Die Keule des Herakles - Winfried Wolf - E-Book

Die Keule des Herakles E-Book

Winfried Wolf

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Beschreibung

Der Gymnasiallehrer Rudolf Prager hat sich nach seiner Pensionierung in einen kleinen Ort an der Südküste Kretas zurückgezogen. Hier will er seine Verwandlung zu einem Privatgelehrten für römische Geschichte vorantreiben. Das Studium der Geschichte soll ihn ablenken und gleichzeitig auf eine bestimmte Art und Weise unsichtbar machen, denn er ist nicht der, als den er sich ausgibt. In Freiburg ermittelt währenddessen Hauptkommissar Meier noch immer erfolglos im Fall Prager. Frau Prager war Opfer eines Verbrechens geworden. Rätsel gibt auch der Selbstmord eines ehemaligen Bundeswehrbeamten auf. Lässt sich ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen herstellen? Die Lage spitzt sich zu, als Gerlinde Körner, eine ehemalige Freundin von Pragers Frau, ihren Urlaub auf Kreta antritt. Sie will dort nach Rudolf Prager suchen. Hauptkommissar Meier fürchtet um ihre Sicherheit, denn er hat den Verdacht, dass der kritische Prager nicht der richtige Prager ist. - Das vorliegende Buch ist die Fortsetzung einer Krimi-Reihe zu "Der andere Mann" und Der falsche Gelehrte".

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Die Keule des Herakles

Titel SeiteMitte Oktober: Die ToteninselApril: SchneckenEnde August: AbschiedAnfang September: Alte KameradenEnde September: KoufonisiAnfang Oktober: Post aus KretaMitte Oktober: Helene Stumpf und ihre ZweifelMitte Oktober: Philemon und Baucis IAnfang September: Gerlinde hat IdeenPhilemon und Baucis IIEnde Oktober: Helene Stumpf ermitteltKreta im HerbstPrager gewinnt OberwasserWeihnachtseinkäufeHessler lässt grüßenDer Tote am Strand

Die Keule des Herkules

Mitte Oktober: Die Toteninsel

Ölig schimmerte das Licht auf dem ruhigen Meer. Nach dem stürmischen Wetter der letzten Nacht herrschte wieder eine träge Stille über der Insel. An ihren Füßen hatte ein leichter Wind Dünen im Miniformat gebildet. Die beiden Alten saßen in der ersten Reihe des Römischen Theaters. Ihre leeren Blicke gingen übers Meer zur Südküste Kretas. Möwen hatten ihnen die Augen ausgepickt. Jetzt landete wieder eine, hüpfte heran, um den Kopf des Mannes zu untersuchen. Eine zweite und eine dritte fanden Interesse. Am blassblauen Himmel kreisten weitere Möwen. Das Paar saß da wiePhilemon und Baucis, aneinander gelehnt und traulich im Tode vereint.

Als die ersten Touristen mit dem Ausflugsboot auf die Insel kamen, war es halb elf vormittags. Jetzt Mitte Oktober kamen in der Regel keine Ausflugsboote mehr von Makry Gialos herüber. Das Meer war zu unruhig und die Zahl der Touristen hatte jetzt rapide abgenommen. Aber nun war doch noch einmal eine Ladung von laut schwatzenden Fremden zusammengekommen. Die meisten Besucher liefen gleich zu den Stränden, dafür war die Insel bekannt. Die Strände mit dem smaragdgrünen Wasser gehörten zu den schönsten Kretas. Ein kleiner Junge entdeckte die beiden Alten, traute sich aber nicht in ihre Nähe. Seine Mutter stellte fest, dass sie tot waren, sie gab dem Steuermann des Ausflugsbootes Bescheid und der verständigte über Funk die Polizei.

Man konnte zunächst nicht feststellen, um wen es sich da handelte. Keine Papiere, kein Geld. Einen Umhängebeutel mit Badekleidung, Handtuch und Sonnencreme fand man unweit an einem antiken Mauerrest liegen und zwei Sektgläser aus Plastik, eine Sektflasche gab es nicht. Zu ihren Füßen lagen die zertrümmerten Gehäuse zweier Purpurschnecken der ArtBolinus brandaris, die auch unter dem NamenHerkuleskeulebekannt ist. In einem Plastikbecher blau-rote Farbreste und in einem Taschentuch die klebrigen Reste einer übelriechenden Masse.

Die Nachforschungen der griechischen Polizei ergaben, dass es sich bei den Toten um das Ehepaar Walter und Roswitha Kübler aus Endingen Deutschland handelte. Die beiden hatten sich inSitia,einer Stadt im Osten Kretas ein Hotelzimmer genommen. Der Ausflug auf die InselKoufonisiwar eines ihrer festen Reiseziele.

Frau Kübler führte ein kleines Reisetagebuch, die Polizisten fanden es aufgeschlagen auf dem Sekretär im Zimmer der beiden Urlauber liegen. Da sie nicht zu den Passagieren eines der Ausflugsboote gehörten, die bei gutem Wetter jetzt noch täglich um 10.30 Uhr im Hafen vonMakry Gialosstarteten und um 16.30 von dort wieder zurückkehrten, hatten sie offensichtlich einen Fischer oder einen anderen Bootsführer gefunden, der sie auf die unbewohnte Insel brachte.

April: Schnecken

Nun schleimen sie wieder, sagte Walter Kübler hinter der Zeitung. Seine Frau Roswitha strich sich selbstgemachte Quittenmarmelade aufs Brot und wollte erst gar nicht fragen. Walter hatte die Gewohnheit, immer nur anzudeuten. Selten folgten Erklärungen, aber jetzt fragte sie doch nach: Wer schleimt? Walter Kübler legte die Zeitung zur Seite: Es gibt zwei Dinge in der Nahrungskette, die uns jedes Jahr Ärger machen. Das sind die neuen Pflanzen und die winterhungrigen Schnecken. Ich bestell’ jetzt doch das Buch über Schnecken. Erstens interessiert’s mich und zweitens will ich wissen, wie man den Biestern beikommt. Es kann doch nicht sein, dass die uns jedes Jahr den Salat fressen. In der Zeitung steht, dass man jetzt versuchen soll, die Jungtiere zu dezimieren bevor auch die sich wieder vermehren.

Roswitha Kübler dachte daran, was der Arzt gesagt hatte: Ihr Mann hat nicht mehr lange zu leben, genießen Sie die Zeit, die Sie noch mit ihm haben. Wie kann man denn genießen, wenn alles, was vorher war, nun plötzlich unterbrochen ist. Bei ihr mischten sich je nach Anlass Trauer, Wut und Ärger. Komisch, sie ärgerte sich auch jetzt über ihren Mann. Wie konnte der sich in seiner Situation um Schnecken kümmern? Er bestellt sich jetzt ein Buch und will verhindern, dass die Schnecken den Salat auffressen. Wie lange wird er denn selbst noch Salat essen können?

Was sind das bloß für furchtbare Gedanken. Seien Sie froh, hatte der Arzt gesagt, es ist selten, dass Menschen so kurze Zeit nach der Entdeckung ihrer Krebserkrankung an den Folgen dieser Krankheit sterben. Bei Walter hatte man Leberkrebs festgestellt. In der Regel, das hatte sie im Internet gelesen, dauert es acht bis zehn Jahre, bis sich aus einer entarteten Zelle ein Karzinom entwickelt, das man klinisch nachweisen kann. Aber es gibt Krebsformen, die lange Zeit unentdeckt bleiben, dazu gehört der Leberkrebs. Walter hat noch keine Schmerzen und von Beeinträchtigungen ist kaum was zu spüren. Aber es ist nur eine Frage der Zeit. Der Tumor hat gestreut und weitere lebenswichtige Organe befallen. Das kann jetzt sehr schnell gehen, hatte Dr. Tucher gesagt.

Drei Tage später hielt Walter Kübler ein Schneckenbuch in Händen, das keine Fragen mehr offen ließ. Natürlich stürzte er sich zuerst auf das einheimische Getier und erkannte schnell, dass Schnecke nicht gleich Schnecke war. Es gab Wegschnecken, Ackerschnecken, Bänder-schnecken, Schnirkelschnecken, Baumschnecken und andere Weichtiere, denen der Gärtner hilflos ausgeliefert zu sein schien, denn das Liebesleben und die Vermehrung der Schnecken schienen keine Grenzen zu kennen.

Wusstest du, rief Walter Kübler seiner Frau beim Durchblättern des Schneckenbuches zu, dass es sich bei den Schnecken in unseren Gärten um Hermaphroditen handelt? Um wen, rief Roswitha Kübler aus der Küche zurück. Um Zwitter! Die haben ein Organ mit männlichen, weiblichen und zwittrigen Teilen. Zu was das denn? Was fragst du mich! Hier steht, Walter Kübler setzte die Lesebrille auf und las, sie haben eine Keimdrüse, die Eizellen und Samenzellen herstellt. Damit die Schnecke aber ihre Eier nicht selbst befruchtet, werden Eizellen und Samenzellen nie zur gleichen Zeit produziert. Das ist vielleicht eine vernünftige Einrichtung, kommentierte Rosemarie Kübler, die nun aus der Küche gekommen war und sich ihre nassen Hände an der Schürze abtrocknete. Und wie kann man sich dann die Paarung vorstellten?

Walter Kübler, der neue Schneckenexperte nahm das Buch und dozierte: Während der Paarung drücken die Schnecken die Körperunterseiten aneinander und richten sich so auf. Dann stoßen sie sich gegenseitig den sogenannten Liebespfeil in die Körperunterseite. Das hört sich ja direkt nach Sex an, lachte Frau Kübler. Ja, Sex mit Folgen, denn jetzt kommt’s: Nach der Befruchtung legen die Schnecken die weißen, ungefähr Stecknadelkopf großen Eier in Erdlöcher, welche sie zuvor mit Hilfe des Fußes selber ausgehoben haben. Mein lieber Walter, dann geh’ mal schön in den Garten und heb’ die Erdlöcher aus, bevor der Nachwuchs unseren zarten Frühlingssalat vernichtet.

Eigentlich wollte Roswitha sagen, dass sich Walter jetzt nicht so viel Gedanken um die Schnecken machen sollte. Aber warum sollte sie ihn abhalten, warum sollte er jetzt nicht in den Garten gehen und Erdlöcher ausheben?

Wie Walter Kübler bald erkennen musste, gab es im Land der Schnecken viel zu entdecken. Er zog sich mit seinem Buch in den hinteren Teil des Gartens zurück. Hier konnte er ungestört lesen und sich die Sonne aufs Haupt scheinen lassen. Bis zum Mittagessen war noch etwas Zeit, Roswitha würde ihn schon rufen, wenn es soweit wäre. Über die Spanische Wegschnecke las er, dass diese den Gärtnern das Fürchten lehre. Als Südländerin sei sie auf trockenes Wetter eingerichtet. Sie produziere viel Schleim, um auch in trockenen Perioden gut vorwärts zu kommen.

Walter Kübler nickte anerkennend, als er las, dass ihr Kriechtempo 5-9 Meter in der Stunde beträgt. Wenn es ihr zu heiß wird, sucht sie ein Plätzchen im kühlen Schatten und macht dort ihre typisch südländische Siesta. Vor Feinden muss sie keine große Angst haben. Weil sie so schleimig ist und dazu noch besonders bitter schmeckt, verzichten viele der üblichen Fressfeinde von Schnecken lieber auf den Genuss einer Spanischen Wegschnecke.

Das ist ja alles sehr interessant, murmelte Walter Kübler und blätterte ein wenig weiter, um sich einen gewissen Überblick zu verschaffen. Beim Bild eines stacheligen Schneckengehäuses blieb er hängen. So etwas hatte ihm einmal sein Onkel Manfred aus Griechenland mitgebracht als er noch ein Kind war. Das ist dieKeule des Herakleshatte Onkel Manfred gesagt. Was er damit meinte, hatte Walter Kübler damals nicht verstanden, erst später wurde ihm klar, dass die Form der Stachelschnecke an eine Keule, an die Waffe des griechischen Helden Herakles, erinnerte. Roswitha Kübler trat auf die Gartenterrasse heraus und rief: Das Essen ist fertig. Walter Kübler legte ein Lesezeichen ins Buch. Über die Purpurschnecke wollte er nach seinem Mittagsschläfchen weiterlesen. Neben dem Essen standen die Tabletten, eine zu jeder Mahlzeit und abends zwei aus der roten Packung, Scheißkrebs.

Als die Küblers es sich am Abend vor dem Fernseher bequem gemacht hatten und Roswitha gerade ihre Stricksachen aufnehmen wollte, sagte Walter unvermittelt: Was hältst du von einem Urlaub auf Kreta? Wie kommst du denn gerade auf Kreta, wollte seine Frau wissen. Walter Kübler hätte jetzt eine Erklärung abgeben können, die man nur als lange und sehr subjektive Gedankenkette hätte darstellen können. Es war so: Die Schnecken und der Krebs hatten ihn auf Kreta gebracht, und bei den Schnecken war es genauer gesagt die Purpurschnecke und da wieder war es die Keule des Herakles, die ihm einst Onkel Manfred aus Griechenland mitgebracht hatte. Nein, eigentlich war es auch nicht die im Mittelmeer lebende Purpurschnecke, es war ein Artikel, den Walter im Internet, ergänzend zu seiner Buchlektüre, gelesen hatte. In diesem Beitrag hatte ein gewisser Rudolf Prager überWirtschaft und Handel der alten Römergeschrieben und dabei auch die Wollfärberei, genauer gesagt die Purpurfärberei auf der abgelegenen und heute verlassenen Insel Kouphonisi erwähnt. Sie lag im Südosten vor Kreta und hieß früher Leuke, was wahrscheinlich auf den weißen Sand zurückging, der die Insel wohl immer schon bedeckte.

Von diesem Prager erzählte Walter seiner Roswitha aber vorerst nichts, denn gewisse Dinge, das wusste er aus seiner Zeit bei der Bundeswehr, muss man nicht gleich hinausposaunen, auch wenn es noch so aufregend sein mochte.

Walter Kübler hatte den NamenPragernicht zum ersten Mal gehört. Die Polizeibeamtin aus Freiburg hatte ihn in Zusammenhang mit dem Selbstmord seines Freundes Herrmann Schmidt gefragt, ob er einen Herrn Prager kenne. Jetzt war er ein weiteres Mal auf diesen Prager gestoßen. Er wollte es erst nicht glauben, aber schon eine kleine Internetrecherche ergab, dass es sich beim Autor des Artikels um eben diesen Prager handeln musste, den die Kommissarin mit Schmidt in Verbindung gebracht hatte. Und Walter Kübler staunte nicht schlecht, als er ein Bild des Altertumsforschers auf der Seite eines Touristikunternehmens entdeckte.Unser Experte vor Orterklärt unseren Gästen die römischen Hinterlassenschaften vonGortyn. Der Mann auf dem Bild sah aus wie sein alter Freund Herrmann Schmidt.

Noch etwas war ihm eingefallen, als er auf Prager gestoßen war. Maywald, Schmidts Arbeitskollege in Freiburg hatte gesagt, dass Herrmann gerne Urlaub im Süden machen wollte. Er sprach von weißen Häusern am blauen Meer. Wie kann einer Selbstmord begehen, der ins Träumen gerät, wenn er griechische Landschaften sieht? Dieser Prager sah aus wie sein alter Freund Herrmann Schmidt. Walter Kübler verbat sich jetzt weiterzudenken. Nein, das ist Unsinn, aber diesen Prager würde ich gerne kennenlernen. Vergiss deine Tabletten nicht, sagte Roswitha.

Ende August: Abschied

Adam und Xanthoula Grigoraki hatten alle ihre Ferienwohnungen vermietet. ImZorbaswaren fast den ganzen Tag über Gäste zu sehen. Die meisten kamen aus Deutschland. Das im Mai noch verschlafen wirkendeLentashatte jetzt Hochsaison. Im Ort machten jetzt auch griechische Familien vom Festland Urlaub. Am Morgen war Dimitrios vorbeigekommen und hatte die Bücher abgeholt. Prager hatte ihn gebeten, einige bei sich unterzustellen, sollte er in das eine oder andere einen Blick werfen wollen, bitte schön, nur zu. Dem Heiligtum des Asklepios konnte ein kundiger Führer nur gut tun. Am Samstag war Prager nachMiresgefahren, um seine letzten Einkäufe fürLentaszu erledigen.

Der Markt war einen Besuch wert. Es brodelte nur so von südländischer Geschäftigkeit. Er hatte sich Kartoffeln, Tomaten und Gurken einpacken lassen. Geschirr, Kleidung, Kitsch und Kunst waren für ihn weniger von Interesse, aber ihm gefiel das quirlige Leben eines einheimischen Marktes, der sich bis auf ein paar Äußerlichkeiten kaum von einem römischen Markt zur Kaiserzeit unterschied. Von einem Straßencafé aus beobachtete er das Treiben der Landleute, die zum Markttag in die Stadt gekommen waren. Ich mache ein Bild, verändere die Schärfe, stelle auf einem Zahlenkranz das Jahr 250 n. Chr. ein und stelle wieder scharf. Der Computer meines Fotoapparates lässt weg und fügt hinzu, was die eingestellte Zeit erforderlich macht. Natürlich müssen die Pick-ups verschwinden, die Menschen tragen keine Hosen, es gibt keine Plastikflaschen, aber sonst...

Prager zog sein graues Buch aus der Tasche und überflog die Eintragungen der letzten Tage. Am Dienstag wollte er nachRethymnon. Er hatte mit Ingo Diewald von derCretan International Communitytelefoniert. Über dieCIChatten sich nützliche Kontakte ergeben. Alle seine Vorträge, Ausflüge und Erkundungen wurden jetzt über diese Organisation vermittelt. Es gab hervorragende Verbindungen zu Reise-unternehmen und ganzen Hotelketten, die ihren Kunden nicht nur Sonne, Strand und gutes Essen anbieten, sondern auch Kretas kulturelles Erbe nahebringen wollten. Seine wissenschaftlichen Vorträge über Kretas römische Zeit waren mittlerweile so nachgefragt, dass Prager jetzt ein deutliches Stoppzeichen geben musste. Er war schließlich kein Animateur, sondern Privatgelehrter. Die konnten ruhig wissen, dass er auf das Geld nicht angewiesen war, aber es war gut, sich hier ein gewisses Renommée verschafft zu haben.

Zu den Mitgliedern derCICgehörten auch Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater und Immobilien-berater. Mit Stelios Papadakis, einem erfahrenen Immobilienhändler wollte Prager über den Kauf eines Hauses auf der Osthälfte der Insel reden. Für 200 000 € ließ sich auf Kreta schon ein stattliches Haus erwerben. Mit dem Kauf eines Hauses ab einer Kaufsumme von mehr als 250.000 € war eine unbefristete Aufenthalts-genehmigung verbunden. Er musste noch einmal nachfragen, ob es stimmte, dass EU-Bürger jetzt uneingeschränkt Immobilien kaufen konnten. Er benötigte allerdings noch eine griechische Steuernummer, ein Energiezertifikat, eine Legalisierungsbescheinigung, eine Original-baugenehmigung sowie verschiedene Belege vom Finanzamt. Ingo Diewald hatte für ihn schon Kontakte zu Anwalt und Notar aufgenommen, doch die griechische Bürokratie war nicht gerade für ihre Eilfertigkeit bekannt. Für die Monate September und Oktober hatte er eine schöne Ferienwohnung bei Sitia gesucht und gefunden. Vorsichtshalber hatte er eine Wohnung genommen, die auch beheizbar war. Die meisten Hotels schlossen Ende Oktober/Anfang November, dann war die Insel von Touristen weitgehend entleert.

Sitia lag nicht allzu weit von der kleinen Insel Koufonisi entfernt. Die Insel war in antiker Zeit eine wichtige Station für Schwammfischerei und die Verarbeitung von Purpurschnecken aus denen der teure Purpurfarbstoff genommen wurde. Ausgrabungen hatten ein gut erhaltenes Theater und Reste eines öffentlichen Bades ans Tageslicht gebracht. Das Theater wies einmal zwölf Sitzreihen auf und konnte bis zu tausend Menschen aufnehmen. Ein Kuriosum, wenn man bedenkt, dass die Insel heute außer Fels und weißem Sand nichts zu bieten hatte. Nun ja, das war nicht ganz richtig. In der Hauptsaison brachten Ausflugsschiffe täglich von Makry Gialos aus Touristen an die Strände von Koufonisi. Ganz unbelebt war die Insel also zumindest den Sommer über nicht.

Prager bestellte einen zweiten Kaffee. Dieser Kübler bereitete ihm unnötigen Ärger. Walter und Roswitha wollten Anfang Oktober nach Kreta kommen. Diewald hatte ihm Walters Brief zugeschickt. Walter wusste also nicht, wo er sich aufhielt. Prager nahm den Brief aus der Tasche und las ihn noch einmal durch:Sehr geehrter Herr Prager! Ich habe Ihren Artikel über die Purpurschnecken im Internet entdeckt und habe mit großem Interesse gelesen, welche Bedeutung die Farbe Purpur für die römischen Kaiser hatte. Unglaublich, wenn man sich vorstellt, dass beispielsweise für die Tunika eines Herrschers 10.000 Schnecken ihr Leben lassen mussten. Es war nicht zuletzt Ihr kulturgeschichtlicher Beitrag, der mich und meine Frau Roswitha veranlasste, eine Reise nach Kreta zu buchen. Unser Hotel ist in Sitia und von dort ist es ja nicht weit zu der von Ihnen beschriebenen Insel Koufonisi. Ich hoffe, Sie finden es nicht unverschämt, wenn ich nun folgende Bitte an Sie richte: Sehr geehrter Herr Prager, es wäre für mich und meine Frau ein außerordentliches Ereignis, wenn wir an einer Ihrer Führungen teilnehmen dürften. An die Möglichkeit einer privaten Führung auf der Insel Koufonisi wagen wir gar nicht zu denken. Wir sind von Anfang bis Mitte Oktober auf Kreta. Wenn Sie etwas Zeit für Ihre Landsleute vom Kaiserstuhl übrig hätten, bitte ich um Benachrichtigung, gerne auch über die Cretan International Coommunity. Herzliche Grüße, Walter Kübler.

Er könnte das Schreiben ignorieren aber dieser Kübler war nicht zu unterschätzen: Nach außen ein Biedermann aber von Natur aus der geborene Schnüffler.

Anfang September: Alte Kameraden

Von der Haltestelle an der Potsdamer Straße zur Karl-Liebknecht-Straße waren es noch 200 Meter. Je näher er dem Haus seines ehemaligen Chefs kam, desto mehr hatte er den Eindruck, dass er sich einer Grenze näherte. So als ob er lange Zeit im Ausland gewesen wäre und jetzt wieder heimatlichen Boden betrat, so kam er sich vor. Aber wie ein verlorener Sohn musste er sich rechtfertigen für das, was er in der Fremde getan hatte. Er musste seinen alten Namen annehmen und Regeln beachten, die anderswo längst ihre Geltung eingebüßt hatten.

Die Jugendstilvilla lag etwas zurückgesetzt in einem großen Garten, der einen etwas ungepflegten Eindruck machte. Unsere Villa in Freiburg war größer und schöner, freute sich Prager und musste bei diesem Gedanken unwillkürlich grinsen. Das war kindlich und unreif und erinnerte ihn an seine Spielzeugeisenbahn, die ihm sein Vater nach mühevoller Heimarbeit unter den Weihnachtsbaum gestellt hatte. Das Brett mit der verlegten Eisenbahnstrecke den Häusern und künstlichen Gebirgen aus Gips und Pappe war größer als die Anlage im Pionierhaus. Aber die Eltern hatten ihm eingetrichtert, den Freunden nichts zu erzählen, das hätte nur Neid und böse Unterstellungen hervorgerufen.

Er hätte seinem ehemaligen Chef ein Bild von der schönen Villa in Freiburg mitbringen können. Aber eine Provokation, welcher Art auch immer, war hier fehl am Platz. Hier durfte man nicht nach Wessi-Art auftreten. Was hatte es auch für einen Sinn, heute, an Arnolds Geburtstag, einen Eklat zu provozieren: Wem nützte das? Arnold war ein starrsinniger alter Idiot, aber immer noch ein Idiot mit Einfluss.

Der Gehweg war so ramponiert wie vor dreißig Jahren. So was merkt man nur, wenn man lange weg war, denen hier fällt das gar nicht mehr auf, dachte Prager. Aber sonst war alles tip top, man hatte seit der Wende viel Geld in die Infrastruktur gesteckt. Jetzt stand er vor der grauen Villa, die sich ein neureicher Nazi noch in den letzten Kriegstagen unter den Nagel gerissen hatte. Nach hinten raus lag ein schöner Wintergarten, der in einen Park mit Springbrunnen und bröckelnden Figuren führte; das wusste Prager noch von seinem ersten Besuch her. Das muss Anfang der 70er Jahre gewesen sein.

Beginn der Feier um 18.00 Uhr, hatte Elfriede Hessler am Telefon gesagt und pünktlich um sechs drückte Prager auf den Klingelknopf neben der Gartentür in der Karl-Liebknecht-Straße. Die Gartentür war offen und so ging er auf das Haus zu. An der Haustür noch immer die Löwenköpfe mit den Türklopfern. Er wollte schon einen der dämlichen Türklopfer betätigen, da öffnete Elfriede, Hesslers Frau, die Haustür.

Eine kleine alte Dame mit hochgesteckten weißen Haaren und immer noch lebhaften Augen, redselig und aufgekratzt und voll des Lobes für seine Pünktlichkeit. Sie hatten sich seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen, doch schien sie ihn gleich wieder zu erkennen und sprach ihn mit Vornamen an. Herrmann, wie schön, dich wieder einmal bei uns begrüßen zu können. Arnold hat eigentlich gar nicht mehr mit dir gerechnet. Er sagte, du hättest dich aufgehängt aber wie ich sehe, bist du quicklebendig. Wenn du was ablegen willst, du weißt ja, wo die Garderobe ist. Es ist alles so geblieben, du wirst sehen, bei uns hat sich nichts verändert. Nur ein Dienstmädchen können wir uns nicht mehr leisten. Sie hatte ihn mit Herrmann angesprochen, dabei wussten sie doch alles. Dem Netzwerk war nicht verborgen geblieben, dass er einen neuen Namen angenommen hatte, aber hier würde ihn keiner Prager nennen.