Die karierten Mädchen - Alexa Hennig von Lange - E-Book
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Die karierten Mädchen E-Book

Alexa Hennig von Lange

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Beschreibung

Die über 90-jährige Klara ist blind und kann ihr Haus schon lange nicht mehr allein verlassen. Ganz unerwartet wird die Tür aufgestoßen, hinter der sie ihre Vergangenheit verschlossen hat. Ergreift sie ihre letzte Chance, ihr bestgehütetes Geheimnis – die Geschichte ihres Lebens – zu offenbaren? Siebzig Jahre zuvor: Klara ist überglücklich; mitten in der Weltwirtschaftskrise 1929 bekommt sie eine Stelle als Hauswirtschaftslehrerin in einem Kinderheim in Oranienbaum. Als eines Tages dort ein Baby abgegeben wird, fühlt sie sich der kleinen Tolla auf Anhieb stark verbunden. Bald spitzt sich die wirtschaftliche Lage zu. Klara, die das Heim inzwischen leitet, sucht die Nähe der neuen Machthaber in der Hoffnung auf Rettung. Zu spät erkennt sie, mit wem sie sich eingelassen hat. Und dann ist sie plötzlich selbst in Gefahr: Denn Tolla, das Waisenmädchen, das inzwischen wie eine Tochter an Klaras Seite lebt, ist jüdischer Herkunft. ›Die karierten Mädchen‹ ist der erste Band der ›Heimkehr‹-Trilogie, die vom Ende der Zwanziger- bis in die Sechzigerjahre reicht. Sie ist inspiriert von den Lebenserinnerungen von Alexa Hennig von Langes Großmutter, die diese im hohen Alter auf mehr als 130 Tonbandkassetten aufgenommen hat.

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Seitenzahl: 530

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Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman ›Relax‹ 1997 zu einer der erfolgreichsten Autorinnen ihre Generation. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Jugendbücher. 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen die Romane ›Risiko‹ (2007), ›Peace‹ (2009), ›Kampfsterne‹ (2018), ›Die Weihnachtsgeschwister‹ (2019) und ›Die Wahnsinnige‹ (2020). Die Schriftstellerin lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Berlin.

Siebzig Jahre zuvor: Die junge Klara ist überglücklich. Mitten in der Weltwirtschaftskrise 1929 bekommt sie eine Stelle als Lehrerin in einem Kinderheim in Oranienbaum. Als dort eines Tages Tolla, ein einjähriges Mädchen, abgegeben wird, fühlt sich Klara ihm auf Anhieb stark verbunden. Doch bald spitzt sich die wirtschaftliche Lage des Heims zu. Klara, die das Haus inzwischen leitet, sucht die Nähe der neuen nationalsozialistischen Machthaber in der Hoffnung auf Rettung. Zu spät erkennt sie, mit wem sie sich eingelassen hat. Die Nationalsozialisten wollen aus dem Heim eine Ausbildungsstätte für junge Frauen machen, in der Klara ihren Schülerinnen die Liebe zu Volk und Kind vermitteln soll, statt sie zu eigenständig denkenden Menschen zu erziehen. Gleichzeitig ist sie unter der Hakenkreuzflagge und den ständigen Besuchen der Nazi-Funktionäre plötzlich selbst in Gefahr: denn Tolla, das Waisenmädchen, das inzwischen wie eine Tochter an Klaras Seite lebt, ist jüdischer Herkunft.

›Die karierten Mädchen‹ ist der erste Band einer Trilogie, die vom Ende der Zwanziger- bis in die Sechzigerjahre reicht. Sie ist inspiriert von den Lebenserinnerungen von Alexa Hennig von Langes Großmutter, die diese im hohen Alter auf mehr als 130Tonbandkassetten aufgenommen hat.

© Madlen Krippendorf

Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman ›Relax‹ 1997 zu einer der erfolgreichsten Autorinnen ihre Generation. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Jugendbücher. 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen die Romane ›Risiko‹ (2007), ›Peace‹ (2009), ›Kampfsterne‹ (2018), ›Die Weihnachtsgeschwister‹ (2019) und ›Die Wahnsinnige‹ (2020). Die Schriftstellerin lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Berlin.

Alexa Hennigvon Lange 

Die karierten  Mädchen   

ROMAN       

Von Alexa Hennig von Lange sind bei DuMont außerdem erschienen:

Relax

Risiko

Peace

Kampfsterne

Die Weihnachtsgeschwister

Die Wahnsinnige

Die Autorin dankt der VG Wort für ein Stipendium im Rahmen von

Neustart Kultur, das die Arbeit an diesem Roman unterstützte.

eBook 2022

© 2022 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Lisa-Blue/getty images

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8257-1

www.dumont-buchverlag.de

»Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun – das ist die Bestimmung des Menschen.«

Moses Mendelssohn, 1729–1786

»Ein Herrenvolk muss in der Lage sein, Menschen, die für die Gemeinschaft schädlich sind, aus der Gemeinschaft ohne christliche Barmherzigkeit auszuschalten.«

Heinrich Himmler, 1900–

1.

Vorsichtig setzte Klara einen Fuß über die Türschwelle auf die Terrasse. Mit der Hand klammerte sie sich am Türrahmen fest, dann zog sie den anderen Fuß nach und stellte ihn auch auf die Terrasse. Sie hörte die Tauben weit hinten in der Rotbuche gurren. Vor ihr lag ihr Garten. Rechts und links zogen sich die hohen Buchenhecken bis zum rückwärtigen Gartenzaun. In den Rabatten blühten die unterschiedlichsten Blumen, das Rosa der Tränenden Herzen musste jetzt besonders prächtig leuchten. Der Himmel war verhangen, die Sonnenstrahlen schafften es noch nicht, durch die Wolkendecke zu brechen. Jedenfalls fühlte Klara kein direktes Licht auf ihrem Gesicht oder ihren Händen. Es war ein später Augustmorgen und der Rasen vor ihr schimmerte in diesem bläulichen Grün. War es nicht so?

Was sie vorhatte, war nicht ganz ungefährlich. Noch lag ihre Hand sicher auf dem Türrahmen. Sie trug ihren dunkelblauen Mantel. An einer dünnen Halskette baumelte die goldene Uhr, die sie als Vierzehnjährige von ihren Eltern zur Konfirmation bekommen hatte. Ihr langes graues Haar hatte sie zu einem strengen Dutt gebunden. Und natürlich hatte sie einen Hut auf. Ohne Hut verließ sie niemals das Haus. Egal, wie heiß und schwül es draußen war. Ob sie auf die Straße ging oder nur in ihren eigenen Garten. Langsam ließ sie den Türrahmen los und machte einen tastenden Schritt über die Steinplatten.

Klara war einundneunzig Jahre alt. Sie war blind. Ihre Töchter hatten sie gebeten, auf keinen Fall allein in den Garten zu gehen. Schon gar nicht bis zum rückwärtigen Zaun. Und genau dorthin wollte sie heute einen kleinen Ausflug machen. Es kam ihr nicht unvernünftig vor, sondern eher wie ein kleines Abenteuer. Gleichzeitig wusste sie, dass es wahrscheinlich mit ihr vorbei war, wenn sie stürzte. Die Nachbarn auf der linken Seite, eine Familie, deren Kinder im Sommer hinter den hohen Hecken im Planschbecken herumsprangen, waren in den Urlaub gefahren. Sie würden ihre Hilferufe also nicht hören. Die Dame, die im Haus auf der rechten Seite wohnte, war sehr schlecht zu Fuß. Zweimal am Tag kamen das Essen auf Rädern und der Pflegedienst zu ihr. Ansonsten blieb Frau Clasen nichts anderes übrig, als auf die Besuche ihrer Kinder zu warten. Sie würde also auch nicht helfen können, falls Klara stürzte.

So eintönig wie ihre alte Nachbarin wollte Klara jedenfalls nicht ihre Tage verbringen. In ihrem ganzen Leben war sie nicht ein einziges Mal gefallen. Sie hatte sich noch nie verletzt. Warum sollte ihr jetzt etwas passieren? Ihr jüngerer Bruder Kurtchen hatte schon als Vierjähriger seinen Zeigefinger in der Häckselmaschine verloren. Aber sie hatte sich nicht einmal beim Kartoffelschälen in den Finger geschnitten. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern.

Weit über ihr kreuzte ein Flugzeug den Himmel. Drinnen im Haus klingelte das Telefon. Das Klingeln drang durch den Flur, das Esszimmer und die angelehnte Terrassentür. Wahrscheinlich war es eine ihrer Töchter, die versuchte, sie zu erreichen. Es gab ja sonst niemanden, der sie anrufen würde. Ihre drei Töchter waren liebe Kinder. Kinder, die sich – obwohl sie alle ihr eigenes mehr oder weniger funktionierendes Leben hatten – um sie sorgten und verlässlich nachfragten, ob bei ihrer Mutter alles in Ordnung sei. Das war natürlich sehr schön, und genau zu solch umsichtigen Menschen hatte Klara ihre Mädchen auch erzogen. Doch manchmal übertrieben sie es etwas mit ihrer Fürsorge. Glücklicherweise war ihr Sohn Georg beruflich zu stark eingespannt, um sich ebenfalls Sorgen um sie zu machen.

Das Telefon klingelte und Klara wusste, wenn sie nicht abhob, würden ihre Töchter als Nächstes vermuten, sie wäre die Treppe hinuntergestürzt oder im Badezimmer ausgerutscht. Kurz vor Weihnachten, als sie einmal keine Lust gehabt hatte, ans Telefon zu gehen, waren ihre Töchter so beunruhigt gewesen, dass sie die nette Familie von nebenan aufgescheucht hatten. Die Nachbarn hatten bei ihr geklingelt, um nach dem Rechten zu sehen. Nur hatte Klara auch keine Lust gehabt, ihnen die Tür zu öffnen, was zu weiteren Unannehmlichkeiten und einer unerquicklichen Diskussion darüber geführt hatte, ob sie nicht besser in einem Seniorenheim aufgehoben wäre.

Aber so schnell, wie es jetzt notwendig gewesen wäre, um ihre Töchter nicht zu alarmieren, kam Klara sowieso nicht zum Telefon. Also blieb sie genau da stehen, wo sie stand. Sie wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sie wartete, bis das Klingeln aufhörte. Endlich war es wieder still. Bis es keine halbe Minute später erneut klingelte. Klara schüttelte widerwillig den Kopf. Wieso hatten ihre Töchter so wenig Vertrauen ins Leben? Ständig dachten sie, irgendetwas Schlimmes könnte passiert sein. Sie hätte vorhin einfach den Hörer beiseitelegen sollen, bevor sie in den Garten gegangen war.

Es klingelte und klingelte. Um diesen Unsinn zu beenden, musste Klara sich wieder nach drinnen tasten und Entwarnung geben. Aber wenn sie einmal im Haus war, würde sie nicht wieder hinausgehen. Das Hin und Her zwischen drinnen und draußen war furchtbar anstrengend. Außerdem war ihr schönes Vorhaben gestört, bis hinunter zum Ende des Gartens zu gehen. Zu dieser Jahreszeit duftete es dort so herrlich nach den Blüten des Jelängerjeliebers. Sie drehte sich langsam um und schob sich mit ausgestrecktem Arm, Schritt für Schritt, zurück zur Terrassentür. Ihr schmaler, aufgerichteter Körper spiegelte sich jetzt bestimmt im großen Wohnzimmerfenster. Dahinter hingen die bodenlangen Gardinen. Klara würde schon noch bis zu ihrem duftenden Jelängerjelieber gelangen, wo sie früher gerne mit Gustav im Gras auf einer Decke gesessen hatte. Nicht heute, aber morgen.

Gerade, als sie sich durch das Wohnzimmer in den Flur tastete, klingelte es plötzlich an der Tür. Wer konnte das sein? Abgesehen vom Supermarktlieferanten stand so gut wie nie jemand davor. Doch der kam immer Montagmittag und heute war Donnerstag. Klara bewegte sich langsam Richtung Haustür. Bevor sie öffnete, fragte sie durch die Tür so laut sie konnte: »Wer ist da?«

»Ich bin’s, Mama. Inge.«

»Inge?«

»Ich habe schon versucht, dich anzurufen. Aber du bist nicht drangegangen.«

Klara drehte den Schlüssel herum, zog die Haustür auf und blickte hinaus, dahin, wo sie ihre Tochter vermutete. »Was machst du denn hier mitten in der Woche?«

»Rainer hat in der Gegend etwas zu tun und da bin ich heute früh spontan mitgefahren. Ich habe ja keine Kinder mehr, die aus der Schule kommen und Hunger haben.«

Inge zwängte sich an ihrer Mutter vorbei, zog sich die Schuhe in der Garderobe aus und wusch sich eilig die Hände in der Gästetoilette. Klara stand neben dem Tisch im Flur und wartete. Ihre Tochter war noch nie unangemeldet vorbeigekommen. Sie und Rainer wohnten hundertfünfzig Kilometer entfernt. Und bisher hatte Rainer hier auch nichts zu tun gehabt.

Inge kam aus der Gästetoilette. »Rainer bekommt möglicherweise in der Gegend einen Auftrag. Das wäre doch schön. Dann könnte ich öfter mit ihm mitfahren und dich besuchen.«

Klara nickte und wusste nicht, ob sie das wirklich schön fand. Ihr Leben, mit sich ganz allein, gefiel ihr eigentlich recht gut. Den jungen Mann vom Pflegedienst, den ihre Töchter organisiert hatten, hatte sie auch gleich wieder weggeschickt.

Inge rauschte an ihr vorbei. Wie gewohnt, machte sie einen etwas gehetzten Eindruck. »In zwei Stunden holt mich Rainer wieder ab. Wollen wir uns ins Wohnzimmer setzen? Oder soll ich dir schon mal die Kartoffeln fürs Mittagessen schälen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, ging Inge hinüber in die Küche, und Klara hörte, wie sie ein paar Kartoffeln aus der Klappe holte und in die Spüle fallen ließ. Sie hörte, wie die Besteckschublade aufgezogen wurde, wie ihre Tochter den Wasserhahn aufdrehte und einen Topf unter den Strahl hielt. Klara blieb in der Tür stehen. Vor lauter Überraschung wusste sie gar nicht, was sie sagen sollte. Bis eben war es hier noch angenehm ruhig gewesen. Die Räume hatten ihr ganz allein gehört. Nun befand sich alles in plötzlichem Aufruhr und Hast.

Inge drehte den Wasserhahn wieder zu, schob den Topf auf den Herd und sagte: »Stell dir vor, Mama! Du wirst Urgroßmutter.«

»Ach ja?«

»Isabell ist schwanger. Das Baby kommt im nächsten Frühjahr. Es wird ein Mädchen.«

Isabell war Anfang zwanzig, gerade nach Berlin gezogen und die Mittlere von Inges drei Kindern. Constanze, ihre Älteste, studierte in Frankreich und der kleine Florian hatte gerade sein Abitur gemacht.

»Wer ist denn der Vater?«, fragte Klara. Isabell wechselte ihre Freunde ständig, soweit Klara das von ihrer Tochter erzählt bekam.

Inge seufzte. »Ein junger Mann, den Isabell beim Ausgehen kennengelernt hat. Frag mich nicht, wo. Sie meint, er sei sehr intelligent und künstlerisch begabt. Ich kenne ihn noch nicht.«

Klara hörte, wie Inge die Kartoffeln schälte, abwusch und in den Topf fallen ließ, hörte, wie sie die Herdplatte anstellte und den Deckel scheppernd auf den Topf legte. Vielleicht mit etwas zu viel Nachdruck, so, als hätte sie große Zweifel an der frohen Botschaft und den Fähigkeiten des jungen Mannes, von dem ihre Tochter ein Kind erwartete.

Nun wurde Klara also Urgroßmutter. Es war klar gewesen, dass Isabell die erste von ihren sieben Enkeln sein würde, die ein Kind bekam. Sie tat ständig Dinge, die kein junges, vernünftiges Mädchen mit wohldurchdachten Zukunftsplänen getan hätte. Obwohl Klara die Antwort bereits kannte, fragte sie in die plötzliche Stille der Küche hinein: »Möchten Isabell und der junge Mann heiraten?«

Inge legte ihr kurz die Hand auf den Arm und glitt dann an Klara vorbei in den Flur und weiter zum Wohnzimmer. Jedenfalls kam ihre Stimme nun aus dieser Richtung. »Ich weiß nicht einmal, ob die beiden überhaupt noch zusammen sind. Vielleicht haben sie sich auch schon wieder getrennt. Wollen wir es uns in der Sitzgruppe gemütlich machen, bis die Kartoffeln gar sind?«

Klara folgte ihrer Tochter langsam hinüber ins Wohnzimmer. Inge schien sich schon auf einen der Sessel gesetzt zu haben. Es war klar, dass sie hören wollte, wie ihre Mutter zu der Sache stand. Klara bewegte sich mit kleinen Schritten an den verschiedenfarbigen Sesseln vorbei, die um einen niedrigen runden Tisch standen, bis zu dem dunkelblauen Sessel, auf dem sie immer saß. »Du meinst, Isabell will das Kind allein großziehen?«

»Ich vermute es. Wer weiß es schon? Isabell hat immer genau das getan, was sonst niemand von uns getan hätte. Wir machen uns Sorgen. Sie macht, was sie will. Diese Freiheit nimmt sie sich einfach.«

Klara nickte. Sie blickte in ihre Dunkelheit, die sie nun schon seit fast zehn Jahren umgab. In dieser Dunkelheit sah sie alles deutlich vor sich, was auch immer sie in ihre Erinnerung hereinlassen wollte. Jetzt sah sie die fünfjährige Isabell mit ihrem roten Haar vor sich, das gleiche rote Haar, das sie selbst früher gehabt hatte. Einmal war Klara ins Wohnzimmer gekommen, als das kleine Mädchen auf dem Klavierhocker balancierend versucht hatte, sich aus der feinen Glasdose ein Stück Schokolade zu stibitzen. Was für alle verboten gewesen war. Isabell hatte sie erschrocken angesehen, aber freundlich gefragt: »Willst du auch ein Stück, Oma?«

Klara saß aufrecht auf ihrem Platz, von dem aus sie früher, wenn ihre Kinder und die Enkelkinder zu Besuch gewesen waren, mit erhobenem Kinn und strenger Miene alles im Blick behalten hatte. Sie wusste, dass ihre Enkelkinder Angst vor ihr gehabt hatten. Sogar die vergnügte Isabell mit ihren feuerroten Haaren. Dabei hatte sie sich bei dem kleinen Mädchen Mühe gegeben, mit Herzlichkeit in der Stimme zu sprechen. Doch ihre Härte und ihre innere Ungeduld hatte sie nie ganz verstecken können. Es tat ihr ein wenig leid, dass sie die Kinder häufig scharf zurechtgewiesen hatte. Wenn sie bei Tisch die Ellenbogen aufgestützt hatten. Oder mit nackten, hochgezogenen Füßen, mit denen sie gerade noch durch den Garten gelaufen waren, auf einem der Wohnzimmersessel gesessen und in einem Buch gelesen hatten. Auf Umarmungen hatte Klara ganz verzichtet. Vielleicht hatte sie einem der Kinder hin und wieder flüchtig über den Kopf gestrichen. Doch eigentlich hatte sie ihnen durch ihre starre Körpersprache, durch ihren frostigen Gesichtsausdruck deutlich gemacht, dass sie nicht Teil der quirligen Gesellschaft war, die sich über das Wochenende bei ihr eingenistet hatte. Klara wollte ihnen Disziplin und Benehmen beibringen. Die Kinder sollten sich leise bewegen. Anständig und in ganzen Sätzen sprechen. Sich die Hände waschen und keine frechen Antworten geben. Am liebsten war es ihr gewesen, wenn sie oben im Gästezimmer in den Büchern lasen, die Klara für sie in der Buchhandlung bestellt hatte.

Auch wenn Inge so tat, als wäre die Schwangerschaft ihrer Tochter keine große Überraschung, wusste Klara sehr genau, dass ihr diese Risikobereitschaft fremd war. Inges Stimme wackelte. »Sie sagt, sie will Bücher schreiben und dabei aufs Kind aufpassen.«

Klara beugte sich nach vorne, streckte die Hand aus und tastete nach der ihrer Tochter. Als sie die Hand mit dem Ehering gefunden hatte, klopfte sie ein paarmal darauf. »Isabell wird sich gut um das kleine Mädchen kümmern. Bisher ist sie immer mit ihren Entscheidungen zurechtgekommen. Vertrau ihr.«

Inge seufzte. »Sie ist noch so jung. Und vom Bücherschreiben kann kein Mensch leben.«

»Das Schreiben hat sie von deinem Vater.«

»Aber er hat nicht versucht, davon zu leben.«

Klara ließ ihre Hand auf der ihrer Tochter liegen. »Lass sie sich ausprobieren.« Ihre Enkelin gehörte eben zu jenen Menschen, die sich für den steinigen Weg entschieden, um möglichst viele Erfahrungen zu sammeln. War es nicht so? Auch Klara hatte in ihrem Alter unvernünftige Dinge getan, von denen niemand sie hatte abhalten können. Obwohl ihr das viel Kummer und Leid erspart hätte. Aber von diesem Teil ihres Lebens hatte sie ihren Kindern nie etwas erzählt. Aus Angst, dass sie sie nicht verstehen würden.

»Mama«, hörte sie eine feine Stimme rufen.

Klara versuchte, sich wieder in ihrem Sessel aufzurichten. Plötzlich war ihr schwindlig. So, als hätte sie versehentlich die mehrfach verriegelte Tür zu jenem Raum geöffnet, in dem sie einen Teil ihrer sehr weit zurückliegenden Vergangenheit eingesperrt hatte. Ohne es zu merken, war sie in diesen Raum eingetreten und war mit einem Mal umgeben von all diesen schwer erklärlichen Ereignissen, die keinen Tag älter geworden zu sein schienen. Von weit weg hörte sie ihre Tochter fragen: »Mama, ist alles in Ordnung?«

Klara lächelte bemüht. Sie kämpfte sich aus dem Jahr 1929 zurück auf ihren blauen Sessel in ihrem Wohnzimmer, in ihr norddeutsches Reihenhaus ins Jahr 1999. Hinter ihr auf der Anrichte tickte die große Uhr. Ein vertrautes, gleichmäßiges Geräusch. Inges Hand fasste um ihre Hand. Und bevor Klara noch irgendetwas antworten konnte, hörte sie wieder diese feine Stimme durch all die vergangenen Jahrzehnte hindurch nach ihr rufen. »Mama!« Die Stimme rief ganz leise in ihre Gegenwart hinein: »Mama!« Sie rief und rief. Aber es war nicht Inges Stimme.

Klara spürte, wie sie von einem inneren Zittern erfasst wurde. Sie hatte befürchtet, dass dieser Moment irgendwann kommen würde. Vielleicht war er jetzt da. Vielleicht war es Zeit, ihren Kindern endlich zu erzählen, wer ihre Mutter wirklich gewesen war. Was sie erlebt hatte, als sie Anfang zwanzig war. Was sie getan hatte und warum. Dieser Teil ihrer Erinnerungen war düster und schmerzhaft. In ihm tobten Schuld und Verzweiflung, Sehnsucht und Liebe. Wo sollte Klara anfangen? Würden ihre Kinder und Enkel sie verstehen? War es überhaupt zu verstehen, welche Entscheidungen sie damals als junge Frau getroffen hatte? Dazu würde Klara die ganze Geschichte erzählen müssen. Wie eins zum anderen gekommen war.

»Mama?«

Mithilfe ihrer Tochter setzte sie sich in ihrem Sessel aufrecht hin. Nichts ließ sich auf Dauer verstecken und vergessen. Noch etwas benommen, hörte sie sich fragen: »Inge, kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Natürlich, Mama. Was denn?«

»Könntest du mir einen Kassettenrekorder und ein paar leere Kassetten besorgen?«

»Wozu?«

Klara zuckte abwesend mit den Schultern. »Wir werden sehen.« Sie war zu alt, um diesen Teil ihrer Vergangenheit noch einmal mit aller Gewalt zurückzudrängen. Sie war bereit, mit ihm zu gehen, zurück zu dem Punkt, an dem alles seinen Anfang genommen hatte.

2.

Es war Anfang August, als Klara aus dem Waggon der Dessau-Wörlitzer Eisenbahn stieg. Sie hielt einen Koffer in der Hand, auf dem Rücken hatte sie ihren Wanderrucksack. Hinter ihr strebten die Reisenden auseinander, den schmalen Bahnsteig entlang. Die Sonne schob sich gleißend über das Satteldach des kleinen Bahnhofsgebäudes aus rotem Backstein und tauchte die Umgebung in weißes, blendendes Licht. Ihr war warm unter dem blauen Übergangsmantel, dem Hut und dem wadenlangen Rock aus Wollstoff. Aber das war jetzt egal. Sie sah sich auf dem Bahnsteig um, in welche Richtung sie gehen musste. Nach ihrer letzten Anstellung in Kassel war sie nun endlich wieder in ihrem kleinen Freistaat Anhalt. Nicht weit von hier war sie im Harz geboren worden. Hier gehörte sie her. Freistaat Anhalt, das klang so schön, als wären hier alle Menschen frei.

Klara ging im Schatten des Bahnsteigvordachs nach rechts. Eigentlich wäre jetzt der beste Moment gewesen, Herzklopfen zu bekommen. Aber sie verbot sich das Herzklopfen. Sie konnte ihre Gefühle und Stimmungen recht gut kontrollieren. Als Lehrerin war das wichtig. Lächelnd schritt sie in ihren braunen Schnürschuhen über die hölzerne Ladezone an der Schmalseite des Gebäudes entlang. Sie war einundzwanzig Jahre alt und gleich würde sie ihre neue Arbeitsstelle in der Kinderheilstätte Oranienbaum antreten. Hier wurden unter einem Dach lungenkranke Kinder gepflegt und gleichzeitig junge Mädchen in Haushaltung ausgebildet. Die Heimleiterin Fräulein Martin hatte Klara eine Wegbeschreibung mit der Post geschickt und bemerkt, sie müsse sich bei ihnen auf »etwas Waldeinsamkeit« einrichten. Das war in Ordnung. Zu einer Heilstätte für tuberkulosekranke Kinder gehörte nun einmal eine heilsame Umgebung. Dazu hatte die Heimleiterin noch ein paar Informationen zu den Aufgaben notiert, die auf sie warteten. Klara würde nicht nur die fünfzehn jungen Mädchen »aus einfachen Kreisen« in Hausarbeit, Gesundheits- und Ernährungslehre unterrichten, sondern außerdem den gesamten Heimhaushalt zu organisieren haben. Sie wusste, dass sie alles hinbekommen würde. Bei ihrer letzten Anstellung in Kassel hatte sie schon wichtige Erfahrungen gesammelt, bis das traditionsreiche Töchterheim wegen der stetig zurückgehenden Anmeldungen von Mädchen aus besseren Kreisen geschlossen und sie entlassen worden war. Plötzlich mit nichts dazustehen, war erschreckend gewesen.

Klara trat als Letzte auf den sandigen Bahnhofsvorplatz hinaus, der von drei hübschen Backsteinvillen gesäumt wurde, hinter denen sich dicht an dicht hohe Kiefern in den Himmel reckten. Das war also der Wald, die »grüne Lunge«, in dem sich irgendwo ihre neue Arbeitsstelle versteckte, abseits stark befahrener Straßen oder Industrieanlagen. Die meisten Mitreisenden hatten sich schon in Richtung der Hauptstraße aufgemacht, die in den Ort hineinführte. Mit dem Brief der Heimleitung und der Wegbeschreibung in der Hand stand sie in der prallen Sonne und blickte sich um, bis sie hinter der letzten der drei Backsteinvillen einen schmalen, sandigen Weg entdeckte, der direkt in den Kiefernwald hineinführte.

Die trockene Erde staubte unter ihren Schritten, als sie den Pfad zwischen den hohen Nadelbäumen hindurchging und den kleinen Bahnhof hinter sich ließ. Das Heim lag ein ganzes Stück außerhalb von Oranienbaum, auf einer Lichtung mitten im Wald. Klara hätte sich abholen lassen können, aber sie wollte sich lieber ungestört ein Bild davon machen, wo sie hier gelandet war. Und das ging am besten allein und zu Fuß. Inzwischen hatte sie sich ihren Mantel ausgezogen und ein Fleck auf ihrem kunstseidenen Strumpf verriet die wunde Ferse. Eigentlich war sie Wandern gewohnt. Doch ihre Schuhe waren neu und noch nicht eingetragen. Zu ihrem Arbeitsantritt wollte sie nämlich auf keinen Fall so wirken, als hätte sie die Stelle als Haushaltungslehrerin mehr als alles andere auf der Welt nötig. Auch wenn es genauso war. Aber nicht nur Klara hatte diese Anstellung bitter nötig. Ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder waren auf ihre Unterstützung angewiesen. Ihre früher so beliebte Fremdenpension im Harz lief schon seit einiger Zeit sehr schlecht. Die Sommerfrischler aus der Großstadt blieben aus, doch die Hypothek vom Haus musste trotzdem abbezahlt werden.

Eigentlich war Klaras finanzielle Not aber auch gar kein so großes Geheimnis. Immer mehr Arbeitslose bevölkerten die Straßen. Erzieherinnen und Haushaltslehrerinnen, genau solche wie Klara, wurden reihenweise entlassen. Überall fehlte das Geld, Mädchenpensionate und Kinderheime zu halten. Es war reiner Zufall gewesen, dass Klara diese Stelle von ihrer alten Schulfreundin übernehmen konnte. Margarete hatte einen Chefpiloten der Junkers-Fluggesellschaft geheiratet und wartete nun im nahe gelegenen Dessau auf die Geburt ihres ersten Kindes. Sie hatte Klara geraten, sich umgehend um ihre frei gewordene Stelle zu bemühen. Damit war sie die sechsundachtzigste Bewerberin gewesen! Vielleicht waren Klaras Freundschaft zu Margarete, ihre guten Zeugnisse oder ihr Empfehlungsschreiben von ihrer letzten Arbeitsstelle der Grund dafür gewesen, dass sie die Stelle bekommen hatte. Vielleicht hatte sie aber auch einfach großes Glück gehabt. Nun blieb nur zu hoffen, dass diese Kinderheilstätte von einer Schließung verschont blieb.

Klara schüttelte den Kopf, während sie den sandigen Weg mit straffem Schritt hinunterging. Darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Der Koffer wurde nicht leichter in ihrer Hand. Der Rucksack hing an ihren Schultern, als wäre er mit Steinen gefüllt. So, wie früher ihr sieben Jahre jüngerer Bruder, den sie auf Wanderungen durchs Gebirge die halbe Wegstrecke hatte huckepack tragen müssen, weil er sich einfach geweigert hatte, weiterzulaufen. Und eigentlich trug sie Kurtchen noch immer. Zumindest im übertragenen Sinn. Regelmäßig schrieb sie seine Schulaufsätze, damit er nicht sitzen blieb und keine Klasse wiederholen musste.

Die Sonne stand heiß und glühend über dem Kiefernwald, als wollte sie die Bäume in Brand setzen. Klara ging schneller. Der Schweiß rann ihren Nacken hinunter. Die Bluse klebte am Rücken. Am liebsten hätte sie ihre Wollkleider, die Schuhe, die Strümpfe, den Rucksack und den Hut auf ihrem Kopf einfach abgeworfen. Wenigstens schützten die Kleider sie vor einem gewaltigen Sonnenbrand. Sie zog die Krempe ihres Hutes tiefer ins Gesicht. Die roten Haare hatte sie in einem Kranz um ihren Kopf geflochten. Von irgendwoher hörte sie ein Zirpen. Über ihr in den harzigen Ästen knackte es und im Unterholz raschelte es. »Es ist kalt«, flüsterte Klara. Vielleicht half es ja, sich das einzureden. »Es ist kalt. Ich friere so sehr.« Und wirklich. Ihr wurde tatsächlich ein wenig kühler. Sie stieg eine kleine Anhöhe hinauf. Über ihr wurde es immer heller, die Kiefern zogen sich in die äußeren Winkel ihres Blickfeldes zurück, sodass jetzt genug Raum da war für das kräftige Blau des Himmels. In einiger Entfernung baute sich auf der Lichtung ein massives Gebäude mit Schieferdach vor ihr auf, das mit seinen Erkern, Loggien und Türmchen beinahe wie ein größeres Hotel anmutete und an dessen Fassade sich hier und da Kletterrosen um die Fenster rankten. Klara beschleunigte ihre Schritte, gerade konnte sie nur noch an ein randvolles Glas mit kaltem Wasser denken. Sie wurde erst wieder langsamer, als sie das offene Gartentor erreichte, hinter dem sich eine von blühenden Azaleen und Blumenrabatten gesäumte weite Rasenfläche bis zu dem eindrucksvollen Gebäude erstreckte. Für einen Moment blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Sie stellte ihren Koffer ab und wischte mit ihrem Taschentuch den Staub von den Schuhen. Dann setzte sie ihren Rucksack ab, um sich den Mantel wieder überzuziehen. Sie wollte ordentlich aussehen, wenn sie gleich ihrer neuen Chefin, Fräulein Martin, gegenüberstand. Mit dem Koffer in der Hand ging sie nun mit wachem Herzen über den Rasen auf eine große Tür zu und klingelte.

Doch niemand öffnete. Durch die Fenster im Erdgeschoss hörte sie Kinderstimmen, die Der Kuckuck und der Esel zu Klavierbegleitung sangen. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, sah sie in den Erkerfenstern mehrere kleine Gesichter, die neugierig zu ihr herausschauten. Ein paar von den Kindern winkten hinter den Glasscheiben und Klara winkte freundlich zurück. Die Kleinen mochten höchstens drei oder vier Jahre alt sein. Viele von ihnen, so hatte sie von ihrer Freundin Margarete gehört, blieben für mindestens ein halbes Jahr hier, bis sie sich so weit erholt hatten, dass sie wieder zurück zu ihren Familien konnten. Das war eine lange Zeit für so kleine Persönchen. Als noch immer niemand die Tür öffnete, ging Klara den gepflasterten Weg an den Erkerfenstern vorbei, um das Haus und eine Liegehalle herum, wie sie typisch waren für Lungenheilstätten. Dahinter tat sich ein noch größerer Garten auf, in dem weiter hinten ein Nebengebäude beinahe in den üppigen Sträuchern versank. Über ihr schwebten einzelne Kiefernkronen, die Flecken von Schatten spendeten. Vielleicht gab es ja einen weiteren Eingang?

Und tatsächlich: In der Mitte der Gebäuderückseite entdeckte sie eine grün lackierte Tür, über der ein von Jelängerjelieberranken halb verdecktes Schild mit der Aufschrift Büro hing. Klara klopfte und trat in einen kühlen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Die erste stand offen. Klara hörte leises Schreibmaschinengeklapper. Sie ging näher heran und blickte um die Ecke. In dem hellen Raum standen Aktenschränke und zwei einfache Schreibtische. An dem vorderen saß eine junge Frau, die eine weiße Schwesternhaube trug und sich konzentriert durch einen Papierstapel mit Listen arbeitete. Am hinteren, auf dem eine Schreibmaschine stand, saß eine große, hagere Frau mit dunklen, akkurat frisierten Haaren, die sofort ihren Kopf hob, als Klara zögernd hereinkam. Für einen Moment blickte sie Klara reglos an. Ihr mittelaltes Gesicht war klug, aber auch von inneren Kämpfen gezeichnet. Das konnte Klara sofort sehen. Die Frau stand auf, strich ihren Rock glatt und kam dann mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Sie sind sicherlich Fräulein Möbius, nicht wahr?«

»Ja, das bin ich«, sagte Klara.

»Ich bin Fräulein Martin, die Leiterin hier. Haben Sie gut hergefunden? Ihnen muss ja entsetzlich warm sein!«

Klara lächelte. »Es geht schon.« Obwohl diese Frau mit der harten Stimme und dem festen Händedruck eine seltsam angsteinflößende Aura umgab, mochte Klara sie gleich. Etwas an Fräulein Martin sagte ihr, dass diese Frau alles unternehmen würde, um ihr Heim vor der Schließung zu bewahren.

Sie ging an ihr vorbei den Flur hinunter. Jede ihrer langgliedrigen Bewegungen wirkte kontrolliert und beinahe hölzern. Ihr strenger Dutt unterstrich die fraglose Autorität, mit der sie dieses Heim führte. In der kleinen Eingangshalle, deren gewölbte Decke mit hübschen Stuckornamenten verziert war, stellte sie sich an den Fuß der Terrazzotreppe und rief nach einem Fräulein Stettin. Gleich darauf öffnete sich schräg gegenüber eine Flügeltür und eine junge Frau in Klaras Alter kam heraus. Klara konnte einen kurzen Blick ins Innere des dahinterliegenden Raumes erhaschen. Kleine Kinder hockten in Grüppchen auf dem Linoleumboden und spielten mit Bauklötzen oder legten ihre Puppen in Bettchen aus weiß lackiertem Metall. Das war also der Spielsaal, in dem die Kinder eben noch Der Kuckuck und der Esel gesungen hatten. Und Fräulein Stettin, die ihr kinnlanges weißblondes Haar in kunstvoll frisierten Wellen trug, war offenbar eine der Kindergärtnerinnen. »Wo brennt’s denn?«

»Nirgends, Fräulein Stettin. Wären Sie so freundlich, Fräulein Möbius auf ihr Zimmer zu bringen, damit sie sich frisch machen kann?« Und zu Klara gewandt: »Anschließend gebe ich Ihnen eine Hausführung.«

Klara und ihre neue Kollegin nickten sich zu. Die Kindergärtnerin trug über ihrem schlichten Kleid eine weiße Schürze, hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase und auffallend grüne Augen. Trotz ihrer modischen Wellenfrisur hatte sie etwas Jungenhaftes, Drahtiges an sich.

»Herzlich willkommen auf unserer kleinen Insel im Wald«, grinste sie. »Ich heiße übrigens Susanne.« Dann nahm sie Klara einfach den Koffer ab und stieg vor ihr die Treppe hinauf in den zweiten Stock.

Klara folgte ihr den breiten Flur hinunter, während Susanne das Wichtigste erklärte: »Hier oben ist die Isolierstation für die Kinderchen mit Verdacht auf eine offene Tuberkulose oder für die, bei denen es auf der Kippe steht. Sie sind oft schon in sehr schlechtem Zustand, wenn sie zu uns kommen.«

Bei denen es auf der Kippe stand? Bedeutete das, dass in diesem Haus Kinder starben? Klara hatte den Informationen der Leiterin entnommen, dass hier nur Kinder mit einer nicht ansteckenden, geschlossenen Tuberkulose aufgenommen wurden. Allein die Tatsache, dass sie mit dieser tückischen Volkskrankheit beruflich in Berührung kam, hatte bei ihrer Familie schon für große Aufregung gesorgt. In der Klasse ihres Bruders war erst vor Kurzem ein Mitschüler an Tuberkulose gestorben. Das konnte also auch hier vorkommen.

»Ja, so gucken alle!«, sagte Susanne. »Dies ist eine Heilstätte für Kinder aus ärmsten Verhältnissen und nicht der Zauberberg. Kein Sanatorium in der Schweiz, wo sich reiche Leute mit Delikatessen vollstopfen, ihre Briefmarkensammlung sortieren und Leidenschaften pflegen.«

Klara nickte. Tatsächlich hatte sie gehofft, dass alle Kinder wieder gesund wurden. Dafür waren doch die Heilstätten des Vereins zur Bekämpfung der Schwindsucht da! Sie blieb stehen und blickte auf die drei weißen Türen. Für einen Augenblick meinte sie die Stille dahinter zu hören. Eine weiße, leere, sterile Stille.

Susanne ging weiter, als wollte sie sich gar nicht mit der Tatsache befassen, dass in diesem Haus Kinder starben, getrennt von ihren Eltern, in fremden Heimbetten. »Hier vorne links ist mein Zimmer«, erklärte sie. »Dahinter ist das von der Jugendleiterin Erna, die sich um die schwer kranken Kinder kümmert. Das hier ist noch ein Badezimmer. Und die Tür gegenüber führt zur Privatwohnung von Fräulein Martin, unserer Oberin. In ihrem Wohnzimmer finden auch unsere wöchentlichen Besprechungen statt.«

Klara sagte mehrmals »Aha«. Mehr ging gerade nicht. Es waren einfach sehr viele neue Eindrücke und Informationen.

In der Mitte des langen Flures öffnete Susanne schließlich eine Tür auf der rechten Seite. »Bitte schön, Fräulein Möbius! Ihr kleines Reich.« Sie trat zur Seite, um Klara Platz zu machen, damit sie als Erste ihr Zimmer betreten konnte.

Sie machte ein paar ruhige Schritte hinein, während Susanne schon wieder an ihr vorbeidrängte und den Koffer auf das Metallbett an der rechten Zimmerwand warf.

Gegenüber standen eine Waschkommode mit Kanne und Schüssel und daneben ein Sofa. Klara ließ ihren Rucksack von den Schultern auf das Polster rutschen und blieb für einen Moment am Schreibtisch vor dem Fenster stehen. Andächtig sah sie hinaus. Ihr Blick ging in den Garten hinter dem Haus, über dem der sommerliche Himmel schwebte. Rund um die Rasenfläche standen die blühenden Sträucher. Weiter hinten, unter den hohen Kiefern, erstreckte sich für die lungenkranken Kinder die offene Liegehalle, an deren Pfeilern sich hellrosa Kletterrosen emporrankten und die aussah wie eine lang gezogene überdachte Veranda. Davor blühte ein Teppich von leuchtend blauen Sternhyazinthen. Es war das erste Mal, dass sie ein Zimmer ganz für sich allein hatte. Zu Hause im Harz hatte sie sich eins mit ihrem Bruder Kurtchen teilen müssen und während ihrer Anstellung im Töchterheim Bergé hatte sie mit ihrer Kollegin Lisbeth eine kleine, stickige Kammer unterm Dach bewohnt. Da war es in den Wintermonaten verflixt kalt gewesen, weil der kleine Kanonenofen nur zweimal in der Woche hatte geheizt werden dürfen. Klara drehte sich um. »Das ist viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe.«

Susanne nickte: »Die kupferfarbenen Sofastreifen passen hervorragend zu Ihren kupferroten Haaren, wenn ich das sagen darf. Und Zentralheizung haben wir auch.«

Damit zog sie die Tür hinter sich zu und Klara stand allein in ihrem neuen Zimmer. Etwas verschwitzt und verwundert, dass ausgerechnet sie an diesem außergewöhnlichen Ort aufgenommen wurde. Sicherlich waren ihre Zeugnisse sehr gut. Aber andere junge Mädchen hatten ebenfalls sehr gute Zeugnisse. Und doch schienen dieses Haus, dieses Zimmer, das Sofa mit den kupferroten Streifen geradezu auf sie gewartet zu haben. Als hätte Klara hier noch gefehlt. Nachdem sie durstig einen großen Schluck Wasser direkt aus der Kanne getrunken hatte, was eigentlich nicht ihr Stil war, und sie sich die Hände gewaschen hatte, beeilte sie sich, eine frische Bluse anzuziehen. Sie befürchtete, Fräulein Martin würde es ihr übel nehmen, wenn sie sich hier oben zu lange aufhielt. Als Klara herunterkam, wartete die Oberin tatsächlich schon am Fuß der Treppe. Sie begann ihre Hausführung gleich in der Eingangshalle, in der sie vorhin bereits gestanden hatten. Fräulein Martin drehte sich etwas und bemerkte voller Stolz: »Das ist unser Vestibül.«

Nun ja, ein Vestibül war diese Diele nicht gerade. Im Verhältnis zur Größe des restlichen Hauses war sie geradezu mickrig. Aber das war egal. Vermutlich würde Klara diesen kleinen, mit üppigen Stuckornamenten verzierten Eingangsbereich selbst bald stolz »unser Vestibül« nennen. Gegenüber der Flügeltür, die in den Spielsaal führte, drückte Fräulein Martin eine breite Schwingtür auf. »Und hier geht es in unsere Heimküche.«

Klara folgte der Oberin in eine geräumige Küche, vor deren Fenstern drei große Kochherde und ein riesiger Kessel mit Holzdeckel angeordnet waren. Entlang der Wände gab es hohe verglaste Geschirrschränke, Töpfe und Pfannen in allen Größen und in der Mitte des hellen Raumes stand ein langer Holztisch, umgeben von Hockern und Stühlen. Fräulein Martin blieb in einer Nische neben einem hohen Pult stehen, auf dem ein aufgeschlagenes Haushaltsbuch lag. Darin hatte schon jemand eine Einkaufsliste begonnen. Mehl fehlte. Haferflocken. Butter. Kartoffeln. »Hier schreiben Sie alles hinein, was Sie brauchen. Ihnen sollte nur klar sein: Bei uns wird nicht überreichlich gekocht. Wir sind hier an Sparsamkeit gewöhnt und jeder ist bemüht, dafür zu sorgen, dass möglichst alles von den Kindern aufgegessen wird. Dass es aber unter kränklichen Kindern vorkommt, dass sie mal eine halbe Schnitte liegen lassen oder ihren Kakao nicht austrinken, lässt sich nicht vermeiden.«

Klara nickte. Und schon ging es durch die nächste Schwingtür weiter in den angrenzenden Speisesaal, dessen Wände von oben bis unten mit blutroter Ölfarbe angepinselt waren.

»Unser Schlachthof«, seufzte Fräulein Martin mit hochgezogenen Augenbrauen. »Irgendwann werden wir ihn hoffentlich umstreichen.«

Die Farbe war wirklich scheußlich. Das behielt Klara allerdings für sich. Dafür hatte der Speisesaal große Fenster, die das Sonnenlicht hereinließen, das sich jetzt über die Tischreihen legte. Kurz beobachtete Klara das flirrende Schattenspiel, das die Blättchen der Kletterrosen auf die Holzoberflächen warfen. Dann musste sie der Oberin auch schon wieder aus dem Speisesaal, quer über den Flur, zu den Behandlungsräumen von Dr.Voigtländer folgen. In drei hintereinanderliegenden Räumen standen Röntgenapparate und mehrere Höhensonnen. »Dreimal in der Woche werden unsere Kleinen hier bestrahlt«, erklärte Fräulein Martin knapp. »Dazu tragen sie spezielle Höhensonnenbrillen, damit das Licht ihre Augen nicht schädigt.«

Klara hätte sich diese seltsamen Apparate, die aussahen wie große Blitzgeräte auf Stativen, gerne noch genauer angesehen und ein paar Fragen dazu gestellt, aber die Oberin schien sich hier nicht lange aufhalten zu wollen. Sie drehte sich bereits wieder in Richtung Ausgang. »Dr.Voigtländer ist gerade mit dem Rad unterwegs und macht Hausbesuche in der Umgebung. Er wird Ihnen die Apparate, sollte es Sie interessieren, gerne noch einmal genau erklären. Ansonsten sind die Krankenschwestern und Jugendleiterinnen ja für die Betreuung der Kinder zuständig. Mit Ihren Schülerinnen werden Sie ohnehin genug zu tun haben.«

Klara machte ein aufmerksames Gesicht und ging hinter ihrer neuen Chefin her, die sich mit zurückgezogenen Schultern und steifen Schritten durch den Flur, zurück ins Vestibül bewegte. Wortlos stiegen sie hintereinander die große Treppe wieder hinauf, die sie vorhin schon mit Susanne hinaufgestiegen war. In der ersten Etage, direkt neben dem Absatz, öffnete die Oberin eine schmale Tür und ließ Klara hineinblicken. »Das ist unsere Seifenkammer.« In den Regalen standen aufgereiht Waschmittelkartons und eine Menge Seifenstücke. Die Tür ging wieder zu und die nächste wurde geöffnet. »Und hier ist unsere Wäschekammer. Diese beiden Kammern werden Sie zukünftig verwalten.«

Klara blickte begeistert auf die Stapel gemangelter Wäsche in den Regalen. Weiße Laken, weiße Bettbezüge, weiße Tischdecken, Handtücher und Waschlappen. Das war ein gut sortierter, großer Wäschevorrat! Von ihren ehemaligen Schulkameradinnen, die in anderen Heimen tätig waren, hatte sie von wesentlich übleren Bedingungen gehört. Und auch die Wäschekammer des Mädchenpensionats in Kassel war nicht derart ausgestattet gewesen. Wie fein und sauber hier alles war! Zum Schluss ging es in den Duschraum mit den langen Waschrinnen und in die großen Schlafsäle der Kinder. Entlang der Wände reihten sich die ordentlich gemachten Betten. Dazwischen führte ein schmaler Gang direkt auf einen kleinen Schreibtisch unterhalb des Fensters zu. Im Schlafsaal für die ganz Kleinen standen großzügig verteilt hübsche weiß lackierte Gitterbettchen und daneben immer ein Stuhl für die Schwestern. Auf manchen Kissen saß ein stumm vor sich hin blickender Teddy oder eine Puppe. Sorgfalt schien hier das oberste Prinzip zu sein.

3.

Nach dem Abendessen im großen Speisesaal folgte Klara Susanne hinauf ins private Wohnzimmer der Oberin, wo die wöchentlichen Versammlungen stattfanden. An diesen Abenden wurde mit der gesamten Belegschaft alles Wichtige rund um die Heimorganisation besprochen. Die Krankenschwestern in gestärkten Schürzen und weißen Hauben saßen auf den im Halbkreis angeordneten Stühlen. Zwei von ihnen hatten sich neben der Tür postiert, falls sie hinüber zur Isolierstation mussten, wo gerade nur eine der Haushaltungsschülerinnen über die schwer kranken Kinder wachte. Klara ließ ihren Blick schweifen. Auf dem Sofa vor dem hohen Bücherregal thronte Fräulein Martin, und neben ihr auf einem Hocker saß der ausgezehrt wirkende Dr.Voigtländer in einem offensichtlich nicht mehr ganz taufrischen grauen Dreiteiler. Er war Klara beim Abendessen vorgestellt worden, wobei er ihr allerdings nur flüchtig die Hand gereicht hatte, um sich dann wieder über seinen Teller zu beugen. Höflich war das nicht gerade gewesen. Susanne stieß Klara mit dem Ellenbogen an und wies auf zwei freie Hocker schräg gegenüber dem Sofa. »Die sind für uns.«

Die kleinen Tanten, wie hier die Kindergärtnerinnen genannt wurden, hockten dicht gedrängt auf einem niedrigen Podest am Fenster, auf dem auch der Nähtisch der Oberin stand. Die Jugendleiterinnen lehnten unbequem Schulter an Schulter zwischen Anrichte und Wanduhr. Bei so vielen Menschen war es seltsam, dass die Versammlung nicht unten im Speisesaal stattfand, wo wesentlich mehr Platz gewesen wäre. Als hätte Susanne Klaras Gedanken gelesen, beugte sie sich zu ihr und flüsterte: »Fragen Sie mich nicht, warum diese Veranstaltung immer hier oben in diesem engen Kabuff stattfinden muss. Es könnten wenigstens noch ein paar Stühle aus dem Esszimmer nebenan geholt werden. Aber das will Fräulein Martin nicht.«

Klara verzog keine Miene. Die Augen der Oberin ruhten nämlich gerade auf ihr. Erst jetzt erkannte Klara, dass auf ihrem Schoß ein kleiner Dackel lag, und rechts und links neben ihr hechelten auch noch zwei weitere braune Fellrollen. Susanne flüsterte: »Die Dackel kommen grundsätzlich mit aufs Kanapee. Sogar, wenn dafür ihre Angestellten stehen müssen. Wie man als kluger Mensch nur so danebenhauen kann!«

Als die Oberin ihren Blick wieder abwendete, traute Klara sich, schnell zurückzuflüstern: »Merkt sie nicht, dass das ein bisschen komisch ist?«

Susanne zog die Augenbrauen hoch. »Ein bisschen komisch? Diese Dackelchen rauben uns allen den letzten Nerv! Die sind immer mit dabei, egal, wohin sie geht. Die weichen ihr so gut wie nie von der Seite. Die haben wirklich eine ganz merkwürdige Vorliebe füreinander. Es ist schrecklich.«

Klara grinste, als Fräulein Martin sie wieder direkt ansah. Das Rot schoss ihr heiß in die Wangen. Sie versuchte, ein harmloses Gesicht zu machen. Aber sie musste entsetzlich angespannt aussehen. Die Oberin fragte quer durch den Raum: »Ist alles in Ordnung, Fräulein Möbius?«

Klara nickte eilig. Und Susanne sprang ihr prompt bei. »Fräulein Möbius wollte nur wissen, wie Ihre Dackel heißen.«

Fräulein Martin sah Klara und Susanne scharf an, dann wandte sie sich an die versammelten Frauen. »Wie Sie sicherlich schon wissen, meine Damen, haben wir eine neue Haushaltungslehrerin: Fräulein Klara Möbius wird ab morgen unsere Schülerinnen in Hausarbeit, Gesundheits- und Ernährungslehre unterrichten.«

Klara stand auf und lächelte in die Runde. »Ich komme aus dem Harz.« Mehr fiel ihr vor Schreck nicht ein.

Susanne bemerkte neben ihr: »Wunderbar! Ich komme aus Berlin! Heiße aber mit Nachnamen ›Stettin‹.«

Nun lachten alle und die kleinen Tanten, Krankenschwestern und Jugendleiterinnen stellten sich nacheinander kurz mit Namen vor und Klara versuchte, sich all ihre Namen zu merken. Auch wenn Susanne meinte: »Dafür haben Sie doch noch die nächsten Jahre Zeit!«

Nach der Versammlung beeilte sich Klara, hinauf in ihr Zimmer zu kommen. Nicht, weil sie müde war, sondern weil sie noch etwas für ihren sieben Jahre jüngeren Bruder zu erledigen hatte. Er wartete bestimmt schon ungeduldig darauf, dass sie ihm seinen Deutschaufsatz zum Thema »Mein Leben, mein Streben« fertig schrieb, in dem es darum ging, wie er sich seine Zukunft als Förster oder Pastor vorstellte. So lief das seit Jahren. Sie machte ihm die aufwendigeren Schulaufgaben. Seine Begründung dafür war: »Du bist einfach intelligenter als ich!«

Klara schaltete das Licht an. Sie setzte sich an ihren neuen Schreibtisch, holte ihre Bücher, Briefbögen und den Füller aus dem Rucksack und legte alles vor sich hin. Draußen, hinter der hohen Fensterscheibe, verschwand der Tag. Sommerliches Abendlicht senkte sich über die weite Rasenfläche und die Sträucher. Das tiefe Blau des Himmels hing dunkel um die Kronen der hohen Kiefern. Klara hörte die Amseln der Nacht entgegenzwitschern und ihr Gesicht spiegelte sich in der Scheibe. Sie knipste auch die Schreibtischlampe an und hatte gar keine Zeit, sich zu fragen, ob sie ihr Zuhause eigentlich vermisste. Ihr kleines Bücherregal. Die Berge, die ansteigenden und abfallenden Straßen von Lieberode. Die Gewissheit, dass ihre Mutter in der Küche das Essen für die Pensionsgäste zubereitete, ihr Vater im Wohnzimmer stöhnend über den Listen mit den Einnahmen und Ausgaben saß und ihr Bruder im Taubenschlag mit seinen gefiederten Lieblingen sprach. Klara schlug das Buch über Wald- und Forstwirtschaft auf, das sie sich in der Bücherei extra noch besorgt hatte. Es war nicht so, dass Kurtchen zu dumm gewesen wäre, seine Hausaufgaben selbst zu erledigen. Er war einfach nur zu bequem. Doch er schaffte es immer wieder, Klara glauben zu machen, dass sie die Verantwortung dafür trug, dass er reibungslos durch seine Schulzeit kam und sich ihre Eltern nicht auch noch um ihn Sorgen machen mussten. Die Hypothek auf das Haus und das Ausbleiben der Pensionsgäste machten ihnen schon genug zu schaffen. Kaum jemand hatte noch das Geld, sich ein paar Urlaubstage im Harz zu leisten und sich im schönsten Laubwald des Gebirges neue Spannkraft zu erwandern. Dabei nahm ihre kleine Heimatstadt einen der ersten Plätze unter den beliebtesten Luftkurorten Mitteldeutschlands ein!

Bevor Klara überhaupt ihren Füller in die Hand genommen und einen Blick ins Buch geworfen hatte, klopfte es schon. Verwundert drehte sie sich um. »Herein?«

Die Klinke wurde heruntergedrückt und Susanne steckte ihren Kopf zur Tür herein. »Schläfst du schon?«

»Nein.« Klara stand auf und machte einen Schritt auf Susanne zu. Sie wollte nicht, dass ihre neue Kollegin gleich mitbekam, dass sie Bücher über Forstwirtschaft las. »Ist etwas?«

»Nö.« Susanne ließ sich auf das kleine Sofa fallen und sprach Klara ungeniert weiter mit Du an. »Ich wollte nur gucken, was du abends so allein in deinem Zimmer treibst.«

Klara wandte sich kurz zum Schreibtisch um und wusste nicht, ob sie wahrheitsgemäß antworten sollte. Aber lügen wollte sie auch nicht. Also sagte sie: »Ich schreibe für meinen jüngeren Bruder den Deutschaufsatz. Er soll erklären, warum er Förster werden will – oder Pastor.«

Susanne machte große Augen. »Wirklich? So eine bereitwillige große Schwester hätte ich auch gerne gehabt! Dann wäre ich jetzt vermutlich Rechtsanwältin. Wie mein Bruder Hermann! Was gibt dein Bruder dir dafür? Sein Taschengeld?«

Klara schüttelte den Kopf. Sie wollte nichts von Kurtchen nehmen. Sie wollte nur, dass er durch die Schule kam und etwas Ordentliches studierte. »Mir fällt es ja nicht schwer.«

»Verstehe. Du bist also herrlich intelligent.« Susanne legte ihre Füße auf den kleinen Beistelltisch. So, als wäre das ihr Zimmer. »Ich war in unserer Familie immer die Dumme. Das Mädchen ohne Abitur. Was für ein Schreck für meinen Vater, für den Erfolg alles ist.« Sie lachte. Und es war ein echtes Lachen. Kein Lachen, das einen Minderwertigkeitskomplex verdecken sollte. »Dafür ist mein Bruder Hermann ein sehr wichtiger Mann geworden. Er macht für die ganzen UFA-Stars die Verträge. Für Willy Fritsch und Lilian Harvey. Sie war neulich erst zu Besuch bei meinen Eltern in Berlin, als ich auch da war, und da hat sie uns schon einmal etwas aus ihrem neuen Film vorgesungen. Sie ist wirklich entzückend.«

Klara nickte. Das klang nach Glamour. Nur kannte sie sich nicht besonders gut mit den UFA-Stars aus. »Ich glaube, ich weiß gar nicht, wie diese Schauspielerin aussieht.«

»Ins Kino gehst du wohl nicht so oft, was?« Susanne klopfte neben sich aufs Polster, zum Zeichen, dass sich Klara zu ihr setzen sollte. Diese junge Frau mit ihrem weißblonden Bubikopf war ganz anders als Klara. Sie schien aus wohlhabendem Hause zu kommen. Und sie schien es sich leisten zu können, auf jegliche Konventionen zu pfeifen. »Pflanz dich.«

Klara setzte sich neben sie aufs Sofa. Sie wusste nicht, ob sie sich durch den plötzlichen Besuch gestört fühlen oder ob sie sogar dankbar dafür sein sollte. Immerhin hielt Susanne sie gerade davon ab, sich für ihren Bruder in die deutsche Wald- und Forstwirtschaft einzulesen. Überhaupt hatte Klara Lust, ein wenig zu klönen und etwas über ihre Schülerinnen zu erfahren, die sie ab morgen unterrichten sollte.

Susanne stieß sie von der Seite an. »Ich brauche Wein. Hast du welchen da?«

Klara sah ihre neue Kollegin überrascht an und duzte sie jetzt einfach auch. »Du meinst Alkohol?«

»Was sonst?«

»Nein.«

Susanne rollte mit den Augen. »Alles muss man selbst organisieren. Moment, ich bin gleich wieder da.« Sie stand vom Sofa auf und verschwand aus dem Zimmer. Klara rührte sich nicht. Ihr ungläubiger Blick blieb an der geschlossenen Tür haften, bis sie wieder aufgestoßen wurde und Susanne mit einer Flasche Wein und ihrem Zahnputzbecher hereinkam. »Und, junge Frau? Wo ist Ihr Zahnputzbecher?«

»Den habe ich noch nicht ausgepackt.«

»Dann wird’s aber Zeit!« Susanne zog den Korken aus der halb vollen Flasche und füllte den Zahnputzbecher bis zum Rand, während Klara in ihrem Koffer nach dem Kulturbeutel suchte. Als sie ihren Zahnputzbecher gefunden hatte, stellte sie ihn vor Susanne auf das Beistelltischchen. »Aber bitte nicht so viel. Ich kann morgen sonst nicht unterrichten.«

»Da mach dir mal keine Sorgen. Auch im Vollrausch wirst du noch klarer im Kopf sein als deine Mädchen.« Sie kicherte und hielt ihren Becher hoch, um mit Klara anzustoßen.

»Wieso, was ist mit den Mädchen?« Klara nippte an ihrem Zahnputzbecher und es war wunderbar, in diesem sommerlichen Zimmer zu sitzen, während es draußen immer dunkler wurde, die letzten Amseln zwitscherten, nur die Lampe auf dem Schreibtisch brannte und sie mit dieser etwas überdrehten Kindergärtnerin Wein aus Zahnputzbechern trank.

»Wo soll ich anfangen?« Susanne legte ihre Füße wieder hoch und Klara machte es ihr nach, auch wenn es bei ihr zu Hause dafür mächtig Ärger gegeben hätte. Junge Frauen legten ihre Füße nicht hoch. Schon gar nicht neben eine Weinflasche auf einen Beistelltisch. Egal. Es war einfach gerade zu schön.

»Also, da hätten wir zum einen Lotte Trensinger. Wenn du sie fragst, woher sie kommt, dann sagt sie: ›Ich bin ein Schifferkind.‹ Ihr Vater hat einen Schlepper auf der Elbe und da ist Lotte bisher immer mitgefahren. Das merkt man ihr leider auch gewaltig an. Mit ihren fünfzehn Jahren ist sie ganz enorm zurück. Sie kann kaum lesen und sie schreibt entsetzlich falsch. In jedem Wort ist ein Fehler. Wenn sie das Wort dreimal schreibt, dann ist dreimal ein anderer Fehler drin.« Susanne lachte hell auf. Doch es war kein böses Lachen. Es war ein fröhliches Lachen von einer jungen Frau, die offenbar das Talent hatte, im Leben immer das Komische zu sehen. »Diese Lotte ist ein putziges Haus. Ich habe mir von ihr erzählen lassen, dass sie gerne auf dem Rand des Schiffes balanciert und herumgeklettert ist und dass sie überhaupt keine Gefahr kennt.«

Klara hatte ihren Becher zur Hälfte ausgetrunken und langsam machte sich der Wein in ihrem Kopf bemerkbar. Sie grinste. »Und was ist mit den anderen Mädchen?«

»Also …« Susanne atmete tief ein. »Zuerst solltest du dich mal darauf einstellen, dass sie mehr oder weniger alle aus schwierigen Verhältnissen kommen. Das sind keine wohlerzogenen Mädels, die mit weißer Serviette und Goldlöffel aufgezogen wurden. Die meisten haben schon Schlimmes erlebt.«

Klara grinste noch immer. Sie konnte nichts dagegen tun. Das war der Wein. Oder sie hatte bereits Susannes Begabung übernommen, in allem das Komische zu sehen. Das war durchaus lustig, aber gerade wenig angebracht. Nicht einmal Susanne grinste. Sie fuhr ernst fort: »Fritzchen Wolter hat sehr früh nacheinander ihre Eltern verloren. Zuerst wussten die Fürsorgerinnen nicht, was sie mit ihr anfangen sollten. Denn sie galt als ungemein eigensinnig. Ihre Mutter hatte sie als kleines Mädchen fürchterlich geschlagen und das gerne damit begründet, dass Fritzchen so schrecklich ungezogen sei. Schon als zweijähriges Kind! So ein Unfug! Die Mutter hatte überhaupt keine Ahnung von Kindererziehung. Eines Tages haben Nachbarn sogar beobachtet, wie sie das Mädchen zum Schlafen in einen dreckigen Kohlenkasten gelegt hat.«

Klara saß aufrecht. Das Gesicht starr. Den Zahnputzbecher stellte sie auf das kleine Tischchen. »Wirklich? Woher weißt du das?«

»Na, von den Fürsorgerinnen, die uns die Kinder und die Mädchen bringen.« Susanne setzte sich nun auch aufrecht hin und goss Wein nach. »Die Mutter soll sogar hin und wieder mit dem Feuerhaken zugeschlagen haben, sodass das kleine Mädchen blutete und überall am Körper schlechte Stellen hatte. Einmal hat sie ihr das Nasenbein eingeschlagen. Dadurch ist Fritzchens Nase ziemlich deformiert. Es ist für das arme Mädchen ein Glücksumstand, dass sie von uns ein wenig Selbstbewusstsein eingeimpft bekommt.«

Susanne hatte gerade ihren Satz beendet, da klopfte es an der Tür, und ohne auf eine Einladung zu warten, steckte eine junge Krankenschwester ihren Kopf mit weißer Haube zur Tür herein. Sie sah aufgeregt aus. Sie stotterte: »Verzeihen Sie vielmals die Störung. Ich suche Sie schon überall, Fräulein Stettin. Ich brauche dringend Ihre Hilfe unten auf der Kinderstation. In Schlafsaal 3 ist etwas Schreckliches passiert.« Die Krankenschwester klammerte sich an der Klinke fest, als würde sie sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.

Susanne war schon aufgesprungen und auch Klara stand sofort. »Kann ich irgendetwas helfen?«

»Das werden wir sehen.« Susanne lief an der Krankenschwester vorbei in den Flur hinaus und die matt erleuchtete Treppe hinunter in die erste Etage, wo sich die Schlafsäle der jüngeren Kinder befanden. Klara und die Krankenschwester eilten hinterher. Vor der Schlafsaaltür wartete Susanne, bis beide bei ihr waren. »Und worum geht es genau, Ilse?«

Jetzt wisperte die Krankenschwester. »Die Oberin darf nie davon erfahren! Bitte!«

Susanne nickte ungeduldig. »Jaja. Also, was ist?«

Ilse flüsterte: »Ich weiß, ich soll immer bei den Kindern stehen bleiben, wenn ich abends Fieber messe. Aber ich bin doch gerade allein, weil Schwester Marianne Ausgang hat. Während ich bei unserem kleinen Rolfi stand, hat eins der anderen Kinder nach mir gerufen, also bin ich kurz weg. Und als ich wieder zu Rolfi kam, um das Thermometer einzusammeln, war es nicht mehr aufzutreiben. Rolfi behauptet, das Thermo ist noch drin. Aber das glaube ich nicht. Ich habe gesucht und gesucht, im ganzen Bett, im Schlafanzug. Es ist weg.«

Susanne sah Ilse für einen Moment sprachlos an, als würde sie kurz überlegen, ob das gerade wirklich passierte. Oder ob sie einfach nur zu viel Wein getrunken hatte. Doch dann wurde ihr Gesicht plötzlich sehr ernst und sie sagte zu Klara: »Geh schon mal mit Schwester Ilse rein und setzt Rolfi aufs Töpfchen. Ich rufe den Doktor an.«

Klara und Ilse gingen leise in den abgedunkelten Schlafsaal, in dem zwei Dutzend schlafender Kinderkörper friedlich unter ihren Decken lagen. Am Ende des Raumes glomm das gelb-milchige Licht einer Schreibtischlampe. Klara und Ilse bewegten sich lautlos an den Betten entlang bis zum letzten, in dem ein kleiner, hellwacher Junge lag und sie aus großen Augen ansah. Schwester Ilse fasste ihn sacht an der Schulter und flüsterte: »Rolfi, ist das Thermo wieder aufgetaucht?«

Der kleine Junge guckte sie im Licht der Schreibtischlampe unglücklich an und flüsterte zurück: »Es ist noch da drin.«

»Bist du sicher?«

Er nickte. Ilse warf Klara einen flehenden Blick zu. »Bitte fragen Sie ihn auch noch einmal.«

Klara setzte sich zu Rolfi auf die Bettkante und nahm seine kalte Hand. »Ich bin Tante Klara. Ich bin neu hier. Ich freue mich, dass wir uns kennenlernen.«

»Hallo«, flüsterte Rolfi tapfer. »Ich freue mich auch.«

»Du weißt, dass wir das Thermometer wiederfinden müssen, damit es dich nicht verletzt?«

Er nickte.

Zu Schwester Ilse gewandt, fragte Klara: »Haben wir hier irgendwo ein Nachttöpfchen?«

»Sicher.« Die Schwester eilte davon und Klara sagte zu Rolfi:

»Ich hebe dich gleich hoch, dann setze ich dich auf das Töpfen und du musst versuchen, das Thermometer wieder herauszudrücken. Meinst du, das schaffst du?«

Rolfi nickte erneut. »Ich denke schon.«

Schwester Ilse kam mit einem Töpfchen wieder und Klara schlug die Decke zurück. »Na, dann komm mal her.« Sie schob ihre Unterarme unter die Knie und den Nacken, hob den Kleinen in seinem Nachthemd hoch und setzte ihn vorsichtig auf das Töpfchen. Schwester Ilse rückte sich den Schreibtischstuhl daneben. »Jetzt musst du drücken, Rolfi.«

»Mache ich ja«, antwortete der kleine Junge mit gepresster Stimme. Aber nichts passierte. Es war gespenstisch, in diesem Schlafsaal zu sitzen, mit all den schlafenden Kindern und Rolfi, aus dem das Thermometer wieder auftauchen musste. Vorher konnte er nicht wieder ins Bett. Es wurde immer später und Schwester Ilse beugte sich zu Klara hinüber und flüsterte, sodass der Kleine es hoffentlich nicht hören konnte: »Da ist Quecksilber drin! Und das ganze dünne Glas, das splittern kann!«

Klara räusperte sich und sagte leise: »Ich weiß.« Und zu Rolfi gewandt: »Du kriegst das hin, nicht wahr?«

4.

Klara saß am Tisch unterhalb der Treppe. Normalerweise saß sie nie hier, weil der Flur mit den Kalksteinfliesen viel kühler war als die anderen Räume im Haus. Doch hier konnte sie den neuen flachen Kassettenrekorder bequem an die Steckdose neben dem Tischbein anschließen. Auf ihrem Sessel im Wohnzimmer hätte sie ein Verlängerungskabel benötigt und das lag irgendwo unten in einem der vielen Kartons im Kellerregal. Inge hatte das Gerät gleich besorgt und zusammen mit zwei Leerkassetten zur Post gebracht. Sie hatte schon das Kabel des Handmikrofons in die dafür vorgesehene Buchse gesteckt und die Aufnahmetasten mit kleinen Aufklebern versehen. So konnte Klara heute Vormittag, nachdem sie das Paket in Empfang genommen hatte, gleich mit ihrer ersten Aufnahme beginnen. Ohne zu zögern, fand sie den Anfang und diktierte, bis ihr Mund trocken war. Sie legte das Mikrofon vor sich auf die gewebte Tischdecke. Sie atmete tief durch.

Es war damals ganz und gar keine gute Situation gewesen, an ihrem ersten Abend in Oranienbaum. Schwester Ilse und sie hatten schreckliche Angst um den kleinen Jungen gehabt. Und natürlich vor den Konsequenzen. Die Lage hatte sich auch nicht verbessert, nachdem Susanne endlich mit Dr.Voigtländer zurückgekommen war. Er hatte Kartoffelbrei und Weißbrot verordnet, das Rolfi grob kauen und runterschlucken sollte, und noch Sauerkohl, den sie Gott sei Dank in der Speisekammer gefunden hatten. Aber es war nichts passiert. Klara und ihre neuen Kolleginnen hatten im nächtlichen Schlafsaal voller Anspannung nebeneinander auf der Bettkante gesessen und mit Engelszungen auf Rolfi eingeredet. Zwischendrin war er immer wieder kurz auf seinem Töpfchen eingenickt und sie hatten aufpassen müssen, dass er nicht zur Seite wegkippte. Als sie schon fast verzweifeln wollten, hatte das Thermo plötzlich unten im Töpfchen gelegen.

Obwohl dieses Ereignis ihrer Gegenwart so fern war, sah Klara alles noch deutlich vor sich. Den kleinen Jungen in seinem Nachthemd. Das matte Licht auf dem Schreibtisch. Ihre Hausschuhe. Den Raum mit all den schlafenden Kindern in ihren Betten. Sie fühlte die Nähe ihrer Kolleginnen, die sich bemühten, ruhig zu bleiben. Sie hörte das sanfte Rauschen der Kiefern vor dem Fenster. So, als wäre all das gerade erst passiert, während sie mit klarer Stimme in ihr neues Handmikrofon gesprochen hatte.

Es war schön, wieder in Oranienbaum zu sein und sich jung und kraftvoll zu fühlen. Als läge das gesamte Leben noch einmal vor ihr. Zwei Kassetten würden niemals ausreichen, um all das aufzunehmen, was sie vor siebzig Jahren, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, und danach erlebt hatte. Es bedeutete ein hohes Maß an Konzentration, all das, woran sie sich erinnerte, in richtiger Reihenfolge und gut verständlich auf die Tonbänder zu sprechen, um ihren Kindern und vielleicht auch Enkelkindern begreiflich zu machen, wie eins zum anderen gekommen war. Noch waren ihre Erinnerungen harmlos. Klara tastete umständlich an dem Gerät herum, um ihre erste besprochene Kassette herauszunehmen. Die Hülle beschriftete sie blind mit einem Kugelschreiber. Oranienbaum / August / 1929. Hoffentlich war ihr Gekritzel später noch zu entziffern. Es war still um sie. Aus dem Wohnzimmer hörte sie das leise Ticken der Uhr.

Für einen Moment blieb sie noch am Tisch sitzen, dann erhob sie sich von ihrem Stuhl, streckte den Arm aus, machte ein paar tastende Schritte und griff nach dem Treppengeländer. Langsam stieg sie Stufe für Stufe die geschwungene Treppe hinauf. Oben, in Gustavs Zimmer, lagen vielleicht noch ein paar alte Kassetten in den Unterschränken. Klara war lange nicht mehr im Zimmer ihres Mannes gewesen. Am Schreibtisch, umgeben von seinen hohen Bücherregalen, hatte er nach der Schule immer gesessen und Klassenarbeiten korrigiert oder Tagebuch geschrieben.

Sie nahm die letzte Stufe und wartete, bis sich ihr Herz wieder beruhigt hatte. Ihre Kinder hatten recht. Mit den Jahren wurde es für sie zusehends beschwerlicher, diese Treppe hinaufzusteigen. Ihr Atem ging stockend. Sie lauschte. So, als wäre es tatsächlich möglich, Gustavs Papierrascheln zu hören. Klara machte ein paar Schritte über den dunkelblauen Nadelfilz, streckte wieder die Hand aus, um den Türrahmen zu ertasten. Links ging es den Flur hinunter zu den ehemaligen Kinderzimmern. Inzwischen waren daraus längst Gästezimmer geworden. Rechts ging es zu ihrem Schlafzimmer mit Schränken voller Medikamente und einem kleinen Ankleidezimmer mit Leseecke. Da hatte sie bis vor ein paar Jahren nachmittags oft mit ihrer beleuchteten Lupe gesessen und in ihren Büchern gelesen, zumindest solange sie noch ein wenig Text hatte entziffern können. Bis sich die blinden Stellen so weit ausgedehnt hatten, dass sie gar nichts mehr sehen konnte. Sie schob die Tür zu Gustavs Zimmer auf, wie sie es früher oft getan hatte, um in seiner Nähe zu sein.