Die katholische Schule - Edoardo Albinati - E-Book

Die katholische Schule E-Book

Edoardo Albinati

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Beschreibung

Eine Selbstbefragung à la Knausgård, ein Gedankenroman wie David Foster Wallaces Unendlicher Spaß – dieser Roman ist so komplex wie klug, so polemisch wie politisch, so bewegend wie bedeutend. Rom in den Siebzigerjahren, im gutbürgerlichen Quartiere Trieste ... Ein paar Ehemalige der Privatschule San Leone Magno begehen eines der brutalsten Verbrechen der Zeit. Edoardo Albinati ist damals auch auf diese Priesterschule gegangen. Vierzig Jahre lang hat er das Geheimnis seiner »schlechten Erziehung« gehütet. Nun erzählt er es, und zwar so, als würde ihm vom Grund eines tiefen Brunnens sein Spiegelbild entgegenblinzeln. Entstanden ist ein Roman von verblüffender Vielfalt. Es geht um die Teenagerzeit, um Sex, Religion und Gewalt; um Geld, Freundschaft, und Rache, um legendäre Lehrer und Priester, Krawallmacher, kleine Genies und Psychopathen, um rätselhafte Mädchen und Terroristen. Aus diesem Gemisch lässt Albinati eine versunkene Epoche unverklärt wieder aufleben. Doch er lässt es nicht bei der Erinnerung bewenden, sondern stellt sich den großen Fragen unserer Tage, analysiert Alltagsphänomene, leitet Entwicklungen her, liefert Prognosen – scharfsinnig, manchmal zornig und immer mit besonderem Augenmerk auf die Dinge jenseits des Scheins. »Ich habe alles gegeben, was ich hatte und nicht hatte, Geschichte, Gespenster, mein Schreiben ...« Edoardo Albinati

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Übersetzung aus dem Italienischen von Verena von Koskull Der Verlag dankt dem italienischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Zusammenarbeit, das die deutschsprachige Übersetzung dieses Werkes mit einem Zuschuss zu den Übersetzungskosten förderte. – Questo libro è stato tradotto grazie ad un contributo alla traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale.

Deutschsprachige Ausgabe:© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: Maria Luisa CorapiDatenkonvertierung: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

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INHALT

ERSTER TEIL

Christen und Löwen

ZWEITER TEIL

Flesh for Fantasies

DRITTER TEIL

Siegen heißt, euch leiden zu lassen

VIERTER TEIL

Interessenkampf unter ungleichen Bedingungen

FÜNFTER TEIL

Kollektiv M

SECHSTER TEIL

Die fehlende Schulter

SIEBTER TEIL

Vergeltungswaffe

ACHTER TEIL

Die Beichten

NEUNTER TEIL

Cosmo

ZEHNTER TEIL

Wie Bäume, die den Flusslauf säumen

Und dass der unreine Geist, der aus einem Leibe ausgefahren, sieben andere findet, die schlimmer sind als er.

BLAISE PASCAL, Abriss des Lebens Jesu Christi

ERSTER TEIL

CHRISTEN UND LÖWEN

KAPITEL I

Es war Arbus, der mir die Augen öffnete. Nicht, dass ich vorher nicht hingesehen hätte, doch konnte ich mir dessen, was ich sah, alles andere als sicher sein, vielleicht waren es Projektionen, um mir etwas vorzumachen oder mich zu beschwichtigen, und ich war unfähig, das, was sich mir tagtäglich bot und was man Leben nennt, in Zweifel zu ziehen. Einerseits nahm ich fraglos alles hin, was einem Jungen mit dreizehn, vierzehn, fünfzehn und in den darauffolgenden Jahren widerfährt, die zum Abschluss jener »Phase« führen (es wird immer von einer »Phase« geredet, von einem »Moment«, egal, wie lange er anhält, von einem »heiklen Moment« oder gar von einer »Krise«, der jedoch weitere und nicht minder heikle Momente oder kritische Phasen folgen, immerfort und ohne Pause, bis man groß, erwachsen, alt und schließlich tot ist); brav ernährte ich mich von dem, was der Alltag mir wie jedem Heranwachsenden auf den Teller lud, von den Dingen, die einen beschäftigen, während man größer wird und sich entwickelt (»Entwicklung«, ein weiterer Schlüsselbegriff der Erwachsenen, um die Schlösser der Jugend zu knacken, das schwierige »Entwicklungsalter«, die »Persönlichkeitsentwicklung«, und dann dieser entsetzliche intransitive Ausdruck »er ist schon entwickelt«, der die genitalen Geheimnisse mit einem zähen Siegellack überzieht), und die, wenn auch in willkürlicher Abfolge, zum unvermeidlichen Menü eines Teenagers gehören: Schule, Fußball, Freunde, Hochs und Tiefs, alles garniert mit Telefonaten und Tankfüllungen und Mopedstürzen – wer kennt das nicht.

Andererseits verspürte ich den Stich eines Zweifels. War das das Leben? War es mein Leben? Musste ich etwas tun, um es zu meinem zu machen, oder wurde es mir einfach zuteil? Musste ich es mir erarbeiten oder verdienen? Vielleicht war es ein Provisorium und würde bald durch das endgültige Leben ersetzt. Doch wäre es dann an mir, es zu ändern, oder würde jemand anderes es tun? Ein äußeres Ereignis vielleicht? Das Leben kann außergewöhnlich oder normal sein. Zu welcher Kategorie gehörte meines? Ehe Arbus auf den Plan trat, kamen mir diese Fragen, die ich nun wenigstens in Worte fassen kann – auch wenn ich jeden Vorsatz aufgegeben habe, sie beantworten zu können – nicht im Entferntesten in den Sinn, sie lösten sich auf, ehe sie an die Oberfläche meines Bewusstseins drangen, und ließen lediglich ein kribbelndes Unbehagen zurück.

Allein von Bewusstsein zu sprechen ist eine Übertreibung.

Allenfalls von dem Gefühl, auf der Welt zu sein. Zu existieren.

Wer diese mich umgebenden, betörenden Bilder projizierte, war ein Magier, ein Genie. Das muss ich ihm lassen. Seiner Lampe entstiegen makellose, süße, bestechend klare Träume, durch die ich mich selbstvergessen, ja nahezu berückt bewegte. Ich war also tatsächlich glücklich oder unglücklich. Tief sog ich die geheimnisvolle Luft der um mich errichteten Kulissen ein, die, sobald ich sie durchschritten hatte, sogleich wieder abgebaut wurden. Irgendetwas ließ mich vermuten, früher oder später müsse etwas Entscheidendes passieren, das die unbedeutenden bisherigen Ereignisse, statt sie Stück für Stück zu erklären, mit einem unwiderstehlichen Faden zusammenheftete wie die Seiten eines Romans, die man gierig bis zur letzten umblätterte. Und so würde sich mein Leben wie auch das aller anderen, das einer Fiktion nur ähnelte, jedoch deren zwingende Folgerichtigkeit besaß, endlich wahr und real nennen können …

Es waren klare, wiewohl äußerst verstörende Momente – ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben soll –, in denen ich der Verwirrung, die mich ergriff, mit schmerzlicher Deutlichkeit gewahr wurde. Sie nahm mich vollständig in Beschlag, ohne Raum für irgendetwas anderes zu lassen – Ideen und Gedanken beispielsweise. Ich konnte nur fühlen, sonst nichts. Ich spürte den Fluss des Blutes, das sich in meiner Brust staute, mein schmerzhaft geschwollenes Herz sozusagen, das wirklich richtig wehtat, als wollte es, um es im Stil altmodischer Romane auszudrücken, zerspringen, doch besaß dieser Schmerz eine eigentümliche Süße, die ebenso seltsam war wie alles andere.

Arbus war seit der Sechsten in meiner Klasse, doch bemerkte ich ihn erst gegen Ende der Sekundarstufe, einen Monat vor den Prüfungen …

Schüler hinken per se hinterher. Ausnahmslos alle. Die Lehrer übrigens auch, sie schaffen es nicht, den von ihnen erstellten Lehrplan einzuhalten, und geben dafür ihren Schülern die Schuld, was zugleich richtig und falsch ist, denn säßen in ihren Klassen nur kleine Genies, würden die Lehrer trotzdem hinterherhinken, und sei es nur um eine Seite, eine Zeile, einen Millimeter. Scheitern und Verzicht sind ihr Schicksal: Wie sollte es auch anders sein, wenn man beispielsweise den ganzen Kant im vorletzten Oberstufenjahr durchnehmen will. Es gibt keine vernünftige Erklärung dafür, und so muss man sich mit dem nebulösen Ausdruck »so ist es eben« behelfen. Ziele werden gesteckt, um nicht erreicht zu werden, es liegt in der Natur des Mittelpunktes, ihn zu verfehlen, weil die Kräfte unterwegs nachlassen, weil das Ziel sich unmerklich nach hinten verschiebt, weil die ursprünglichen Vorsätze zu optimistisch, vermessen oder abstrakt, die Hürden höher als gedacht sind oder weil es wegen Unwetter, Krankheit, Streik oder Wahlen zu überraschend vielen Ausfällen kommt. Ich weiß nicht, aus welchem Fachgebiet er kam oder worauf sich seine Erkenntnisse stützen, aber irgendein Forscher hat einmal errechnet, dass jedes Projekt durchschnittlich ein Drittel mehr kostet als ursprünglich vorgesehen und die dafür veranschlagte Zeit um mindestens ein Drittel überschritten wird. Das scheint eine unumstößliche Tatsache zu sein. Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen, die sich dieser eisernen Verzögerungsregel entziehen, und zu denen gehörte Arbus.

Arbus, mein Freund, alte Fischgräte. Du warst so dürr, dass man, wenn du so tatst, als würdest du Volleyball spielen, um in Sport keinen Sechser zu kriegen, beim Anblick deiner Ellenbogen Gänsehaut bekam. Vor Mitleid oder Abscheu. Ganz zu schweigen von deinen Schultern und Knien, die so spitz waren, dass sie sich fast durch das Gewebe deines schwarzen Trainingsanzugs mit den limonengelben Streifen bohrten, den du auch im Mai und selbst im Juni noch tragen durftest, um deine anfällige Gesundheit zu schützen. Du konntest noch so sehr tun, als würdest du dich aufs Spiel konzentrieren, alle wussten, dass, wäre der Ball zufällig in dem kleinen Eckchen Spielfeld gelandet, in das wir dich verbannt hatten, damit du der Mannschaft möglichst wenig schadest, du ihn nicht einmal kommen gesehen hättest, weil du dich in der Zwischenzeit in die Betrachtung der Sporthallendecke vertieft hättest, als wolltest du errechnen, wie viel Beton es brauchte, um sie zu stützen. Und hättest du, aufgeschreckt durch unser Geschrei, im letzten Moment doch bemerkt, dass du spielen musstest (Volleyball ist ein hysterischer Sport, bei dem es auf winzige Momente ankommt, auf die höchstens fünf Sekunden unverhofften Ballkontakt, die man pro Spiel hat), Mach, Arbus! Komm schon!! Arbus, Scheiiiiße!!, hättest du mit deinen schlaksigen Gliedmaßen herumgerudert in dem undefinierbaren Versuch, den Ball mit hochgerissenen Armen abzuwehren, von unten zu nehmen oder gar aufzufangen, was man instinktiv tut, wenn unversehens etwas auf einen zusaust. Und tatsächlich war genau das deine häufigste Reaktion, du fingst den Ball auf und drücktest ihn mit einem kleinen, verwirrten Grinsen an die Brust, als würdest du bei deinen Mitspielern nach Anerkennung suchen und, bestätigt von ihrem genervten Chor »O neeeee, Arbus, was soll der Scheiß!?«, im selben Moment kapieren, dass du dir den x-ten Patzer geleistet hattest. Es passierte ziemlich oft, dass dein Gesichtsausdruck mit deinen Gedanken und Gefühlen nicht im Einklang stand. Du lächeltest, während die anderen dich beschimpften.

Das Großartige an Arbus war, dass er sich nicht unterkriegen ließ, die Dinge perlten an ihm ab. Andere hätten so viel Spott und Häme nicht so gut ertragen, sie hätten ihren Klassenkameraden den Ball an den Kopf geworfen, wären auf sie losgegangen oder hätten wegen ihrer offensichtlichen Unfähigkeit losgeflennt wie sogenannte Weicheier. Wie oft habe ich mich wechselweise zu solchen Reaktionen hinreißen lassen, weil ich es einfach nicht ertrage, dem Urteil anderer ausgesetzt zu sein, es macht mich unwillig und aggressiv, selbst wenn es nett gemeint ist, von Kritik ganz zu schweigen. Doch Arbus habe ich nie bedripst oder getroffen gesehen. Jeder andere hätte in solchen Situationen gelitten und sie als demütigend empfunden, doch Arbus blieb seelenruhig, als wäre ihm alles völlig schnuppe, und selbst wenn dem nicht so war, ließ er sich nichts anmerken, seine Miene verharrte in einer Art Begriffsstutzigkeit, die mit dem rasanten Tempo seines Verstandes nicht mithalten konnte. Er brauchte ewig, bis es bei ihm Klick machte und ein Gesichtsausdruck den anderen ablöste. Aber offenbar war Arbus nun einmal so, er schien aus Einzelteilen zu bestehen, die nicht zueinanderpassten: ein brillantes Hirn, ein kaltes Herz, ein Gesicht, dessen Mimik zu schwerfällig war, um sich den Gegebenheiten anzupassen, und dessen Ausdruck deshalb oft aufgesetzt und daneben wirkte (was ihm, wie sich noch zeigen wird, eine Menge Ärger mit seinen Mitschülern, Lehrern und anderen Respektspersonen einbringen sollte, die seinen Ausdruck für frech und anmaßend hielten, während das, was er sagte, vernünftig und respektvoll klang oder umgekehrt).

Und dann war da natürlich sein völlig unkoordinierter Körper. Arbus war groß und mager, sein leicht slawisches Gesicht war von langen, schwarzen, fetttriefenden Haarsträhnen gerahmt, seine dicken Lippen waren zu einem kleinen, nervigen Dauergrinsen verzogen, und sein hochintelligenter Blick versteckte sich hinter einer Brille, die dem irren Wissenschaftler aus Science-Fiction- oder Spionagefilmen alle Ehre gemacht hätte, mit flaschenbodendicken Gläsern, die die Augen riesenhaft verzerren, erst recht so wässerig blaue, wie es die von Arbus waren und noch immer sind, denn Arbus lebt, da bin ich mir sicher, ich habe Beweise, auch wenn ich nicht weiß, wo er wohnt und was er macht.

So blitzschnell, wie er lernte (um etwas zu begreifen und den theoretischen Stoff in den Aufgaben anzuwenden, brauchte er halb so lang wie ich und ein Viertel oder ein Zehntel so lang wie die anderen), verlernte er auch wieder. Das heißt nicht, dass er es vergaß, er wandte sich lediglich etwas Neuem zu. Kaum hatte er etwas begriffen, wurde es mit einem Schlag uninteressant. Am Ende des Schuljahres entleerte er sich, um Neues aufnehmen zu können. Wer Theorien verschlingt, scheidet sie wieder aus. Sie hinterlassen unsichtbare Spuren im Hirn, als wollten sie es weiten, um für den Durchzug neuer, komplexerer Strukturen Raum zu schaffen. Eine so schnelle Auffassungsgabe hat es nicht nötig, Wissen einzulagern.

Schon in der Mittelstufe verblüffte Arbus die Priester und uns, wenn er nach vorne ging und sämtliche Beweisschritte eines erst wenige Minuten zuvor erklärten Lehrsatzes fehlerfrei an die Tafel schrieb. Er zeichnete Diagramme und ließ die Körper rotieren, als würde er sie tatsächlich von allen Seiten zugleich betrachten – von wegen Kubismus! Kaum hatte er aufgehört, die Kreide mit nervösem Klackern und ohne ein einziges Mal innezuhalten, über die Tafel quietschen zu lassen, stand er reglos mit hängenden Armen da, das Gesicht halb hinter den Haarsträhnen verborgen, und stierte stumm ins Leere, als bräuchte er weitere Anweisungen, um sich zu rühren oder etwas von sich zu geben. Wie ein Roboter, den man bis zum nächsten Kommando auf Stand-by geschaltet hat. Doch lag darin weder Langeweile noch Ungeduld, sondern allenfalls das Gegenteil, nämlich Gleichgültigkeit. Schließlich war das Problem gelöst, was gab es dem noch hinzuzufügen? Da wir anderen bei der ersten Ausführung unseres Mathematiklehrers nicht das Geringste begriffen hatten, verriet uns nur das Staunen auf dessen spitzem Gesicht, dass Arbus alles richtig gemacht hatte. Besonders erfreut schien der Priester darüber nicht zu sein. Diese Mühelosigkeit konnte einen fast glauben lassen, die Arbeit des Lehrers sei überflüssig. Menschen wie Arbus konnten gemütlich zu Hause bleiben, auf dem Bett herumlümmeln und ein halbes Stündchen im Schulbuch blättern, und schon hatten sie den Stoff eines ganzen Monats intus. Ob sie in die Schule gingen oder nicht, machte letztlich keinen Unterschied.

Vielleicht wäre es naheliegender gewesen, den Klassenletzten, den Krawallmacher oder den chronischen Sitzenbleiber über Arbus und seine Geschichte des erkannten Genies schreiben zu lassen, um den Kontrast besonders deutlich zu machen. Stattdessen werde ich sie schreiben, klug, begabt, wenn auch nicht so begabt, und vor allem zu farblos, um mich wirklich hervorzutun, genau wie diese jungen Tennisspieler mit der fantastischen Rückhand, denen Experten eine strahlende Zukunft prophezeien und für deren legendäre Erfolge man die Hand ins Feuer legt, doch weil ihnen irgendetwas fehlt, vergeht Jahr um Jahr ohne einen einzigen bedeutenden Turniersieg. Was fehlt ihnen? Der Biss? Der Mut? Die Ausdauer? Die Eier? Der Killerinstinkt? Wie wollen wir diese unsichtbare Gabe nennen, ohne die alle sichtbaren Stärken wenig nützen? Nicht von ungefähr gibt es den Ausdruck »Klassenprimus«, vom Klassenzweiten, -dritten oder -fünften ist dagegen nie die Rede, also von Zipoli und Zarattini, von Lorco und mir, die aufgrund einzelner Leistungen im Ranking auf- oder abstiegen, es in die Top Ten der Streber schafften oder rausflogen, ohne dem Topgesetzten Arbus, dem unangefochtenen Champion in jeder Disziplin, trotz der sporadischen Treffer, die wir mit abgeschriebenen Hausaufgaben oder bei mündlichen Tests landeten, weil wir rein zufällig zum einzigen Thema befragt wurden, das wir gelernt, oder zum letzten, das wir noch im Kopf hatten, auch nur ansatzweise gefährlich zu werden. Daher unsere unvermeidlichen Aufs und Abs. Arbus’ Noten hingegen waren rundweg beeindruckend, seine Ergebnisse bewegten sich immer im obersten Viertel, und häufig waren die Lehrer gezwungen, mit dem großen, alten Schultabu zu brechen – der Eins plus, der Zensur, die so viel heißen sollte wie: Vollkommenheit. Allein die Vorstellung, sie ins Klassenbuch zu schreiben, stürzte die Lehrer in Gewissenskonflikte, und tatsächlich passte sie nicht einmal in das dafür vorgesehene Kästchen. Doch selbst die Reaktionärsten unter ihnen, die auf das Argument pochten, »Wenn ich dir eine Eins plus gebe, was würde ich dann Manzoni geben?«, mussten einsehen, dass es einfach unmöglich war, Arbus nicht die Bestnote zu geben, egal, ob man sich in Spitzfindigkeiten und astronomische Vergleiche mit altchinesischer Sternkunde oder Descartes verstieg. Ich selbst war nie einer von denen, die nächtelang über den Büchern hockten, doch Arbus war es noch viel weniger, und ich könnte schwören, dass er zu Hause keinen Strich für die Schule tat. Lernen ist sowieso öde.

Erst sehr viel später sollte ich herausfinden, dass eines der wenigen Dinge, mit denen sich Arbus ernsthaft und systematisch befasste, die unterschiedlichen Arten des Tötens waren. Ich weiß nicht, woher diese schräge Leidenschaft rührte, war er doch der sanftmütigste und harmloseste Kerl, den man sich vorstellen konnte; zumal in jenen Jahren, die, wie wir im Laufe der Geschichte feststellen werden, von einer eigentümlichen Vorliebe für gewaltsame Unterdrückung nicht nur durch diejenigen geprägt waren, von denen man sie traditionsgemäß erwartet, also durch die Reichen (qua ihrer Stellung), die Armen (um zu überleben) und die Kriminellen (weil ihre Veranlagung oder der Beruf es mit sich bringen), sondern auf punktuelle, individuelle und persönliche Weise durch alle. Zwar hätte man Arbus weder aggressiv noch gewalttätig nennen können, doch schon damals (auch wenn ich es erst sehr viel später, gegen Ende der Gymnasialzeit, erfuhr) hegte er ein ausgeprägtes Interesse für Tötungen jeder Art und mit jeglichen Mitteln und Waffen, vor allem für den Krieg, der in puncto Quantität und Vielfalt des Tötens die größte Bandbreite liefert, aber auch für Ritual- und Opfermorde, Tötungen aus Notwehr oder Rache oder bei Gangsterfehden oder um einen lästigen Ehemann oder eine untreue Ehefrau loszuwerden oder aus schierer Grausamkeit oder zur gewissenhaften Vollstreckung eines Todesurteils. Wo immer ein Mensch aus welchem Grund oder Zweck auch immer einem anderen Menschen das Leben nahm, war Arbus’ Interesse geweckt. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass mein Klassenkamerad sich auch für das extreme Gegenteil interessierte (offensichtlich zogen Gegensätze ihn an), nämlich dafür, wie man es schafft zu überleben.

In der Kindheit sind Morde ohnehin allgegenwärtig, zwar meist nur im Spiel, doch macht sie das nicht weniger grausam. Jedes Mal murksten wir einen Haufen Gegner ab, und fast immer mussten wir irgendwann selbst dran glauben. Die Geschichte verlangte danach. Wohl kaum eine Szene habe ich im Leben öfter gemimt als den Revolverhelden, der sich, von einer Kugel getroffen, zusammenkrümmt. Es gab unzählige Arten und Geschwindigkeiten zu fallen, mit angezogenen Beinen, taumelnd, die Hände gegen die Brust gepresst oder mit auseinandergerissenen Armen, und dazu das Hinstürzen oder rücklings Umkippen, gefolgt von Zuckungen und dem letzten Versuch, den Schuss zu erwidern, ehe man sein Leben aushaucht. Mit vor Blut und Staub vernebeltem Blick war es schwer, richtig zu zielen, und oft ging der Treffer ins Leere. Dem Schicksal des Spiels entkommt man nicht. Die Hand fiel kraftlos zu Boden, und nach einem letzten Zucken erschlafften die zu einer Pistole geformten Finger für immer. Wir haben Ströme von Blut vergossen, allen voran unser eigenes, es war eine echte Schule fürs Leben, und bei Lichte besehen, ist es einigermaßen verwunderlich, dass nur so wenige aus dem Spiel Ernst gemacht und damit echte Opfer gefordert haben. Nach all den Büchern, Filmen und Spielen, die sie verherrlicht, und all den Darstellungen im Fernsehen, die uns jahrzehntelang mit ihr gefüttert haben, ist es schon erstaunlich, wie selten man tatsächlich zu Gewalt neigt. Mit zwölf Jahren hatte ich bereits Tausende Menschen umgebracht oder sterben sehen. Ich hatte an Schießereien und Beerdigungen teilgenommen und Blutbäder angerichtet. Heutzutage reichen dazu schon ein paar Sessions eines x-beliebigen Videospiels, und man schickt die im Gestrüpp lauernden Drecksäcke allesamt »zur Hölle«. Man bläst sie vom Bildschirm. Die Feinde haben sich verhundertfacht, und die Instrumente, um sie zu zerstören, sind perfekter denn je.

Ich weiß nicht, ob sich der erwachsene Arbus je diesen hyperrealistischen Spielen gewidmet hat, die höchste Wahrscheinlichkeit mit höchstem Irrwitz verbinden. Vermutlich würde ihm diese abstrakte, überwältigende und dennoch gefühllose Computerwelt gefallen. Ich hatte immer den Eindruck, Arbus’ Leben würde nur in seinem Kopf stattfinden und deshalb keine Grenzen kennen. In den verborgenen Verknüpfungen seines Hirns nahmen die Dinge Gestalt an. Und zwar sämtliche Dinge. Hätte es den Begriff damals schon gegeben, hätte man tatsächlich sagen können, mein Freund lebte in einer virtuellen Welt. Im schützenden Kokon seiner Intelligenz spielte sich sehr viel mehr ab als in der Alltagsroutine des hochbegabten Jungen, dessen Tagesablauf nur Schule, Klavierstunden und Rückengymnastik an mit Riemen und Eisenfedern gespickten Geräten kannte, die an Folterinstrumente erinnerten und verhindern sollten, dass seine zu schnell gewachsene Wirbelsäule sich verkrümmte. Womit wir wieder bei der Entwicklung und ihren Nebenwirkungen wären. Ein unkontrollierbares und nicht sonderlich begeisterndes Phänomen, das sich allenfalls in einer Markierung an der Wand niederschlägt, die zwölf Zentimeter über der vom vergangenen Jahr liegt. Na toll. Doch in Arbus’ Kopf gab es genug Platz für alle erdenklichen Themen und Abenteuer, nichts wurde von vornherein als zu schwer, zu abwegig, zu gefährlich oder zu gewagt ausgeschlossen. Arbus’ Verstand war hemmungslos, machte vor nichts halt, kannte keine Grenzen und überwand sie, ohne es überhaupt zu merken. Für ihn war alles vorstellbar, selbst das Entsetzlichste.

Ich weiß noch, wie wir im Unterricht einen Schriftsteller durchnahmen, der als eine Art makabren, todernst formulierten Scherz (ob er es ernst meinte oder nicht, war nicht ganz klar) den Vorschlag gemacht hatte, Kinder an das hungernde Volk zu verfüttern. Bekanntermaßen erscheint das, was einem in der Schule geboten wird, allen voran die humanistischen Fächer, auf den ersten Blick zumeist sinnlos, übertrieben oder absichtlich provokant. »Die spinnen doch«, möchte man jedes Mal sagen, wenn es um eine philosophische oder literarische Strömung oder um Geschichte geht: Der Pharao, der das Meer auspeitschen ließ, die Zirbeldrüse, die Theorie, dass eine Katze zugleich lebendig und tot sein kann, Astolfos Ritt zum Mond, wo das Hirnschmalz der Wahnsinnigen in Ampullen aufbewahrt wird, ein Mumienchor, der um Mitternacht singt, die Monaden »ohne Türen und Fenster« und dann der große Politiktheoretiker, der behauptet, man solle seine Feinde zum Abendessen einladen und anschließend erdrosseln … Hoch angesehene Persönlichkeiten, die sich eine nach der anderen aufhängen, ihre Kinder fressen, die Mutter vögeln oder sich vergiften, weil sie glauben wiederaufzuerstehen, das Mehr und das Weniger, die Letzten werden die Ersten sein, Leben und Tod sind das Gleiche und so weiter und so fort.

Als der Lehrer uns erklärte, der Verfasser des makabren Vorschlages sei derselbe, der Gullivers Reisen geschrieben hatte, war uns klar, dass der Typ sowieso gern dick auftrug, und mit der gewohnten Dosis Skepsis, die man sich als Schüler gegen die x-te abgedrehte These verabreicht, beruhigten wir uns wieder. Der Einzige, der diese Überlegung vernünftig, wenn auch schwer umsetzbar fand, war natürlich Arbus. Am Ende musste er zugeben, dass sie abwegig war, allerdings nur aus hygienischen Gründen.

Wir waren ziemlich fantasielose Träumer. Die größten Anregungen lieferten das Fernsehen und schmutzige Witze, deren Hintersinn ich zugegebenermaßen nur selten begriff. Ich lachte und tat so, als hätte ich sie geschnallt, dabei hatte ich nur geschnallt, an welcher Stelle man lachen musste. Wie die vollständige Nacktheit gibt es auch den vollständigen Sinn. Ich erahnte ihn allenfalls und hoffte, mit meiner Ahnung richtigzuliegen. Meine einsamen Bemühungen, mir auf das Unbekannte einen Reim zu machen, führten zu kuriosen Entdeckungen und haarsträubenden Missverständnissen, von denen einige bis heute nicht richtiggestellt wurden. Erotische und wissenschaftliche Autodidaktik gehen Hand in Hand. Weil mir meine Unwissenheit peinlich war und Nachfragen noch peinlicher, wusste ich mit zwölf beispielsweise nicht, was das Wort »Präservativ« bedeutete, und einen ganzen Sommer und Herbst hindurch war ich überzeugt, es handele sich um eine Art Schmiermittel, das wie Nasentropfen in kleinen braunen Fläschchen aufbewahrt wurde. Was genau man damit anstellte, war mir schleierhaft. Ich weiß nicht, wie ich zu dieser Schlussfolgerung gekommen war. Einige Schulkameraden waren auf diesem Gebiet ein ganzes Stück weiter und hinkten dafür auf anderen hinterher. Die Jugend vollzieht sich im Zickzack, man könnte sogar sagen, jenes Alter zwischen zwölf und fünfzehn Jahren hat nichts mit dem zu tun, was man sich gemeinhin darunter vorstellt; es versammelt die unterschiedlichsten Verhaltensweisen und Erfahrungen und vor allem physische Körper jeder Größe und Beschaffenheit und jeden denkbaren und undenkbaren Geschlechts, die nur während der Pubertät existieren, Komponenten, die nichts miteinander zu tun haben und das genaue Gegenteil voneinander sind, der reinste Widerspruch, weshalb ein barbarischer Geist jene Jahre beseelt, und die löcherig gewordene Fantasierüstung aus Kindertagen wird mit Bruchstücken einer Zukunft geflickt, die man sich immer futuristischer ausmalt, als sie tatsächlich sein wird.

Jedes Spiel verlangte nach Preisen und vor allem nach Strafen, für gewöhnlich gibt es am Ende einen Preis für einen Gewinner und dazu haufenweise während des Spiels erteilter Strafen, damit möglichst jeder was abbekommt, und so wartet jeder Lebensabschnitt mit eigenen Bestrafungen auf: Das, was uns gerade am wichtigsten ist, wird uns weggenommen, und das, was uns die größte Angst oder Peinlichkeit bereitet, piesackt uns so lange, bis es unter allgemeinem Gelächter an die Oberfläche kommt. Man »zahlt Pfand« und tut Buße. Demütigung kann eine Strafe sein, der Schlag ins Gesicht, wenn einem das Geld für den Pausensnack geklaut oder man gezwungen wird, Oboe zu lernen; und mit den Sexspielchen gehen natürlich die sexuellen Strafen los, von denen die übelste die Ausgrenzung ist. Die Zurückweisung, und mag sie noch so liebenswürdig sein. Das ist wahrlich noch schlimmer als das zwanghafte Dazugehören. Vielleicht versuchte ich deshalb, mit den Versautheiten Schritt zu halten, mit der eher verbalen denn visuellen Pornografie, auch wenn das bedeutete, mir auf alles selbst einen Reim machen zu müssen. Auf die Stadien und Techniken. Auf das Geheimnis, das sich in den Sexbeilagen verbarg, die in die Zeitschriften eingeschweißt waren, damit kleine Jungs am Kiosk nicht die Nase hineinsteckten. Gott, was waren wir ahnungslos und unterentwickelt! Die ganze Welt hatte sich verschworen, um uns in diesem Zustand zu halten, und die Priester, unsere archaischen Lehrer, waren am Ende die Einzigen, die etwas unternahmen, um uns aus diesem Limbus zu retten. Und zwar mit allen Mitteln.

»Keiner rührt sich! Wer hat euch das Präservativ gegeben?«

Er hatte tatsächlich »Präservativ« gesagt, im Singular. Ich hatte geglaubt, es handelte sich um eine Arznei oder immerhin – wer weiß, wieso – um eine Flüssigkeit, um den wertvollen oder gefährlichen Inhalt eines Fläschchens, den man mit der Pipette dosierte wie ein Gift, wie Opium vielleicht. Als ich später ohne nähere Erklärungen erfuhr, dass es sich um ein Mittel zur Empfängnisverhütung handelte, und trotzdem grundlos an der Vorstellung festhielt, es müsse flüssig sein, stellte ich mir vor, man trüge es tröpfchenweise auf den Schwanz auf …

Sollte ich Arbus’ Geschichte von Anfang an erzählen, käme ich in ernste Schwierigkeiten, denn wie bereits erwähnt, war er in der Klasse lange Zeit so unauffällig wie ein Stein in der Wüste. Starr, gelblich, geradezu leblos. Eher Reptil als Stein. Dank seiner Mimikry blieb er fast die gesamte Mittelstufe gänzlich unbemerkt. Doch als er nach und nach populär zu werden begann (damit wir uns richtig verstehen: relativ populär, denn ehrlich gesagt, war Arbus in der Schule nie beliebt, sondern eher das Objekt voyeuristischer Neugier, über das man tuschelte und das man wie ein Phänomen gleichsam ehrfürchtig aus der Ferne betrachtete), als Arbus also aufgrund seiner unglaublichen intellektuellen Fähigkeiten berühmt wurde, ging es mit den Legenden und hyperbolischen Sprüchen los, nach dem Motto »Arbus kennt keinen Anfang und wird kein Ende haben« oder »Er ist das Wort«, und nach den ersten Philosophiestunden wurden die Lehrsätze aus dem Schulbuch auf ihn übertragen, was sie übrigens endlich verständlich machte. Der des »unbewegten Bewegers« von Aristoteles passte beispielsweise wie die Faust aufs Auge und veranschaulichte die Vorstellung einer unerschütterlichen Macht perfekt. Normalerweise hielten sich die Lehrer nicht damit auf, ihn aufzurufen, weil er sowieso die richtige Antwort wusste. Die wenigen Male, die er drankam, gab es immer jemanden, der aus den hinteren Reihen ein feierliches »Ipse dixit« nachschob. Außerdem bekam er die absurdesten Spitznamen verpasst, vornehmlich Begriffe aus dem Griechischen oder Fremdwörter, und so wurde er, jeweils passend zum Lehrplan, Apeiron, Mantisse, Gnomon, Mumie und Synapse genannt.

Pennälerhumor ist (oder war) nie besonders geistreich. Er ist fantasielos und schöpft fast ausschließlich aus dem, was er direkt vor der Nase hat, also aus den Schulbüchern und dem Unterricht. Er schrumpft das Universum auf die Größe eines Bignamino-Heftchens zusammen und versucht beharrlich, es noch weiter einzudampfen und zu miniaturisieren, mit dem gleichen lächerlichen Perfektionstrieb, mit dem manche Schüler vor einer Klassenarbeit ganze Kapitel in mikrometerkleinen Buchstaben auf winzige Zettelchen schreiben, die in das Röhrchen eines BIC-Kulis passen. Eine Technik wie aus einem Spionagethriller, die so aufwendig ist, dass es schneller wäre, die Kapitel einfach zu lernen. Das Ergebnis waren Reime und platte Witzchen. »Der Sophokles, der kneift ganz kess Euripides ins Prachtgesäß …« (Eselsbrücken haben immer diesen angestaubten, biederen Ton) »›Du irrst, mein Guter!‹, sagt indes der weise Mann Thukydides, ›denn keiner hat ’nen Arsch so groß wie unser Freund Aischylos.‹« Derselbe Blödsinn, den schon unsere Väter genauso dämlich kichernd aufgesagt haben. »Dies ist Lavinia, deine Braut/ die Maid ist ordentlich versaut.«

Zu Arbus’ und meiner Zeit war Schule in vielerlei Hinsicht noch wie nach dem Krieg (wie lange hat diese elende Nachkriegszeit eigentlich gedauert, und vor allem, wann war sie endlich vorbei?), und sie sollte sich vor unseren Augen, besser gesagt, unter unseren Füßen verändern: Als wir in die Schule kamen, sah es aus, als würde sie auf alle Ewigkeit so bleiben, und als wir sie verließen, hatte sich alles verändert, die Welt, die Schule und natürlich wir; doch auch die Priester, die sie führten, waren nicht mehr dieselben, sie waren nicht mehr die ausgemergelten Betbrüder, die aussahen wie spanische Märtyrer, in deren Blicken ein unergründliches Feuer glomm. Sie hatten sich womöglich am meisten verändert. Nur die Soutane blieb die Gleiche.

Unsere Schule, das Istituto San Leone Magno, war eine katholische Privatschule mit monatlichem Schulgeld, an der vor allem in den Grundschulklassen fast ausschließlich Priester unterrichteten. In der Mittel- und Oberstufe nahm die Zahl der weltlichen Lehrer zu, und in den letzten Klassen waren sie in der Mehrheit. Man könnte daraus schließen, dass die Priester nur für die Vermittlung einfacher Grundfächer taugten (Lesen, Schreiben, Rechnen), oder aber, dass sie sich auf die ersten Schuljahre konzentrierten, weil diese in jeder und nicht zuletzt in religiöser Hinsicht, was ihnen und den Schülerfamilien (nicht allen, wie man sehen wird) besonders am Herzen lag, die entscheidendsten sind. Vermutlich trifft beides zu. Die Schule befand und befindet sich noch immer in der Via Nomentana auf der Höhe der Kirche Santa Costanza, also am östlichen Rand des Quartiere Trieste, wo die lange, baumbestandene, vor Verkehr und Romantik brodelnde Via Nomentana verläuft, die an der Porta Pia, dem Einfallstor der Bersaglieri, endet. Die wesentlichen Ereignisse dieser Geschichte sollten sich in dem Geviert zwischen Via Nomentana, Tangenziale Est, Via Salaria und Via Regina Margherita abspielen. Inzwischen wurde die Schule aus ökonomischen Gründen oder wegen zu geringer Schülerzahlen, was das Gleiche ist, teilweise umgewidmet und verkleinert, und in den direkt an der Nomentana gelegenen Gebäuden, in denen damals die Gymnasialklassen untergebracht waren, befindet sich heute eine Universität, von der ich, ehe ich das Schild am Tor gesehen habe, das nur wenige Schritte neben dem Eingang des von mir mehrmals wöchentlich genutzten Schwimmbades liegt, noch nie etwas gehört hatte. Aber in der Zeit, in der sich diese Geschichte zuträgt, galt das SLM als hochmoderne Schule.

KAPITEL II

Manche behaupten, der Kult der Jungfrau Maria sei ein archaisches Überbleibsel der einst mächtigen matriarchalen Religionen, die die männlichen Gottheiten dominierten und ihnen den Aufstieg verwehrten. Andere sehen in ihm die ebenso symbolische wie wirkungsvolle Reduzierung der Frau auf ihre ausschließliche Rolle als Mutter, Herzensmutter, Schmerzensmutter. Wieder andere deuten ihn als das einzige wertvolle Zugeständnis eines durch und durch männlich geprägten, von Vater, Sohn, Propheten und Patriarchen beherrschten Monotheismus an die Weiblichkeit und ihren entscheidenden Anteil daran, dass die Welt nicht nur existiert, sondern menschlich und bewohnbar ist – man könnte also sagen: Ein Glück, dass es unter all diesen krakeelenden Bartträgern eine Frau gibt. Immerhin. Um die Schande, die ihre Stammmutter über ihr Geschlecht gebracht hat, wettzumachen. Aus all diesen Gründen hatte sich die Ordensgemeinschaft des SLM der Jungfrau verschrieben, und zudem lag es natürlich nahe, dass über die schulische Erziehung kleiner und großer Jungs eine Mutter wachte, die schönste, einfühlsamste, langmütigste und nachsichtigste Mutter von allen, die jedoch (wie das herrliche Bild La Vierge corrigeant l’Enfant Jésus von Max Ernst zeigt) im Bedarfsfall auch züchtigen konnte, wiewohl gänzlich lauteren Herzens. Es ist schwer vorstellbar (obgleich die pädagogischen Strömungen, die in jenen Jahren ihren Anfang nahmen und zu einer allgemeinen Selbstverständlichkeit geworden sind, das exakte Gegenteil behaupten), dass Erziehung ohne Strafe auskommt. Unabhängig von ihrer Angemessenheit und der durchaus fraglichen abschreckenden Wirkung liegt ihr Zweck nämlich darin, im zu Recht oder Unrecht Bestraften einen leistungsfördernden Unmut zu wecken. Strafen sollen den Widerstand herausfordern und stärken, statt ihn zu brechen. Wer unter ihnen einknickt, lässt sie zu sinnlosen Demütigungen werden, über die man sich lustvoll beklagen kann. Allen anderen sind sie Prüfungen, die es zu bestehen gilt, Herkulesaufgaben, die Kräfte freisetzen, von denen man ungläubig feststellt, dass man sie besitzt und nutzen kann. Erst die Auflehnung gegen Strafe bringt die Kraft, die Intelligenz und den Stolz in Wallung, die sonst ungeahnt in einem schlummern. Es wird gern unterschätzt, dass die Moral der Moral vorausgeht, auch wenn sie sich gänzlich mit ihr identifiziert, und dass zu ihren Gemeinsamkeiten der durch Unterdrückung hervorgerufene Unwille gehört. Er ist eine einfache chemische Seelenreaktion. Weder Revolutionäre, Patrioten und Wissenschaftler noch einfache Bankangestellte, Krankenschwestern, Anwältinnen und Hautärzte würden es je zu etwas bringen, wenn sich ihnen nicht hin und wieder jemand in den Weg stellen und sie wie beim Gänsespiel aus zumeist fadenscheinigen, läppischen Gründen zurück auf Los schicken würde. Eine Initiation muss zumindest in Teilen schmerzhaft sein.

Die Priester des SLM waren mit den Tugenden der Jungfrau Maria bestens vertraut und wussten sie bei ihrer Lehrtätigkeit, zu der sie sich berufen sahen, fruchtbar zum Einsatz zu bringen. So, wie es Ritterorden und Bettelorden gibt, gab es die Ordensbrüder des SLM, deren Mission das Unterrichten war. Natürlich war es eigenartig, dass die Lehren der Schutzheiligen von einer durchweg männlichen Gemeinschaft praktiziert wurden und dass die Empfänger dieser liebevollen Zuwendung ebenfalls ausschließlich männlich waren. Lehrer und Schüler des SLM, allesamt männlich, mit einer einzigen großen Mutter und Königin: eine Art Bienenstock. Wie emsige Gärtner, die Kürbisse und Tomaten züchten, hatten sich die Priester zum Ziel gesetzt, junge Menschen zu formen und sie dann zu guten Christen heranreifen zu lassen; schon das erste Ziel war alles andere als leicht, das zweite, das bei der Gründung des Ordens im Jahr 1816 noch selbstverständlich erschienen sein mag, war im Laufe der Jahre immer schwieriger geworden, und in der Zeit, in der sich diese Geschichte zuträgt, hatte sich der Ausdruck »guter Christ« in ein Fremdwort verwandelt, das jeder nach Gutdünken interpretierte und ihm einen psychologischen oder politischen Beiklang verpasste – der Papst meinte dies, die Gläubigen meinten das, sogar die Sünder konnten sich mit Fug und Recht gute Christen nennen, vielleicht die besten, immerhin waren sie der Rohstoff, der sprudelnde Quell des Christentums, die jüngste Generation verlorener Söhne und bußfertiger Magdalenen, eine wahre Brutstätte, die man hegen und schließlich erlösen musste, und dieser letzten Kategorie wurden die Schüler des SLM immer ähnlicher: kleine Sünder in spe.

In der westlichen Tradition geht man davon aus, dass Maria nicht gestorben, sondern tief eingeschlafen ist und das weltliche Leben auf diese Art verlassen hat.

Ich weiß es einfach nicht – mir ist noch immer nicht klar, was ich von den Priestern halten soll. Was ich ihnen gegenüber empfinde. Ich bin zutiefst hin- und hergerissen.

Ich erkenne an mir so einiges, um nicht zu sagen vieles, das ganz schön priesterhaft ist, angefangen bei den Schuhen, diesen schwarzen, schmalen, glattledernen Schnürschuhen, die ich mir schon immer und immer gleich kaufe und die mit einem »Na, hast du dir mal wieder Priesterschuhe gekauft« quittiert werden, oder die Sandalen, ganz genau, Sandalen, die gerade so angesagt sind und als geschmackloser Abklatsch in jedem Schuhgeschäft herumstehen, doch damals kaufte ich sie bei einem Schuhmacher unweit des Gettos, der sie für Mönche anfertigte, Büßerriemen aus schwarzem Leder, um den Fuß zu kreuzigen, der sich im Mai leichenblass und mager wie ein manieristischer Märtyrer aus den Winterstrümpfen schält und mutig entblößt.

Vor Jahren ließ mich ein Mädchen fast im Erdboden versinken, als sie mir sagte, es stehe mir »auf die Stirn geschrieben«, dass ich eine Priesterschule besucht habe, und obwohl ich so tat, als nähme ich es locker, und mir über die Stirn rieb, um dieses aus gleich drei scharlachroten Buchstaben, S, L und M, bestehende Mal wegzuwischen, war ich tödlich getroffen. Mitten ins Herz. Jahrelang benahm ich mich wie ein kleiner Petrus, ich verschwieg, dass ich aufs SLM gegangen war, auf eine Priesterschule, als müsste ich eine körperliche Behinderung verstecken, ich wich aus oder leugnete es sogar, wenn die Sprache darauf kam, und war froh, wenn die Frage nur »Wo hast du Abi gemacht?« lautete und ich wie aus der Pistole geschossen antworten konnte: »Am Giulio Cesare!«, dem staatlichen Gymnasium am Corso Trieste. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass ich die zwölf vorangegangenen Jahre an einer katholischen Schule absolviert hatte.

Damals habe ich begriffen, was es heißt, sich seiner Identität so sehr zu schämen, dass man sie hasst. Sich so gedemütigt zu fühlen, dass man denjenigen, der einen grundlos niedermacht, verteidigt. Wer andere herunterputzt, kennt nichts Schöneres, er wartet nur darauf, sich von seinen Opfern bestätigt zu fühlen.

Dann habe ich gelernt, dass der einzige Weg, sich seiner selbst nicht zu schämen, nicht darin besteht, sich selbst zu akzeptieren (unmöglich!), sondern sich mit dem hervorzutun, was man bis dahin versteckt hat. Eine Art offene Provokation. Wie auf den Gay-Pride-Paraden.

Von da an wurde die Tatsache, eine Priesterschule besucht zu haben, zu einem Joker im Ärmel: Ich bezichtigte mich selbst meiner schulischen Erziehung.

Auch andere priesterhafte Kleidungsgewohnheiten habe ich lange Zeit mehr oder weniger bewusst imitiert, besessen und getragen, wie den schwarzen, gerade geschnittenen Mantel. Die Vermeidung von Farben, die Skepsis gegen Abwechslung. Und ein leises Streben nach Gleichheit, nach der erzwungenen Verbrüderung mittels Uniform, die einen vom quälenden Zwang befreit, sich mit sich selbst und den anderen zu vergleichen, zu wählen, zu beurteilen und unter dem erbarmungslosen Urteil der anderen zu leiden. Natürlich hat diese Neigung etwas Defensives, sie dient dem Schutz. Ich gestehe, dass ich an einer Vergleichsneurose leide, allerdings nicht bei großen Dingen, eher bei lächerlichen Kleinigkeiten, ich bin ein Mensch, der sich haltlos in Details verliert und über einen minimal zu kurzen oder zu langen Hosensaum ebenso in die Krise gerät, wie er sich für einen BH begeistern kann, der seinen Inhalt um eine Körbchengröße anwachsen lässt. Die einzige Möglichkeit, sich von dieser ständigen Qual zu befreien, bestünde nicht darin, die Unterschiede im libertären Sinne unendlich zu vervielfältigen und den Vergleich zwischen einmaligen, unverwechselbaren Individuen unmöglich zu machen, sondern sie einfach aufzuheben. Ein Problem weniger. Wir ziehen uns alle gleich an, damit geht es schon mal los. Eine Welt ohne Kritik und ohne Kontrollen, weil Kontrolle ein für alle Male ausgeübt ist, die morgendliche Kleiderwahl ist hinfällig, kein Junge oder Mädchen muss leiden, weil das T-Shirt-Label nicht das richtige ist, keiner muss sich überlegen fühlen, weil es das richtige ist. Alle in Uniform und fertig, wäre das nicht herrlich? Ein Overall, ein Kaftan, eine Kutte, vielleicht eine Feder am Hut. Um zu wissen, wen man vor sich hat, einen Soldaten, Priester, Feuerwehrmann, Arbeiter, Millionär oder Knacki. Zigeunerinnen und Carabinieri bleiben die Einzigen, die noch eindeutig erkennbar sind …

Nur um das klarzustellen, das ist keine Wehmut, es gibt wirklich nichts, dem ich nachweinen würde, schon zu meiner Zeit war die Schuluniform verschwunden und der Einheitskluft aus T-Shirt und Jeans gewichen, der Zwangsjacke des Lässigen (Schuluniformen waren also kein Ausdruck gemeiner Gleichmacherei mehr, sondern markierten nun den stolzen Unterschied …), und als ich zum Militär ging, waren soeben die Gesetze geändert worden, und wir durften zum Ausgang anziehen, was wir wollten. Hatte es in Tarent ein paar Monate zuvor abends noch vor jungen Matrosen und Fliegern in schlecht sitzenden Uniformen gewimmelt, die ihnen in der allgemeinen Trostlosigkeit dennoch eine gewisse Würde verliehen und sie in ihrer lächerlichen Pflicht verbrüderte, waren wir (Kontingent 9/79) ein Haufen verdrossener Bengel aus ganz Italien, Gott, was waren wir verdrossen … so erbärmlich planlos und noch gesichtsloser, als wir es in Uniform gewesen wären.

Das Priestergewand hat mir stets Respekt eingeflößt, und mit Respekt meine ich die Anerkennung der Andersartigkeit. Nicht um die Distanz aufzuheben, sondern um sie zu wahren. Andersartigkeit bedeutet zugleich Anziehung und Abstoßung. Heute wird sie nicht gern gesehen. Es heißt, in einer anonymen Menge würde niemand den anderen groß beachten, aber das stimmt nicht, ein Priester und erst recht eine Nonne fallen auf, man bemerkt ihre Kleidung, die eine bewusste, individuelle Entscheidung ausdrückt, an der sich die anderen stoßen. Am liebsten würde man dem Priester sagen, he, du, wieso musst du es eigentlich allen unter die Nase reiben, dass du dich Gott verschrieben hast? Weißt du, dass du mir mit deiner zur Schau gestellten beziehungsweise vorgeblichen Güte und Frömmigkeit zu nahe trittst? Was ist, willst du mir eine Predigt halten? Du bist noch schlimmer als ich, lass dir das gesagt sein, nein, du bist genau wie ich, warum also tust du so, als wärst du was Besonderes?

In einer vollkommen sexgesteuerten, sexfixierten Welt wie der westlichen, in der jeder Satz und jedes Bild, jedes private Telefongespräch und jedes Werbeplakat, Klamotten, Politik, Gymnastik, Sport, Fernsehshows, Humor und alles andere vor Sex strotzen, ist die augenfällige Präsenz von Männern, die nicht vögeln, unerklärlich; vielleicht vögeln sie doch, aber heimlich, dann sind es Heuchler, oder sie vögeln wahrhaftig nicht, dann sind sie wahnsinnig. Normalerweise denkt man Ersteres, und tatsächlich habe ich, seit ich geboren bin, über niemanden öfter sagen hören, es seien verdammte Heuchler, als über die Priester. Das würde immerhin bedeuten, dass sie im Grunde keinen Deut anders sind als alle anderen, und ihre behauptete Andersartigkeit ist eine Posse, Augenwischerei.

Viel unerträglicher ist der Gedanke, jemand könnte tatsächlich enthaltsam sein. Ich bin der Erste, dem das wie eine Verstümmelung erscheint. Wie kann ich solch einen Menschen moralisch ernst nehmen, wieso um alles in der Welt sollte mir ein Mensch Vorbild, Helfer, Lehrer oder Ratgeber sein, der sich selbst so grausam verstümmelt hat? Der dem Einzigen entsagt, für das sich dieses viehische Leben lohnt, nämlich der Liebe? Nennen wir’s beim Namen: die körperliche, fleischliche Liebe, die die himmlische Liebe in sich trägt. Ich habe keine Lust auf diese spitzfindigen theologischen Argumente, die einem weismachen wollen, dass auch der Verzicht auf Liebe Liebe ist, noch mehr Liebe gar, wie eine päpstliche Enzyklika behauptet. Man kann nicht darauf verzichten, eine Frau und Kinder zu haben, und dann behaupten: Ich übe keinen Verzicht. Dies ist kein Verzicht, ceci n’est pas une pipe: Manchmal könnte man meinen, der Katholizismus sei Vorläufer und Epigone des Surrealismus. Er nimmt eine x-beliebige Sache und behauptet, sie sei das genaue Gegenteil dessen, was sie ganz offensichtlich ist. Man geht zu einer Beerdigung und ist traurig, weil man jemanden verloren hat – zumindest darüber sollte es keine Zweifel geben –, wünscht sich, in Ruhe weinen zu können, und dann steht immer, wirklich immer, als wäre es ein Fluch, ein Priester auf der Kanzel, der einem stets aufs Neue versichert, der Freund oder liebe Angehörige, um den man trauert, sei nicht tot. Nein, er ist nicht tot. Enzo ist nicht tot. Silvana ist nicht tot. Cesare ist nicht tot. Rocco lebt noch. Wie das, er ist also nicht gestorben?! Und was machen wir dann hier? Nein, er ist nicht tot, er lebt, und ihr müsst nicht traurig sein, sondern mit ihm … für ihn … über ihn frohlocken … euch mit ihm freuen … Klar, jetzt ist er im Paradies, also ist er feiner raus als vorher, das leuchtet selbst mir ein, ich bin ja nicht völlig blöd: Trotzdem fühle ich mich von dieser Philosophie verarscht. Sie macht mich so wahnsinnig wütend, dass ich die Kirche verlassen muss, seit Jahren habe ich keinen Gottesdienst mehr bis zum Ende durchgehalten, ich warte lieber vor der Tür, bis ein paar Verwandte und Freunde mit hochroten Köpfen zusammen mit den Angestellten vom Beerdigungsinstitut, deren Bizeps fast die Jacken sprengt, den geschulterten Sarg heraustragen. Der Trick ist mir zu raffiniert und gleichzeitig zu platt. Man muss die Tatsachen nur ins Gegenteil verkehren, und zack!, hat man die Lösung. Wenn man arm ist, ist man in Wirklichkeit reich; Krankheiten sind ein Geschenk Gottes; wenn jemand stirbt, ist das ein Segen, weil er jetzt bei den Engeln ist, die Ersten werden die Letzten sein, wer flucht, lobt Gott, ohne es zu wissen, wenn man sich von Gott entfernt, heißt das, dass man ihn sucht, und wenn Gott nicht da ist, heißt das, dass er ganz bestimmt da ist …

Kann es sein, dass es in diesem Leben nicht eine einzige Sache gibt, die von vornherein klar ist und die man nicht erst verkehrenmuss? Unter all den, sagen wir, aktiven Tugenden, die uns dazu anhalten, größer und besser zu sein, als wir sind, bleiben die von Verzicht geprägten die rätselhaftesten. Von der Hochachtung für die Aufopferung ist es nur ein kleiner Schritt zu Abscheu und Spott. Würde heutzutage jemand das Leben eines x-beliebigen in den Hagiografien beschriebenen Heiligen mit den üblichen Kasteiungen und Plagen führen, würde er auf Ekel und Ablehnung stoßen. Aber in irgendeinem Winkel seines Herzens, seines Geistes oder seines Gewandes muss ein Priester doch einen Krumen Heiligkeit mit sich herumtragen, was sollte ihn sonst von uns unterscheiden? Hat er nichts Heiliges, ist er ein Bluff, hat er es doch, ist es uns so fremd geworden, dass es uns abschreckt oder langweilt. Die Heiligkeit liegt in der Andersartigkeit. Heilig sind die, die vierzig Jahre jünger sind als wir und ihren ersten Geschlechtsverkehr oder die Ehe noch vor sich haben, heilig sind die, die eine andere Hautfarbe haben oder barfuß herumlaufen, für die Männer sind die Frauen heilig, für die Frauen sind die Männer heilig, heilig ist der, der einen Fes, einen Turban, eine Melone, einen Bersaglieri-Hut trägt, sogar ein für eine Hochzeit geliehener Zylinder verleiht dem Haupt dessen, der ihn für einen Abend aufsetzt, die Aura eines heiligen Paraments. Heilig ist der unaussprechliche Nachname einer singhalesischen Haushaltshilfe. Heilig war für mich, gestern Nacht in Venedig lautlos mit dem Boot durch die engen Kanäle von Castello zu gleiten. Es sind diese Krumen Heiligkeit, diese heiligen Partikel, die für Irritation und Unmut sorgen.

Und du redest also jeden Tag mit Gott?, würde man gern zum Priester sagen. Dann zeig mir mal deinen Gott, hol ihn raus, lass mich ein Wunder sehen. Mir fällt auf, dass ich im Kopf gern dieselbe Sprache verwende wie bei den Verhören der ersten Christen, die auch Jesus über sich ergehen lassen musste, ehe er ans Kreuz genagelt wurde. Hic Rhodus, hic salta. Nicht ganz zu Unrecht wird von jedem Glauben erwartet, dass er sofort etwas bewirkt: Stattdessen kriegt man Dinge versprochen, die in weiter Ferne liegen, späte, allzu späte Belohnungen am Ende aller Zeiten; und so muss man sich bis dahin mit vertröstenden, halb magischen Kleinigkeiten zufriedengeben, die einem notdürftig über die Härten des Hier und Jetzt hinweghelfen, ein kleines oder großes Wunder, die kalte Berührung einer Statue des Heiligen, der einen bei einem Unfall beschützt hat, ein mit Gebeten aufgeblasener Airbag.

Einmal, in Padua, verließ ich frühmorgens das Hotel, bog um die Ecke und stellte fest, dass ich nur hundert Meter von der Basilika des heiligen Antonius entfernt war (als ich am Abend zuvor halb betrunken mit dem Taxi angekommen war, hatte ich sie nicht bemerkt). Ich trat ein und näherte mich dem Schrein, der seine Reliquien enthält, als sich plötzlich ein starkes und unerklärliches Gefühl in mir regte. Nicht, dass die Woge dieser ungekannten Empfindung die vorherige Skepsis fortspülte, schließlich bin ich nicht einmal ein ungläubiger, atheistischer Skeptiker, ich bin gar nichts. Meine persönlichen Überzeugungen hatten nichts damit zu tun: Vielleicht war es nur die Zugluft oder die magnetische Sphäre der Gelübde, die diesen Stein seit Jahrhunderten umkreisten. Als ich so dicht vor dem Schrein stand, dass ich ihn berühren konnte, tat ich es, ich streichelte über die Seitenwand und bemerkte, dass das bunte Muster, mit dem er überreichlich verziert war, keine Marmorintarsien waren, sondern mit Klebestreifen befestigte Fotos, Dutzende von Fotografien, auf denen ausschließlich zerbeulte, zerfetzte oder ausgebrannte Autowracks zu sehen waren, Unfallfotos, wie man sie macht, um sie bei der Versicherung einzureichen. Der Schwere der Unfallschäden nach zu urteilen, war allerdings keines der Fahrzeuge je repariert worden: Bei einigen war der Motorraum nach einem Frontalzusammenstoß komplett in die Fahrerkabine gedrückt, bei anderen hing das Dach bis auf die Sitze, sodass man sich unschwer vorstellen konnte, was mit den Insassen passiert war. Doch siehe da, neben den straßenpolizeilichen Aufnahmen hingen ein paar kleinere Fotos jüngeren Datums, einige davon Polaroids, auf denen ein lächelnder Mann oder eine Frau zu sehen war, und ein Zettelchen mit einer Danksagung an den Heiligen, der sie gerettet hatte. Das wurde mir klar, als ich einige dieser Botschaften entzifferte, die auf Englisch oder Spanisch in der unter anderem für Philippiner typischen ordentlichen, runden Handschrift verfasst waren. Und tatsächlich stammten fast alle Votivbildchen von asiatischen oder hispanischen Emigranten, als würden nur sie in Autounfälle verwickelt oder als seien sie in diesem undankbaren Land inzwischen die Einzigen, die das Bedürfnis hatten, sich bei jemandem dort oben dafür zu bedanken, noch einmal davongekommen zu sein. Es tat mir leid, dass ich die Fotos der Honda 125 nicht bei mir hatte, mit der meine Tochter Adelaide wenige Wochen zuvor auf dem Weg zur Schule mit einem Auto zusammengeprallt war, und auch nicht das Bild von ihr, das sie lächelnd und unversehrt zeigte. Also beschloss ich, stattdessen ein Gebet zu sprechen, »Ich danke dir … ich danke dir … dass du sie gerettet hast«, doch ich wusste nicht, an wen genau ich diesen Dank richten sollte, wer dieser du war, an den man sich wenden musste. Gott ist weit weg und der Heilige zu beschäftigt, er hat allenfalls ein Ohr für die, die wirklich an ihn glauben. Also blieb ich vage wie diese Gedichte, bei denen klar ist, dass der Dichter eine geliebte Frau meint, aber man weiß nicht, welche.

Jesus hilft als Vorbild auch nicht weiter. Jesus war immer das Gegenteil von allem. Vielleicht stammt der Tick von ihm, ständig alles über den Haufen zu werfen, den äußeren Schein, die festgefügten Hierarchien, die Tische der Händler, die Gewohnheiten. Jeden Instinkt, selbst den niedersten, und wenn dich jemand schlägt, halt ihm die andere Wange hin. Schließlich hat Jesus die letzte und einzige Gewissheit der Menschen umgestoßen, den Tod, indem er Lazarus auferweckte, was vielleicht die größte Ungerechtigkeit von allen ist. Das soll mal einer den anderen Toten erklären, die unter der Erde geblieben sind, oder ihren Verwandten, die bestimmt nicht weniger bitterlich geweint haben als Lazarus’ Schwestern Martha und Maria … Den leichtgläubigen Jüngern eine Idee in den Kopf zu setzen und sie dann unversehens zunichtezumachen ist eine besondere Lehrerspezialität. Im krampfhaften Bemühen, zu begreifen und zu verinnerlichen, hinken die Jünger dauernd hinterher. Wenn sie versuchen, die Regeln ihres Lehrmeisters streng zu befolgen, scheitern sie kläglich, weil er sie bereits zu Kleinholz gemacht und über Bord geworfen hat. Für ihn sind es olle Kamellen. Er ist immer zehnmal strenger und hundertmal flexibler. Ein Priester, der versuchen wollte, Jesu Beispiel gänzlich zu folgen, wäre heillos überfordert.

Also schneidet sich jeder ein Scheibchen von ihm ab und imitiert ihn, so gut er kann. Es gibt den guten Christus, den demütigen, den pädagogischen, das Opfer, den Mystiker, den Anarchisten, den Tröster, den unversöhnlichen, den brutalen, ja sogar Gewalt findet man in dieser einmaligen Figur, zumindest wenn es darum geht, Worte wie ein scharfes, teilendes Schwert zu benutzen. Es gibt den spöttischen, unverbesserlich komischen Christus, auch wenn Nietzsche anderer Meinung ist (Das Evangelium ist kein großes Werk, es enthält nicht einmal Possen), und natürlich den tragischen Christus. Er hinterlässt seinen Anhängern eine ganze Bandbreite von Eigenschaften und Geisteshaltungen, obwohl ein Mensch es allenfalls mit einer davon aufnehmen kann. Das war schon bei den Aposteln so (jeder entsprach einer Facette aus dem Gesamtbild des Meisters), von den früheren und heutigen Priestern ganz zu schweigen.

Die Mönche, die an der Grundschule des SLM lehrten, waren begeisterte junge Männer, die etwas Unerfindliches dazu bewegte, ihrer Berufung treu zu bleiben. Unser Lehrer hieß Bruder Germano. Ich erinnere mich an einen jungen Kerl mit offenem Gesicht und kurz gestutzten Nackenhaaren, ein guter Fußballspieler. Und ein hervorragender Lehrer, zumindest habe ich bei ihm eine Menge gelernt, ich würde sogar sagen, den Großteil dessen, was ich in der Schule gelernt habe und heute noch weiß, hat mir Bruder Germano beigebracht. Sollte ich mein Wissen in Prozent ausdrücken, entfielen neunzig Prozent auf die Schule. Danach (an der Uni und im Leben) ist nicht mehr viel hinzugekommen. Okay, ein bisschen Kunstgeschichte … ein paar politische Theorien, die die Welt von einer ganz besonderen Sorte Tyrannen regiert haben wollten … und noch jede Menge andere Sachen, die ich zu einer bestimmten Gelegenheit brauchte und fast sofort wieder vergessen habe. Vieles habe ich nur gelernt, um darüber zu schreiben und es gleich wieder aus dem Hirn zu streichen. Nur so kann man sich von einer Obsession befreien.

Noch in den Sechzigerjahren gab es in Italien junge Männer, die den beschwerlichen Weg der Keuschheit und der Armut wählten (wenn man darunter den Verzicht auf den persönlichen Besitz von Geld und Gütern versteht), um zu unterrichten, das heißt, um junge Menschen christlich zu erziehen. Auch wenn ein Chemielehrer Chemie unterrichten sollte, was per se nicht besonders christlich oder unchristlich ist, und das Gleiche gilt für den Französisch- oder den Sportlehrer: Keine Ahnung, was daran das Christliche sein soll. Muss man die Gelübde ablegen, um bockigen Rotzlöffeln beizubringen, wie Schwefelsäure entsteht oder wie man die Nasallaute an, en, in, on ausspricht? Die Lehrer waren eigentlich gar keine Priester (ich nenne sie aus Bequemlichkeit so, aber sie waren es nicht, sie durften keine Messe abhalten), sie hatten nur die niederen Weihen, was den Sinn ihres Opfers noch unverständlicher machte. Welche Belohnung erwarteten sie für ihre Mühen? Uns zu guten Christen oder guten Bürgern heranwachsen zu sehen? Wie viele gute Christen sind aus dem SLM hervorgegangen? Von diesem Mischmasch aus Konfession und Nichtkonfession zu diesseitigen Menschen geformt worden? Während unsere Grundschullehrer durchweg junge, engagierte Priester waren, war die Lehrerschaft in der Mittelstufe gemischt, und in der Oberstufe unterrichteten fast ausschließlich weltliche Lehrer, mit Ausnahme des Philosophie- und des Chemielehrers. Unser Italienischlehrer (Giovanni Vilfredo Cosmo, den ich besonders mochte) war weltlich, der Griechisch- und Lateinlehrer ebenfalls und ebenso die Lehrer in Mathematik, Physik und Kunstgeschichte. Ich habe nie erfahren, ob das an der mangelnden Spezialisierung lag, ob es also an Priestern fehlte, die diese Fächer unterrichten konnten, weil der Orden es sich womöglich zur Aufgabe gemacht hatte, sich der Vermittlung der Grundfächer zu widmen, deren Prinzipien und Werte den Menschen frühzeitig und nachhaltig formen, derweil man die höheren Fächer ohne Weiteres fähigen Profis überlassen konnte. Ich habe mich stets gefragt, ob sich die weltlichen Lehrer bei ihrer Einstellung am SLM ausdrücklich zum Glauben bekennen mussten, inwiefern sie sich also dem Modell einer katholischen Schule und ihren Prinzipien beugen mussten. Wenn ich an meine Gymnasiallehrer zurückdenke, kamen sie mir weder bigott noch im Entferntesten gläubig vor. Von Gott oder der Madonna war in ihrem Unterricht nie die Rede. Der Griechisch- und Lateinlehrer zeigte sogar einen ausgeprägten Hang zum Heidentum. Der Unterrichtsgegenstand mit seinen erotischen und heroischen Schwingungen versetzte ihn in erregte Verzückung, die das quälende Gefühl der Lächerlichkeit und des Versagens bemäntelte und ihn zumindest ansatzweise für den Frust entschädigte, sein umfangreiches Wissen an desinteressierte, schlecht erzogene Schüler vermitteln zu müssen, die für seine Begeisterung nur mitleidige Blicke übrig hatten. Liebe ist dazu verurteilt, zum Gespött zu werden. Nicht eine seiner Leidenschaften zündete bei uns, nicht eine Zeile der Dichter und Philosophen, die er uns deklamierte, blieb uns im Kopf oder traf uns ins Herz. Quàdrupe dàntepu trèmsoni tùquati tùngula càmpum. Sein starker neapolitanischer Akzent, mit dem er Thukydides und Vergil vortrug, tat ein Übriges, um uns restlos kaltzulassen. Unsere Gleichgültigkeit war noch grausamer als Widerstand. Es gibt nichts Schlimmeres, als einer feixenden Klasse etwas zu erklären, das einen begeistert und berührt. De Laurentiis hatte sich in den Kopf gesetzt, uns antike griechische Musik nahezubringen, irgendwo hatte er Noten aufgetrieben, die sein Sohn auf einem Keyboard eingespielt hatte, ich glaube, auf einer Mini-GEM, einer Bontempi oder einer Tiger, und spielte sie uns im Unterricht vor. Es waren trübselige, mit einem Finger gespielte Monodien, zu deren Auf und Ab er wie ein hingerissener Orchesterdirigent mit der Hand durch die Luft wedelte, als wollte er sie nachzeichnen. Mit halb geschlossenen Lidern blinzelte er in das Sonnenlicht, das vor den Fenstern durch die Pinien fiel, und begleitete das monotone Geleier mit einem gesummten »mmm … mmm …«, das in dem hingerissenen Ausruf »mmm … Mmmusik der alten Griechen!!« gipfelte. Es schien, als hätten diese kümmerlichen Noten zweitausendfünfhundert Jahre Geschichte überdauert, um von ihm gesummt zu werden. Dann riss er die glückstrahlenden Augen auf und stellte fest, dass außer ihm keine Sau zuhörte.

Doch das waren harmlose Mythen, kleine Ekstasen, die jedem vergönnt sind. Jeder frönt heimlichen Leidenschaften, die allenfalls durch ein Übermaß von Toleranz erstickt werden, und nach allem, was man hört, ist der Katholizismus die toleranteste, flexibelste und langmütigste Konfession überhaupt, da sie jede Sünde und jede Schandtat verzeiht, sie geradezu zu rechtfertigen scheint und in ihren höchsten und edelsten Momenten fast an Amoralität grenzt, ihre Arme sind so weit, dass es nahezu unmöglich ist, ihrer versöhnlichen Umarmung zu entgehen; diese Arme sind Tentakel. In einem noch immer zutiefst religiösen Land, wie es Italien damals war, wo nur erklärte Atheisten dem allgemeinen Grundgefühl zuwiderliefen, galt Katholischsein, egal, ob man ein guter Katholik war oder nur in die Weihnachtsmesse lief, weil die »so stimmungsvoll« ist, als ebenso selbstverständlich wie die Luft zum Atmen. Ich glaube, im Grunde wurde von unseren Lehren nicht mehr verlangt, als so zu sein wie alle anderen. Als sich ein Freund von mir vor einigen Jahren als Lehrer an einer privaten Mädchenschule bewarb, hatte die Rektorin, nachdem sie alle möglichen Informationen eingeholt und seinen vollgepackten Lebenslauf überprüft hatte, die für den Ausgang des Gespräches entscheidende Frage gestellt:

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Haben Sie eine Freundin?«

»Nein.«

»Sagen Sie … mögen Sie Frauen?«

Das war ganz offensichtlich eine Falle. Der heuchlerische Instinkt meines Freundes (der in Wirklichkeit jedem einigermaßen ansehnlichen Mädchen nachglotzte) hätte gewollt, dass er mit einem nachdrücklichen»Nein!« antworten würde, und damit wäre es aus gewesen. Ach, nein? Lügner oder Päderast. Doch hätte er mit einem ehrlichen »Ja!« geantwortet, wäre es noch schlimmer gewesen. Was ist an einem Mädchenpensionat gefährlicher oder verwerflicher: ein Lehrer, der Frauen mag, oder einer, der keine mag? Und an einer Jungenschule (das ist, wie wir sehen werden, die noch interessantere Frage, die nach einer mutigen Antwort verlangt …)? Mein Freund rettete sich mit einer priesterlichen Antwort, will heißen, mit einem Musterbeispiel an Schwammigkeit.

»Also, mögen Sie Frauen?«

»Nun ja … wie jeder gute Christenmensch«, erwiderte er.

Der Katholizismus setzt weniger auf die totale Unterdrückung des Instinkts als auf dessen rationale Zügelung. »Melius est enim nubere quam uri.« Anfang der Achtzigerjahre war plötzlich der heilige Augustinus angesagt, ähnlich wie Siddharta. Mir persönlich ging die Langsamkeit seiner berühmten Bekehrung auf die Nerven, dieses Zaudern, endlich gut zu werden. Wenn man eines Tages darauf kommt, was richtig ist, sollte man schleunigst zusehen, es umzusetzen, oder nicht? So holzhammerartig und märchenhaft sie auch sein mögen, sind mir die jähen Krisen lieber, die Stürze vom Pferd, die Lichter und tönenden Stimmen, die einem sagen, was man zu tun hat, und die man, ohne zu zögern, befolgt – die Psychologie mit ihrem gefühligen Hin und Her ist mir schlichtweg zu viel. Unser Philosophielehrer hieß Bruder Gildo. Er war ein übergründlicher, kalter, bereits recht betagter Mann, der seinen Unterricht so gewissenhaft vorbereitete, dass er den Anschein erweckte, er beherrsche den Stoff nicht mehr und müsse ihn sich unter großen Mühen noch einmal aneignen. Er wirkte wie ein alter Reservist, den man aus Not wieder zu den Waffen gerufen hatte. Vielleicht hatte er als junger Mann Theologie studiert, und wegen Personalmangels hatte der Schulleiter gedacht, Philosophie sei in etwa das Gleiche: ein Haufen unlösbarer Abstraktionen. Schon merkwürdig, dass die göttliche Wissenschaft ebenso pedantisch vorgeht wie alle anderen, von ein paar gelegentlichen großen Strohfeuern abgesehen. Man riss also Bruder Gildo die Bibel aus den Fingern, drückte ihm Eustachio Lamannas Philosophiegeschichte in die Hand (und vielleicht noch ein paar Bignamino-Lektüreheftchen) und stieß ihn in den Schützengraben des Unterrichts. Bis zu Aristoteles ließ uns sein blutleerer, teilnahmsloser Unterricht glauben, die ersten Philosophen seien im Großen und Ganzen völlig verblendete Fanatiker gewesen, die meinten, die Welt bestehe nur aus Feuer oder Wasser oder aus Atomen mit Ärmchen und Beinchen, mit denen sie sich an anderen Atomen festklammerten, oder sie sei eine Art Steinschlag aus grauer Materie oder ähnlicher Schwachsinn, ganz zu schweigen von den absurden platonischen Mythen. Diese wahnwitzigen Phantasmagorien, die Bruder Gildo uns in skeptischem Nasalton schilderte, besser gesagt, prosaisch referierte, machten uns ratlos. Ich konnte einfach nicht fassen, wie man solchen Blödsinn ernst nehmen sollte wie den von diesen Typen, die mit auf dem Kopf gebundenen Gegenständen wie Schießbudenfiguren hin und her rannten, um Gefangenen in einer Höhle (?) Schattentheater vorzuspielen – sollte das ein Witz sein? Das nannte sich Philosophie? Der höchste Beweis für die Klugheit des Menschen? Dass alles nur Zahl ist (na, und?) und Hunde eine Seele haben und man keine Bohnen essen darf? Das also waren die größten Denker?