »Hier ist die Grenze, bist du bereit?«

Ich nicke selbstsicher und betrachte mir die unsichtbare Grenze. Auf beiden Seiten der Grenze gibt es nur Sand. Die alte Frau greift nach einer Kiste und gibt sie mir. »Beeile dich«, sagt sie. »Die Sonne geht bald unter.« Ohne zu antworten, laufe ich mit der schweren Kiste weiter. Als ich drei weitere Dünen überquert habe, erkenne ich in der Ferne aufgewirbelten Sand. Die Sonne steht schon tief. Das Gefährt, das den Sand aufwirbelt, bewegt sich in meine Richtung. Ohne zu zögern, setze ich die Kiste in den Sand, öffne sie und baue die darin enthaltenen Stangen und Rohre in kürzester Zeit zusammen. Der Wagen ist nur noch wenige hundert Meter von mir entfernt. Ich kann ihn mit bloßem Auge erkennen. Es ist ein weißer Jeep. Auf der Seite steht in großen schwarzen Buchstaben »UN« geschrieben. Zwei Männer sitzen in dem Jeep. Sie wurden geschickt, um den Frieden zu bringen. Ich bin gekommen, um sie in die Hölle zu schicken. Mit schnellen Bewegungen lade ich den Flugkörper in das Panzerabwehr-Raketensystem. Kurz danach spüre ich den Rückstoß und höre den lauten Knall. Mein Auftrag ist erfüllt. Ein tosender Feuerball folgt der lauten Explosion. Der Jeep hat sich in Rauch und Asche verwandelt. Die Sonne senkt sich langsam hinter den Dünen. Das tobende Feuer erhellt die friedliche Dämmerung. In der Wüste wird es kälter und ich mache mich auf den Rückweg. Ich muss wieder auf die andere Seite der Grenze.

Zurück im Büro tippte Siebels auch diesen Traum aus dem Gedächtnis ab. Er druckte die Datei aus und heftete sie in eine Aktenmappe. »Die Träume der Sabine Lehmann«, schrieb er auf den Aktendeckel. Siebels zündete sich eine Zigarette an und dachte nach. Handelte es sich bei den zwei Männern in dem abgeschossenen UN-Jeep um Müller und Wurmbach? Waren die Träume der Sabine Lehmann ein verschlüsseltes Geständnis? Warum trug sie immer ein weißes Brautkleid? In beiden Fällen ging es unpassender gar nicht mehr. Siebels befürchtete, dass sich die Akte »Träume der Sabine Lehmann« in den nächsten Tagen noch füllen würde. Mit dem unguten Gefühl, einen ziemlich verzwickten Fall auf dem Tisch zu haben, rief er bei Till an.

»Krüger«, meldete sich Till und hustete anschließend so lange in den Hörer, bis er glaubte, sein Zwerchfell platzen zu hören.

»Klingst ja schon fast wieder gesund«, machte Siebels ihm Mut. »Eigentlich hatte ich gehofft, dass du morgen wieder auf der Matte stehst.«

»Halt dich von Jensen fern«, flüsterte Till.

»Das würde ich ja gerne, geht aber nicht, wir haben einen neuen Fall.«

»Vergiss den Fall, Jensen ist gefährlich. Er verbreitet den Virus.«

»Jetzt wohl nicht mehr, jetzt hast du ihn doch. Sieh zu, dass du ihn wieder loswirst. Ich brauche dich.«

»Willst du ihn haben? Kein Problem, ich komme und bringe ihn dir mit.« Das Flüstern von Till ging erst in ein Krächzen und dann wieder in einen bellenden Husten über.

»Nix da, ich habe ein Baby daheim. Trink heiße Milch mit Honig, nimm deine Medizin und lasse dich hier erst wieder blicken, wenn du fit bist. Es warten ein paar verrückte Träume auf dich, von einer Mordverdächtigen.« »Ohne mich bist du bei so was aufgeschmissen, ich weiß. Morgen schone ich mich noch, am Donnerstag bin ich bestimmt wieder einsatzbereit.«

»Ohne dich klappt das auch noch ein paar Tage länger, kurier dich aus und dann kannst du hier wieder Gas geben. Charly ist schon voll drin im Fall. Gute Besserung.« Siebels beendete das Gespräch und verließ das Präsidium. Bevor er sich mit Andreas Wurmbach traf, wollte er noch einen Abstecher bei Herrn Paulsen machen.

Joachim Paulsen führte seine Geschäfte in einer repräsentativen Villa in der Frauenlobstraße in Bockenheim, nicht weit von dem mit Wurmbach verabredeten Treffpunkt. Siebels fuhr langsam durch das ruhige Stadtviertel, exotische Länder hatten hier ihre Botschaften untergebracht und international agierende Anwälte ihre Kanzleien. Ein Jogger kam zwischen den Villen aus dem dahinterliegenden Grüneburgpark gelaufen, ein zotteliger Hund folgte ihm. Siebels parkte den Wagen am Straßenrand vor der Paulsen-Villa und rauchte noch eine Zigarette, bevor er sich dem Anwesen näherte. Beim Rauchen zählte er die Videokameras, die unauffällig an dem Gebäude angebracht waren. Drei Stück konnte er ausmachen, war sich aber nicht sicher, ob er alle entdeckt hatte. Langsam näherte er sich dem Grundstück, trat seine Zigarette aus und klingelte am Eingangstor.

»Sie wünschen?«, meldete sich eine Frauenstimme durch die Sprechanlage.

»Mein Name ist Siebels, Kriminalpolizei Frankfurt. Ich möchte zu Herrn Paulsen.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Das sage ich dann dem Herrn Paulsen, wenn es recht ist.«

»Warten Sie bitte einen Moment.«

Siebels wartete und nahm sich vor, sich auf keinen Fall hier abschütteln oder vertrösten zu lassen. Aber das brauchte er auch nicht, mit einem Summen öffnete sich das Tor. Am Eingang der Villa erwartete ihn die Frau. Sie trug ein elegantes schwarzes Kostüm, eine ordentliche Schicht Make-up und Schuhe, die zum Laufen mehr als ungeeignet waren.

»Ich bin die persönliche Assistentin von Herrn Paulsen, Astrid Lotz ist mein Name«, stellte sich die Hausdame vor und bat Siebels, ihr zu folgen. Trotz der High Heels lief sie recht sicher durch einen marmorgefliesten Gang und öffnete eine Tür zu einem kleinen Raum. »Gedulden Sie sich bitte noch einen Moment, nehmen Sie Platz. Herr Paulsen kommt sofort zu Ihnen. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Tee?«

»Einen Tee bitte, wenn es keine Umstände macht.«

»Aber natürlich. Geben Sie mir Ihre Jacke, ich hänge sie an die Garderobe.«

Astrid Lotz verschwand mit der Jacke von Siebels und Siebels betrachtete sich den Wandschmuck in dem kleinen holzgetäfelten Warteraum. An den Wänden hingen gerahmte Fotos, die allesamt einen Mann in den Fünfzigern zeigten. Paulsen beim Händeschütteln mit dem Altkanzler, Paulsen im Smoking vor der Alten Oper, Paulsen mit der Oberbürgermeisterin bei dem ersten Spatenstich für ein neues Einkaufszentrum, Paulsen in der Paulskirche. Paulsen lächelte auf jedem Foto siegessicher und erfolgsverwöhnt, sein volles weißes Haar stets im Kontrast zu seiner gebräunten Haut.

Siebels hörte erst die Absätze auf dem Marmor, dann sah er Frau Lotz mit dem Tee an der Türschwelle.

»Kommen Sie, Herr Paulsen hat jetzt ein paar Minuten Zeit. Den Tee bringe ich in sein Arbeitszimmer.« Siebels folgte den klackernden Schritten und stellte verwundert fest, dass sich Frauen in solchen Schuhen nicht nur vorwärtsbewegen, sondern dabei auch noch ein Tablett mit zwei Teetassen balancieren und die Tür zum Zimmer ihres Chefs öffnen konnten. Im Chefzimmer verstummten die hohen Absätze dann aber auf dickem Teppich.

Paulsen saß hinter einem überdimensionalen Schreibtisch aus poliertem Mahagoni und sah aus wie auf den Fotos. Siebels reichte ihm die Hand und stellte sich als Hauptkommissar bei der Mordkommission vor.

»Vielen Dank, Astrid. Kümmern Sie sich bitte noch um das Bankett heute Abend«, ignorierte Paulsen zunächst seinen Besucher und schaute verträumt dem leicht hüftbewegenden Gang seiner Assistentin hinterher, bis die Tür von außen geschlossen wurde.

Paulsen reichte seinem Besucher die Hand. »Was verschlägt denn die Mordkommission zu mir, muss ich mir Sorgen machen?«

Siebels wollte gerade etwas darauf entgegnen, doch ein plötzliches lautes Babygeschrei aus der Innentasche seines Sakkos verhinderte das. Der neugierige Blick von Paulsen verwandelte sich in einen verdutzten. Hastig zog Siebels sein Handy aus der Tasche und nahm das Gespräch an. »Ach du bist es, ja, im Moment ist es gerade ungünstig. Was? Ähm, Windeln, ja, kein Problem, bringe ich mit. Ich melde mich nachher noch mal.« Mit leicht errötetem Kopf schaltete Siebels sein Handy aus.

»Interessanter Klingelton«, bemerkte Paulsen.

»Ja«, fasste Siebels sich kurz. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung, der Grund meines Besuches heißt Sabine Lehmann.«

»Frau Lehmann? Ist ihr etwas zugestoßen?« Paulsen gab sich besorgt.

»Wie man es nimmt. Sie steht unter Mordverdacht.«

»Frau Lehmann? Aber das ist doch absurd. Wen soll sie denn umgebracht haben?«

»Ihren Lebensgefährten.«

»Hm, ich wusste gar nicht, dass es einen gibt. Aber das geht mich ja auch nichts an. Wie sicher ist denn Ihr Verdacht?«

»Ziemlich sicher. Können Sie mir etwas über Ihre Mitarbeiterin erzählen?«

Paulsen kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Sie ist sehr fleißig und zielorientiert. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie vor vier Jahren angefangen, für meine Organisation zu arbeiten. Sie kam direkt von der Universität, mit einem Prädikatsexamen in Jura.«

Siebels dachte an Detlev Wurmbach, der 2005 Selbstmord begangen hatte. Wenn Sabine Lehmann vor vier Jahren bei Paulsen eingestiegen war, konnte sie die Nachfolgerin von Wurmbach gewesen sein. Jedenfalls kannte sie ihn, zumindest wusste sie, dass er sich das Leben genommen hatte.

»Können Sie mir ein wenig über die Tätigkeit von Frau Lehmann als Partnerin von Paulsen und Partner erzählen?«

»Ich weiß zwar nicht, wie Ihnen das bei Ihren Ermittlungen weiterhelfen soll, aber ich kann Ihnen natürlich einen Überblick geben. Mein Unternehmen hat sich auf die Beratung von vermögenden Mandanten spezialisiert. Das können Privatleute sein, das können aber auch Unternehmen oder Kommunen sein. UVI-Consulting bedeutet Unternehmensberatung, Vermögensberatung, Immobilienberatung. Als Berater steht mir eine Vielzahl von hoch qualifizierten Leuten zur Seite. Jeder von ihnen arbeitet als mein Partner, aber auf selbstständiger Basis. Damit das einheitlich funktioniert, habe ich ein System entwickelt, an das sich alle Partner strikt halten müssen. Ich suche mir nur junge Leute, die direkt von der Universität kommen und einen sehr guten Abschluss im Gepäck haben. Wer mein Partner sein will, verpflichtet sich vertraglich, sich ständig weiterzubilden. Dazu habe ich in Kronberg ein eigenes Seminarzentrum. Ein Neueinsteiger muss sich zunächst ein halbes Jahr bewähren. Wenn wir uns danach auf eine weitere Zusammenarbeit einigen, kommt es zu einer Partnerschaft. Sabine Lehmann hat das alles so durchlaufen und ich war stets zufrieden mit ihr.«

»Wie viele solcher Partner gibt es denn?«

»Es werden ständig mehr. Mein System hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Zurzeit habe ich etwa 80 Partner. Zwei Drittel davon in Deutschland, die anderen in Österreich und in der Schweiz.«

»Und die kommen alle regelmäßig nach Kronberg zur Weiterbildung?«

»Ja, dazu sind sie verpflichtet. Natürlich nicht alle auf einmal. Es gibt viele verschiedene Seminare. Allein wegen der sich ständig ändernden Gesetzgebung zum Beispiel im Aktien- oder Steuerrecht werden kontinuierlich neue Seminarinhalte erarbeitet und an meine Partner vermittelt.«

Siebels verspürte die Lust auf eine Zigarette und schaute sich nach einem Aschenbecher um. Als er keinen entdeckte, versuchte er sich wieder auf sein Gespräch zu konzentrieren. Irgendwie kam ihm die ganze Geschichte nicht ganz koscher vor mit dem Partnerprogramm.

»Sind diese Seminare kostenpflichtig für Ihre Partner?«

Paulsen schaute Siebels erst einen Moment an, bevor er Antwort gab.

»Ja, das sind sie. Aber sie sind für die Partner eine gute Investition. Mit dem vermittelten Wissen können sie ein Vielfaches verdienen. Was viel kostet, ist auch viel wert. Das wissen meine Partner sehr gut.«

Siebels dachte an Wurmbach und an die 200 000 Euro Schulden, die er hinterlassen hatte. Aber heute wollte er den Namen Wurmbach Paulsen gegenüber noch nicht erwähnen.

»Gibt es auch Partner, die aus dem Vertrag mit Ihnen wieder aussteigen?«, fragte Siebels nach und erntete einen misstrauischen Blick von Paulsen.

»Selbst das hat es schon gegeben. Aber nur in Ausnahmefällen. Eine Partnerin ist ausgeschieden, weil sie an Krebs erkrankt ist, ein anderer war der Meinung, für den Rest seines Lebens genug Geld verdient zu haben.«

Der muss die teuren Seminare geschwänzt haben, dachte sich Siebels und schaute auf die Uhr. Es war Zeit sich zu verabschieden, wenn er pünktlich zu dem Treffen mit dem Bruder des verstorbenen Partners Detlev Wurmbach kommen wollte.

»Eine letzte Frage noch. Sie führen doch sicher so eine Art Liste, ein Ranking, über die Leistungsbilanz Ihrer Partner?«

»Selbstverständlich«, antwortete Paulsen mit kaltem Blick.

»Wo ist denn Frau Lehmann auf dieser Liste platziert?«

»Einen Moment, ich schaue mal nach.« Paulsen wandte sich seinem Rechner zu, klickte zwei Mal mit der Maus und drehte sich dann wieder zu Siebels. »Frau Lehmann befindet sich im oberen Drittel. Und das, obwohl sie keine großen Fische an Land gezogen hat.«

»Dafür hat sie dann umso mehr kleine Fische im Netz?«

»Ziemlich viele, ja.«

»Vielen Dank für Ihre Zeit, falls es erforderlich sein sollte, melde ich mich wieder bei Ihnen«, beendete Siebels das Gespräch.

»Ich muss mich wohl um Ersatz für die Mandanten von Frau Lehmann bemühen. Ich würde es begrüßen, wenn Sie mich informieren, sobald die Schuld oder Unschuld von Frau Lehmann bewiesen ist.«

»Sie hören von mir. Auf Wiedersehen.«

4

Von der Frauenlobstraße zur Bockenheimer Warte waren es auch zu Fuß nur ein paar Minuten. Siebels hatte den Wagen vor der Paulsen-Villa stehen lassen und auf dem Weg noch eine Zigarette geraucht. Dr. Flotte hieß die Kneipe und das schon, solange Siebels denken konnte. Er hatte noch fünf Minuten Zeit, die nutzte er, um das verunglückte Gespräch mit Sabine nachzuholen.

»Hi, ich bin es. Das war vorhin leider sehr ungünstig, jetzt kann ich reden.«

»Jetzt bin ich am Wickeln, sehr ungünstig. Wir brauchen Windeln.«

»Schon wieder? Wie kann so ein kleines Stück Mensch nur so massenhaft Windeln vollscheißen?«

»Das frage ich mich auch manchmal, ist halt ein echter kleiner Siebels.«

»Aha. Na dann. Also Windeln. Sonst noch was?«

»Babyöl, Chips, Waschmittel und Nutella.«

»Was ein Durcheinander, wer soll sich das denn merken?«

»Soll ich dranbleiben, bis du alles im Einkaufswagen hast?«

»Ich stehe gerade vor einer Kneipe und treffe gleich einen Zeugen. Danach geht’s dann zum Shoppen.«

»Kneipe? Jetzt noch? Du bist Familienvater und musst dringend dein Leben neu organisieren. Und ich muss jetzt Schluss machen, sonst wird das nix mit der Wickelei hier.«

»Ich organisiere jetzt erst mal einen schönen Platz in der Kneipe, bis dann. Wickel heil.«

Kaum hatte Siebels das Gespräch beendet, kam ein Mann um die Ecke gelaufen, blieb vor dem Eingang zum Dr. Flotte stehen und schaute unschlüssig auf seine Uhr.

»Herr Wurmbach?«

»Ja, das bin ich. Und Sie sind von der Polizei?«

»Ja, wir haben miteinander gesprochen. Kommen Sie, gehen wir rein, hier draußen wird es kalt.«

In der Kneipe saßen ein paar Leute am Tresen, freie Plätze gab es noch genügend. Siebels ging zu einem Tisch am Fenster und betrachtete sich die Eintracht-Wappen an den Wänden. Hier sollte er mit Charly mal ein Bier trinken gehen, wenn die Eintracht spielte, dachte er und setzte sich. Im Moment spielten hier aber nur zwei Eintrachtfans, keinen Fußball, sondern Dart.

»Ich komme gerade von Herrn Paulsen«, eröffnete Siebels das Gespräch.

»Ein erfolgreicher Mann«, sagte Wurmbach mit zynischem Ton und nahm sich die Getränkekarte zur Hand. Andreas Wurmbach war Mitte vierzig, trug einen Ehering und Markenklamotten von Joop. Als der Kellner kam, bestellte er einen Rotwein. Siebels entschied sich für eine Cola.

»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

»Ich bin Zahnarzt und habe eine eigene Praxis im Westend. Aber jetzt erzählen Sie mir doch einmal, wie Sie an mein Fax gekommen sind. Ich bin nämlich etwas verwirrt diesbezüglich.«

Siebels erzählte Wurmbach vom Mordfall Sven Müller, von dessen Lebensgefährtin und Paulsen-Partnerin Sabine Lehmann und von seinem Besuch in der Wohnung des ermordeten Müller.

»Aha, ich verstehe. Gegen Paulsen liegt also gar nichts vor?«

»Nein, aber seitdem ich die Todesanzeige Ihres Bruders in der Hand hatte, spukt der Name Paulsen in meinem Kopf herum. Haben Sie Herrn Paulsen etwas vorzuwerfen?«

»Den Tod meines Bruders.«

»Soweit ich weiß, hat Ihr Bruder Selbstmord begangen.«

»Ja, aber dafür gab es Gründe. Mein Bruder war immer sehr ehrgeizig gewesen. Aber er war auch labil und sensibel. Er hat dem Druck nicht standgehalten, dem er als Partner von Paulsen ausgesetzt war.«

»Dann hätte er sich einen anderen Job suchen müssen. Wenn er bei Paulsen war, muss er einen hervorragenden Universitätsabschluss gehabt haben.«

»Ja, er hat Betriebswirtschaft studiert und mit Prädikat abgeschlossen. Aber bei Paulsen war das nur die Eintrittskarte in die Hölle.«

Siebels musterte den Zahnarzt und wusste nicht recht, was er von ihm halten sollte. »Warum haben Sie Müller die Todesanzeige gefaxt?«

Der Kellner brachte Rotwein und Cola. Wurmbach nippte an seinem Glas, bevor er antwortete. »Müller war Journalist und recherchierte über Paulsen und Partner. Paulsen und seine Leute haben den Consultingmarkt in den letzten Jahren ziemlich aggressiv aufgemischt. Aber es gab und gibt kaum Informationen darüber. Die Wirtschaftspresse schweigt sich aus und die Konkurrenz schläft anscheinend.«

Siebels trank einen Schluck Cola und suchte nach sinnvollen Fragen.

»Hat Müller nur eine Scheinpartnerschaft mit Sabine Lehmann geführt, um an Informationen zu kommen?«

»Das weiß ich nicht. Ich hätte eher gedacht, er hat erst Frau Lehmann kennen gelernt und ist dann auf die Idee gekommen, bei Paulsen zu recherchieren.«

Siebels schob sich diesen Gedanken in eine seiner Gehirnschubladen. Das war eine Nuss, die Charly knacken sollte. »Wie kam es zum Kontakt zwischen Ihnen und Müller?«, wollte Siebels wissen.

Wurmbach nippte wieder an seinem Wein. »Müller rief mich eines Tages in meiner Praxis an. Er suchte gezielt nach ehemaligen Paulsen-Partnern und war dabei auf meinen Bruder gestoßen. Obwohl es mittlerweile doch ziemlich viele Partner von Paulsen gibt, hatte Müller wohl große Schwierigkeiten, Ansprechpartner zu finden.«

»Wann hat dieser Anruf stattgefunden?«

»Das war vor etwa vier Wochen.«

»Ihr Bruder hat einen Berg Schulden hinterlassen. Steht das im Zusammenhang mit seiner Partnerschaft?«

Wurmbach nickte. »Detlev besuchte regelmäßig diese Seminare und die kosteten einen Haufen Geld. Pro Monat benötigte er etwa zweitausend Euro dafür. Er trug nur teure Maßanzüge, besaß eine Eigentumswohnung in bester Frankfurter Lage und fuhr Porsche.«

»Wenn er auf großem Fuß lebte, können Sie das aber nicht Paulsen in die Schuhe schieben«, gab Siebels zu bedenken.

»Das ist Standard, wenn man Partner bei Paulsen wird. Das bekommt man gleich beim ersten Seminar eingetrichtert. Erfolg ist sichtbar. Und wer Paulsens Partner ist, der hat Erfolg. Detlev wollte keinen Porsche. Aber fast alle Partner von Paulsen fahren einen. Die kaufen ihn alle beim gleichen Händler und Paulsen bekommt für jeden verkauften Porsche eine Provision. Nach dem zweiten Seminar hatte Detlev schließlich auch seinen 911er. Und mir wollte er dann auch einen schmackhaft machen.«

Siebels zog eine weitere Schublade in seinem Gehirn auf und legte zwei Aufgaben darin ab. Prüfen, ob Sabine Lehmann einen Porsche besaß und wenn ja, Kontakt mit dem Autoverkäufer aufnehmen.

»Wie waren denn die Einnahmen Ihres Bruders? Gab es überhaupt Chancen, die Ausgaben zu decken?«

»Er verdiente in der Tat viel Geld. Aber dafür musste er auch 24 Stunden am Tag ackern. Paulsen hat ein System entwickelt, in dem seine Lakaien nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie müssen immer neue Mandanten akquirieren, die bestehende Kundschaft pflegen, sich weiterbilden, Geld ausgeben und mehr Geld verdienen. Es ist ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.«

»Gab es einen bestimmten Auslöser für den Freitod Ihres Bruders?«

Wurmbach zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, er war emotional instabil. Obwohl er sehr intelligent und erfolgreich war, plagten ihn Selbstzweifel. Er war sich nie gut genug. Und für Paulsens Ansprüche konnte er nie gut genug sein. Ich nehme an, er hat sich die Messlatte für seine Arbeit immer höher gesetzt, bis er an sich selbst scheitern musste.«

»Wissen Sie, ob er seltsame Träume hatte?«

»Seltsame Träume?«

Siebels war die Idee spontan gekommen. Vielleicht gab es ein Aufputschmittel oder eine leistungssteigernde Droge, die unter Paulsens Partnern beliebt war. Mit seltsamen Träumen als Nebenwirkung. Der eine brachte sich selbst um, die andere ihren Lebenspartner. Wer weiß, was Paulsens Partner sonst noch für Leichen im Keller hatten. Siebels steckte das Stichwort Drogen in eine neue Schublade und trank seine Cola aus. Für heute hatte er genug Schubladen mit offenen Fragen gefüllt. Jetzt musste er sich um die Windeln kümmern.

Mittwoch, 04. Februar 2009

»Guten Morgen, Frau Lehmann. Wie geht es Ihnen? Sie sehen ja schon viel besser aus!«

»Guten Morgen. Wie war noch gleich Ihr Name?«

»Siebels. Steffen Siebels.« Siebels nahm sich einen Stuhl und stellte ihn neben das Krankenbett. »Der Arzt sagt, Sie erholen sich langsam.«

»Vor meiner Tür sitzt ein Polizist. Warum?«

»Der passt auf, dass Sie nicht weglaufen.« Siebels lächelte sie an. »Oder wegfahren. Wo steht eigentlich Ihr Porsche?«

»In der Garage.« Sabine Lehmann drehte ihren Kopf zu Siebels. »Oder nicht? Wurde er etwa gestohlen?«

»Nein, er steht bestimmt noch an seinem Platz. Aber ich kann es ja später überprüfen. Was für eine Farbe hat er denn?«

»Dunkelblau.«

»War bestimmt teuer, das gute Stück.«

»Legt sich vor allem schön in die Kurven, das gute Stück.« Sabine Lehmann lächelte verschmitzt. »Ich habe auf Sie gewartet. Ich möchte Ihnen den Traum von den Alten erzählen.«

»Frau Lehmann, wir müssen uns jetzt mal über Ihre letzten Stunden mit Sven Müller unterhalten.«

Sabine Lehmann sank ins Kopfkissen zurück und erzählte unbeeindruckt von dem Traum.

Vergnügt schlendere ich in der lauen Sommernacht mit nackten Füßen über den warmen Asphalt. Ich trage mein weißes Brautkleid und eine kleine weiße Lacktasche hängt lässig über meiner Schulter. In meiner Hand halte ich einen großen Schlüsselring und die vielen Schlüssel daran begleiten mich leise klirrend durch die Nacht. Nach wenigen Metern erreiche ich den Bus. Es ist ein gewöhnlicher Reisebus. An meinem Schlüsselbund finde ich den richtigen Schlüssel, ich steige ein und fahre los. Gut gelaunt lenke ich den Bus durch die Stadt und pfeife dabei ein schönes Lied. Nach der zweiten Strophe bin ich schon vor dem richtigen Haus und parke den Bus davor. »Altenheim« steht in großen Buchstaben auf der Pforte. Es ist Punkt Mitternacht, ich bin pünktlich. Ich nehme meinen Schlüsselbund, suche den richtigen Schlüssel und öffne das Tor zum Heim. Drinnen ist es stockfinster, die Alten schlafen schon alle. Ich gehe direkt in die große Küche, mache Licht und stelle zwölf Gläser auf den Tisch. Ich fülle sie mit Wasser und nehme das Röhrchen mit dem Pulver aus meiner kleinen weißen Lackhandtasche. In jedes Glas Wasser fülle ich ein wenig von dem Pulver. Dann gehe ich zu der Glocke, die im großen Saal von der Decke hängt, und fange an zu bimmeln. Das ohrenbetäubende Glockenspiel treibt die Alten in kürzester Zeit aus den Betten. Nach und nach kommen sie schlaftrunken aus ihren Zimmern die Treppe herunter geschlürft. Die Damen in Nachthemden und die Herren im Pyjama. In meinem weißen Brautkleid erwarte ich die Herrschaften in der Küche, wo die zwölf Gläser Wasser in einer Linie auf dem Tisch stehen. Als die verschlafenen Alten sich alle in der Küche versammelt haben, zähle ich durch. Es sind zwölf. »Austrinken«, rufe ich laut und deute sicherheitshalber auch mit meinem rechten Zeigefinger auf die Gläser. Die Alten nähern sich mit tappenden Schritten dem Tisch. Kurz darauf haben alle ihr Glas Wasser artig ausgetrunken. »Mitkommen«, befehle ich dann und laufe hinaus. Die Alten folgen mir im Gänsemarsch und besteigen mühsam den Bus. Als sie alle sitzen, fahre ich los. Die Alten sind benommen, das Pulver hat gewirkt. Fröhlich pfeife ich wieder ein kleines Liedchen, bis ich das Ziel nach wenigen Minuten erreicht habe. Ich öffne die Bustüren. »Aussteigen«, rufe ich den Alten zu. Dann stehe ich mit ihnen vor dem großen Tor. Es ist der Eingang zum Zoo. An meinem Schlüsselbund finde ich den passenden Schlüssel. Es ist Vollmond und im Schein des Mondes folgen mir die Alten in den Tierpark. Vor dem Löwengehege machen wir den ersten Halt. Ich öffne das Tor und deute auf zwei Alte. Wilhelm und Trude sollen den Anfang machen. Die beiden trotten in das Gehege, sie halten sich an der Hand. Eine ganze Weile passiert gar nichts. Dann plötzlich kommt ein Löwe und nimmt sie ins Visier. Ich schließe das Gehege wieder. Kurz darauf lassen sich zwei weitere Löwen blicken. Als sie noch drei Meter von Wilhelm und Trude entfernt sind, springt der erste Löwe mit einem mächtigen Satz auf Wilhelm. Kurz darauf stürzen sich die anderen beiden auf Trude.

Ich ziehe mit den zehn verbliebenen Alten weiter zum nächsten Gehege. Die Tiger verbringen die Nacht im Käfig. Es gibt zwei Käfige. In den einen schicke ich Alfons, in den anderen Mathilde. Die Tiger ergreifen ihre Opfer viel schneller als zuvor die Löwen. Die übrigen acht Alten folgen mir wieder, jetzt geht es zu den Eisbären. Hier lasse ich Herbert und Marta zurück. Die zwei Eisbären spielen vergnügt mit den zwei Alten. Mit ihren mächtigen Tatzen hauen sie in die verschrumpelten Körper, bald sind sie nicht mehr zu erkennen. Gemeinsam mit noch sechs Alten schlendere ich unbeschwert ins Terrarium. Josef und Hilde schicke ich sogleich in die Schlangenfarm, wo sich die schwarze Mamba vom nächtlichen Besuch anscheinend bedroht fühlt. Den tödlichen Biss der knapp vier Meter langen Schlange bekommt Josef zu spüren. Um Hilde kümmern sich zwei Vipern, sie sind etwas kürzer als die Mamba, aber ihre Bisse nicht weniger giftig. Die restlichen vier Alten folgen mir zum nächsten Zwischenstopp. Im Affengehege schicke ich Ludwig und Christa zu den Gorillas. Ich muss die müden Affen erst mit Steinwürfen wecken, damit sie die Eindringlinge zur Kenntnis nehmen. Die pflanzenfressenden Gorillas begutachten die zwei Alten und schleppen sie dann weg. Kurz darauf plumpst Ludwig vom Kletterbaum herunter und bleibt unten liegen. Die Gorillas schleppen den reglosen Körper aber wieder hoch auf ihren Baum. Von Christa ist nichts mehr zu sehen. Jetzt habe ich nur noch zwei Alte zu entsorgen. Sepp und Frida schicke ich in den See. Die beiden verharren am Ufer und wollen nicht recht weiter. »Das Wasser ist flach und schön warm«, mache ich ihnen Mut und dränge die beiden voran. Zögerlich tippeln sie in den See hinein. Als ihnen das Wasser bis an die Knie reicht, raschelt es am gegenüberliegenden Ufer. Die Krokodile gleiten ins Wasser und schnappen sich die letzten beiden Alten.

Ich schließe wieder alle Türen und Gehege im Zoo und auch das Haupttor und fahre mit dem Bus zurück zum Altenheim. Dort hänge ich ein Schild an die Tür. Geschlossen.

»Wo bleibt denn das schriftliche Geständnis von dieser Frau Lehmann?« Staatsanwalt Jensen kam gerade in dem Augenblick zur Tür herein, als Siebels den Traum von den Alten in seine Akte abheftete.

»Das fragen Sie besser Frau Lehmann. Sie denkt im Traum nicht daran, ein Geständnis abzulegen.«

»Nein? Streitet Sie es etwa ab?«

»Sie streitet es auch nicht ab. Sie spricht nicht über den Tathergang.«

»Über was spricht sie dann?«

»Über ihre Träume. Hier ist die Akte.«

Ein Piepton machte Siebels darauf aufmerksam, dass eine E-Mail eingegangen war. Es war der Bericht der Spurensicherung zum Fall Sven Müller. Während Jensen in der Traumakte blätterte, überflog Siebels den Bericht.

»Will die für unzurechnungsfähig gehalten werden?« Jensen knallte Siebels die Akte auf den Tisch. »Nicht mit mir. Mit diesem Blödsinn hier verlängert sie ihre Haftstrafe nur um ein paar Jahre.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Tat so abgelaufen ist, wie es den Anschein hat«, gab Siebels seine Bedenken preis. »Im Bericht der Spurensicherung steht, dass es auf den Scherben der Weinflasche nur Fingerabdrücke von Sven Müller gegeben hat. Ich glaube kaum, dass sie Handschuhe angezogen hat, bevor sie ihm mit der Flasche den Schädel zertrümmert hat.«

»Glauben Sie etwa, der Müller hat sich die Flasche selbst auf dem Kopf zertrümmert? Das ist doch Quatsch. Sie wird die Scherben vom Flaschenhals nach der Tat mit einem Handtuch abgewischt haben. So einfach ist das. Machen Sie mal ordentlich Druck bei der Dame, dann wird sie schon weich. Was macht eigentlich Kollege Krüger?«

»Der leidet noch unter einem hartnäckigen Virus. Morgen wollte er mal reinschauen.«

»Sie wissen Bescheid, schließen Sie den Fall ab und bauen Sie Ihre Überstunden ab. Ich muss dann mal weiter.«

Kaum hatte Jensen das Büro verlassen, kam Charly herein.

»Hi Charly.«

»Hi. Mir ist gerade Jensen über den Weg gelaufen, der murmelte ziemlich verärgert was von nackig Skifahren vor sich hin.«

»Ich habe ihm gerade die Traumakte gezeigt. Zum Glück hat er nur den ersten Traum gelesen.«

»Gibt’s einen neuen?«

»Ja, der Traum von den Alten. Hier, lies selbst. Ich gehe derweil Kaffee holen. Magst du auch einen?« Charly war schon tief in der Traumakte versunken und nickte nur geistesabwesend.

Als Siebels mit zwei Bechern Kaffee zurückkam, schlug sich Charly feixend mit der Hand auf sein Knie. »Willst du Sabine tatsächlich heiraten? Frauen im Brautkleid sind zu allem fähig, hier steht es schwarz auf weiß.«

Siebels verdrehte die Augen und berichtete Charly von seinen Gesprächen mit Paulsen und Wurmbach.

»Du bist ja schon wieder tief am Graben und buddelst bestimmt noch viel Dreck aus. Aber meinst du wirklich, dass es da einen Zusammenhang zu deinem Fall gibt?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Siebels ratlos. »Ich bin schon am Überlegen, ob ich Till Undercover als Partner bei Paulsen einschleusen soll.«

»Du scheinst wirklich verzweifelt und ratlos zu sein.«

»Hack nicht so auf dem armen Till rum, selbst der lernt aus Fehlern.«

»Bist du sicher?«

»Nicht wirklich.«

Die beiden spielten auf den letzten Fall an, bei dem Till als selbsternannter Undercoveragent im Bett einer Verdächtigen gelandet war.

»Selbst wenn wir ihm eine wasserdichte Legende als Top-Uniabsolvent verschaffen, wird er als Consultant nicht lange bestehen können. Wahrscheinlich blamiert er sich schon beim ersten Gespräch mit Paulsen«, gab Charly zu bedenken. »Ich habe da eine bessere Idee. Wir machen ihn zum Kunden von einem von Paulsens Partnern.«

»Charly, das gefällt mir. Manchmal hast du wirklich gute Ideen. Bist du eigentlich schon mal im Dr. Flotte gewesen?«

»Da trinke ich manchmal ein Bier, wenn die Eintracht spielt.«

»Nimmst du mich mal mit?«

»Klar, da machen wir demnächst mal einen gepflegten Männerabend.«

»Fein. Dann bräuchte ich bis morgen eine Liste von den Partnern, damit wir den richtigen für Till aussuchen können.«

»Dann sollte ich mich wohl auf die weiblichen beschränken?«

»Ach was, mit Till und Johanna läuft es doch prima zurzeit. Nach der Geschichte mit der Schneider ist er richtig solide geworden. Jetzt fahren wir erst mal zur Wohnung von Frau Lehmann, vielleicht finden wir auf ihrem Computer ja schon die nötigen Informationen zu den Partnern.«

Sabine Lehmann bewohnte eine Eigentumswohnung in einem Neubau der Bornheimer Landwehr. Fünf Zimmer, Küche, Bad, Garage. Siebels löste das Polizeisiegel an der Wohnungstür und trat ein. Charly folgte ihm, suchte ohne Umschweife nach dem Computer und fand ihn im Arbeitszimmer. Regale voll mit Aktenordnern und Fachbüchern zeugten davon, dass Sabine Lehmann viel gearbeitet hatte. Siebels schritt nachdenklich durch die restlichen lichtdurchfluteten Zimmer. Designermöbelstücke im Wohnzimmer, viel Edelstahl in der Küche, kaum etwas Persönliches in der ganzen Wohnung. Er ging zu Charly ins Arbeitszimmer und schaute sich den Inhalt der Aktenordner an, während Charly leise summend den PC hochfuhr. Alles war penibel geordnet. Siebels verschaffte sich einen Überblick über die Mandanten von Sabine Lehmann. Zahnärzte, Chirurgen, Allgemeinmediziner mit eigenen Praxen und viele Krankenhausärzte machten den Großteil ihrer Kundschaft aus. Auf diese Klientel schien sie sich spezialisiert zu haben. Wahrscheinlich wurde sie innerhalb dieser Gruppen weiterempfohlen. Viele kleine Fische, wie Paulsen sich ausgedrückt hatte. Sabine Lehmann hatte ordentlich Buch geführt. Persönliche Daten standen jeweils auf dem Mandanten-Deckblatt. Dahinter folgte ein kurzes Dossier über deren Vermögensverhältnisse und eine entsprechende Einteilung in die Kategorien A, B und C. A-Kandidaten wurden bevorzugt behandelt, Mitglieder der B-Gruppe wurden regelmäßig kontaktiert. Die C-Gruppe zählte die meisten Mitglieder, zu diesen hatte Sabine Lehmann anscheinend nur losen Kontakt und wenig Geschäftsverbindungen. Diese Gruppe stellte das Reservoir, aus dem die A- und B-Gruppe weiter gefüttert werden musste. Fast alle Mandanten aus der A- und der B-Gruppe hatten einen Vermerk, wann und mit welcher Transaktion sie in der Gruppenhierarchie aufgestiegen waren. Meist handelte es sich um steuerbegünstigte Immobiliengeschäfte. In der lukrativen Unternehmensberatung schien Sabine Lehmann wenig Glück gehabt zu haben. Mehrere Aktenordner dokumentierten ihre Anstrengungen, in diesem Metier Fuß zu fassen. Anschreiben an Unternehmer, Telefonnotizen und Hintergrundrecherchen über Unternehmen aus verschiedenen Branchen zeugten von ihren Aktivitäten.

»Ich hab sie«, murmelte Charly.

Siebels stellte den Aktenordner zurück ins Regal.

»Wen?«

»Na, die Liste mit den Partnern. Anfang Januar hat Paulsen eine E-Mail an seine Leute geschickt. Im Anhang das Ranking mit den Umsatzzahlen aus dem letzten Jahr. 78 Partner aus Deutschland sind aufgeführt. Der erfolgreichste heißt Lukas Krombach und kommt aus München. 85 Millionen Euro Umsatz hat er erwirtschaftet.«

»So viel? Wie hat er das denn gemacht?«

Charly schob den Mauszeiger über die Exceltabelle auf den eingegebenen Wert. Ein Informationsfeld öffnete sich.

»Das ist wohl ein Auszug von seiner Kundschaft«, mutmaßte Charly.

»BMW, FC Bayern, Allianz«, las Siebels leise vor. »Davon konnte Frau Lehmann nur träumen.«

»Die träumt aber doch von ganz anderen Dingen«, feixte Charly.

»Wo steht sie denn auf dem Ranking?«, wollte Siebels wissen.

Charly scrollte die Liste nach unten und fand sie auf Platz 69.

»Laut Paulsen steht sie viel besser da«, bemerkte Siebels nachdenklich.

»Immerhin hat sie 3,5 Millionen gemacht.«

»Sind bei ihr auch die Highlights eingetragen?«

Charly schob den Mauszeiger wieder auf das Umsatzfeld.

»Fraport« war die einzige eingetragene Information.

»Komisch. Vom Flughafen habe ich gar keine Unterlagen in ihren Ordnern gesehen.«

»Ich schaue nachher noch, ob ich dazu etwas auf dem Rechner finde. Jetzt suchen wir erst mal nach einer netten Partnerin für Till, oder?«

Charly sortierte die Liste alphabetisch nach den Niederlassungen der Partner. In Frankfurt waren neben Sabine Lehmann noch vier weitere Consultants aktiv. Jeremy Boyle, Peter Bockelmann, Silvia Förster und Nadine Busch. Jeremy Boyle führte den Frankfurter Umsatz mit 16 Millionen Euro an. Zu seinen Kunden gehörten die Deutsche Bank, die Stadt Frankfurt und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Silvia Förster lag mit acht Millionen genau zwischen Jeremy Boyle und Sabine Lehmann. Nadine Busch kam auf knapp sieben Millionen. Peter Bockelmann brachte 150.000 Euro auf die Waage und war damit auf einem der hintersten Plätze in der Liste gelandet.

»Silvia oder Nadine?«, fragte Charly schelmisch.

»Ich bin für Jeremy.«

»Der ist zu gut, der gibt sich mit Till nicht ab.«

»Dann halt Bockelmann.«

»Der ist zu schlecht, der fliegt bei Paulsen bestimmt bald raus.«

»Dann besorge mir mehr Informationen zu den zwei Damen«, seufzte Siebels.

»Wird erledigt. Morgen früh hast du die Vita der Damen auf deinem Schreibtisch.«

»Okay. Aber noch ist in dieser Angelegenheit das letzte Wort nicht gesprochen.«

»Mache dir mal keine Sorgen um Till und nimm mein Geschwätz nicht so ernst. Till macht einen guten Job, das weißt du doch besser als ich.«

»Der soll erst mal wieder gesund werden«, beendete Siebels das Thema und widmete sich den Schubladen des Schreibtisches, auf dem der Computer stand. Er wühlte darin herum und fand schließlich, was er gesucht hatte. Den Fahrzeugbrief von Sabine Lehmanns Porsche und den Kaufvertrag von dem Porsche-Händler. »Ein 911er Carrera mit 385 PS, der macht in der Spitze 297 km/h.«

»Was hat er gekostet?«, fragte Charly neugierig.

»102.000 Euro. Aber Frau Lehmann bekam Rabatt. Sie hat nur 95.000 bezahlt. 30.000 hat sie angezahlt, der Rest läuft über eine Finanzierung. Pro Monat 5.000 Euro.«

»Die Kiste steht unten in der Garage?«

»Ja, das hat Frau Lehmann gesagt. Wir können ja mal runter gehen und uns das gute Stück anschauen.«

»Nur anschauen? Der Schlüssel kann doch auch nicht weit sein.« Charly stand auf und verließ das Arbeitszimmer. Siebels schaute ihm kopfschüttelnd hinterher.

»Hier liegt er ja«, rief Charly aus dem Schlafzimmer. »Und da ist sogar noch einer, von einem Volvo.«

»Das dürfte der Schlüssel von Müllers Wagen sein«, mutmaßte Siebels. »Na komm, Charly, dann gehen wir mal Porsche gucken.«

Im Untergeschoss des Hauses lag die Sammelgarage mit Stellplätzen für etwa zwanzig Wagen. Der blaue Porsche stand gut sichtbar in der Mitte. Genau daneben der Volvo. Charlys Fingerspitzen streichelten den glänzenden Lack des Porsches.

»Wie fühlt er sich an?«, wollte Siebels wissen.

»Heiß. Und er spricht mit mir. Fahr mich, flüstert er mir zu, fahr mich doch endlich.«

»Hast du als Kind keine Carrera-Bahn gehabt?«

»Ich habe sie immer noch«, gab Charly stolz zu und entriegelte mit einem Knopfdruck auf der Fernbedienung den Wagen. »Ich öffne jetzt die Tür zum Heiligtum«, flüsterte Charly. Zwei Sekunden später saß er auf dem ledernen Fahrersitz und streichelte das Lenkrad. Siebels ließ den frischverliebten Charly bei seiner neuen Liebe und widmete sich dem Volvo. Auf dem Rücksitz lag eine Leinentasche. Darin fand Siebels einen Aktenordner. »Fraport« stand in der Handschrift von Sabine Lehmann auf dem Ordnerrücken. Siebels wollte den Ordner gerade aufschlagen, als das kraftvolle Motorengeräusch des Porsche erklang. Charly drückte strahlend auf das Gaspedal und verursachte einen ohrenbetäubenden Lärm. Siebels nahm den Ordner, schloss den Volvo wieder ab und öffnete verärgert die Beifahrertür vom Porsche.

»Spinnst du?«

»Setz dich rein«, frohlockte Charly.

Kaum saß Siebels neben Charly, legte der den ersten Gang ein und ließ den Porsche losrollen.

»Das machst du nicht«, flehte Siebels.

»Bist du schon mal so ein Auto gefahren?«, fragte Charly grinsend.

»Nein. Und ich will so ein Auto auch gar nicht fahren.«

Charly lenkte den Porsche vor die Lichtschranke der Ausfahrt. Langsam öffnete sich das Rolltor.

»Nur eine Runde um den Block. Das gehört zur polizeilichen Ermittlung.«

Bevor Siebels etwas erwidern konnte, fuhr Charly die Auffahrt hoch. Mit quietschenden Reifen bog er in die Straße ein und ließ den PS-starken Motor aufheulen. Siebels schaute erschrocken auf den Tacho. Charly lenkte den Porsche mit Tempo 80 durch die enge Straße. Dann bremste er scharf, bog ab und gab wieder Gas. Charly fuhr über die Berger Straße und bog an deren Ende auf den City-Ring ab. Mit waghalsigen Spurwechseln überholte er die anderen Autos im fließenden Verkehr. An der Alten Oper stoppte er an der roten Ampel und grinste Siebels an. »Geiles Fahrgefühl, oder?«

Hinter dem Porsche heulte ein Martinshorn auf. Auf dem Dach des grün-silbernen Wagens drehte sich nicht nur das Blaulicht. »Polizeikontrolle« leuchtete in roten Buchstaben auf dem schmalen Display zwischen dem jetzt lautlosen Blaulicht.

»So eine Scheiße«, fluchte Charly.

Siebels ließ das Seitenfenster herunter und wartete auf die Polizisten. Als der eine Beamte neben dem Porsche stand, zückte Siebels seinen Dienstausweis.

»Wir befinden uns im Einsatz.«

»In einem Porsche?«, fragte der Beamte staunend.

»In einem Porsche«, bestätigte Siebels und schaute den Beamten tadelnd an. Der nickte dann auch dienstbeflissen und ging mit seinem Kollegen zurück zu seinem Einsatzfahrzeug.

»Der geplante Abend im Dr. Flotte geht auf mich«, bot Charly kleinlaut an.

»Das sehe ich auch so. Jetzt fahr mal gleich weiter in die Hanauer Landstraße. Da ist der Porsche-Händler. Mit dem will ich noch reden.«

»Wie jetzt? Mit der Kiste hier?«

»Klar, da kommt es jetzt auch nicht mehr drauf an. Auf dem Rückweg kannst du ja mal fünf Liter tanken.«

Charly nickte verwirrt und gab Gas.

Siebels würdigte die auf Hochglanz polierten Sportwagen in dem Verkaufsraum mit keinem Blick, sondern lief schnurstracks zu der jungen Dame am Informationsschalter. Charly blieb gleich beim ersten Cabrio hängen und bekam wieder Lust auf Streicheleinheiten. Sanft strichen seine Fingerspitzen über den roten Lack des Flitzers. Erst als Siebels nach ihm rief, trennte er sich schweren Herzens von dem Objekt seiner Begierde. Charly folgte Siebels und Siebels folgte der jungen Frau in das Büro des Chefs.

Der Chef hieß Udo Meier und bot seinen Besuchern einen Platz und einen Kaffee an.

»Sie suchen nach einem geeigneten Sportwagen?«, fragte er lächelnd und zeigte dabei eine makellos weiße Zahnreihe.

»Wir interessieren uns für Ihre Kundschaft«, brachte Siebels es ohne Umschweife auf den Punkt. Das charmante Lächeln seines Gegenüber erstarb schlagartig.

Siebels hielt ihm seinen Ausweis vor die Nase. »Kriminalpolizei. Wir ermitteln in einem Mordfall, in dem eine Kundin von Ihnen verwickelt ist.«

»Wie kann ich Ihnen da behilflich sein?«, fragte Udo Meier unsicher.

»Es geht um Frau Sabine Lehmann. Kennen Sie sie?«

Meier zupfte nervös an seinen mit dem Porsche-Emblem verzierten Manschetten.

»Ähm. Ja, natürlich kenne ich Frau Lehmann. Sie hat vor einiger Zeit einen Wagen bei mir gekauft.«

»Ich habe den Kaufvertrag gesehen. Sie bekam etwa 7.000 Euro Rabatt. Gab es dafür einen besonderen Grund?«

Meier fuhr sich mit der Hand nervös durch sein dichtes schwarzes Haar. »Da müsste ich mal nachsehen.«

»Bitte«, forderte Siebels ihn auf.

Meier nickte unentschlossen und wendete sich dann seinem Computer zu. Charly bewunderte die Autorität, mit der Siebels hier auftrat.

»Ja, hier habe ich den Vorgang«, murmelte Meier und nickte wie zur Selbstbestätigung seinen Monitor an. »Frau Lehmann kam auf besondere Empfehlung. Daher die guten Konditionen.«

»Wie lange arbeiten Sie denn schon mit Herrn Paulsen zusammen?«, fragte Siebels provokant.

»Was wollen Sie eigentlich wirklich wissen?«, fragte Meier resignierend.

»Wie lange Sie mit Herrn Paulsen schon zusammenarbeiten«, wiederholte Siebels monoton seine Frage.

»Nun, wir arbeiten nicht direkt zusammen. Herr Paulsen vermittelt mir ab und an mal einen Kunden. Das ist alles.«

»Wie hoch ist dabei die Provision für Herrn Paulsen?«

»Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass diese Information für Ihre Ermittlungen interessant sein könnte. Um was geht es eigentlich? Es wurde jemand ermordet? Doch nicht etwa Herr Paulsen?«

»Nein, nein. Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Der Lebenspartner von Frau Lehmann wurde ermordet.«

»Den kenne ich aber nicht. Was hat das alles zu bedeuten? Was habe ich damit zu tun?«

»Wahrscheinlich nichts. Wir interessieren uns routinehalber für das Umfeld von Frau Lehmann. Und da sie ihren Lebensunterhalt als Partnerin von Herrn Paulsen verdient, haben wir entdeckt, dass alle Partner von Paulsen einen Porsche von Meier fahren. Das fanden wir ein wenig sonderbar.«

Meier lächelte jetzt wieder und ließ seine weißen Zähne kurz aufblitzen. »Herr Paulsen legt viel Wert auf Corporate Identity. Das Auto ist nur ein Teil seiner umfassenden Philosophie. Alle seine Partner sind sich unheimlich ähnlich. Manchmal glaube ich, er klont sie.« Meier lächelte dabei sein schönstes Verkäuferlächeln.

»Gab es schon mal Probleme bei der Ratenzahlung bei einem dieser Partner?«, wollte Siebels wissen.

»Nein. Nie. Herr Paulsen ist ein Garant für die Zuverlässigkeit dieser Kundengruppe.«

»Das macht sich dann sicherlich auch in seiner Provision bemerkbar?«, versuchte Siebels dieses Thema noch einmal aufzugreifen.

»Es ist eine Win-win-Situation«, gab Meier diplomatisch zu, ohne weitere Details preiszugeben.

»Was macht ein Partner eigentlich, wenn er lieber einen Mercedes statt Porsche fahren möchte?«

Meier hob theatralisch seine Hände in die Luft. »Manche Polizisten in Hessen würden vielleicht lieber im BMW als im Opel Streife fahren. Die müssen sich dann entscheiden. Entweder in Hessen bleiben und Opel fahren oder sich nach Bayern versetzen lassen. Ich denke, wegen dem Dienstfahrzeug hat sich noch kein Polizist versetzen lassen. Oder?«

»Interessanter Vergleich«, nickte Siebels. Er hatte genug erfahren und verabschiedete sich von Udo Meier.

Charly tankte pflichtbewusst fünf Liter Super und lenkte den Porsche dann in manierlichem Tempo in Richtung Garage. »Ist der Deal zwischen Paulsen und Meier eigentlich strafrechtlich relevant?«, erkundigte er sich auf der entspannten Rückfahrt.

»Das musst du unseren Staatsanwalt fragen. Aber wenn Jensen spitzkriegt, dass wir die Lehmann in Ruhe träumen lassen und dafür Paulsen auf die Füße treten, dann springt der im Karree. Ich wüsste jedenfalls nicht, gegen welches Gesetz die beiden damit verstoßen.«

»Wenn Nötigung zum Porschefahren nicht strafbar ist, brauchst du dir wegen meiner Spritztour hier auch keine Vorwürfe machen«, schlussfolgerte Charly.

»Herr im Himmel, ich habe nur einen Wunsch, gib mir Till zurück«, flehte Siebels mit gefalteten Händen.